Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? - De Gruyter
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Interkult. Forum dtsch.-chin. Kommun. 2021; 1(1): 22–40 Jin Zhao* Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? Scientific texts: universal or culture-specific? https://doi.org/10.1515/ifdck-2021-2001 Zusammenfassung: Der Beitrag geht auf die Diskussion über die Universalität oder die Kulturgebundenheit von Fachtexten sowie die Relativitätshypothese über Fachtexte in der Fachsprachenforschung ein und vertritt die Ansicht, dass wissenschaftliche Texte durch die Kultur geprägt sind. Im Beitrag werden deut- sche und chinesische linguistische Zeitschriftenartikel hinsichtlich der Makro- struktur kontrastiv analysiert, um zu zeigen, dass in derselben wissenschaft- lichen Gemeinschaft wissenschaftliche Texte auch sprachkulturell bedingte Unterschiede aufweisen. Stichwörter: Fachtexte, Universalität, Kulturspezifik, Makrostruktur von wissen- schaftlichen Texten Abstract: The article deals with the discussion about the universality or cultural ties of texts for special purposes as well as the relativity hypothesis about them in languages for special purposes research and takes the view that scientific texts are shaped by culture. In the article, German and Chinese linguistic journal arti- cles are contrastively analyzed with regard to the macrostructure in order to show that in the same scientific community, scientific texts also have central rights in language culture. Keywords: texts for special purposes, universality, cultural specificity, macro- structure of academic texts *Korrespondenzautorin: Prof. Dr. Jin Zhao, Deutsche Fakultät der Tongji-Universität, 200092 Shanghai, China. E-Mail: zhaojin@tongji.edu.cn Open Access. © 2021 Jin Zhao, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 23 1 Einleitung Die Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist grundsätzlich an die Sprache gebunden. Erst durch die sprachliche Manifestation werden wissen- schaftliche Erkenntnisse für andere wahrnehmbar und ein wissenschaftlicher Diskurs wird durch das sogenannte „Veröffentlichungsgebot“, das „Rezeptions- gebot“ und das „Kritikgebot“ (Weinrich 1985: 496–497) ermöglicht. Dabei ist die Wissenschaftlichkeit durch Kriterien wie die „theoretische […] Erklärung von Wirklichkeitszusammenhängen, die empirische Bestätigung einer wissenschaft- lichen Theorie und die prinzipielle Reproduzierbarkeit der Ergebnisse“ (Hardy 2008: 684) gekennzeichnet und dementsprechend sollte die wissenschaftliche Darstellung rational und objektiv sein, sie verlangt das „Ich-Verbot“, das „Meta- phern-Verbot“ und das „Erzähl-Verbot“ (Weinrich 1989) oder Gebot der „Öko- nomie“, der „Präzision“, der „Origo-Exklusivität“ und der „Diskussion“ (Czicza/ Hennig 2011: 50). Dies soll interdisziplinär wie interlingual gelten. Aber anderer- seits ist Sprache nicht nur ein Mittel, um wissenschaftliche Ergebnisse auszudrü- cken, sondern sie bestimmt auch unser Denken und damit auch grundlegendes forschendes Handeln. Denn nach Wilhelm von Humboldt (2010a [1827–1829]: 191) ist die Sprache „das bildende Organ des Gedanken“, sodass „die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken“ (Humboldt 2010 [1820]: 19–20). Als Organ des Denkens weisen verschiedene Sprachen zugleich verschiedene Denkweisen auf, deswegen ist „ihre Verschiedenheit […] nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (Humboldt 2010 [1820]: 20). D. h., die in verschiedenen Sprachen verfassten wissenschaft- lichen Texte können die verschiedenen wissenschaftlichen Denkweisen wider- spiegeln, die sich in der Art und Weise der Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse niederschlagen. In diesem Beitrag wird auf die Diskussion über die Universalität und die Kul- turgebundenheit von Fachtexten sowie die Relativitätshypothese über Fachtexte in der Fachsprachenforschung eingegangen. Durch eine kontrastive Analyse von deutschen und chinesischen linguistischen Zeitschriftenartikeln hinsichtlich der Makrostruktur wird anschließend aufgezeigt, dass selbst in derselben wissen- schaftlichen Gemeinschaft wissenschaftliche Texte sprachkulturell bedingte Unterschiede aufweisen.
24 Jin Zhao 2 D iskussion über Universalität oder Kultur spezifik in der Wissenschaftssprache Bezüglich der Fachtexte wurde in der Fachsprachenforschung in den 1980er Jahren über die Universalität oder Kulturgebundenheit diskutiert. Das Universali- tätskonzept besagt, dass der wissenschaftliche Diskurs eine universelle, nicht an einzelne Sprachen gebundene Gattung sei. Begründet wird dies damit, dass in Fachtexten die gleichen intellektuellen und methodischen Handlungen ausge- führt, geteilte Begriffssysteme verwendet sowie das gleiche Instrumentarium der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung erprobt werden. Dieses Konzept wurde vor allem von Widdowson eingebracht: I assume that the concepts and procedures of scientific inquiry constitute a secondary cul- tural system which is independent of primary cultural systems associated with different societies. […] In the same way, I take it that the discourse conventions which are used to communicate the common culture are independent of the particular linguistic means which are used to realize them. […] So I would wish to say that scientific discourse is a universal mode of communicating, or universal rhetoric, which is realized by scientific text in differ- ent languages by the process of textualization. (Widdowson 1979: 51–52) Andere Vertreter des Universalitätskonzeptes wie Schwanzer (1981) hingegen beschrieben die Universalia in den wissenschaftlichen Fachsprachen vor allem durch Vergleiche syntaktischer und lexikalischer Erscheinungen und sahen die Universalität z. B. in dem Gebrauch künstlicher Symbole, in der Sachbezogen- heit, der Entpersönlichung des Ausdrucks sowie der ökonomischen Darstellung. Dieses Konzept wird aber aufgrund des Mangels an empirischer Fundierung und aufgrund der eurozentrischen Sichtweise kritisch beurteilt (vgl. Gläser 1992: 83–86). Die Gegenposition zum Universalitätskonzept in der Fachsprachenforschung betonte dagegen die kulturellen Besonderheiten der Einzelsprachen, die durch kontrastive Fachtextuntersuchungen nachzuweisen versucht wurden (vgl. Gläser 1992: 86–87). Bezugspunkt dafür ist die Hypothese von Galtung (1983), die unter- schiedliche intellektuelle Stile postuliert. Galtung unterscheidet zwischen einem sachsonischen, einem teutonischen, einem gallischen und einem nipponischen intellektuellen Stil. Dabei steht die sachsonische Struktur für die englischsprachi- gen Länder mit England und den USA als Vertreter und wird metaphorisch als auf dem soliden Boden der Empirie errichtete kleine Pyramiden beschrieben, was die Ausrichtung auf Thesenbildung und Faktenbetonung bedeutet. Der teutonische Stil erstreckt sich von Deutschland bis nach Osteuropa einschließlich der ehema- ligen Sowjetunion. Dieser wird als gigantische Pyramidenkonstruktionen ver-
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 25 anschaulicht und für hierarchisch, abstrakt und theorieorientiert gehalten. Die gallische Wissenschaft umfasst die romanischen Länder und Rumänien und wird als eine von Symmetrie gekennzeichnete Hängematte charakterisiert, die ihren Wert nicht nur auf die Theoriebildung und Paradigmenanalyse lege, sondern vor allem die Spracheleganz betone. Schließlich bezieht sich die nipponische Kultur auf Japan und lässt sich als buddhistisches Rad verstehen, sie sei enzyklopädisch und akzentuiere die soziale Beziehung. Diese unterschiedlichen Denk- und For- mulierungsstile, so Galtung, würden die Wissenschaftler aus einem bestimmten Kulturkreis beeinflussen, insofern könnten die Fachtexte, denen sich die Wissen- schaftler als Kommunikationsmittel bedienen, auch nicht universal sein. Während Galtung seine These ohne empirische Unterstützungen noch essay- artig formulierte, versuchte der deutsch-australische Fachsprachenforscher Michael Clyne (1981, 1984, 1987, 1991), anhand empirischer Untersuchungen die kulturspezifischen Differenzen in der Organisation wissenschaftlicher Texte nachzuweisen. Durch die Untersuchung von 52 englisch- und deutschsprachigen wissenschaftlichen Texten aus den Bereichen Linguistik und Soziologie kommt er zum Ergebnis, dass englische Texte linear und weniger abschweifend sind und mehr metatextuelle Hinweise auf den Textaufbau verwenden, während deutsche Texte eine verhältnismäßig asymmetrische und leicht bis sehr digressive Struktur aufweisen. D. h., auch die wissenschaftlichen Texte enthalten in ihrem strukturel- len Aufbau durchaus eine kulturelle Prägung und sind im Grunde kulturspezifisch. Sowohl das Universalitätskonzept als auch das Konzept der Kulturspezifik werden hinsichtlich ihrer Pauschalisierung kritisiert, da sich das erstere in seiner Argumentation vor allem auf naturwissenschaftliche Texte bezieht und das letztere auf der Analyse geisteswissenschaftlicher Texte basiert. Insofern wird eine Relati- vierungshypothese aufgestellt. Schröder (1989: 37) fordert eine Differierung inner- halb der wissenschaftlichen Disziplinen sowie ihrer Fachsprachen, wobei er nur den naturwissenschaftlich-technischen Texten universelle Strukturen zuspricht und gesellschaftswissenschaftliche Fachtexte als kulturgebunden beschreibt. Ebenfalls haben Gnutzmann und Oldenburg diesen beiden Konzepten den Abso- lutheitsanspruch abgesprochen und formulieren die folgenden zwei Thesen: i. Je mehr ein Fachgebiet kulturübergreifenden, also einzelkulturabhängigen Charakter hat, das heißt sein eigentlicher Gegenstandbereich nicht in der Primärkultur liegt und somit nicht oder kaum „gesellschaftsbezogen“ ist, desto größer ist die Tendenz zur Verwendung sprachübergreifender, universeller Diskursmuster. (Gnutzmann/Olden- burg 1990: 213) ii. Je mehr der Gegenstandsbereich eines Fachgebietes in der Primärkultur verankert ist, je mehr er als „gesellschaftsbezogen“ charakterisiert werden kann, desto wahr- scheinlicher ist, daß bei der Versprachlichung wissenschaftlicher Sachverhalte kultur- spezifische Diskursmuster verwendet werden. (Gnutzmann/Oldenburg 1990: 213)
26 Jin Zhao Zur Überprüfung der Relativitätshypothese haben Gnutzmann/Lange (1990) sowie Oldenburg (1992) Teiltexte von deutschen und englischen Fachzeitschrif- tenartikeln (Einleitung bzw. Introduction, Zusammenfassung bzw. Conclusion) untersucht und herausgefunden, dass Teiltexte naturwissenschaftlicher wie technischer Fächer (z. B. Mathematik, Maschinenbau) sprachübergreifende Strukturen besitzen, während Teiltexte der Geistes- und Sozialwissenschaft (z. B. Pädagogik, Linguistik, Wirtschaftswissenschaften) variable Textmuster aufwei- sen. Sie verifizieren dahingehend auch die Relativitätshypothese. Diese Relativitätshypothese motivierte eine Reihe weiterer Untersuchun- gen, die in verschiedenen Fachgebieten, mit verschiedenen wissenschaftlichen Textsorten und zum Teil auch über die englische Sprache hinaus ganztextlich durchgeführt worden sind, deren Ergebnisse diese Hypothese mehr oder weniger bestätigen. Sachtleber (1993) hat zehn deutsche und französische Kongressakten (verschriftlichte Vorträge) aus dem Bereich Linguistik bezüglich der Textorgani- sation verglichen und deutliche Unterschiede sowohl bei der Textoberfläche als auch hinsichtlich der thematischen Entfaltung und der Handlungstypen fest- gestellt. Sie zieht somit den Schluss, dass zumindest in den sogenannten kul- turabhängigen Disziplinen einzelsprachliche Vertextungsmuster existieren und mit textlinguistischen Mitteln zu beschreiben sind. In der Untersuchung von Hutz (1997) werden dagegen deutsche und englische wissenschaftliche Artikel aus dem Fachgebiet Sozialpsychologie in den Fokus genommen. Sein Unter- suchungsergebnis, dass es sowohl auf der makrostrukturellen als auch auf der mikrostrukturellen Sprachebene eine Reihe interlinguale Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede gibt, führt er darauf zurück, dass sich die Sozialpsychologie weder der Naturwissenschaft noch der Geisteswissenschaft eindeutig zuordnen lässt, sich stattdessen im Spannungsfeld zwischen ihnen befindet. Somit sind nach Hutz (1997) sozialpsychologische Texte in einer Zwischenposition auf dem Kontinuum zwischen kulturübergreifenden Diskursmustern und den kulturspe- zifischen Diskursmustern zuzuordnen. Er lehnt dadurch eine generalisierende Aussage zugunsten eines der beiden Konzepte ab und schließt sich der fach- gebietsbedingten Relativitätshypothese an. Noch breiter angelegt ist die Unter- suchung von Busch-Lauer (2001), indem sie deutsche und englische Fachtexte aus dem Fachbereich Medizin und Linguistik nicht nur interlingual, sondern auch interdisziplinär erforscht und zudem sowohl Textsortenvarianten der Zeit- schriftenaufsätze (Experimentalstudien, Fallstudien sowie Übersichtsartikel in der Medizin und Originalarbeiten sowie Übersichtsartikel in der Linguistik) als auch verschiedene Textsorten der Fachtexte (neben Zeitschriftenartikeln auch Leserbriefe) in ihrer Korpusbildung berücksichtigt hat. Der interlinguale Ver- gleich hat ergeben, dass englische Texte in beiden Fachgebieten stärker agens- zugewandt und adressatenbezogen, die deutschen Texte dagegen agensabge-
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 27 wandt und objektbezogen sind, und dass sich englische sowie deutsche Texte insbesondere bezüglich der Textsorte Leserbriefe in der fachlichen Auseinan- dersetzung mit fachlichen Inhalten und ihren Autoren unterscheiden. Was das interdisziplinäre Untersuchungsergebnis angeht, lässt sich nachweisen, dass die Textgestaltung medizinischer Texte im Wesentlichen einem Prozess-Ergebnis- Charakter und zudem je nach Textsorte einem konventionalisierten Textmuster folgt. Hingegen vollziehen sich linguistische Texte erörternd-argumentativ, was sich in nicht so stark konventionalisierten Textsortenmustern niederschlägt. In ihrer Untersuchung weist Busch-Lauer darauf hin, dass Textsorten in verschiede- nen Fächern unterschiedliche Relevanz und sprachlich-textuelle Ausprägungen in Form von Textsortenvarianten haben, da der Kommunikationsgegenstand und die in einem Fach verwendeten Untersuchungsmethoden die Textgestaltung ent- scheidend prägen. Mithilfe der Untersuchung von Instruktionen von Autoren in Fachzeitschriften führt sie die Standardisierung der medizinischen Texte darauf zurück, dass die Dominanz der anglo-amerikanischen Forschung in diesem Fach- gebiet zu einer Anglisierung der fachlichen Kommunikation geführt und textu- elle Unterschiede zwischen deutschsprachigen, L2-englischen und L1-englischen Fachtexten durch die Anpassung an die anglophonen Normen immer mehr aufge- hoben hat. Im Gegensatz dazu erfolgen ihrer Meinung nach in der Linguistik der- artige Entwicklungen nicht in einem solchen Umfang, denn linguistische Texte werden stärker von den subjektiven Kommunikationsbedingungen determiniert. Somit zieht sie die Schlussfolgerung, dass nicht von einer globalen Universalität der Wissenschaft gesprochen werden kann, sondern differenziert werden muss. Es gibt aber auch Untersuchungen, deren Ergebnisse nicht eindeutig für die Relativitätshypothese sprechen. Trumpp (1998) hat z. B. fünf Textsorten (wissen- schaftliche Artikel in Fachzeitschriften und Kongressakten, Abstracts, Fach- buchbesprechungen, Auszüge aus Lehrbüchern und Fachzeitschriftenartikel für Praktiker) aus drei Sprachen (Englisch, Deutsch und Französisch) in der Sport- wissenschaft untersucht. Was den interlingualen Vergleich betrifft, zeigt sich das Ergebnis, dass sich die drei Sprachen je nach Textsorte in der Ausprägung eines Vertextungskriteriums gleichen aber auch deutlich unterscheiden können und die Unterschiede bezüglich der Textsorte hinsichtlich der Untersuchungsparame- ter anders und mit unterschiedlicher Intensität verteilt sind. Zur Überprüfung der Relativitätshypothese hat sie Fachtexte nicht nach Disziplinen, sondern separat nach Forschungsmethoden analysiert, und zwar aus der Überlegung heraus, dass diese beiden stark miteinander korrelieren. Allerdings wird die Hypothese, dass zwischen empirischen Texten die sprachkulturbedingten Unterschiede in der Vertextung wissenschaftlichen Wissens geringer als zwischen nicht-empirischen Texten sind, nicht bestätigt. Denn sie kann keine signifikanten Unterschiede in allen untersuchten Parametern ermitteln.
28 Jin Zhao Sowohl das Universalitätskonzept und das Konzept der Kulturspezifik als auch die Relativitätshypothese haben meines Erachtens eins gemeinsam, dass sie alle Kultur lediglich als Sprachkultur und die anderen kollektivbezogenen Kulturformen (vgl. Zhao 2008: 29–35) nicht als solche verstanden haben. Das sogenannte „secondary cultural system“ in der Wissenschaft nach Widdowson (1979: 519) stellt jedoch durchaus eine eigene Kultur in der wissenschaftlichen Gemeinschaft dar, ähnlich sollte es z. B. auch die Kultur der Naturwissenschaft, die Kultur der Geisteswissenschaft und die Kultur einer bestimmten Disziplin geben. Dabei stehen diese Kulturen bestimmter wissenschaftlicher Gemeinschaf- ten miteinander sowie mit der entsprechenden Sprachkultur in enger Beziehung und üben einen wechselseitigen Einfluss aufeinander aus. Somit bedeutet die Diskussion über Universalität, Kulturspezifik und Relativität der Wissenschafts- sprache letztendlich, ob und inwieweit die Sprachform der wissenschaftlichen Gemeinschaft von den verschiedenen Sprachkulturen beeinflusst wird oder nicht. Im Folgenden wird deswegen durch die kontrastive Untersuchung der chine- sischen und deutschen wissenschaftlichen Artikel hinsichtlich der Makrostruk- tur im Eröffnungs- und Schlussteil erörtert, dass in derselben wissenschaftlichen Gemeinschaft (hier im Konkreten Linguistik) verschiedene Sprachkulturen auch andere Darstellungsweisen in derselben Textsorte hervorbringen. 3 M akrostruktur der wissenschaftlichen Texte im Chinesischen und Deutschen Makrostruktur als konventionalisierter Textbauplan ist nach Buhlmann/Fearns (1987), Hoffmann (1988), Gläser (1990) sowie Gnutzmann/Oldenburg (1991) eine bestimmte Abfolge von hierarchisch geordneten Textsegmenten, die die Entfal- tung des Grundthemas abbildet. Sie repräsentiert den Gedankengang eines Text- produzenten und äußert sich in einer bestimmten Abfolge und Kombination von Teiltexten an der Textoberfläche. Zur Erfassung der inhaltlichen Struktur wird ein Text zuerst durch inhaltlich-funktionale Analyse und mit Hilfe von verbalen bzw. nonverbalen Gliederungssignalen in Teiltexte gegliedert. Nach Oldenburg (1992: 63) sind Teiltexte größere inhaltlich-funktionale Einheiten von Texten, die formal und thematisch voneinan- der abgrenzbar sind. […] Teiltexte sind relativ abgeschlossene Einheiten, die gemeinsam im Zusammenwirken den Text konstruieren und in den Textzusammenhang eingebettet sind.
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 29 Die einzelnen Teiltexte können strukturell weiterhin analysiert werden, um Teil- textsegmente zu ermitteln und diese inhaltlich-funktional zu untersuchen. Unter Teiltextsegmenten (Abkürzung: TTS) versteht Busch-Lauer (2001: 109) die inhaltlich-funktionalen Einheiten der Textorganisation, die die Binnenstruktur von Teil- texten aufgrund der kommunikativen Funktion des betreffenden Teiltextes festlegen. […] Sie sind Bindeglied zwischen der propositionalen Struktur eines Fachtextes und der sprach- lichen Realisierung der Teiltexte. Im Folgenden werden anhand eines deutschen und chinesischen Teilkorpus, das jeweils aus 20 germanistischen1 und sinologischen linguistischen Zeitschriften- artikeln2 aus den Jahren zwischen 2006 und 2010 gebildet worden ist, hinsicht- lich der Makrostruktur des Eröffnungsteils und des Schlussteils der Zeitschriften- artikel kontrastiv analysiert. 3.1 M akrostruktur des Eröffnungsteils Bei der Analyse des Eröffnungsteils sind insgesamt fünf Teiltextsegmente (TTS) in Anlehnung an Hutz (1997: 117–123) und Buch-Lauer (2001) eruiert worden, die wiederum in verschiedenen Varianten in Erscheinung treten: TTS 1 Einführung in den Untersuchungsgegenstand a) Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes (die Wichtigkeit bzw. Aktualität des Untersuchungsgegenstandes in der Forschung bzw. in der Kommunikationspraxis unterstreichen) b) Allgemeine Aussagen zum Untersuchungsgegenstand (in Form einer Definition oder durch das Aufführen bestimmter Charakteristika) TTS 2 Literaturbericht a) Aufzeigen der bisherigen Defizite b) Aufzeigen der Forschungsschwerpunkte 1 Das Teilkorpus für die germanistische Linguistik im Zeitraum besteht aus Texten von zwei Zeit- schriften: Muttersprache und Deutsche Sprache. 2 Für die Zusammensetzung des Teilkorpus für die sinologische Linguistik wurden die Zeit- schrift Studies of the Chinese Language (《中国语文》) und Journal of Peking University (Phi- losophy and Social Sciences) [《北京大学学报(哲学社会科学版)》] sowie Applied Linguistics (《语言文字应用》) ausgewählt.
30 Jin Zhao TTS 3 Legitimierung der eigenen Forschungsarbeit oder eigenen Meinung a) Problematisierung von Forschungsergebnissen b) Forschungsbedeutungen TTS 4 Vorstellung der eigenen Arbeit a) Zielsetzung bzw. Hauptinhalt der Arbeit b) Hypothesen c) Hinweise auf die Textstruktur des Fachzeitschriftenartikels TTS 5 a) (metasprachliche) Darstellung von Material und Methoden der Untersuchung Die Verteilung des TTS im chinesischen Teilkorpus wird in der Tabelle 1 dar- gestellt. Tabelle 1: TTS im Eröffnungsteil ChLin2000er (Eigene Darstellung) TTS1 TTS2 TTS3 TTS4 TTS5 17 (85 %) 6 (30 %) 8 (40 %) 17 (85 %) 4 (25 %) Eröffnungs- a b a b a b a b c a teil 7 13 3 3 6 2 16 1 3 4 (35 %) (65 %) (15 %) (15 %) (30 %) (10 %) (80 %) (5 %) (15 %) (25 %) Aus Tabelle 1 ist zu ersehen, dass die meisten Zeitschriftenartikel (85 %) den TTS1 aufweisen, um den Rezipienten in den Forschungsgegenstand einzuführen. Dabei beinhalten zehn Texte etwas Allgemeines über den Forschungsgegen- stand (TTS1b) und vier Texte betonen die Bedeutung des Forschungsgegen- standes (TTS1a), während drei Texte die beiden Aspekte gleichsam aufzeigen (TTS1a+TTS1b). Dagegen ist TTS2 mit 30 % kein obligatorischer Bestandteil im Eröffnungsteil. Der Literaturbericht hat zum Ziel, die bisherigen Forschungs- defizite aufzuzeigen und somit die eigene Forschung zu legitimieren oder die aktuellen Forschungsschwerpunkte zu präsentieren und somit Anschluss für die eigene Forschung zu finden. Die eigene Forschung des Autors wird im TTS3 explizit legitimiert, indem die bisherigen Forschungsergebnisse problematisiert (30 %) oder die Bedeutung der eigenen Forschung direkt erläutert (10 %) wird. Allerdings vollzieht sich dies nur bei zwei Texten (ChLin2000er5, ChLin2000er13) als Schlussfolgerung auf der Grundlage des Literaturberichtes im TTS 2 und die weitere Legitimierung bleibt verhältnismäßig allgemein. Mit 85 % Auftritts- frequenz kann TTS4 als unentbehrlicher Bestandteil des Eröffnungsteils ange-
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 31 sehen werden. Der Hauptinhalt der Arbeit wird meistens kurz und bündig vor- gestellt (80 %), und die Hälfte davon stellt impliziert die Struktur des Artikels vor. Dagegen gibt es lediglich drei Texte, die die Textstruktur explizit vorangekündigt haben. Außerdem gibt es noch einen Text, der das Textthema als Hypothese auf- stellt. Bei dem TTS5a werden zumeist (empirischer) Untersuchungsgegenstand, -korpus, -umfang und –methode (ChLin2000er1, ChLin2000er9, ChLin2000er15) bzw. im nachfolgenden Text verwendete Abkürzungszeichen (ChLin2000er6) auf der Metaebene vorgestellt. Was die deutschen Teiltextsegmente im Eröffnungsteil betrifft, sind in diesem Teilkorpus drei neue Varianten hinzugekommen, und zwar TTS 3 b1) Begründung des eigenen Themas TTS 4 d Theoretische Grundlagen und Methodik der Arbeit TTS 5 b Metakommunikative Erklärung der Voraussetzung der Arbeit Die Verteilung des TTS in diesem Teilkorpus wird in der Tabelle 2 zusammen- gefasst. Tabelle 2: TTS im Eröffnungsteil DtLin2000er (Eigene Darstellung) TTS1 TTS2 TTS3 TTS4 TTS5 18 (90 %) 7 (35 %) 5 (25 %) 18 (90 %) 1 (5 %) Eröffnungs- a b a b a b b1 a b c d b teil 8 13 3 4 3 1 1 10 1 10 2 1 (40 %) (65 %) (15 %) (20 %) (15 %) (5 %) (5 %) (50 %) (5 %) (50 %) (10 %) (5 %) Tabelle 2 zeigt, dass TTS1 in 18 Texten vorzufinden ist, wobei in drei Texten TTS1a) und TTS1b) in Kombination vorkommen. TTS1a) stellt die Bedeutung des Unter- suchungsgegenstandes durch die Betonung seiner Wichtigkeit in der Forschung bzw. in der Praxis dar (40 %). Dagegen führt TTS1b) bestimmte Charakteristika des Untersuchungsgegenstandes auf und spielt mit 65 % Vorkommenshäufigkeit in diesem Teilkorpus eine wichtige Rolle. Was den TTS2 angeht, ist der Literatur- bericht kein obligatorischer Bestandteil des Eröffnungsteils in diesem Teilkorpus. Denn lediglich drei Texte (15 %) mit der Problematisierung der Forschungsergeb- nisse und vier Texte (20 %) mit der Darstellung der Forschungsvoraussetzung zur Einordnung der eigenen Forschungsarbeit berichten über den thematisch bezo- genen Forschungsstand. TTS3 ist nur in fünf Texten erschienen, und zwar in drei verschiedenen Varianten. Dabei wird in drei Texten durch die Betonung des For- schungsdesiderats die eigene Forschungsarbeit legitimiert und jeweils in einem
32 Jin Zhao Text durch die direkte Unterstreichung der Bedeutung der eigenen Forschungs- arbeit sowie durch die Begründung des eigenen Forschungsthemas. TTS4 über die Vorstellung der eigenen Arbeit kommt in 18 Texten vor und ist somit obliga- torisch im Eröffnungsteil des Korpustextes. In drei Texten erscheinen die Vari- anten TTS4a) und TTS4c) zusammen, und jeweils in einem Text wird TTS4a) mit TTS4d) und TTS4a) mit TTS4b), TTS4c) sowie TTS4d) kombiniert. Die Hälfte der Teilkorpustexte hat in ihrem Eröffnungsteil die Zielsetzung bzw. den Hauptinhalt des Textes vorgestellt (TTS4a) sowie die Textstruktur vorangekündigt (TTS4c), dagegen gibt es noch einen Text, bei dem Hypothesen aufgestellt (TTS4b), sowie zwei Texte, bei denen theoretische Grundlagen bzw. Methodik der Arbeit vorge- stellt werden (TTS4d). TTS5 b kommt nur in einem Text vor, wobei in diesem Text der Hintergrund der Gedanken dargestellt und die Schwierigkeit einer nicht von Eigeninteressen geleiteten Sicht bei der Diskussion der deutschen EU-Sprachpo- litik thematisiert werden. Das erfolgt auf der Metaebene des eigentlichen Textes. Aus den obigen Analysen ergeben sich vor allem Unterschiede in zwei Hin- sichten: i. Die eigene Forschungsarbeit kann im Eröffnungsteil durch die Problemati- sierung der bisherigen fremden Forschungsergebnisse legitimiert werden. Allerdings wird dies in den deutschen und chinesischen Zeitschriftenartikeln unterschiedlich praktiziert. Während die Problematisierung der fremden For- schungsergebnisse in den deutschen linguistischen Zeitschriftenartikeln in Kombination mit dem Literaturbericht vollzogen und dadurch argumentiert wird, erfolgt dies im Chinesischen meistens ohne konkrete Literaturbelege vielmehr als pauschale und subjektive Bewertung. Bei dem TTS1a kann die Wichtigkeit des Forschungsgegenstandes aus der Per- spektive der Forschung (Beispiel 1) oder der Kommunikationspraxis (Beispiel 2) akzentuiert werden, wobei die Aussagen im Chinesischen ohne Literaturangabe im Wesentlichen allgemein bleiben (wie „Es ist uns aufgefallen …“ oder „Es gibt gewisse Forschungen über …“). Auch bei der Erklärung des Forschungsgegen- standes werden selten Definitionen im strengen Sinne verwendet, stattdessen finden Beispiele zur Veranschaulichung der Charakteristika des Forschungs- gegenstandes (TTS1b) häufig Anwendung (Beispiel 3). Beispiel 1: „汉语语言学学界对语块有一定的研究,但是这一领域还有广阔的空间等待 我们去开拓。[Es gibt gewisse Forschungen über Syntagmen in der sinologi- schen Linguistik, aber auf diesem Gebiet haben wir noch viel zu erschließen.]“ (ChLin2000er12)
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 33 Beispiel 2: „‚有没有/有/没有+ VP 句‘,指 ‚有没有+ VP‘(甲类),‚有+ VP‘(乙类),‚没 有+VP‘(丙类)三类句式。其中的‚VP‘ 指动词或动词短语。我们注意到,多 年以来,深受学者们关注的甲类句已经成为常用句式,且正在进一步发展 成熟。由于它的诱发因素以及别的因素的作用,目前,主要在口语中,乙类 ‚有+VP‘ 句也在悄然萌生,正成为一种新生的表示肯定的动词谓语词。丙类的‚没 有+VP‘, 也有新的发展。[‚Gibt es oder nicht/Es gibt/Es gibt nicht + VP‘ bezieht sich auf die drei Satzstrukturen ‚Gibt es oder nicht + VP‘ (Gruppe 1), ‚Es gibt + VP‘ (Gruppe 2) und ‚Es gibt nicht + VP‘ (Gruppe 3). Dabei werden mit ‚VP‘ Verben oder verbale Strukturen gemeint. Es ist uns aufgefallen, dass seit meh- reren Jahren die sehr von den Gelehrten beachtete Satzstruktur der Gruppe 1 bereits allgemein verwendeter Satztyp ist und wird eine gewisse grammatische Reife erreichen. Dies bewirkt zusammen mit anderen Elementen, dass z. Z. die Gruppe 2 ‚Es gibt + VP‘ in der mündlichen Sprache unbemerkt verwendet wird und gerade ein neues verbales prädikatives Wort zur Bejahung geworden ist. Die Gruppe 3 ‚Es gibt nicht + VP‘ hat auch eine neue Entwicklung.]“(ChLin2000er1) Beispiel 3: „本文题目所说的 ‚同宾结构‘(object sharing construction)如例(1)所示: (1)a. 张三买了一本书看 b. 张三给了李四一本书看 这种结构有三个鲜明特征。 [Die im Titel der vorliegenden Arbeit genannte ‚object sharing construction‘ kann im Beispiel (1) gezeigt werden: a Zhang San hat ein Buch zum Lesen b Zhang San hat Li Si ein Buch zum gekauft. Lesen gegeben. Diese Struktur hat drei deutliche Charakteristika.]“(ChLin2000er7) Im Deutschen werden im Beispiel 4 die Literatur in Fußnoten angegeben. Beispiel 4: „Auch bei anderen Autoren finden sich lediglich pauschale, in den meisten Fällen nicht empirisch überprüfte Tendenzaussagen5. Offen bleibt außerdem die Frage, wie längere Referenzketten (vgl. Lernertext (1)) gestaltet werden (sollten)6.“ (DtLin2000er11) ii. Die metakommunikative Vorankündigung der Textstruktur im Eröffnungsteil ist in den deutschen linguistischen Zeitschriftenartikeln allgemein üblich, dagegen ist dieses Teiltextsegment im Chinesischen noch eine Seltenheit. Dies kann höchstens im Teiltextsegment Zielsetzung bzw. Hauptinhalt der Arbeit implizit dargestellt werden.
34 Jin Zhao Wie das Beispiel 5 angedeutet hat, wird der Hauptteil des Textes dreigeteilt und jeweils mit „语言使用类型 [Typen der Sprachverwendung]“, „语言使用上的特点 [Merkmale der Sprachverwendung]“ und „语言使用中存在的问题 [Probleme der Sprachverwendung]“betitelt. Beispiel 5: „本文主要讨论以文本形式为主的手机短信的语言使用状况,包括语言使用 类型、语言使用上的特点和语言使用中存在的问题。[Die vorliegende Arbeit diskutiert vor allem die Sprachverwendung der in Textform erscheinenden SMS, inklusive der Typen, der Merkmale und der Probleme der Sprachverwen- dung.]“(ChLin2000er19) Im Deutschen wird dagegen die Strukturdarstellung durch Angaben der einzel- nen Kapitelnummern explizit (Beispiel 6). Beispiel 6: „Nach einigen kurzen Bemerkungen zur Geschichte des Fußballsports und seiner Terminologie in Deutschland (3.1) sowie zu einigen wichtigen semanti- schen Prinzipien, denen die Sprache des Fußballs in allen ihren Schichten und Schattierungen folgt (3.2), werden sich die folgenden Ausführungen daher auf die Sprache der (schriftlichen) Fußballberichterstattung konzentrieren (3.3), in die alle wesentlichen Phänomene der Fußballsprache Eingang gefunden haben.“ (DtLin2000er1) 3.2 Makrostruktur des Schlussteils Im Schlussteil gibt es die folgenden Teiltextsegmente: TTS1 Zusammenfassung der eigenen Forschungsergebnisse TTS2 Diskussion der Forschungsergebnisse a) Erläuterung der Gründe für die gefundenen Ergebnisse b) Vergleich mit anderen Forschungsergebnissen c) Relativierung der eigenen Forschungsergebnisse TTS3 Bedeutung der Forschungsergebnisse a) Wert der Ergebnisse / Anwendungsmöglichkeiten b) Appellative Betonung der Wichtigkeit der Forschungen
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 35 TTS4 Offene Fragen a) Forschungsdesiderata oder –aussicht b) Handlungsvorschlag TTS5 Metakommunikative Äußerungen Im chinesischen Teilkorpus sieht die Verteilung der einzelnen Teiltextsegmente folgendermaßen aus (Tabelle 3). Tabelle 3: TTS im Schlussteil ChLin2000er (Eigene Darstellung) TTS1 TTS2 TTS3 TTS4 TTS5 8 (40 %) 3 (15 %) 8 (40 %) 6 (30 %) 1 (5 %) Schlussteil a b c a b a b 8 1 1 1 7 3 3 3 1 (40 %) (5 %) (5 %) (5 %) (35 %) (15 %) (15 %) (15 %) (5 %) Aus der Tabelle 3 ergibt sich, dass viele Artikel (40 %) mit dem TTS1 im Schluss- teil den Hauptinhalt des Textes zusammenfassen bzw. die wesentlichen neuen Erkenntnisse verdeutlichen. Nur wenige Artikel (15 %) erörtern im Schlussteil die Forschungsergebnisse aus dem Hauptteil. Dabei analysieren sie die Gründe für die Forschungsergebnisse (5 %), rechtfertigen die eigenen Forschungsergebnisse durch Vergleich mit anderen (5 %) oder relativieren die Forschungsergebnisse und geben somit einen Absolutheitsanspruch auf (5 %). Acht Texte verweisen auf die Bedeutung der Forschungsergebnisse (40 %), dabei werden die Werte oder die Anwendungsgebiete von sieben Texten konkret aufgezeigt (35 %) und drei Texte (15 %) betonen auf appellative Weise die Wichtigkeit der eigenen Forschung. Zwei Texte darunter kombinieren diese zwei Aspekte. TTS 4 wirft offene Fragen hinsichtlich des Forschungsgegenstandes bzw. der –methode auf und kommt in zwei Varianten vor: Drei Texte (15 %) geben einen Forschungsausblick und drei weitere (15 %) machen Handlungsvorschläge, was durchaus appellative Züge in sich trägt. Die metasprachliche Äußerung als Ergänzung der Arbeit kommt in diesem Teilkorpus lediglich in einem Text vor (5 %) Was die einzelnen Teiltextsegmente im deutschen Teilkorpus betrifft, so sind weniger Varianten vorgekommen, sodass die Verteilung der Teiltextsegmente konzentriert ist und ein mehr oder minder homogenes Bild vermittelt. In Tabelle 4 wird der Überblick zusammengestellt.
36 Jin Zhao Tabelle 4: TTS im Schlussteil DtLin2000er (Eigene Darstellung) TTS1 TTS2 TTS3 TTS4 TTS5 19 (95 %) 6 (30 %) 1 (5 %) 5 (25 %) 1 (5 %) Schlussteil a b c a a 19 2 2 2 1 5 1 (95 %) (10 %) (10 %) (10 %) (5 %) (25 %) (5 %) Es ist auffällig in Tabelle 4, dass der TTS1 in allen Teilkorpustexten mit einem Schlussteil vorhanden ist (95 %). Diese Zusammenfassung der Forschungsergeb- nisse kann sich in einem kurzen Absatz oder punktuell in mehreren Absätzen ausführlich vollziehen. TTS2 ist zwar in allen drei Varianten vertreten, allerdings mit jeweils 10 % mit einer sehr geringen Häufigkeit. D. h., es wird wenig über die Forschungsergebnisse erörtert, sei es Gründe für die ermittelten Ergebnisse zu nennen, Vergleiche mit fremden Forschungsergebnissen anzustellen oder die eigenen Forschungsergebnisse zu relativieren. Ebenso wenig kommt die meta- kommunikative Äußerung vor (5 %), die Hinweise auf weitere Informationen zum eigentlichen Forschungsthema gibt. TTS3 ist nur in einer Variantenform in einem einzigen Text vorgekommen, die indirekt auf die Bedeutung der For- schungsergebnisse hinweist. Dagegen ist TTS4a), der weitere Forschungsaus- sichten bzw. -desiderata darstellt, verhältnismäßig häufiger in den fünf Texten vorzufinden. Aus der obigen Analyse ist ersichtlich, dass der größte Unterschied in den beiden Teilkorpora darin liegt, dass in den chinesischen wissenschaftlichen Zeit- schriftenartikeln die Betonung der eigenen Forschungsergebnisse im Schluss- teil auch durch appellative Sprachhandlungen realisiert werden kann, hingegen kommt dies in deutschen Zeitschriftenartikeln nicht vor. Beispiel 7: „语体对语言学、历时句法学以及文学理论的研究都具有重大的意义。 […] 凡此种种,均暗示出一个以语体为轴心的综合学科的形成与建立。语体之 为用,亦大矣哉![Der Textkommunikationsstil hat eine wichtige Bedeutung für die Forschung von Sprachwissenschaft, diachronischer Syntax und der Theorie der Literaturwissenschaft. […] All das weist auf die Formierung und Bildung einer umfassenden Disziplin mit dem Textkommunikationsstil im Zentrum. Der Textkommunikationsstil ist wirklich von großem Nutzen!]“(ChLin 2000er10)
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 37 Beispiel 8: „Nur wer gleichsam mit der Fußballsprache aufwächst – vom Bolzplatz bis zum Stadion –, kennt diese Lexik und kann die Texte des Fußballs vollständig ver- stehen. Die Teilnahme am Super-Diskurs unserer Zeit gehört aber heute schon fast zu den Erfordernissen des Alltags.“ (DtLin2000er1) 4 Überlegungen zum Konzept der Universalität, der Relativität und der Kulturspezifik der Wissenschaftssprache Das Universalitätskonzept muss bereits an der Bezeichnung Universalität scheitern, wenn unter Universalität „allgemeine Erscheinungen (Einheiten, Eigenschaften, Beziehungen) in möglichst vielen oder allen Sprachen der Erde“ (Schwanzer 1981: 214) zu verstehen sind. Abgesehen davon, dass der von dem Universalitätskonzept postulierte einheitliche wissenschaftliche Sprachstil nicht an allen natürlichen Sprachen erprobt worden ist, was methodisch auch schwer realisiert werden kann, hält er nicht einmal disziplindifferenzierenden Untersuchungen stand. Die Relativitätshypothese hält an einem Teil der Univer- salien der Wissenschaftssprache fest und spricht zumindest der naturwissen- schaftlichen bzw. technischen Sprache die größere Tendenz zur Universalität zu. Allerdings wird diese Hypothese bisher auch nicht an allen oder zumindest an möglichst vielen Sprachen und nicht in allen Disziplinen überprüft. Außerdem ergeben die einzelnen Untersuchungen bei einer beschränkten Anzahl von Spra- chen und Disziplinen zwar in den meisten Fällen die größere Tendenz der natur- wissenschaftlichen Disziplinen zu universellen Diskursmustern im Gegensatz zu den geistwissenschaftlichen Disziplinen, allerdings verlangt das Wort Tendenz bereits eine gewisse Relativität für sich, denn in den einzelnen Untersuchungen werden nicht nur die sprachübergreifenden interdisziplinären Gemeinsamkei- ten, sondern auch Unterschiede ermittelt, wie die oben vorgestellten empirischen Forschungen gezeigt haben. Somit kann bei der Relativitätshypothese höchstens von den mehr übereinzelsprachlichen Gemeinsamkeiten der naturwissenschaft- lichen bzw. technischen Disziplinen im quantitativen Sinne gesprochen werden, wobei sich eine weniger sprachkulturbezogene Kulturspezifik nicht im Ganzen absprechen lässt. Obwohl im Zuge der Internationalität der Wissenschaft – ins- besondere in der Naturwissenschaft – eine gewisse Angleichung der Denkmuster in der Wissenschaft nicht geleugnet werden kann, ist eine gewisse einzelsprach- spezifische Besonderheit in einer bestimmten Textsorte immer zu finden, solange
38 Jin Zhao Texte in Natursprachen statt in Kunstsprachen geschrieben werden. Wie die obige Untersuchung zur Makrostruktur des Eröffnungs- und des Schlussteils in chine- sischen und deutschen linguistischen Zeitschriftenartikeln gezeigt hat, sind die Besonderheiten des chinesischen Textes, seien die fehlenden Literaturbelege, die mangelnde metakommunikative Vorankündigung der Textstruktur, oder die Bevorzugung der appellativen Sprachhandlungen, vielmehr einer stilistischen Art, gehen sie über die einzelne Textsorte und die einzelne Disziplin hinaus und wurzeln letztendlich in der chinesischen subjektiven und indirekten Denkweise. An dem kulturspezifischen Konzept wird oft kritisiert, dass es übergenera- lisiert ist. Denn die Forschungsergebnisse (z. B. von Clynes) können nicht ohne weiteres auf andere wissenschaftliche Bereiche und andere Textsorten übertragen werden (vgl. Hutz 1997: 67). In der Tat ist es immer an eine konkrete Textsorte und an einen konkreten Kommunikationsbereich gebunden, wie und in inwieweit die Texte sprachkulturbezogen sind. Obwohl die verschiedenen Kollektive derselben Sprachgemeinschaft von den Denkmustern und Sprachanwendungsgewohnhei- ten der gemeinsamen Sprachkultur als Dachkultur geprägt werden, können sie durchaus jeweils ihre Varianten und somit auch ihre eigene Identität bilden. Natürlich kann eine Textsorte zwischen verschiedenen Disziplinen und ver- schiedenen Sprachen neben den Unterschieden durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese transkulturellen Konvergenzen der Textsorte schließen das Verständnis der Kulturgeprägtheit der Textsorten, bei der die Aufmerksamkeit zumeist auf die Erforschung der Unterschiede gelegt wird, nicht aus. Außerdem bedeutet die Kulturgeprägtheit der Textsorten in der Wissenschaft nicht, dass eine Textsorte einer Sprache in allen wissenschaftlichen Kommunikationsberei- chen demselben Vertextungsmuster folgt und im Vergleich zu dieser Textsorte in allen anderen Sprachen dieselben Unterschiede aufweist. Vielmehr bedeutet dies lediglich, dass eine Textsorte in verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Kollektiven bezüglich bestimmter Vergleichsparameter der Vertextung anders realisiert ist, wobei die Unterschiede sowie die Intensität der Unterschiede je nach Vergleichssprachpaar und je nach wissenschaftlicher Disziplin variieren können. Insofern bin ich der Meinung, dass Textsorten auch in der Wissenschaft kulturgeprägt sind, sowohl sprachkulturell als auch disziplinbezogen. Literaturverzeichnis Buhlmann, Rosemarie/Fearns, Anneliese. 1987. Handbuch des Fachsprachenunterrichts: Unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. Berlin: Langenscheidt.
Wissenschaftliche Texte: universell oder kulturspezifisch? 39 Busch-Lauer, Ines-Andrea (Hrsg.). 2002. Fachtexte im Kontrast: Eine linguistische Analyse zu den Kommunikationsbereichen Medizin und Linguistik (Leipziger Fachsprachen-Studien 16). Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Clyne, Michael. 1981. Culture and Discourse Structure. In: Journal of Pragmatics 5(1). S. 61–65. Clyne, Michael. 1984. Wissenschaftliche Texte Englisch- und Deutschsprachiger: Textstruk- turelle Vergleiche. In: Studium Linguistik 15. S. 92–97. Clyne, Michael. 1987. Cultural Differences in the Organization of Academic Texts: English and German. In: Journal of Pragmatics 11(2). S. 211–247. Clyne, Michael. 1991. Zu kulturellen Unterschieden in der Produktion und Wahrnehmung englischer und deutscher wissenschaftlicher Texte. In: Info DaF 18(4). S. 376–383. Czicza, Dániel/Hennig, Mathilde. 2011. Zur Pragmatik und Grammatik der Wissenschaftskom- munikation. Ein Modellierungsvorschlag. In: Fachsprache 33(1–2). S. 36–60. Galtung, Johan. 1983. Struktur, Kultur und interkultureller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft. In: Leviathan 11(3). S. 303–338. Gläser, Rosemarie. 1990. Fachtextsorten im Englischen (Forum für Fachsprachen-Forschung 13). Tübingen: Narr. Gläser, Rosemarie. 1992. Methodische Konzepte für das Tertium comparationis in der Fachspra- chenforschung – dargestellt an anglistischen und nordischen Arbeiten. In: Baumann, Klaus-Dieter/Kalverkämper, Hartwig (Hrsg.): Kontrastive Fachsprachenforschung (Forum für Fachsprachen-Forschung 20). Tübingen: Narr. S. 78–92. Gnutzmann, Claus/Lange, Regina. 1990. Kontrastive Textlinguistik und Fachsprachenanalyse. In: Gnutzmann, Claus (Hrsg.): Kontrastive Linguistik. Frankfurt a. M.: Lang. S. 85–116. Gnutzmann, Claus/Oldenburg, Hermann. 1990. Kontrastive Fachtextanalyse Deutsch-Englisch. In: Spillner, Bernd (Hrsg.): Sprache und Politik. Kongreßberichte der 19. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Frankfurt a. M.: Lang. S. 211–215. Gnutzmann, Claus/Oldenburg, Hermann. 1991. Contrastive Text Linguistics in LSP-Research: Theoretical Considerations and Some Preliminary Findings. In: Schröder, Hartmut (Hrsg.): Subject-oriented Texts. Languages for Special Purposes and Text Theory. Berlin/New York: de Gruyter. S. 103–136. Hardy, Jörg. 2008. Wissenschaft. In: Prechtl, Peter/Burkard, Franz-Peter (Hrsg.): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Metzler. S. 684. Hoffmann, Lothar. 1988. Vom Fachwort zum Fachtext. Beiträge zur Angewandten Linguistik (Forum für Fachsprachen-Forschung 5). Tübingen: Narr. Humboldt, Wilhelm von. 2010[1820]. Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus(Hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band III. Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt: WBG. S. 1–25. Humboldt, Wilhelm von 2010a [1827–1829]. Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band III. Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt: WBG. S. 144–367. Hutz, Mattias. 1997. Kontrastive Fachtextlinguistik für den fachbezogenen Fremdsprachenun- terricht: Fachzeitschriftenartikel der Psychologie im interlingualen Vergleich (Studien zur anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft 8). Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag. Oldenburg, Hermann. 1992. Angewandte Fachtextlinguistik. „Conclusions“ und Zusammen- fassungen. Tübingen: Narr.
40 Jin Zhao Sachtleber, Susanne. 1993. Die Organisation wissenschaftlicher Texte: Eine kontrastive Analyse (Europäische Hochschulschriften: Reihe 21, Linguistik 127). Frankfurt a. M.: Lang. Schröder, Hartmut. 1989. Gesellschaftswissenschaftliche Fachtexte und interkulturelle Fachkommunikation: Probleme für den Fremdsprachenlerner und Übersetzer. In: Fachsprache. International Journal of LSP 11(1). S. 37–41. Schwanzer, Villam. 1981. Syntaktisch-stilistische Universalia in den wissenschaftlichen Fachsprachen. In: Bungarten, Theo (Hrsg.): Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. Hamburg: Fink. S. 213–230. Trumpp, Eva Cassandra. 1998. Fachtextsorten kontrastiv: Englisch – Deutsch – Französisch (Forum für Fachsprachen-Forschung 51). Tübingen: Narr. Weinrich, Harald. 1985. Sprache und Wissenschaft. In: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 39. S. 496–506. Weinrich, Harald. 1989. Formen der Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch 1988 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin/New York: de Gruyter. S. 119–158. Widdowson, Henry George. 1979. Explorations in Applied Linguistics. Oxford: Oxford University Press. Angaben zur Person Prof. Dr. Jin Zhao ist Dekanin der Deutschen Fakultät der Tongji-Universität. Ihre Forschungs- schwerpunkte sind Textlinguistik und Diskurslinguistik, Interkulturelle Kommunikation, Sprachphilosophie.
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