Wunderwaffen oder Büchse der Pandora? - Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose
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Fortbildung Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose Wunderwaffen oder Büchse der Pandora? Bisherige immunmodulierende Therapien können chronische Verlaufsformen der Multiplen Sklerose und die Behinderungsprogression nur in geringem Maße beeinflussen. Dies weckt immer wieder Zweifel an der Relevanz entzündlicher Prozesse für den langfristigen Verlauf und an der Sinnhaftigkeit antiinflammatorischer Therapiestrategien. Gleichzeitig wächst derzeit der Enthusiasmus bezüglich neuer potenter immunmodulierender und immunsuppressiver Therapien. Der nachfolgende Beitrag stellt neuere Entwicklungen vor: Immuntherapie der Multiplen Sklerose im Jahr 2008 – eine Bilanz. A. STEINBRECHER A lle mit dem Anspruch auf Verän- derung des natürlichen Verlaufes („disease modifying drugs“) bis- her eingesetzten oder in der klinischen Erprobung befindlichen Therapien bei Multipler Sklerose (MS) greifen in ent- zündliche und immunologische Prozesse ein. Umfassende Übersichten über die derzeit in Entwicklung befindlichen Stra- tegien wurden kürzlich publiziert [1, 2]. Immunmodulatoren Bei der schubförmig-remittierenden MS (relapsing remitting MS = RRMS) redu- ©stock.xchng_jherzog zieren Beta-Interferone (IFN-beta) und Glatirameracetat (GLA) die Schubrate um etwa 30 %. Die Behinderungspro- gression wird in den Studienzeiträumen von zwei bis vier Jahren allenfalls gering verzögert. IFN-beta-Präparate und GLA sind auch bei einer Therapiedauer weit über zehn Jahre hinaus sicher und wirk- 0,1% der Fälle mit der Entwicklung ei- enten bekannt geworden. Bei immun- sam. Bei sekundär chronisch progre- ner progressiven multifokalen Leu- supprimierten Patienten und bei einer dienter MS (SPMS) konnte nur eine koenzephalopathie (PML) assoziiert. Malignomvorgeschichte (speziell Mela- Studie zu IFN-beta-1b eine Verlangsa- Diese Komplikation verzögerte in Euro- nomen) sollte Natalizumab nicht einge- mung der Progression nachweisen; dem- pa die Zulassung ausschließlich als Mo- setzt werden [5]. Intravenöse Immun- nach scheint der Einsatz von IFN-beta notherapie, die nach Versagen einer globuline spielen nur eine Rolle als Re- bei SPMS nur bei noch vorhandenen Basistherapie mit IFN-beta oder GLA servetherapeutika (off-label) sowie – vor Schüben oder inflammatorischer Aktivi- oder primär bei Patienten mit schubför- allem bei Risikopatientinnen – in der tät im MRT sinnvoll zu sein. Eine Na- mig progredienter MS mit eindeutiger Schwangerschaft und postpartal [6]. talizumab-Monotherapie reduzierte die MRT-Aktivität eingesetzt werden kann Schubrate um 68 % und senkte das Ri- [3, 4]. Bislang sind keine neuen Fälle Immunsuppressiva siko der Progressionswahrscheinlichkeit einer PML oder schwerwiegender op- Seit den 70er-Jahren wurden verschie- über zwei Jahre von 29 % auf 17 %. Die portunistischer Infektionen bei mittler- dene Immunsuppressiva untersucht, da- Behandlung mit NAT war in Studien zu weile über 20.000 behandelten Pati- runter Azathioprin, Cyclophosphamid, NeuroTransmitter _ 6.2008 53
Fortbildung Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose Ciclosporin A, Methotrexat und schließ- lärem Angriffspunkt entwickelt. Zwei gression von Behinderung und Hirnat- lich Mitoxantron – zumeist mit mä- orale Immunmodulatoren befinden sich rophie nur verlangsamen aber nicht ßigem Erfolg. Die jeweiligen Studien gerade in der klinischen Phase III: aufhalten konnte, zeigten diese frühen hatten aus heutiger Sicht ein unzurei- Fingolimod (FTY-720), ein Sphingosin- Studien bereits eine ausgeprägte Schub- chendes Design, schlossen häufig chro- 1-Phosphat-Rezeptor-Agonist, verhin- ratenreduktion unabhängig vom Er- nische oder wenig aktive Verlaufsformen dert den Ausstrom von T- und B-Zellen krankungsstadium und eine Besserung ein und hatten keine MRT-Endpunkte. vom Lymphknoten in die Zirkulation oder Stabilisierung des Behinderungs- Eine Phase-III-Studie für Mitoxantron und damit ihre Migration ins ZNS. grades bei Patienten mit progredienter zeigte bei nicht vorbehandelten MS-Pa- Hinsichtlich des molekularen Mecha- schubförmiger MS [13]. Die 2007 vor- tienten mit hochaktivem schubför- nismus ist es eine völlig neuartige Sub- gestellten Zwei-Jahres-Interimsdaten migem Verlauf eine Reduktion der stanz. Ähnlich wie Natalizumab scheint einer auf drei Jahre angelegten großen Schubfrequenz und wahrscheinlich der sie in erster Linie indirekt auf die Trans- Phase-II-Vergleichsstudie Behinderungsprogression [7]. Cyclo- migration von Immunzellen über die (CAMMS223) mit RRMS-Patienten, phosphamid stabilisierte in mehreren Blut-Hirn-Schranke zu wirken. Da se- die nicht mit IFN-beta-1a (n=334) vor- offenen Studien den Verlauf bei Pati- kundäre B- und T-Zell-Antworten nicht behandelt waren, zeigten eine deutliche enten mit rasch progredienter MS. Un- gehemmt werden, findet keine Immun- Überlegenheit von Alemtuzumab im klar ist dabei, ob Patienten mit SPMS suppression statt. Fingolimod bindet Hinblick auf Schubrate, Behinderungs- ohne überlagerte Schübe profitieren [8]. auch an Rezeptoren auf Oligodendro- progression und MRT-Parameter. Ne- Diese klinischen Daten und die Erfah- zyten-Vorläuferzellen. Die möglicher- ben anderen, meist milden Nebenwir- rungen zahlreicher Zentren bei Pati- weise daraus resultierenden Effekte auf kungen traten jedoch gehäuft auto- enten mit fulminant verlaufender Er- die Remyelinisierung sind derzeit eben- immune Schilddrüsenerkrankungen krankung, die eine Stabilisierung des so Gegenstand intensiver Untersu- auf, sowie mehrere Fälle einer Auto- Verlaufes nach intensiver Immunsup- chungen wie die Wirkungen auf andere immunthrombozytopenie (mit Todes- pression mit Mitoxantron oder Cyclo- Immunzellen. Fingolimod zeigte in ei- fall) [14]. Die Häufigkeit dieser offen- phosphamid zeigten [9], führten zur ner Phase-II-Studie bei RRMS (n = 281) bar substanztypischen Nebenwir- gegenwärtigen Empfehlung einer Thera- eine gute Verträglichkeit und eine sehr kungen ist noch nicht endgültig ab- pie-Eskalation mit Immunsuppressiva, vielversprechende Wirksamkeit auf schätzbar. Zwei große Phase-III-Studi- wenn die immunmodulierende Basis- MRT- und Schubaktivität [11]; zwei en wurden initiiert. therapie versagt [3]. Jüngere Betroffene Phase-III-Studien werden derzeit durch- Rituximab ist ein in der Onkologie seit mit sehr aktiver schubförmiger Erkran- geführt. Jahren breit eingesetzter mAk, der gegen kung oder rascher Behinderungspro- Dimethylfumarat (BG-00012) ist für das auf B-Zellen exprimierte CD20- gression, aber noch niedrigem Wert auf die Therapie der Psoriasis zugelassen. Molekül gerichtet ist und zu einer De- der Expanded Disability Status Scale Die oral verfügbare Substanz hat antin- pletion von B-Zellen aus dem periphe- (EDSS), scheinen am ehesten von der flammatorische Eigenschaften und wirkt ren Blut und Liquor führt. Rituximab immunsuppressiven Therapie zu profi- möglicherweise zusätzlich neuroprotek- reduzierte in einer kürzlich publizierten tieren [8, 10]. Doch Nebenwirkungen tiv – durch die Aktivierung eines Stoff- placebokontrollierten Phase-II-Studie wie die Kardiotoxizität und das Auftre- wechselweges, der oxidative Zellschäden (n = 104) deutlich anreichernde Läsi- ten von Leukämien nach einer Mitoxan- begrenzt. Die MRT-Daten und kli- onen im MRT; der Anteil von Patienten tron-Therapie, die Mutagenität und nische Ergebnisse einer kleinen Pilot- mit Schüben verringerte sich nach 48 Karzinogenität von Cyclophosphamid Studie sowie einer placebokontrollierten Wochen auf etwa 20 % im Vergleich zu und das Risiko einer Amenorrhoe (per- Phase-II-Studie führten zur Initiierung 40% unter Placebo [15]. Da Rituximab sistierend vor allem nach Cyclophos- von zwei Phase-III-Studien. Hauptne- Plasmazellen (die kein CD20 exprimie- phamid und bei Frauen über 30 Jahren) benwirkungen scheinen Flush-Sympto- ren) nicht direkt eliminiert, ist der in der erfordern im Einzelfall eine genaue Risi- matik und gastrointestinale Beschwer- Studie beobachtete rasche Wirkungsein- ko-Nutzen-Abwägung [8]. den zu sein [12]. tritt innerhalb von vier Wochen nicht durch eine Reduktion pathogener Auto- Neue Immunmodulatoren Monoklonale Antikörper antikörper erklärbar; andere Mechanis- Nachfolgend werden Substanzen vorge- Alemtuzumab (Campath-1H), ein hu- men wie möglicherweise eine Beeinflus- stellt, die derzeit in klinischer Entwick- manisierter monoklonaler Antikörper sung auf die Antigen-Präsentation von lung stehen und aufgrund der bisher (mAK), ist gegen das auf Lymphozyten B-Zellen müssen vermutet werden. Eine bekannten klinischen Daten, ihres exprimierte CD52-Antigen gerichtet. Phase-II/III-Studie bei PPMS läuft, zwei Wirkmechanismus oder der Möglichkeit Nach einmaliger Applikation ruft es Phase-III-Studien bei der RRMS stehen zur oralen Applikation besonders inte- eine rasche Lymphozyten-Depletion kurz vor dem Beginn. ressant erscheinen. Sowohl bei Immun- hervor, die im Fall von CD4 T-Zellen Daclizumab: Der humanisierte mAk modulatoren als auch bei Immunsup- durchschnittlich 61 Monate andauert. führt nicht wie die oben genannten An- pressiva werden zunehmend Substanzen Während Alemtuzumab bei Patienten tikörper zu einer Depletion einer mit selektivem molekularem oder zellu- mit fortgeschrittener SPMS die Pro- Immunzellpopulation. Er bindet an die 54 NeuroTransmitter _ 6.2008
Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose Fortbildung alpha-Kette des Interleukin-2-Rezeptors SPMS untersucht. Es fand sich eine Re- Volumens T1-hypointenser Läsionen und scheint eine regulatorisch wirksame duktion der MRT-Aktivität, der Schub- („black holes“) und der Hirnatrophie, Population von CD56high exprimie- rate (RRMS) und eine günstige Beein- gemeinhin als Maße für die neurodege- renden natürlichen Killerzellen zu indu- flussung des Behinderungsgrades nerativen Prozesse der MS betrachtet, zieren [16]. Pilotstudien und eine (SPMS). Eine Phase-III-Studie unter- wurden nicht beeinflusst. Aufgrund des kleinere Phase-IIa-Studie zeigten viel- suchte daraufhin bei Patienten mit chro- für die Fragestellung nicht geeigneten versprechende Ergebnisse mit Redukti- nischen Verlaufsformen innerhalb von Studiendesigns ist die Frage der Wirk- on der Krankheitsaktivität; ferner läuft zwölf Monaten den Effekt von Cladri- samkeit von Cladribin auf den kli- eine größere Phase-II-Studie mit Da- bin auf die Behinderungsprogression. nischen Verlauf der MS nicht geklärt. clizumab als Add-on-Therapie zusätz- Ein Aktivitätskriterium war durch die Die Daten der aktuell laufenden Phase- lich zu IFN-beta. Eine größere, placebo- Einschlusskriterien nicht gefordert. Die III-Studie bei RRMS (CHARITY) wer- kontrollierte Phase-II-Studie soll in Population (30 % PPMS) wies bereits den 2009 erwartet. Kürze beginnen. bei Einschluss einen medianen EDSS Autologe hämatopoetische Stamzell- von 6,0 auf, fast zwei Drittel hatten kei- transplantation: Die autologe hämato- Neue immunsuppressive Strategien ne anreichernden Läsionen. Im Beo- poetische Stamzelltransplantation Cladribin, ein oral verfügbarer und aktu- bachtungszeitraum zeigte auch die Pla- (AHSZT) ist mit der massivsten Form ell in einer Phase-III-Studie untersuchter cebo-Gruppe keine nennenswerte Pro- der Immunsuppression verbunden, die Purinantagonist mit langanhaltender gression. Während die im MRT nach- bislang eingesetzt wurde. Ihre Wir- Lymphozyten-depletierender Wirkung weisbare entzündliche Aktivität erneut kungen können daher auch Einsichten wurde bereits in den 90er-Jahren erfolg- supprimiert wurde, ließ sich kein Effekt über die prinzipiellen Erfolgsaussichten reich im Rahmen zweier Phase-II-Studi- auf die Behinderungsprogression nach- immunsuppressiver Strategien vermit- en bei Patienten mit aktiver RRMS und weisen [17]. Auch die Progression des teln. Die Transplantation hämatopoe- Anzeige NeuroTransmitter _ 6.2008 55
Neue Immuntherapeutika bei Fortbildung Multipler Sklerose tischer Stammzellen aus dem peripheren in der Frühphase nach AHSZT auf. Je- Blut oder Knochenmark nach myeloab- doch kam es bei vielen Patienten nach lativer Chemotherapie (Konditionie- einer temporären Stabilisierung erneut rung) wird als Standard bei verschie- zur chronischen Progression. Außerdem denen hämatologischen Neoplasien an- wurde in verschiedenen Untersuchungen gewandt. Unterschieden werden die al- eine sich anfangs rasch entwickelnde logene oder autologe HSZT, je nachdem Hirnatrophie beschrieben [21]. Die ent- ob die Stammzellen von einem HLA- scheidende Frage dabei ist, ob entzünd- identischen Fremdspender oder von der liche und/oder neurodgenerative Prozesse erkrankten Person selbst stammen. Bei nach AHSZT weiter laufen oder welche der MS kommt aufgrund der deutlich Rolle andere Faktoren spielen wie Über- niedrigeren Mortalität lediglich das au- hangeffekte durch bereits vor Therapie tologe Verfahren infrage, bei dem die initiierte axondegenerative Prozesse, eine Stammzellen vor der Konditionierung Pseudoatrophie durch Reduktion des durch eine Stammzell-Mobilisierung entzündlichen Ödems oder neuroto- aus dem peripheren Blut gesammelt xische Therapieeffekte. Pathologische werden. Untersuchungen zeigen, dass aktive De- Bei Autoimmunerkrankungen myelinisierung und akute axonale Schä- könnte die AHSZT – so die Hypothese digung auch noch nach AHSZT auftre- – zu einem „Reset“ des Immunsystems ten [22]. führen, sodass sich pathogene autoreak- Auch die AHSZT und die mit ihr tive Immunantworten nicht mehr oder verbundene Immunsuppression scheinen verzögert etablieren. Zumindest aber re- demnach die chronische Progression und sultiert die Chemotherapie in einer ma- progrediente Gewebsschädigung nicht ximalen Immunsuppression. Muraro verhindern zu können, wenn bereits vor und Kollegen konten kürzlich eine Nor- Therapie eine ausgeprägte Schädigung malisierung des rekonstituierten Immun- eingetreten ist. repertoires nach Therapie nachweisen. Nach AHSZT kam es zu einer Zunahme Nutzen der frühen Therapie naiver CD4-T-Zellen auf Kosten zen- Durch eine früh, nach dem ersten MS- traler Memory-Zellen und zur Ausbil- typischen klinischen Ereignis, dem kli- dung eines diversifizierteren und mit nisch isolierten Syndrom (CIS) begin- neuen Spezifitäten ausgestatteten CD4- nende Therapie mit IFNb-beta und T-Zell-Repertoires [18]. scheinbar auch GLA lässt sich die Zeit Mittlerweile liegen Daten von welt- bis zum zweiten Schub verzögern. Ob weit circa 250 transplantierten Patienten eine so früh beginnende Therapie den vor, aus Transplantationsdatenbanken langfristigen Verlauf relevant günstig und offenen Phase-I- und Phase-II-Stu- beeinflussen kann, ist jedoch für keine dien mit unterschiedlichen Protokollen der genannten Substanzen bekannt. [19]. In der europäischen Kohorte von Von Interesse wären zum Beispiel Aus- 168 Patienten hatten nur 22 % der Pati- wirkungen auf den Behinderungsgrad enten eine schubförmige Verlaufsform, nach zehn und mehr Jahren, auf die Zeit der mediane EDSS betrug 6,5 (3,5 –9). bis zum Erreichen klinisch wichtiger Todesfälle (5,3 %) traten nur zwischen Meilensteine der Behinderung oder auf 1995 und 2000 auf und waren signifikant die prognostisch wichtigsten Parameter, mit Besonderheiten des Konditionie- also die Wahrscheinlichkeit und den rungsregimes assoziiert. Therapieassozi- Zeitpunkt des Übergangs in eine chro- ierte, meist durch Immunsuppression nisch progrediente Verlaufsform. Auch bedingte Komplikationen wurden bei das breite Spektrum des natürlichen 56 % beobachtet, Spätkomplikationen Verlaufs mit einem substanziellen (wenn bei 9%. Bei einem medianen Follow-up auch in der Größe kontroversen) Anteil von 41,7 Monaten kam es bei 63% zu von Patienten mit langfristig geringer einer Stabilisierung oder Verbesserung Behinderungsprogression ist dabei zu des EDSS [20]. „Entzündliche Aktivität“ berücksichtigen [23]. Die kürzlich vor- sistierte weitgehen; das heißt klinische gelegten Interimsdaten der über fünf Schübe traten nicht mehr, neue MRT- Jahre laufende BENEFIT-Studie zeigen Läsionen nur noch vereinzelt vorwiegend erstmals, dass eine Therapie mit IFN- 56 NeuroTransmitter _ 6.2008
Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose Fortbildung beta-1b bei CIS und mindestens zwei stanz zeigen sich eine diffuse Aktivie- könnte Resultat der Wirkung auf die klinisch stummen MS-typischen T2- rung der Mikroglia und ein von sekun- fokale „frühe“ Form der Entzündung Läsionen die Entwicklung der Behinde- därer Demyelinisierung gefolgter dif- sein oder das Ergebnis einer verbesserten rungsprogression reduziert. Nach drei fuser axonaler Schaden, der nicht vom Selektion von Patienten mit einer be- Jahren zeigten 18 % der früh behandel- Ausmaß der fokalen Läsionen abhängt. sonders hohen entzündlichen Aktivität. ten Patienten eine EDSS-Progression Diese entzündlichen Veränderungen Die Euphorie im Hinblick auf die selek- im Vergleich zu 24 % der erst nach zwei sind nicht als Gadoliniumanreicherung tiven Immunmodulatoren und Immun- Jahren oder nach Entwicklung einer kli- im MRT sichtbar und sie scheinen auf suppressiva wurde durch zum Teil uner- nisch gesicherten MS behandelten Pati- Immunmodulatoren und Immunsup- wartete, schwere Komplikationen der enten. Die EDSS-Progression über drei pressiva inklusive der AHSZT nicht an- Substanzen gedämpft [29]. Dabei müs- Jahre und der Unterschied zwischen den zusprechen. Lassmann führte aufgrund sen neben allgemeinen Nebenwirkungen Gruppen waren aber sehr gering; für Pa- dieser pathologischen Daten das Kon- der Immunsuppression substanztypische tienten mit monofokaler klinischer zept der „kompartimentalisierten“ Ent- Probleme berücksichtigt werden. Das Symptomatik und/oder < 9 T2-Läsi- zündung für die chronischen Formen Beispiel von anfänglich zwei Fällen pro- onen im initialen MRT waren die Ef- der MS ein [26]. Im ZNS produzierte gressiver multifokaler Leukoenzephalo- fekte nicht signifikant [24]. Das geringe Chemokine und Wachstumsfaktoren pathie unter Natalizumab 2005 zeigt, Ausmaß dieser Effekte sollte sicherlich beispielsweise für B-Zellen könnten an dass dies nicht immer einfach ist. Ob- in Überlegungen zur Entscheidung über der Erzeugung eines entsprechenden wohl unter verschiedenen Formen der eine Therapie nach einem CIS einflie- Milieus im ZNS beteiligt sein. Warum Immunmodulation und -suppression ßen. Gerade bei eher zögerlichen Pati- es zum Übergang in die diffuse, vor beobachtet (inklusive Alemtuzumab enten und klinisch wie radiologisch ge- allem durch Mikrogliaaktivierung ge- und Rituximab), könnten substanzspe- ring ausgeprägter Erkrankung kann die kennzeichnete Entzündung kommt, ist zifische Eigenschaften eine Rolle spielen, Strategie des „watchful waiting“ erwo- nicht bekannt. zum Beispiel auf B-Zell-Vorstufen im gen werden. Die Empfehlungen der Knochenmark [30]. Noch wenig ver- Multiple Sklerose Therapie Konsensus- Was bringt die immunsuppressive standen ist schließlich, wie sich die Sup- gruppe (MSTKG) zur Frühtherapie Therapie? pression von Entzündung auf zytopro- sind in diesem Zusammenhang nach Die verfügbaren klinischen Daten legen tektive Mechanismen und auf die Re- wie vor aktuell [25]. nahe, dass vor allem jüngere Patienten myelinisierung auswirkt [31, 32]. mit schubförmiger Erkrankung und ge- Zusammenhang von Entzündungs- ringer Behinderung von immunsuppres- Ausblick prozessen, chronischer Progression siven und immunmodulierenden Strate- Derzeit erlebt das Interesse an immun- und Neurodegeneration? gien profitieren. Bei der PPMS scheinen suppressiven Konzepten bei der MS eine Entzündliche Veränderungen sind in sie weitgehend wirkungslos zu sein. An- gewisse Renaissance. Während bei jungen allen Stadien der MS nachweisbar; neu- dererseits liegen bislang keine Hinweise Patienten mit rasch progredientem Ver- rodegenerative Prozesse sind in patholo- dafür vor, dass andere als antiinflamma- lauf und absehbar schlechter Prognose gischen Untersuchungen immer von torische Mechanismen für die eindeutig frühzeitig aggressive Immuntherapien entzündlichen Prozesse begleitet [26]. nachweisbaren klinischen Effekte der trotz Inkaufnahme von Risiken erwogen In der frühesten Phase der Läsionsent- Substanzen bei schubförmiger Erkran- werden müssen, ist eine Verallgemeine- wicklung finden sich milde perivenöse kung verantwortlich sind. Da MS-Pati- rung dieser Strategie angesichts des brei- Lymphozyteninfiltrate, wobei die initia- enten vor Akkumulation der klinischen ten Spektrums natürlicher Verläufe der- le Demyelinisierung lokal mit Mikro- Behinderung bislang nur vereinzelt einer zeit nicht denkbar [23]. Eine der wich- gliaaktivierung einhergeht. Die typi- AHSZT oder intensiver immunsuppres- tigsten Aufgaben für die Forschung ist schen Läsionen der schubförmigen MS siver Therapie unterzogen wurden, lässt daher die Entwicklung von Parametern, sind fokal und primär demyelinisierend sich nicht abschließend beurteilen, ob die eine frühe Abschätzung des individu- und lassen sich je nach Ausmaß und Art langfristig diffuse entzündliche und ellen Risikos für den weiteren Verlauf er- der entzündlichen Veränderung in ver- neurodegenerative Veränderungen ver- lauben, sowie von Prädiktoren für das schiedene Typen klassifizieren. Das Aus- hindert oder deutlich verzögert werden Ansprechen auf bestimmte Therapie- maß der akuten axonalen Schädigung können. Die Ergebnisse jüngerer Thera- formen. ò und der entzündlichen Veränderungen piestudien mit neuen Substanzen schei- korrelieren miteinander [27, 28]. In der nen vordergründig das Konzept einer LITERATUR spät(er)en Phase der Erkrankung findet frühen Therapie („hit hard and early“) beim Verfasser sich ein stark verändertes Bild. Ausge- zu stützen, sind aber aufgrund der Beo- prägte kortikale Demyelinisierung ist bachtungsdauer nur begrenzt aussage- PD Dr. med. Andreas Steinbrecher mit lokaler Mikrogliaaktivierung und kräftig. Auch die temporäre Stabilisie- Klinik und Poliklinik für Neurologie der submeningeal lokalisierten Plaques aus rung des Verlaufes, die nach AHSZT Universität Regensburg im Bezirksklinikum, T-, B- und Plasmazellen assoziiert. In oder Mitoxantron-Therapie bei vielen Universitätsstr. 84, 93053 Regensburg der normal erscheinenden weißen Sub- Patienten beobachtet wird [9, 20], E-Mail: Andreas.Steinbrecher@medbo.de NeuroTransmitter _ 6.2008 59
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