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Hans-Heinrich Trute „...that nature is the ultimate bioterrorist“ – Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses Zu den Schranken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG Übe r sic h t In Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses werden I. Einleitung Wissenschaftler schnell zu verantwortungslosen, ver- II. Herausforderungen durch die Forschung rückten Gesellen,1 die um ihres überspannten Wissen- 1. Sicherheitsrelevante Entwicklung schaftler-Egos, ihrer Reputation oder ökonomischer Inter- a) Die Risiken der Influenza-Forschung essen willen die Menschheit mit hochriskanten Experi- b) Die Gain-of-Function Experimente menten gefährden und nebenbei Terroristen das Wissen c) Biosafety und Biosecurity zum Bau hochgefährlicher, die Menschheit bedrohender d) Single Use, Dual Use oder Multiple Use Bio-Waffen liefern. Anlass zu diesen Szenarien sind spekta- 2. Zusammenfassung: Die mehrfache Ungewissheit kuläre Forschungen der Influenza-Forscher, insbesondere III. Wissenschaftsfreiheit und konkurrierende Rechtsgüter die sogenannten Gain-of-Function (GOF) Experimente.2 1. Die Wissenschaftsfreiheit als Handlungs- und Kommunikati- Letzter Anlass der Erregung in einer Kette von Experimen- onsfreiheit ten war die Rekonstruktion des Virus der Spanischen Grip- a) Die Forschung als Handlungspraxis pe durch Reverse Genetics.3 b) Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit Zur Einhegung oder Verhinderung solcher oftmals 2. Mögliche Einschränkungen des vorbehaltlos gewährleisteten als zu riskant empfundenen Experimente, zumal in ei- Grundrechts nem Bereich, der wie wenige andere Gegenstand von 3. Die Risikoabwägung: Nur eine Risiko-Nutzen-Analyse? Untergangsvisionen ist,4 sollen Reflexionslasten, Selbst- 4. Einschränkungen durch die EMRK verpflichtungen, neue Ethikkommissionen, Forschungs- IV. Die Forschungsfreiheit: Einschränkungen und Verbote einschränkungen, Forschungsverbote, Publikationsein- 1. Allgemein schränkungen und -verbote helfen. Vor dem Hinter- 2. Forschungsverbote oder -einschränkungen zur Wissensbe- grund auch medial hochgetriebener Risiken wirkt die Wis- schränkung oder -unterdrückung senschaftsfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG schnell wie V. Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit aus der Zeit gefallen. Als vorbehaltloses Grundrecht ist sie 1. Wissensdistributionsverbote allerdings eine Grenzmarkierung, die in ihrer Bedeu- a) Die Eigenschaften des Wissens tung offenbar minimiert werden muss. Dazu steht der b) Anknüpfungen an die Handlungen Dritter seit 9/11 gepflegte, entgrenzte Sicherheitsdiskurs zur Ver- 2. Das Problem des Zensurverbots fügung, der auch in anderen Feldern seine enormen VI. Rahmenbedingungen der Forschungsförderung Rechnungen zu Lasten von Freiheitsgarantien präsen- VII. Ethikkodizes: Selbst- oder Fremdregulierung? tiert. Der hochrangige Zweck der Sicherheit, die diffuse VIII. Schluss Bedrohung durch Terrorismus, die nicht näher spezifi- 1 Der nicht eben für Übertreibungen bekannte Lord May schrieb im 2 Als Gain-of-Function Experimente bezeichnet man diejenigen Ex- Hinblick auf die Rekonstruktion des Virus der Spanischen Grippe perimente, die die Übertragung auf Mammalia und die Pathogeni- von 1918: „The work they are doing is absolutely crazy. The whole tät von Viren im Wege genetischer Änderung des Virus verändern. thing is exceedingly dangerous“ (...) „Yes, there is a danger, but it‘s Eine informierte Diskussion der Risiken und der potentiellen not arising from the viruses out there in the animals, it‘s arising Vorteile findet sich bei Casadevall/Imperiale, Risks and benefits from the labs of grossly ambitious people.“, zitiert nach Connor, of Gain-of-Function Experiments with Pathogens of Pandemic American Scientists controversially recreate deadly Spanish Flu Potential, Such as Influenza Virus: a Call for a Science-Based Virus, The Independent, 11.6.2014; Wain-Hobson vom Institut Discussion, MBio (5/4), 2014, S. 1-5. Pasteure (Paris) wird mit den Worten zitiert: „It’s madness, folly. 3 Watanabe, Circulating Avian Influenza Viruses Closely Related It shows the profound lack of respect for the collective decision. to the 1918 Virus Have Pandemic Potential, Cell Host & Microbe Making process we’ve always shown in fighting infections. If (15/6), 2014, S. 692-705. society, the intelligent layperson, understood what was going on, 4 Zu den Ängsten vor Epidemien vgl. Eckart, Die Erregung der they would say ‚What the F are you doing”, zitiert nach Sample, Erreger, Süddeutsche Zeitung v. 2.3.2015 S. 11. Scientists condemn ‚crazy’ ‚dangerous’ creation of deadly airborne flu virus, The Guardian, 11.6.2014. Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197-9197
100 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 1 5 ) , 9 9 – 1 1 6 ziert werden kann, da sie überall und jederzeit manifest herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund kann die werden kann, soll dann jede Einschränkungen von Frei- Wissenschaftsfreiheitsgarantie dann der Problemlage heitsrechten rechtfertigen. Der vorgeblich gute Zweck entsprechend differenziert nach Forschung und Kom- heiligt die Mittel. munikation entfaltet werden. Man muss die unter den Stichworten Biosafety und Biosecurity diskutierten Sicherheitsprobleme nicht leug- II. Herausforderung durch die Forschung nen, um sich gleichwohl zu wundern, mit welch leichter Hand Grundrechtsgarantien einem mehr oder weniger Gegenüber den oben angedeuteten Szenarien ist strukturierten Abwägungsdiskurs und einem Ethikregime zunächst das Gefährdungsproblem einer näheren Ana- anheim gegeben werden, um Sicherheitsgewinne zu er- lyse zu unterziehen. Dabei geht es sowohl um die Art zielen, deren Charakteristika vor allem darin bestehen, wissenschaftlicher Experimente und die Publikation der dass sie abstrakt und intransparent bleiben. Wo die Be- Erkenntnisse, als auch um die Struktur der Gefährdung, drohungsszenarien diffus bleiben und die Anhaltspunk- von der die Rede ist. te für ihre Relevanz das Licht der Öffentlichkeit scheuen, Wie immer, wenn die Wissenschaft und ihre Frei- kann der Sicherheitsgewinn nicht bemessen werden. heitsgarantie in der Kritik stehen, ist dies nicht zuletzt Man kennt das aus anderen Bereichen: Je diffuser die Be- durch Fortschritte der Wissenschaft selbst induziert, drohungsszenarien und möglichen Sicherheitsprobleme durch das erhöhte Auflösungs- und Rekombinationsver- sind, desto mehr wird ein schon in die Terminologie hi- mögen derselben,6 das gesellschaftliche Erwartungen neinreichender Überbietungsdiskurs gepflegt, bei dem begründet und enttäuscht, vorhandene Routinen, Le- enorme Schadenspotentiale beschworen werden, die bens- und Geschäftsmodelle verändert oder ethisch neu dann das Nichtwissen über reale Bedrohungen ausglei- zu bewertende Optionen eröffnet und damit als riskant chen sollen.5 Wenn etwa die wissenschaftliche Publikati- wahrgenommen wird. Die Forschung wird dabei von ei- on als Bauanleitung für Massenvernichtungswaffen me- nem Risikodiskurs begleitet, in dem nicht nur plausible dial konstruiert wird, ist ein Verbot offenkundig nicht Risikoszenarien entworfen werden, sondern auch wenig mehr rechtfertigungsbedürftig. So gerät die Wissen- realitätstaugliche Überbietungs- oder Verharmlosungs- schaftsfreiheit unter Rechtfertigungsdruck. In der allfäl- szenarien. Dies galt in der Risikodebatte, der Stammzell- ligen Abwägung hat der Forscher dann den Nutzen sei- forschung, der Reproduktivmedizin, der grünen und ro- ner Tätigkeit darzustellen, um gegenüber den solcher- ten Gentechnik ebenso wie in der Nanotechnologie und maßen stets überwältigenden Risiken bestehen zu kön- für die Hirnforschung darf in naher Zukunft Ähnliches nen. Der Hinweis, die Forschung ermögliche Wissen, das erwartet werden.7 Nicht selten reagiert die Politik mit auch für die Gesundheit mittelfristig Bedeutung haben Regulierung auf die Überbietungsszenarien.8 Das droht könne, wird als zu diffus bewertet, im Gegensatz zu den auch im vorliegenden Fall, nicht nur in Deutschland. Je- schneller einleuchtenden Bedrohungsszenarien, die freilich denfalls aber wirft es stets aufs Neue das Problem der oftmals ohne jede Konkretisierung daherkommen. Damit Abstimmung von Wissenschaft und Gesellschaft auf. wird eine Asymmetrie in die Diskussion eingeführt, die Rückwirkungen für die Wissenschaftsfreiheit hat. 1. Sicherheitsrelevante Entwicklungen Nachfolgend werden zunächst die Szenarien der For- Nicht zu verkennen ist, dass sich die Umstände der For- schung und ihre Risiken etwas genauer beleuchtet und schung in erheblicher Weise verändert haben, keines- insbesondere die Struktur der Gefährdung deutlicher wegs nur durch terroristische Bedrohungen, sondern 5 Vgl. die ausführliche Diskussion bei Miller/Selgelid/van der 7 Bei letzterer zeigen sich allerdings Enttäuschungserscheinungen; Bruggen, Report on Biosecurity and Dual Use Research. A Report vgl. einerseits Das Manifest. Was wissen und können Hirnforscher for the Dutch Research Council, 2011, S. 22 ff., die objektive und heute?, http://www.spektrum.de/thema/das-manifest/852357 subjektive Risikoeinschätzungen unterscheiden und die Zwänge (22.1.2015); dagegen Memorandum „Reflexive Neurowissen- der Politik angesichts subjektiver Einschätzungen betonen, ohne schaft“, https://www.psychologie-heute.de/home/ dabei freilich die Risiken der Politik selbst zu übersehen. Aller- lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/ dings dürften weder die subjektiven Einschätzungen unabhängig (22.1.2015). von Politik sein, noch dürften allein auf der Basis von subjektiven 8 Zur Kritik vgl. bereits Trute, Wissenschaft und Technik, in: Isen- Risikoeinschätzungen Einschränkungen von Grundrechten ohne see/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 88 Rn. 1; zur Weiteres zu rechtfertigen sein. Diskussion aus der Sicht der Bioethik vgl. zu den Überbietungs- 6 Dazu und zum Folgenden Deutscher Ethikrat, Biosicherheit – und Verharmlosungsdiskursen Scott, Toward a Better Bioethics, Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft, 2014, S. 27 ff., SciEngEth (15), 2009, S. 283-291. http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/biosicher- heit (5.3.2015).
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 101 auch durch die Globalisierung und nicht zuletzt durch selbst Gegenstand der Besorgnis (Biosafety), sondern die Entwicklungen in der Wissenschaft selbst.9 So wer- auch die mögliche Nutzung der Forschungserkenntnisse den in der Virusforschung seit geraumer Zeit gentechni- durch Terroristen (Biosecurity). Im Hinblick auf den sche Methoden eingesetzt, um die Pathogenität und die letzteren Aspekt werden dann schon terminologisch aus Transmissibilität von Erregern zu untersuchen und diese anderen Bereichen bekannte Semantiken übertragen, zu verändern. Durch Fortschritte der Lebenswissen- wie die Dual-Use-Problematik, die dann als Dual Use schaften, der Bioinformatik und der Genomforschung Research of Concern (DURC)13 auf dem Display der sowie der Entwicklung schneller und kostengünstiger Wissenschaftsfreiheitsdebatte erscheint.14 Insoweit hat Sequenzierungsverfahren wird die Analyse von Pathoge- sich schon der Kontext der Forschung erheblich verän- nitätsfaktoren deutlich verbessert. Die Systembiologie dert. ermöglicht Erkenntnisse über Wirt/Erreger-Verhältnis- se. Insgesamt eröffnet das Ensemble verschiedener Ent- a) Die Risiken der Influenza-Forschung wicklungen avancierte Schritte. Diese dienen letztlich Der Ausgangspunkt der gegenwärtigen Debatte liegt, wie dem Ziel, verbesserte Therapieansätze zu entwickeln. schon gesagt, in durchaus sicherheitsrelevanten For- Aber in der Veränderung der Pathogenität und Trans- schungen insbesondere der Influenza-Community, ist missibilität können auch nicht unerhebliche Risiken aber keineswegs darauf beschränkt. Dies galt etwa schon erzeugt werden. Von einer anderen Seite drängen – wie für die Rekonstruktion des Erregers der Spanischen auch sonst in der Wissenschaft – Bewegungen wie Citi- Grippe von 1918 in jahrelanger Arbeit durch drei renom- zen Science10 oder hier die Open-Access-Biologie in den mierte wissenschaftliche Institutionen mit dem Ziel, Vordergrund und nähren Befürchtungen,11 mit dem Impfstoffe zu entwickeln.15 Auch davor und danach hat Erwerb günstigen Forschungsequipments in diesem es Rekonstruktionen verschiedenster Viren gegeben.16 Bereich könnten wissenschaftliche Ergebnisse auch von Anlass der Debatte waren indes vor allem zwei im Jahre „Laien“ zu terroristischen Zwecken genutzt werden.12 2012 zur Veröffentlichung führenden Experimente,17 die Daher sind nicht mehr nur die Risiken der Forschung zum Ziel hatten, mittels mutierter Varianten des H5N1- 9 Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 22 ff. 14 Nicht zuletzt die Entscheidung eines niederländischen Gerichts, 10 Vgl. dazu Fincke, Citizen Science, 2014. eine Regierungsentscheidung aufrechtzuerhalten, nach der 11 Unter dem Stichwort De-Skilling wird dies ausführlich debattiert, Wissenschaftler eine Exportgenehmigung auf der Grundlage der vgl. Chyba, Biotechnology and the Challenge to Arms Control, Dual-Use Verordnung für eine Veröffentlichung über eines der Arms Control Today (36) 2006, S. 11-17; Epstein, The Challen- 2012 zur Veröffentlichung anstehenden Experimente (siehe ges of Developing Synthetic Pathogens, Bulletin of the Atomic Fn. 17); dazu auch Butler, Pathogen-research laws queried, Nature Scientists, 2008. Dabei ist eine technologiezentrierte Sichtweise (403) 2013, S. 19. unübersehbar, die gleichsam eine De-Professionalisierung der 15 Taubenberger/Kash, Insights on influenza pathogenesis, from the Systembiologie zu einem Lego-Baustein-Arrangement innerhalb grave, Virus Res. (162), 2011, S. 2-7; Taubenberger et al., Cha- weniger Jahre annimmt; dieses ist theoretisch wenig überzeugend racterization of the reconstructed 1918 Spanish Influenza virus und empirisch nicht validiert. Vgl. auch das Resumé von Tucker, polymerase genes, Nature (437), 2005, S. 889–893; Tumpey et Can Terrorists Exploit Synthetic Biology? New Atlantis, 2011, al., Characterization of the reconstructed 1918 spanish influenza S. 74 f.: „In sum, although certain aspects of parts-based syn- pandemic virus, in: Science (310/5745), 2005, S. 77-80; ausführli- thetic biology may well become more accessible to non-experts, che Darstellung der Gründe auch in CDC, Reconstruction of the the field’s explicit de-skilling agenda is far from becoming an 1918 Influenza Pandemic Virus, http://www.cdc.gov/flu/about/ operational reality.“; ebenso National Science Advisory Board qa/1918flupandemic.htm (22.1.2015); zu den ermöglichten Fort- for Biosecurity, Addressing Biosecurity Concerns Related to the schritten vgl. auch Taubenberger et al., Reconstruction of the 1918 Synthesis of Select Agents, 2006. influenza virus: unexpected rewards from the past. mBio (3/5), 12 Zweifelnd zu Recht Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), 2012, e00201-12. doi:10.1128/mBio.00201-12; für eine kurze S. 41, mit dem Hinweis auf notwendige Expertise und vor allem Schilderung und Analyse vgl. Deutscher Ethikrat, Biosicherheit das erforderliche tacit knowledge; ebenso Miller/Selgelid/van der (Fn. 6), S. 51 f. Bruggen, Report (Fn. 5), S. 15: „(...) a rather high hypothetical 16 Vgl. die Nachweise bei Tucker, Terrorists (Fn. 11), S. 69–81. value (...)“. 17 Imai et. al., Experimental adaption of an influenza H5HA confers 13 United States Government Policy for Oversight of Life Sciences respiratory droplet transmission to a reassortant H5HA/H1N1 Dual Research of Concern, http://osp.od.nih.gov/sites/default/ virus in fetts, Nature (486/7403), 2012, S. 420-428; Herfst et. files/resources/United_States_Government_Policy_for_ al., Airborne transmission of influenza A/H5N1 virus between Oversight_of_DURC_FINAL_version_032812_1.pdf (22.1.2015): ferrets, Science (336/6088), 2012, S. 1534-1541; eine Schilde- „For the purpose of this Policy, DURC is life sciences research rung des langen Prozesses der Konzeption und Durchführung that, based on current understanding, can be reasonably anticipa- der Arbeiten findet sich bei Fouchier/Herfst/Osterhaus, Public ted to provide knowledge, information, products or technologies Health and Biosecurity. Restricted Data on Influenza H5N1 Virus that could be directly misapplied to pose a significant threat Transmission, Science (335/6069), 2012, S. 662-663; vgl. auch die with broad potential consequences to public health and safety, Nachweise bei Lipsitch/Galvani, Ethical Alternatives to Expe- agricultural crops and other plants, animals, the environment, riments with Novel Potential Pandemic Pathogens, PLoS Med material, or national security.”; Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (11/5), 2014, e1001646. (Fn. 6), S. 83 ff.
102 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 1 5 ) , 9 9 – 1 1 6 Virus zu prüfen, ob diese auch im Luftwege übertragen Experimente. Eine mittlerweile als Aufreger fungierende werden können (anders als der Wildtyp, der nur bei Kör- Schlussaussage ist: „In considering the threat of bioterro- perkontakt und ohnehin selten übertragen werden rism or accidental release of genetically engineered viru- kann). Die erregte Debatte führte zunächst zur Empfeh- ses, it is worth remembering that nature is the ultimate lung des amerikanischen National Science Advisory bioterrorist.“24 Boards für Biosecurity (NSABB), die Ergebnisse nicht zu publizieren; am Ende aber wurden die überarbeiteten c) Biosafety und Biosecurity Ergebnisse publiziert. Es folgte ein einjähriges freiwilli- Es dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, dass bestimm- ges Moratorium für entsprechende Versuche.18 Umstrit- te GOF-Experimente mit erheblichen Risiken einherge- ten aber bleiben diese weiterhin,19 befeuert nicht zuletzt hen können. Dieser Risikoaspekt (Biosafety) soll in durch weitere Experimente, wie die Herstellung des erheblichem Umfang durch Anforderungen an den For- Virus der Spanischen Grippe von 1918 durch die For- schungsprozess und die Labor- und Arbeitssicherheit schungsgruppe um Yoshihiro Kawaoka aus in wilden abgefangen werden. Die Risiken für das Forschungsper- Enten gefunden Fragmenten, mit dem Ziel die Übertra- sonal ebenso wie die Risiken einer unbeabsichtigten gungsmöglichkeiten des Virus zu analysieren.20 Freisetzung sollen dabei durch die Einstufung des Gefah- renpotentials und entsprechende Sicherheitsanforde- b) Die Gain-of-Function Experimente rungen soweit reduziert werden, dass sie als hinnehmbar Es sind vor allem bestimmte sog. Gain-of-Function angesehen werden können. Soweit ersichtlich ist bisher (GOF) Experimente und die mit ihnen verbundenen keine belegte Freisetzung eines solchermaßen veränder- wirklichen oder vermeintlichen Risiken,21 die die Kritik ten Virus aufgetreten,25 wohl aber mögen Meta-Analy- herausfordern. Diese hat mittlerweile zu einem (erzwun- sen dafür sprechen, dass die Möglichkeit eines unbeab- genen) Moratorium durch den Stopp der öffentlichen sichtigten Entweichens kaum je ausgeschlossen werden US-amerikanischen Finanzierung von bestimmten kann.26 GOF-Experimenten geführt.22 Befürchtet wird darüber hinaus, dass die Materialien Allerdings zeigt eine ausführliche Diskussion der Ar- und das generierte Wissen zur Produktion von biologi- tikel von 2012, die Auslöser der erneuten Debatte waren schen Massenvernichtungswaffen durch Terroristen be- und sind,23 dass ungeachtet der Abwägung von Risiken nutzt werden könnte (Biosecurity). Im Ausgangspunkt und Nutzen doch verhältnismäßig wenig über die Aus- gilt es dabei festzuhalten, dass nicht etwa Forscher und breitungsbedingungen von Influenza-Viren bekannt ist Forscherinnen verdächtigt werden, etwas Illegales vor- und dass eine breit angelegte Ausbreitungs-Forschung zuhaben und zum Bioterrorismus beizutragen. Zwar notwendig ist, auch in der Anlage der bisherigen GOF- kann man mit guten Gründen davon ausgehen, dass es 18 Vgl. Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 9 ff. H7N9, Science (341), 2013, http://www.sciencemag.org/ 19 Trevan, Do not censor science in the name of biosecurity, Nature content/341/6146/612.full.pdf (21.1.2015). (486), 2012, S. 295; Butler, Freeze on mutant-flu research set to 24 Morens/Subbarao/Taubenberger, Engineering H5N1 (Fn. 23), thaw, Nature (486/7404), 2006, S. 449–450; Dickmann/Dorsten/ S. 338; Vgl. dort (S. 335-340) die ausführliche Diskussion der Becker, Wir müssen die Risiken aushalten, FAZ, 20.12.2012. beiden Artikel einschließlich der medialen Übertreibungen und 20 Watanabe, Circulating Avian Influenza (Fn. 3); Connor, Ameri- des derzeitigen Stands der Forschung; auch die ausführliche can Scientists controversially recreate deadly Spanish Flu Virus, Rekonstruktion der Debatte bei Casadevall/Imperiale, Risks and The Independent, 11.6.2014. benefits (Fn. 2); vgl. auch WHO, Report on technical consultation 21 Eine informierte Diskussion der Risiken und der potentiellen on H5N1 research issues, 2012, http://www.who.int/ Vorteile findet sich bei Casadevall/Imperiale, Risks and Benefits influenza/human_animal_interface/mtg_report_h5n1.pdf?ua=1 (Fn. 2); Lipsitch/Galvani, Ethical Alternatives (Fn. 17). (21.1.2015); Perez, Hung up on the Wrong Questions, Science 22 Kaiser, Researchers rail against moratorium on risky virus (335), 2012, S. 799-801; krit. etwa Wain-Hobson, The Gain-of- experiments, Science, 22.10.2014, http://news.sciencemag.org/ Function Experiment of Great Concern, mBio (5/5), 2014, http:// biology/2014/10/researchers-rail-against-moratorium-risky- www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4205792/ (21.1.2015). virus-experiments (21.1.2015). 25 Das ist allerdings umstritten. Lipsitch/Galvani, Ethical Alterna- 23 Doherty/Thomas, Dangerous for ferrets: lethal for humans?, BMC tives (Fn. 17) gehen unter Berufung auf Webster et al., Evolution Biol. (10), 2012, S. 10; Fouchier et. al., Preventing pandemics: the and ecology of influenza A viruses, Microbiol Rev (56), 1992, flight over flu, Nature (481), 2012, S. 257-259; Osterholm/Kelley, S. 152-179 davon aus, dass ein H1N1 Influenza Strang, der von Mammalian-transmissible H5N1 influenza: facts and perspective, 1977-2009 virulent war, aus einem Laborunfall stammen soll („is MBiol (3), 2012, S. 2; Palese, Don’t censor life-saving science, thought to have originated“). Der Verweis ist allerdings nicht Nature (481), 2012, S. 115; Webster, Mammalian-transmissible überzeugend und das Ergebnis als solches wiederum der Kritik H5N1 influenza: the dilemma of dual-use research, MBio (3), ausgesetzt vgl. Sample, Virus experiments risk unleashing global 2012, S. 1; Morens/Subbarao/Taubenberger, Engineering H5N1 pandemic, study warns, The Guardian, 21.5.2014. avian influenza viruses to study human adaptation, Nature (486), 26 Lipsitch/Bloom, Rethinking Biosafety in Research on Potential 2012, 335; Fouchier et al., Gain-of-Function-Experiments on Pandemic Pathogens, mBio (3/5), 2012, S. 1-3.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 103 auch aus dem Inneren eines Labors heraus zu bioterro- bestimmte Eigenschaft der Produkte, Technologien und ristischen Anschlägen kommen kann. Folgt man den des Wissens, die die Regulierungsinteressen rechtfertigt. Untersuchungen des FBI, soll die Freisetzung des Milz- aa) Er diente zunächst der Bezeichnung einer wissen- branderregers Anthrax 2001 in den USA von einem For- schaftspolitischen Position der Nachkriegszeit, die Spill- scher einer amerikanischen Militärforschungseinrich- Over-Effekte der Militärtechnologie in den privaten in- tung erfolgt sein, auch wenn Zweifel an dieser Version dustriellen Bereich und umgekehrt als einen Weg be- bleiben.27 Aber dieses Szenario dürfte eher mit Maßnah- nannte, angemessene Innovationen trotz Reduktion der men der Laborsicherheit zu adressieren sein, als mit dem Militärforschung in diesem Bereich zu erzielen. Die Un- Verbot oder der Einschränkung von Forschung und Pu- terscheidung von bene- und malevolenten Nutzungs- blikationen. Es ist vor allem das von Wissenschaftlern möglichkeiten ein und derselben Technologie kam erst produzierte Wissen mit Dual-Use Potential, das als ris- später hinzu. Auch seine Nutzung im Bereich der Life kant gilt. Daran ist zweierlei bedeutsam: Es wird der eher Sciences datiert verhältnismäßig spät. Auch die Biowaf- seltene Fall sichtbar, in dem Ansprüche auf Sicherheit fen-Konvention kennt diesen Begriff nicht, sondern legt dazu führen sollen, Wissen entweder nicht zu generieren in Art. 10 ausdrücklich ein Gewicht auf die internationa- oder nicht zu publizieren,28 weil es von anderen genutzt le Zusammenarbeit und den Austausch von Agenzien werden kann, um damit schädliche Absichten zu verfol- und Toxinen zu friedlichen Zwecken.33 Dies steht im gen.29 Die mögliche Verwendung durch Dritte wird zum Einklang mit der WHO-Politik über einen Austausch Ausgangspunkt von Regulierungsinteressen30 und zwar der Viren und Erreger im Rahmen des PIP Frameworks, nicht gegenüber denjenigen, die schädliche Verwendun- insbesondere die weniger entwickelten Staaten an der gen beabsichtigen, sondern denjenigen, die zu weiteren Entwicklung von Mitteln und auch an der Forschung im wissenschaftlichen Erkenntniszwecken dieses Wissen Sinne einer effektiven Pandemie-Präventionspolitik teil- (und die damit verbundenen Artefakte in Form von wis- haben zu lassen.34 Erst im Gefolge der Anthrax-Briefe senschaftlichen Objekten) generieren.31 im Kontext von 9/11 ist diese Begrifflichkeit zu einer Grundfrage der Forschung aufgewertet worden.35 d) Single Use, Dual Use oder Multiple Use Dies trifft zusammen mit der Fragmentierung der in- Der Begriff des Dual Use, der das Stichwort für Regulie- ternationalen Ordnung und den damit verbundenen rungsinteressen abgibt, hat dabei eine erstaunliche Kar- Schwierigkeiten, ein stabiles Exportkontrollregime zu riere hinter sich.32 Dieser Begriff suggeriert eine etablieren.36 Wo die Bedrohung nicht mehr allein von 27 Das FBI hat in seiner abschließenden Erklärung Bruce Ivins, For- minervaextremelaw.haifa.ac.il/images/Trute-2014-How_to_deal_ scher in dem U.S. Army Medical Research Institute for Infectious with_pandemics.pdf (22.1.2015); WHO, Report on technical Diseases (USAMRIID) als verantwortlichen Täter ausgemacht, consultation on H5N1 research issues, 2012, http://www.who. der im Jahre 2008 wenige Tage vor der Anklageerhebung Selbst- int/influenza/human_animal_interface/mtg_report_h5n1. mord beging. Allerdings verbleiben nach der Untersuchung etwa pdf?ua=1(22.1.2015); Fouchier/Herfst/Osterhaus, Restricted Data der National Academies of Science weiterhin Zweifel an dieser (Fn. 17), S. 662 f., mit der zutreffenden Bemerkung, dass die Re- Version; vgl. die Presseerklärung der NAS v. 5.02.2011 http:// striktionen dem WHO-Ansatz des Sharings mit den betroffenen www8.nationalacademies.org/onpinews/ Ländern im Rahmen des PIP Framework widersprechen; ebenso newsitem.aspx?RecordID=13098 (22.1.2015); eine neue Studie Faden/Karron, The Obligation to Prevent the Next Dual-Use des Government Accountability Office ist ebenfalls skeptisch im Controversy, Science (335), 2012, S. 802-804. Hinblick auf die vom FBI gezogenen Schlüsse; vgl. Broad, Inquiry 31 Bisher hat es kaum bekannte Fälle der Verwendung von Agenzien in Anthrax Mailings Had Gaps, Report Says, New York Times, zu terroristischen Zwecken gegeben, jenseits der wenigen, immer 20.12.2014, S. A 13. wieder bemühten Versuche vor längerer Zeit, wie etwa dem 28 Das Exzeptionelle betonen auch Marchant/Pope, The Problems Anschlag der AUM-Sekte in Tokio, dessen genauere Analyse with Forbidding Science, SciEngEth (15), 2009, S. 375-394, 376. ebenfalls erhebliche Zweifel an der Begründung von Überbie- 29 Dies ist allerdings nicht ohne historische Präzedenzfälle; vgl. tungsszenarien gibt; vgl. auch Miller/Selgelid/van der Bruggen, ausführlich Laughlin, Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an Report (Fn. 5), S. 22 mit der Frage, ob dies nicht die Frage nach der Wissensgesellschaft, 2008. der Rechtfertigung von Einschränkungen aufwirft. 30 Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Restriktion der 32 Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 8 ff.; Reppy, Proliferation des Wissens und der Fertigkeiten im Umgang mit Managing Dual Use in an Age of Uncertainty, The Forum (4/1), den genetisch rekonstruierten oder veränderten Viren (vgl. 2006, S. 1-7. etwa Butler, Freeze (Fn. 19)) auch zur Aufrechterhaltung einer 33 Zur Reichweite im Hinblick auf die missbrauchsanfällige Verwen- Ungleichverteilung des Wissens führt, die für das Feld von dung Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der biologischen Pandemien schon im Allgemeinen hohe Risiken begründet. Dazu Forschung – Gutachten für den Deutschen Ethikrat, 2014, S. 132 f. und zu den Ansätzen der WHO die Ungleichverteilung im Rah- 34 Trute, How to Deal (Fn. 30). men des internationalen Pandemierahmens zu berücksichtigen 35 Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 11 ff., 18 ff. Trute, How to deal with pandemics? (i.E.) (preprint unter http:// 36 Reppy, Managing Dual Use (Fn. 32), S. 1-7.
104 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 1 5 ) , 9 9 – 1 1 6 Staaten ausgeht, die unschwer als mögliche Adressaten nes und damit eng gekoppeltes Wissen im Rahmen einer von Einschränkungen oder Verpflichtungen in An- Technologie, deren künftige Verwendung jedenfalls in spruch genommen werden können, fällt die Schaffung gewissem Umfang bestimmt werden kann. Eine Zentri- eines stabilen Rahmens schwerer. Ungeachtet dessen ist fuge, das weiß man, kann für vielfältige industrielle und der Begriff des Dual Use alles andere als klar.37 Jedenfalls wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, aber eben nimmt er im Bereich der Biowissenschaften eine neue auch im Rahmen der Produktion von Atomwaffen. Das Bedeutung an, insofern er nicht mehr in erster Linie auf ist bei Wissen im Ausgangspunkt anders. Selbst wenn es Exporteinschränkungen bezogen wird, sondern zudem auf den ersten Blick scheint, als könnte man die künfti- Verbote oder Einschränkungen der Generierung von gen Verwendungen einigermaßen bestimmen, so lässt Wissen legitimieren soll. Offenkundig wird er in dem sich die Verwendung in der Zeit nicht wirklich überse- amerikanischen Kontext zudem häufig anders verwen- hen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass Wissen später det als im europäischen. Während im amerikanischen in einem anderen Kontext von Bedeutung ist, und sei es Kontext eher die Technologie und ihre (damit abstrakte) nur als Anregung zur Veränderung von Fragestellun- Gefährlichkeit als solche betont wird, soll in Europa eher gen.40 Darin liegt aber gerade ein wesentliches Argu- der Anwendungskontext bedeutsam sein.38 Auch wenn ment für die prinzipielle Öffentlichkeit der Wissenschaft. dies eine Simplifikation der Zusammenhänge darstellen Daher ist es schwer, hinreichend sichere Kriterien für die mag, so bringt dies unterschiedliche Ansätze der Risiko- Bestimmung von Risiken der Verwendung von Wissen einschätzung zum Ausdruck und mag erklären, warum zu bestimmen. es in den USA leichter fällt, bestimmte Agenzien und cc) Im vorliegenden Kontext wird zudem unterstellt, Praktiken generell als gefährlich einzustufen und daraus dass dieses Wissen (ganz im Sinne der abstrakten Ge- regulatorische Konsequenzen abzuleiten. Die unbesehe- fährdung) ohne Weiteres für eine malevolente Verwen- ne Übertragung in einen anderen Kontext hat dann Fol- dung genutzt werden kann. Schon allgemein gilt, zumal gen für das Risikokonzept. in den Laborwissenschaften, dass erst eine Mischung aus bb) Mit der Übertragung der Dual-Use-Problematik implizitem Wissen einer Forschungspraxis, informellen auf die Influenza-Forschung wird darüber hinaus leicht Kommunikationen und explizitem und damit verallge- übersehen, dass es hier, jedenfalls soweit es nicht Agen- meinerungsfähigem Wissen es ermöglicht, Ergebnisse zien etc. betrifft, nicht um die Beurteilung der möglichen zu erzielen.41 Erst eine anspruchsvolle Praxis in Hochsi- Risiken von Produkten geht, sondern, sieht man einmal cherheitslaboren macht diese Ergebnisse und ihre Wei- von den Risiken der Experimente selbst ab, um die Risi- terverwendung möglich. Um diesem Problem zu entge- ken des Gebrauchs von Wissen. Wissen aber ist eine hen, soll die Einschränkung einer direkten Verwendbar- Konstruktion des Verwenders, also desjenigen, der In- keit das Ausufern der Dual-Use Problematik verhin- formationen und Kommunikate rezipiert und in einen dern.42 Nur bei „Kochrezepten“ der Forschung solle es Kontext von Relevanzen einfügt,39 was immer derjenige zu Einschränkungen kommen. Der Vergleich ist instruk- sagen wollte, der sie zunächst geäußert hat. Von daher ist tiv. Wäre es – um in dem Bild zu bleiben – so einfach aus Dual-Use nicht eine Eigenschaft des Wissens, sondern Kochrezepten Sternemenüs zu produzieren, ein jeder die Zuschreibung von Verwendungsmöglichkeiten bzw. könnte Sternekoch sein, vielleicht nach einiger Übung. deren Realisierung. Multiple Use steht für die Funktion Das suggestive Bild des Kochrezepts oder der direkten der immer wieder neuen Anregung, vorhandene Infor- Verwendbarkeit geht an den anspruchsvollen Vorausset- mationen und Wissen für Neues umzucodieren. Das un- zungen der Praxis der Wissenschaften vorbei.43 Es terscheidet Wissen von Produkten, die üblicherweise in braucht stets mehr als veröffentlichtes Wissen, um Er- einem Kontext des Bekannten verhältnismäßig gut ver- kenntnisse dieser Art zu replizieren und in malevolente ortet werden können. Sie sind gewissermaßen gefrore- Verwendungen zu transformieren.44 37 Forge, A Note on the Definition of „Dual Use“, SciEngEth (16), 41 Gläser, Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften, 2006, 2010, S. 111-118. S. 107 ff.; Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 41; 38 Pustovitz/Williams, Philosophical aspects of Dual Use Technolo- Allgemein Loenhoff, Implizites Wissen. Epistemologische und gies, SciEngEth (16), 2010, S. 17-31. handlungsheoretische Perspektiven, 2012. 39 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hrsg.), Wis- 42 Vgl. auch DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit und Wissen- sen – zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, schaftsverantwortung. Empfehlungen zum Umgang mit sicher- S. 14 f. heitsrelevanter Forschung, 2014, S. 13 (ohne zusätzliches Wissen/ 40 Von daher stellen die Definitionen von Dual Use denn auch auf ohne aufwendige Umsetzungs- und Anwendungsprozesse). den gegenwärtigen Zeithorizont ab; vgl. Miller/Selgelid/van der 43 Tucker, Terrorists (Fn. 11) , S. 69-81 mwN. Bruggen, Report (Fn. 5), S. 33. 44 Vgl. auch Tucker, Terrorists (Fn. 11), S. 70 f.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 105 dd) Darüber hinaus: Veröffentlicht wird nicht ein Re- missverständlich, hier von einer Dual-Use-Problematik zept von Massenvernichtungswaffen (von denen es be- auszugehen, denn Wissen ist in vielfältiger und unabseh- kanntlich diverse im Netz geben soll, was technologisch barer Weise verwendbarer: Multiple Use statt Dual Use viel enger gekoppelte Atom-Waffen angeht),45 sondern (Verwendungsungewissheit). Ungeachtet dessen lässt etwa die Veränderung der Pathogenität eines Virus und/ sich jedenfalls am Beginn der Forschung oftmals nicht oder seiner Transmissibilitätsbedingungen, also gleich- absehen, was das Ergebnis der Forschung sein wird sam „angeschärfte“ Varianten dieses Virus.46 Aber diese (Ergebnisunsicherheit).51 Dann lässt sich auch eine sind noch lange keine Massenvernichtungswaffe. Für Dual-Use-Problematik nicht hinreichend sicher bewer- eine Transformation in einer Massenvernichtungswaffe ten. Ungeachtet dessen aber muss man sehen, dass selbst bedürfte es der Umsetzung des Erregers in ein anderes die bloße Möglichkeit einer malevolenten Nutzbarkeit Setting,47 welches im Übrigen wieder in unzähligen Ver- noch nichts für eine Risikoanalyse hergibt, es sei denn suchen gehärtet werden müsste,48 die wiederum nur un- man wollte die abstrakte Gefährdung schon ausreichen ter höchsten Sicherheitsbedingungen erfolgen könnten. lassen. Man hat also eine Reihe von Dimensionen der Andernfalls würde die Versuchsdurchführung auch Risiken in der künftigen Verwendung zu unerwünschten gleichzeitig das Ende des Versuchs für die beteiligten Zwecken jenseits der bloßen theoretischen Möglichkeit Personen bedeuten. Der Deutsche Ethikrat kommt da- zu berücksichtigen. her in seiner Sach-Analyse der derzeitigen und absehba- ren Entwicklung zu der Einschätzung, dass je anspruchs- III. Wissenschaftsfreiheit und konkurrierende voller die Technologien sind, desto unwahrscheinlicher Rechtsgüter es ist, dass sie eine terroristische Gefahr darstellen.49 Das schließt naturgemäß nicht aus, dass die wissenschaftli- Vor diesem Hintergrund lassen sich die Grundzüge der che Entwicklung weiter geht und damit auch erhöhte Ri- Wissenschaftsfreiheitsgarantie entwickeln und in einem siken begründet werden können. Es macht aber deutlich, weiteren Schritt auf die hier in Rede stehenden Probleme auf welchen anspruchsvollen Voraussetzungen die Dual- beziehen. Dazu gilt es zunächst die Wissenschaftsfrei- Use-Problematik im Bereich der Wissenschaft gründet, heitsgarantie sowohl als Forschungs- wie als Kommuni- jedenfalls dann, wenn sie mit der Veröffentlichung von kationsfreiheit zu entfalten, bevor wir auf die hier in Wissen zu tun hat. Rede stehenden möglichen Gründe für Einschränkun- gen eingehen. 2. Zusammenfassung: Die mehrfache Ungewissheit Schon daran wird deutlich, dass man es in diesem 1. Die Wissenschaftsfreiheit als Handlungs- und Kom- Bereich versuchter Regulierung der Wissenschaft mit munikationsfreiheit einer mehrfachen Ungewissheit zu tun hat.50 Diese Dabei scheinen Biosafety und/oder Biosecurity zunächst bezieht sich einerseits auf die Risiken der Forschung unter dem Aspekt der Wissenschafts- bzw. Forschungs- selbst (Forschungsrisiken), also der Experimente, ander- freiheit keine wirklich neuen strukturellen Problemem seits auf die Risiken der Kommunikation der Ergebnisse aufzuwerfen. Vielmehr scheint es vor allem darum zu gehen, (Wissensrisiken). Im ersteren Bereich ist die Situation ob und inwieweit die Forschungs- und Wissenschaftsfrei- strukturell durchaus vergleichbar mit den bisherigen heit zugunsten anderer Rechtsgüter eingeschränkt werden Risiken der Gen-Forschung. Voraussetzungsvoller ist kann, ggf. eingeschränkt werden muss. Indes ist es im Hin- indes der Umgang mit Wissen. Zum einen ist es schon blick auf die Risikoanalyse sinnvoll zwischen der experi- 45 Dazu und zu den Unterschieden zwischen A- und B-Waffen tists websites 2008, nimmt folgende, durchaus im Einzelnen und vgl. nur Kelle/Schaper, Terrorism using biological and nuclear ihrem Zusammenwirken komplexe Schritte an: Herstellung des waepons. A critical analysis of risks after 11 September 2001. Agens in der erforderlichen Menge, Stabilisierung des Agens, die PRIF Reports No. 64. Überführung des Agens in Trockensubstanz oder Flüssigkeiten 46 Dabei ist nach dem bisherigen Stand der Forschung schon unklar, und die Entwicklung eines Übertragungssystems. Die Schlussfol- ob eine Transmission direkt durch die Adaption eines Virus oder gerung lautet: „The methods to stabilize, coat, store, and disperse nur durch die weitere Anpassung eines ohnehin schon übertra- a biological agent are highly complicated, known only to a few genen Virus stattfinden kann. Darüber hinaus: „This suggests people, and rarely published.“ that de novo emergence of a human pandemic influenza virus is 48 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 51. an extreme rare event that is not easily achieved in nature, and 49 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 53. presumably would not be easily achieved by engineering a small 50 Vgl. auch Thurnherr, Biosecurity und die Publikation heikler number of laboratory mutations“; vgl. Morens/Subbarao/Tauben- Forschungsdaten aus grundrechtlicher Perspektive, 2014, S. 98 ff. berger, Engineering H5N1 (Fn. 23), S. 335. 51 Zu Recht betont in DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit 47 Kuhn, Defining the Terrorist Risk, Bulletin of the Atomic Scien- (Fn. 42), S. 9.
106 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 1 5 ) , 9 9 – 1 1 6 mentellen Forschungspraxis und der Kommunikationsseite die Wissenschaftsfreiheit de facto und zumal in den hier der Wissenschaft zu unterscheiden. relevanten Zusammenhängen gar nicht außerhalb spezi- fischer Berufsrollen und erworbener Qualifikationen aus- a) Die Forschung als Handlungspraxis geübt werden kann. Die Thematisierung von De-Skilling- Der Forschungsfreiheit geht es um Handlungen zur Prozessen58 zeigt das ungeachtet ihrer Reichweite. Erzeugung neuen Wissens.52 In ihren Schutzbereich ein- Bedeutsam ist dies vor allem im Hinblick auf die Risiko- bezogen ist alles Handeln, das sich daran orientiert, neu- einschätzung, die die Bindung an die Berufsrolle und die es Wissen zu erzeugen. Zur Forschung sind daher alle damit verbundenen Qualifikationsprozesse berücksich- Tätigkeiten zu rechnen, die diesem Ziel dienen, also alle tigen muss. Darüber hinaus ist die wissenschaftliche Handlungen der Vorbereitung, Durchführung und Kommunikation nicht auf ein Dafürhalten im Sinne von Fixierung der Ergebnisse, also etwa Ermittlung des Stan- Meinungen bezogen, sondern auf die Mitteilung von des der Forschung, Materialsammlung (und ggf. -her- neuem Wissen, Theorien, Methoden und Ergebnissen stellung), Hypothesenbildung, experimentelle Überprü- von Wissensgenerierungsprozessen. Es werden also in fung, Interpretation der Ergebnisse etc. Dies schließt dieser Kommunikation Geltungsansprüche erhoben, die entgegen früher gelegentlich vertretener Ansichten das auch im Regelfall mit Tatsachen einhergehen, die als sol- Experiment in allen seinen Facetten mit ein.53 In den che mitgeteilt und in bestimmte Zusammenhänge einge- Lebenswissenschaften ist dieses oft genug ein Experi- bettet werden. Insofern werden Tatsachen nicht als Vor- mentalsystem zur Erzeugung von Wissen, das gleichzei- aussetzungen von Meinungen betrachtet, sondern sind tig die Manipulation von vorhandenen Agenzien bein- als Aussagen über Tatsachen nachgerade ein Kern der haltet. Experimentalsysteme in diesem Sinne beinhalten wissenschaftlichen Kommunikation. Zudem ist der nicht nur Instrumente und Aufzeichnungsapparaturen Bezugspunkt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit im sondern und in den Biowissenschaften vor allem Modell- Ausgangspunkt ein anderer.59 Dieser kann sich zwar mit organismen,54 also auch Agenzien, die manipuliert wer- der allgemeinen Öffentlichkeit überlappen, aber tut dies den können, um damit einen neuen Organismus herzu- im Regelfall zunächst nicht, und selten ohne weitere stellen, dessen Eigenschaften dann Gegenstand weiterer Transformationsschritte von Format und Text. Insoweit Forschung sind. Auch diese Experimente sind daher Teil kommunizieren Wissenschaftler in der Regel zunächst der Forschungsfreiheit. mit Wissenschaftlern und verhandeln auf diesen Foren der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mögliche Gel- b) Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit tungsansprüche (übrigens nicht selten mündlich auf Wissenschaftsfreiheit ist darüber hinaus Kommunikati- Konferenzen, im Rahmen von Vorträgen oder informel- onsfreiheit.55 Diese wird als Unterfall und Spezialfall der ler Kommunikation).60 Insoweit ist zunächst einmal der Meinungsfreiheit angesehen.56 Historisch ist dies zwei- Rezipientenkreis begrenzt. fellos zutreffend; sie ist insofern sogar primär Kommuni- Die wissenschaftliche Kommunikationsfreiheit ist in kationsfreiheit. Allerdings ist die Kommunikationsfrei- erster Linie ein Recht des einzelnen Wissenschaftlers heit durch eine Reihe von Besonderheiten gekennzeich- (oder der Gruppe) zur Veröffentlichung, gleich in wel- net, die einfache Übertragungen der Dogmatik der cher medialen Form dies geschieht. Sie macht Wissen öf- Meinungsäußerungsfreiheit erschweren.57 Dies beginnt fentlich und begründet damit Wissenschaft als fortlau- schon mit dem Grundrechtsträger, der im Falle der Mei- fenden Kommunikationszusammenhang. Zugleich kön- nungsfreiheit jedermann ist und sein kann, wohingegen nen die Selbststeuerungsmechanismen, wie etwa die Re- 52 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und 56 Vgl. dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 13. Aufl., staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 121 ff.; Mager, Freiheit 2014, Art. 5 Rn. 120; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 5 III Rn. 64. Bd. VII, 3. Aufl., 2009, § 166 Rn. 9 f. 57 Mit Nuancen im Einzelnen auch Mager, Freiheit (Fn. 52), 53 Vgl. dazu oben II. 1. b). Rn. 11; Löwer,Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, 54 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 2006, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 99 Rn. 13. S. 29. 58 Vgl. dazu oben Fn. 11. 55 Das BVerfG spricht insoweit von der Weitergabe der Forschungs- 59 Zu Erosionen dieses Befundes vgl. Weingart, Die Stunde der ergebnisse, ohne dies allerdings weiter auszudifferenzieren; Wahrheit?, 2001, S. 232 ff. vgl. dazu BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (40), 60 So waren in den oben erwähnten Fällen der GOF-Experimente st. Rspr. seit BVerfG, 29.5.1973, 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72, die Ergebnisse natürlich schon zuvor auf Konferenzen erörtert BVerfGE 35, 79 (112). worden und damit zumindest zum Teil öffentlich geworden.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 107 putationszuweisung an die Veröffentlichung anseilen. sungsrechtliche Positionen ausgesetzt.63 Sie reichen von Dies wird noch deutlicher, wenn man in Rechnung stellt, den Versuchen der Einschreibung ethischer Grenzen in dass das Medium der Öffentlichkeit der Validierung des den Schutzbereich,64 über die Herausnahme des Experi- Wissens dient und insoweit unverzichtbarer Teil des ments aus der Gewährleistung,65 über andere Formen Qualitätssicherungsmechanismus der Wissenschaft ist. enger Konstruktionen der Forschungsfreiheit,66 wie auch Nicht validiertes Wissen begründet neue Risiken für die Konzeption einer Art Nichtstörungsschranke bis hin eben die Rechtsgüter, die durch Publikationsrestriktio- zu dem Versuch, unter Rückgriff auf die Schutzpflichten nen geschützt werden sollen.61 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Von daher besteht auch zwischen der Forschung als zu einer Einschränkung zu kommen.67 Sie lassen sich Handlungspraxis und der Kommunikation ein unverzicht- auch als Versuche lesen, die Wirkmächtigkeit der Wis- barer Zusammenhang. Unveröffentlichte Forschung ist von senschaft, insbesondere ihre sowohl physische wie kog- daher aus vielen Gründen problematisch, nicht zuletzt, nitive Risikodimension gleichsam mit der Gesellschaft weil sie einem öffentlichen Qualitätstest durch andere abzustimmen. nicht ausgesetzt worden ist. Damit aber nicht genug. Na- Indes bedarf es dieser Anstrengungen zur Verkür- türlich ist die Veröffentlichung von Forschungsergebnis- zung des Schutzbereichs nicht. Vielmehr kann die Wis- sen ebenso für die Fortsetzung der Forschung wie auch senschaftsfreiheitsgarantie auch als vorbehaltlos ge- für all diejenigen Aspekte unabdingbar, um derentwillen währleistetes Grundrecht Einschränkungen unterliegen, Forschung als frei garantiert und öffentlich alimentiert die durch kollidierendes Verfassungsrecht begründet wird, von der Aufklärung, über die Innovation bis hin werden können.68 Diese können in gesetzlichen Rege- zur Revision von Weltbildern. Schon daran zeigt sich, lungen, in Entscheidungen aufgrund gesetzlicher Rege- dass die Kommunikationsfreiheit für sich gesehen auf lungen, Selbstregulierungen von Forschungseinrichtun- eine Vielzahl von Aspekten verweist und gleichsam in gen und Verpflichtungen oder Appellen zu Reflexionen sich multiple Aspekte aufnimmt, nicht nur die individu- mit bestimmten Inhalten liegen. Als Einschränkungen ellen Aspekte, die die Forschungskommunikation legiti- legitimierendes Gegenrecht fungiert hier regelmäßig die mieren, sondern auch die Funktionsweise des Wissen- staatliche Schutzpflicht, insbesondere die Schutzpflicht schaftssystems selbst.62 für die Rechtsgüter von Leben und körperlicher Unver- sehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), aber auch zum Schutz der 2. Mögliche Einschränkungen des vorbehaltlos natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG) und weite- gewährleisteten Grundrechts rer Vorschriften.69 Dabei ist eine praktische Konkordanz Die Wissenschaftsfreiheitsgarantie sieht sich – nicht anzustreben, die zugleich der Tatsache Rechnung trägt, zuletzt wegen ihrer vorbehaltlosen Gewährleistung – dass auch die kollidierenden Verfassungsgüter Teil der vielfältigen Versuchen einer Einhegung jenseits der als Einheit gedachten Rechtsordnung sind. bekannten dogmatischen Linien der Einschränkung Dabei fordert das Verfassungsrecht im Hinblick auf vorbehaltloser Grundrechte durch kollidierende verfas- die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Einschrän- 61 Zutreffend DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit (Fn. 42), S. 13 f. 2003, S. 165 ff.; allgemein zur Durchsetzung der experimentellen 62 Zur Struktur des Interessenkonflikts auch Thurnherr, Biosecurity Wissenschaft vgl. Stichweh, Die Autopoiesis der Wissenschaft, in: (Fn. 50), S. 94 ff.; vgl. auch Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 163 ff. ders., Wissenschaft, Universität, Profession, 1994, S. 52, 59 f. 63 Dazu im vorliegenden Kontext Würtenberger/Tanneberger, 66 Krit. Fehling, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, 110. Biosicherheit und Forschungsfreiheit. Ordnung der Wissenschaft, EGL, Stand: März 2004, Art. 5 III Rn. 146 ff.; differenzierend 2014, S. 3 ff.; zur Situation in der Schweiz vgl. Thurnherr, Biose- anhand eines Evidenzkriteriums Löwer, Freiheit (Fn. 57), Rn. 15 curity (Fn. 50), S. 27. mwN. 64 Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 67 Dazu sogleich III. 3. 400 ff; krit. bereits Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 158 ff.; Löwer, 68 BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (41); BVerfG, Freiheit (Fn. 57), Rn. 15 f. 28.10.2008, 1 BvR 462/06, BVerfGE 122, 89 (107); BVerfG 65 Diese Auffassung kann sich auf eine längere Tradition stützen, 8.4.1981, 1 BvR 608/79, BVerfGE 57, 70 (99); BVerfG, 1.3.1978, 1 vgl. nur Smend, VVDStRL (4), 1928, S. 44 ff., 66; Köttgen, Deut- BvR 333/75, BVerfGE 47, 327 (369); ausführlich Löwer, Freiheit (Fn. sches Universitätsrecht, 1933, S. 114; ders., Die Freiheit der Wis- 57), Rn. 27 ff.; Mager, Freiheit (Fn. 52), Rn. 31 ff.; für den Bereich der senschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Neumann/ Biosicherheit vgl. Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 291, 296 ff.; biologischen Forschung – Gutachten für den Deutschen Ethikrat, Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, in: Freiburger 2014, S. 77 ff. Universitätsblätter (95), 1987, S. 19 ff.; Böckenförde, Schutzbereich, 69 BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (41, 85). Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der Staat, (42)
108 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 1 5 ) , 9 9 – 1 1 6 kung nur, dass durch die entsprechende Regelung der analyse in eine Risiko-Nutzen-Analyse zu verwandeln.75 Erfolg gefördert werden kann, nicht aber eine optimale Die Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Risiken Lösung.70 Im Ergebnis muss der Ausgleich auf einer ver- der Forschung nur gerechtfertigt sind, wenn sie nicht tretbaren gesetzgeberischen Lösung beruhen.71 unangemessen hoch für wichtige Rechtsgüter sind und Insoweit kommt es auf die Lösung eines mehrstelli- durch den möglichen Nutzen für die Gesellschaft gen Grundrechtsproblems an. Denn dabei spielen nicht gerechtfertigt werden können. Während ersteres gleich- nur die Intensität des Eingriffs, die dadurch bewirkten sam klassische Risikoanalyse ist, wird mit dem zweiten Schutzniveaus, vor allem aber die Schwellen der Gewiss- Kriterium der Maßstab der Abwägung verschoben. Wis- heit/Ungewissheit des Eintritts des schadensbegründenden senschaft wird damit einer Nützlichkeitsrechtfertigung Ereignisses, des Schutzniveaus ebenso das Ausmaß der ein- unterzogen.76 Dies freilich führt in der Sache zu einer tretenden Schäden eine Rolle, sondern auch die Ziele der inkrementalen Veränderung der Gewährleistung. Sie Forschung, insbesondere wenn sie darauf gerichtet sind, fragt als individuelle Garantie ebenso wie als objektive Schutzmaßnahmen (die auch gegenüber missbräuchlicher Norm nicht danach, ob und inwieweit die Wissenschaft Verwendung zum Tragen kommen können) zu entwickeln einen Nutzen hat (den sie schon durch die Gewinnung ebenso wie die Notwendigkeit der Überprüfung der Ergeb- neuen Wissens erzielt). Insoweit ist auch scheinbar nutz- nisse in einem offenen Diskurs. lose Forschung geschützt und keineswegs eine mindere Im Hinblick auf die Eingriffsschwelle ist nicht schon Form von Wissenschaft. Dies hat seinen guten Grund die Denkbarkeit eines Kausalverlaufs ausreichend, son- nicht zuletzt darin, dass es für die Nützlichkeit (Nutzlo- dern die durch tatsächliche Anhaltspunkte hinreichend sigkeit) in der Sache kaum einen überzeugenden Maß- gestützte Risikovorsorge.72 Dabei kommt es entschei- stab gibt, der auch langfristig gerechtfertigt werden dend auf die Tatsachengrundlage an. Denn auch die vor- könnte. genannten Aspekte dürfen nicht jenseits hinreichend be- Zugunsten der Wissenschaftsfreiheit ist daher, folgt stimmter Tatsachengrundlagen zum Einsatz kommen.73 man dem Bundesverfassungsgericht,77 stets der diesem Auch hinsichtlich der Ermächtigung zu Risikoanalysen Freiheitsrecht zugrunde liegende Gedanke zu berück- muss eine etwaige Einschränkung auf hinreichenden sichtigen, dass gerade eine von gesellschaftlichen Nütz- Anknüpfungstatsachen beruhen. Alles andere wäre eine lichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitserwägungen Risikovorsorge ins Blaue hinein, die die Wissenschafts- freie Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Er- freiheit zu Gunsten anderer Rechtsgüter unverhältnis- gebnis am besten dient. Auch wenn das dahinter stehen- mäßig minimiert. de Leitbild von Wissenschaft aus der Sicht der Wissen- schaftsforschung zu mancher Kritik einladen mag, so ist 3. Die Risikoabwägung: Nur eine Risiko-Nutzen- das Widerlager einer freien Forschung gegenüber allfäl- Analyse? ligen Tendenzen ihrer Finalisierung unverzichtbar. Die- Im amerikanischen Kontext besonders ausgeprägt,74 ses aber lässt es nicht zu – übrigens auch nicht als ethi- aber auch in Deutschland, findet sich nicht nur in der sche Verpflichtung78 – die Forschung einer umfassenden medialen Öffentlichkeit sondern auch in den Kodizes Risiko-Nutzen-Abwägung zu unterwerfen. Das mag von Forschungseinrichtungen die Tendenz, die Risiko- zwar nach Forschungstypen zu differenzieren sein,79 für 70 BVerfG, 2.3.2010, 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260 (22.1.2015); Casadevall/Imperiale, Risks and benefits (Fn. 2); zur (317 f.); BVerfG, 4.4.2006, 1 BvR 518/02, BVerfGE 115, 320 (345); Rechtfertigung des Ansatzes vgl. die Stellungnahme von Mitglie- BVerfG, 3.3.2004, 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279 dern des NSABB Berns et al., Adaptions of Avian Flu Virus are a (336). Cause for Concern, Science (335), 2012, S. 660-661. 71 BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (85 ff.). 75 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 193. 72 Ausführlich in Auseinandersetzung mit BVerfG, 24.11.2010, 76 Ein nicht unerheblicher Teil der Debatte in den USA nutzt die 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1(41 f., 85 ff.), Würtenberger/Tanneber- Kosten-Nutzen-Analyse, wenn auch in diesen Fällen eine für das ger, Biosicherheit (Fn. 63), S. 1, 6 ff. Wissenschaftssystem nicht untypische kognitive Ungewissheit 73 In der Sache ähnlich Würtenberger/Tanneberger, Biosicherheit besteht, so dass die jeweiligen Seiten der Medaille jeweils eine (Fn. 63), S. 7 f. gewisse Betonung erfahren; aus der Vielzahl von Beiträgen vgl. 74 Vgl. Lipsitch: „This is a risky activity, even in the safest labs. Scien- nur Casadevall/Imperiale, Risks and benefits (Fn. 2); Mahmoud, tists should not take such risks without strong evidence that the Gain-of-Function-Experiments: Unproven Technique, Science work could save lives, which this paper does not provide“, zitiert (342/6156), 2012 S. 310-311. nach Sample (Fn. 1); Lipsitch/Plotkin/Bloom, Evolution, Safety, 77 BVerfG, 1.3.1978, 1 BvR 333/75, BVerfGE 47, 327 (370); std. Rspr. and Highly Pathogenic Influenza Viruses, Science (336), 2012, BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1, (87). S. 152-153; United States Government Policy for Oversight of Life 78 Vgl. dazu unten VI. Sciences Dual Research of Concern, http://osp.od.nih.gov/sites/ 79 Vgl. insoweit auch den Ansatz von Miller/Selgelid/van der Brug- default/files/resources/United_States_Government_ gen, Report (Fn. 5), S. 40 ff. Policy_for_Oversight_of_DURC_FINAL_version_032812_1.pdf
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