Wunderwaffen oder Büchse der Pandora? - Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose

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Wunderwaffen oder Büchse der Pandora? - Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose
Fortbildung

Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose

Wunderwaffen oder Büchse der
Pandora?
Bisherige immunmodulierende Therapien können chronische Verlaufsformen der Multiplen Sklerose
und die Behinderungsprogression nur in geringem Maße beeinflussen. Dies weckt immer wieder
Zweifel an der Relevanz entzündlicher Prozesse für den langfristigen Verlauf und an der Sinnhaftigkeit
antiinflammatorischer Therapiestrategien. Gleichzeitig wächst derzeit der Enthusiasmus bezüglich
neuer potenter immunmodulierender und immunsuppressiver Therapien. Der nachfolgende Beitrag
stellt neuere Entwicklungen vor: Immuntherapie der Multiplen Sklerose im Jahr 2008 – eine Bilanz.
A. STEINBRECHER

A
        lle mit dem Anspruch auf Verän-
        derung des natürlichen Verlaufes
        („disease modifying drugs“) bis-
her eingesetzten oder in der klinischen
Erprobung befindlichen Therapien bei
Multipler Sklerose (MS) greifen in ent-
zündliche und immunologische Prozesse
ein. Umfassende Übersichten über die
derzeit in Entwicklung befindlichen Stra-
tegien wurden kürzlich publiziert [1,
2].

Immunmodulatoren
Bei der schubförmig-remittierenden MS
(relapsing remitting MS = RRMS) redu-
                                             ©stock.xchng_jherzog

zieren Beta-Interferone (IFN-beta) und
Glatirameracetat (GLA) die Schubrate
um etwa 30 %. Die Behinderungspro-
gression wird in den Studienzeiträumen
von zwei bis vier Jahren allenfalls gering
verzögert. IFN-beta-Präparate und GLA
sind auch bei einer Therapiedauer weit
über zehn Jahre hinaus sicher und wirk-                             0,1% der Fälle mit der Entwicklung ei-     enten bekannt geworden. Bei immun-
sam. Bei sekundär chronisch progre-                                 ner progressiven multifokalen Leu-         supprimierten Patienten und bei einer
dienter MS (SPMS) konnte nur eine                                   koenzephalopathie (PML) assoziiert.        Malignomvorgeschichte (speziell Mela-
Studie zu IFN-beta-1b eine Verlangsa-                               Diese Komplikation verzögerte in Euro-     nomen) sollte Natalizumab nicht einge-
mung der Progression nachweisen; dem-                               pa die Zulassung ausschließlich als Mo-    setzt werden [5]. Intravenöse Immun-
nach scheint der Einsatz von IFN-beta                               notherapie, die nach Versagen einer        globuline spielen nur eine Rolle als Re-
bei SPMS nur bei noch vorhandenen                                   Basistherapie mit IFN-beta oder GLA        servetherapeutika (off-label) sowie – vor
Schüben oder inflammatorischer Aktivi-                              oder primär bei Patienten mit schubför-    allem bei Risikopatientinnen – in der
tät im MRT sinnvoll zu sein. Eine Na-                               mig progredienter MS mit eindeutiger       Schwangerschaft und postpartal [6].
talizumab-Monotherapie reduzierte die                               MRT-Aktivität eingesetzt werden kann
Schubrate um 68 % und senkte das Ri-                                [3, 4]. Bislang sind keine neuen Fälle     Immunsuppressiva
siko der Progressionswahrscheinlichkeit                             einer PML oder schwerwiegender op-         Seit den 70er-Jahren wurden verschie-
über zwei Jahre von 29 % auf 17 %. Die                              portunistischer Infektionen bei mittler-   dene Immunsuppressiva untersucht, da-
Behandlung mit NAT war in Studien zu                                weile über 20.000 behandelten Pati-        runter Azathioprin, Cyclophosphamid,

NeuroTransmitter _ 6.2008                                                                                                                           53
Fortbildung           Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose

Ciclosporin A, Methotrexat und schließ-       lärem Angriffspunkt entwickelt. Zwei          gression von Behinderung und Hirnat-
lich Mitoxantron – zumeist mit mä-            orale Immunmodulatoren befinden sich          rophie nur verlangsamen aber nicht
ßigem Erfolg. Die jeweiligen Studien          gerade in der klinischen Phase III:           aufhalten konnte, zeigten diese frühen
hatten aus heutiger Sicht ein unzurei-        Fingolimod (FTY-720), ein Sphingosin-         Studien bereits eine ausgeprägte Schub-
chendes Design, schlossen häufig chro-        1-Phosphat-Rezeptor-Agonist, verhin-          ratenreduktion unabhängig vom Er-
nische oder wenig aktive Verlaufsformen       dert den Ausstrom von T- und B-Zellen         krankungsstadium und eine Besserung
ein und hatten keine MRT-Endpunkte.           vom Lymphknoten in die Zirkulation            oder Stabilisierung des Behinderungs-
Eine Phase-III-Studie für Mitoxantron         und damit ihre Migration ins ZNS.             grades bei Patienten mit progredienter
zeigte bei nicht vorbehandelten MS-Pa-        Hinsichtlich des molekularen Mecha-           schubförmiger MS [13]. Die 2007 vor-
tienten mit hochaktivem schubför-             nismus ist es eine völlig neuartige Sub-      gestellten Zwei-Jahres-Interimsdaten
migem Verlauf eine Reduktion der              stanz. Ähnlich wie Natalizumab scheint        einer auf drei Jahre angelegten großen
Schubfrequenz und wahrscheinlich der          sie in erster Linie indirekt auf die Trans-   Phase-II-Vergleichsstudie
Behinderungsprogression [7]. Cyclo-           migration von Immunzellen über die            (CAMMS223) mit RRMS-Patienten,
phosphamid stabilisierte in mehreren          Blut-Hirn-Schranke zu wirken. Da se-          die nicht mit IFN-beta-1a (n=334) vor-
offenen Studien den Verlauf bei Pati-         kundäre B- und T-Zell-Antworten nicht         behandelt waren, zeigten eine deutliche
enten mit rasch progredienter MS. Un-         gehemmt werden, findet keine Immun-           Überlegenheit von Alemtuzumab im
klar ist dabei, ob Patienten mit SPMS         suppression statt. Fingolimod bindet          Hinblick auf Schubrate, Behinderungs-
ohne überlagerte Schübe profitieren [8].      auch an Rezeptoren auf Oligodendro-           progression und MRT-Parameter. Ne-
Diese klinischen Daten und die Erfah-         zyten-Vorläuferzellen. Die möglicher-         ben anderen, meist milden Nebenwir-
rungen zahlreicher Zentren bei Pati-          weise daraus resultierenden Effekte auf       kungen traten jedoch gehäuft auto-
enten mit fulminant verlaufender Er-          die Remyelinisierung sind derzeit eben-       immune Schilddrüsenerkrankungen
krankung, die eine Stabilisierung des         so Gegenstand intensiver Untersu-             auf, sowie mehrere Fälle einer Auto-
Verlaufes nach intensiver Immunsup-           chungen wie die Wirkungen auf andere          immunthrombozytopenie (mit Todes-
pression mit Mitoxantron oder Cyclo-          Immunzellen. Fingolimod zeigte in ei-         fall) [14]. Die Häufigkeit dieser offen-
phosphamid zeigten [9], führten zur           ner Phase-II-Studie bei RRMS (n = 281)        bar substanztypischen Nebenwir-
gegenwärtigen Empfehlung einer Thera-         eine gute Verträglichkeit und eine sehr       kungen ist noch nicht endgültig ab-
pie-Eskalation mit Immunsuppressiva,          vielversprechende Wirksamkeit auf             schätzbar. Zwei große Phase-III-Studi-
wenn die immunmodulierende Basis-             MRT- und Schubaktivität [11]; zwei            en wurden initiiert.
therapie versagt [3]. Jüngere Betroffene      Phase-III-Studien werden derzeit durch-       Rituximab ist ein in der Onkologie seit
mit sehr aktiver schubförmiger Erkran-        geführt.                                      Jahren breit eingesetzter mAk, der gegen
kung oder rascher Behinderungspro-            Dimethylfumarat (BG-00012) ist für            das auf B-Zellen exprimierte CD20-
gression, aber noch niedrigem Wert auf        die Therapie der Psoriasis zugelassen.        Molekül gerichtet ist und zu einer De-
der Expanded Disability Status Scale          Die oral verfügbare Substanz hat antin-       pletion von B-Zellen aus dem periphe-
(EDSS), scheinen am ehesten von der           flammatorische Eigenschaften und wirkt        ren Blut und Liquor führt. Rituximab
immunsuppressiven Therapie zu profi-          möglicherweise zusätzlich neuroprotek-        reduzierte in einer kürzlich publizierten
tieren [8, 10]. Doch Nebenwirkungen           tiv – durch die Aktivierung eines Stoff-      placebokontrollierten Phase-II-Studie
wie die Kardiotoxizität und das Auftre-       wechselweges, der oxidative Zellschäden       (n = 104) deutlich anreichernde Läsi-
ten von Leukämien nach einer Mitoxan-         begrenzt. Die MRT-Daten und kli-              onen im MRT; der Anteil von Patienten
tron-Therapie, die Mutagenität und            nische Ergebnisse einer kleinen Pilot-        mit Schüben verringerte sich nach 48
Karzinogenität von Cyclophosphamid            Studie sowie einer placebokontrollierten      Wochen auf etwa 20 % im Vergleich zu
und das Risiko einer Amenorrhoe (per-         Phase-II-Studie führten zur Initiierung       40% unter Placebo [15]. Da Rituximab
sistierend vor allem nach Cyclophos-          von zwei Phase-III-Studien. Hauptne-          Plasmazellen (die kein CD20 exprimie-
phamid und bei Frauen über 30 Jahren)         benwirkungen scheinen Flush-Sympto-           ren) nicht direkt eliminiert, ist der in der
erfordern im Einzelfall eine genaue Risi-     matik und gastrointestinale Beschwer-         Studie beobachtete rasche Wirkungsein-
ko-Nutzen-Abwägung [8].                       den zu sein [12].                             tritt innerhalb von vier Wochen nicht
                                                                                            durch eine Reduktion pathogener Auto-
Neue Immunmodulatoren                          Monoklonale Antikörper                       antikörper erklärbar; andere Mechanis-
Nachfolgend werden Substanzen vorge-           Alemtuzumab (Campath-1H), ein hu-            men wie möglicherweise eine Beeinflus-
stellt, die derzeit in klinischer Entwick-     manisierter monoklonaler Antikörper          sung auf die Antigen-Präsentation von
lung stehen und aufgrund der bisher            (mAK), ist gegen das auf Lymphozyten         B-Zellen müssen vermutet werden. Eine
bekannten klinischen Daten, ihres              exprimierte CD52-Antigen gerichtet.          Phase-II/III-Studie bei PPMS läuft, zwei
Wirkmechanismus oder der Möglichkeit           Nach einmaliger Applikation ruft es          Phase-III-Studien bei der RRMS stehen
zur oralen Applikation besonders inte-         eine rasche Lymphozyten-Depletion            kurz vor dem Beginn.
ressant erscheinen. Sowohl bei Immun-          hervor, die im Fall von CD4 T-Zellen         Daclizumab: Der humanisierte mAk
modulatoren als auch bei Immunsup-             durchschnittlich 61 Monate andauert.         führt nicht wie die oben genannten An-
pressiva werden zunehmend Substanzen           Während Alemtuzumab bei Patienten            tikörper zu einer Depletion einer
mit selektivem molekularem oder zellu-         mit fortgeschrittener SPMS die Pro-          Immunzellpopulation. Er bindet an die

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Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose                      Fortbildung

alpha-Kette des Interleukin-2-Rezeptors      SPMS untersucht. Es fand sich eine Re-       Volumens T1-hypointenser Läsionen
und scheint eine regulatorisch wirksame      duktion der MRT-Aktivität, der Schub-        („black holes“) und der Hirnatrophie,
Population von CD56high exprimie-            rate (RRMS) und eine günstige Beein-         gemeinhin als Maße für die neurodege-
renden natürlichen Killerzellen zu indu-     flussung des Behinderungsgrades              nerativen Prozesse der MS betrachtet,
zieren [16]. Pilotstudien und eine           (SPMS). Eine Phase-III-Studie unter-         wurden nicht beeinflusst. Aufgrund des
kleinere Phase-IIa-Studie zeigten viel-      suchte daraufhin bei Patienten mit chro-     für die Fragestellung nicht geeigneten
versprechende Ergebnisse mit Redukti-        nischen Verlaufsformen innerhalb von         Studiendesigns ist die Frage der Wirk-
on der Krankheitsaktivität; ferner läuft     zwölf Monaten den Effekt von Cladri-         samkeit von Cladribin auf den kli-
eine größere Phase-II-Studie mit Da-         bin auf die Behinderungsprogression.         nischen Verlauf der MS nicht geklärt.
clizumab als Add-on-Therapie zusätz-         Ein Aktivitätskriterium war durch die        Die Daten der aktuell laufenden Phase-
lich zu IFN-beta. Eine größere, placebo-     Einschlusskriterien nicht gefordert. Die     III-Studie bei RRMS (CHARITY) wer-
kontrollierte Phase-II-Studie soll in        Population (30 % PPMS) wies bereits          den 2009 erwartet.
Kürze beginnen.                              bei Einschluss einen medianen EDSS           Autologe hämatopoetische Stamzell-
                                             von 6,0 auf, fast zwei Drittel hatten kei-   transplantation: Die autologe hämato-
Neue immunsuppressive Strategien             ne anreichernden Läsionen. Im Beo-           poetische Stamzelltransplantation
Cladribin, ein oral verfügbarer und aktu-    bachtungszeitraum zeigte auch die Pla-       (AHSZT) ist mit der massivsten Form
ell in einer Phase-III-Studie untersuchter   cebo-Gruppe keine nennenswerte Pro-          der Immunsuppression verbunden, die
Purinantagonist mit langanhaltender          gression. Während die im MRT nach-           bislang eingesetzt wurde. Ihre Wir-
Lymphozyten-depletierender Wirkung           weisbare entzündliche Aktivität erneut       kungen können daher auch Einsichten
wurde bereits in den 90er-Jahren erfolg-     supprimiert wurde, ließ sich kein Effekt     über die prinzipiellen Erfolgsaussichten
reich im Rahmen zweier Phase-II-Studi-       auf die Behinderungsprogression nach-        immunsuppressiver Strategien vermit-
en bei Patienten mit aktiver RRMS und        weisen [17]. Auch die Progression des        teln. Die Transplantation hämatopoe-
                                                                                                                            Anzeige

NeuroTransmitter _ 6.2008                                                                                                      55
Neue Immuntherapeutika bei
                        Fortbildung          Multipler Sklerose

 tischer Stammzellen aus dem peripheren       in der Frühphase nach AHSZT auf. Je-
 Blut oder Knochenmark nach myeloab-          doch kam es bei vielen Patienten nach
 lativer Chemotherapie (Konditionie-          einer temporären Stabilisierung erneut
 rung) wird als Standard bei verschie-        zur chronischen Progression. Außerdem
 denen hämatologischen Neoplasien an-         wurde in verschiedenen Untersuchungen
 gewandt. Unterschieden werden die al-        eine sich anfangs rasch entwickelnde
 logene oder autologe HSZT, je nachdem        Hirnatrophie beschrieben [21]. Die ent-
 ob die Stammzellen von einem HLA-            scheidende Frage dabei ist, ob entzünd-
 identischen Fremdspender oder von der        liche und/oder neurodgenerative Prozesse
 erkrankten Person selbst stammen. Bei        nach AHSZT weiter laufen oder welche
 der MS kommt aufgrund der deutlich           Rolle andere Faktoren spielen wie Über-
 niedrigeren Mortalität lediglich das au-     hangeffekte durch bereits vor Therapie
 tologe Verfahren infrage, bei dem die        initiierte axondegenerative Prozesse, eine
 Stammzellen vor der Konditionierung          Pseudoatrophie durch Reduktion des
 durch eine Stammzell-Mobilisierung           entzündlichen Ödems oder neuroto-
 aus dem peripheren Blut gesammelt            xische Therapieeffekte. Pathologische
 werden.                                      Untersuchungen zeigen, dass aktive De-
      Bei Autoimmunerkrankungen               myelinisierung und akute axonale Schä-
 könnte die AHSZT – so die Hypothese          digung auch noch nach AHSZT auftre-
– zu einem „Reset“ des Immunsystems           ten [22].
 führen, sodass sich pathogene autoreak-           Auch die AHSZT und die mit ihr
 tive Immunantworten nicht mehr oder          verbundene Immunsuppression scheinen
 verzögert etablieren. Zumindest aber re-     demnach die chronische Progression und
 sultiert die Chemotherapie in einer ma-      progrediente Gewebsschädigung nicht
 ximalen Immunsuppression. Muraro             verhindern zu können, wenn bereits vor
 und Kollegen konten kürzlich eine Nor-       Therapie eine ausgeprägte Schädigung
 malisierung des rekonstituierten Immun-      eingetreten ist.
 repertoires nach Therapie nachweisen.
 Nach AHSZT kam es zu einer Zunahme            Nutzen der frühen Therapie
 naiver CD4-T-Zellen auf Kosten zen-          Durch eine früh, nach dem ersten MS-
 traler Memory-Zellen und zur Ausbil-         typischen klinischen Ereignis, dem kli-
 dung eines diversifizierteren und mit        nisch isolierten Syndrom (CIS) begin-
 neuen Spezifitäten ausgestatteten CD4-       nende Therapie mit IFNb-beta und
T-Zell-Repertoires [18].                      scheinbar auch GLA lässt sich die Zeit
      Mittlerweile liegen Daten von welt-     bis zum zweiten Schub verzögern. Ob
 weit circa 250 transplantierten Patienten    eine so früh beginnende Therapie den
 vor, aus Transplantationsdatenbanken         langfristigen Verlauf relevant günstig
 und offenen Phase-I- und Phase-II-Stu-       beeinflussen kann, ist jedoch für keine
 dien mit unterschiedlichen Protokollen       der genannten Substanzen bekannt.
 [19]. In der europäischen Kohorte von        Von Interesse wären zum Beispiel Aus-
168 Patienten hatten nur 22 % der Pati-       wirkungen auf den Behinderungsgrad
 enten eine schubförmige Verlaufsform,        nach zehn und mehr Jahren, auf die Zeit
 der mediane EDSS betrug 6,5 (3,5 –9).        bis zum Erreichen klinisch wichtiger
Todesfälle (5,3 %) traten nur zwischen        Meilensteine der Behinderung oder auf
1995 und 2000 auf und waren signifikant       die prognostisch wichtigsten Parameter,
 mit Besonderheiten des Konditionie-          also die Wahrscheinlichkeit und den
 rungsregimes assoziiert. Therapieassozi-     Zeitpunkt des Übergangs in eine chro-
 ierte, meist durch Immunsuppression          nisch progrediente Verlaufsform. Auch
 bedingte Komplikationen wurden bei           das breite Spektrum des natürlichen
56 % beobachtet, Spätkomplikationen           Verlaufs mit einem substanziellen (wenn
 bei 9%. Bei einem medianen Follow-up         auch in der Größe kontroversen) Anteil
 von 41,7 Monaten kam es bei 63% zu           von Patienten mit langfristig geringer
 einer Stabilisierung oder Verbesserung       Behinderungsprogression ist dabei zu
 des EDSS [20]. „Entzündliche Aktivität“      berücksichtigen [23]. Die kürzlich vor-
 sistierte weitgehen; das heißt klinische     gelegten Interimsdaten der über fünf
 Schübe traten nicht mehr, neue MRT-          Jahre laufende BENEFIT-Studie zeigen
 Läsionen nur noch vereinzelt vorwiegend      erstmals, dass eine Therapie mit IFN-

56                                                            NeuroTransmitter _ 6.2008
Neue Immuntherapeutika bei Multipler Sklerose                   Fortbildung

beta-1b bei CIS und mindestens zwei         stanz zeigen sich eine diffuse Aktivie-    könnte Resultat der Wirkung auf die
klinisch stummen MS-typischen T2-           rung der Mikroglia und ein von sekun-      fokale „frühe“ Form der Entzündung
Läsionen die Entwicklung der Behinde-       därer Demyelinisierung gefolgter dif-      sein oder das Ergebnis einer verbesserten
rungsprogression reduziert. Nach drei       fuser axonaler Schaden, der nicht vom      Selektion von Patienten mit einer be-
Jahren zeigten 18 % der früh behandel-      Ausmaß der fokalen Läsionen abhängt.       sonders hohen entzündlichen Aktivität.
ten Patienten eine EDSS-Progression         Diese entzündlichen Veränderungen          Die Euphorie im Hinblick auf die selek-
im Vergleich zu 24 % der erst nach zwei     sind nicht als Gadoliniumanreicherung      tiven Immunmodulatoren und Immun-
Jahren oder nach Entwicklung einer kli-     im MRT sichtbar und sie scheinen auf       suppressiva wurde durch zum Teil uner-
nisch gesicherten MS behandelten Pati-      Immunmodulatoren und Immunsup-             wartete, schwere Komplikationen der
enten. Die EDSS-Progression über drei       pressiva inklusive der AHSZT nicht an-     Substanzen gedämpft [29]. Dabei müs-
Jahre und der Unterschied zwischen den      zusprechen. Lassmann führte aufgrund       sen neben allgemeinen Nebenwirkungen
Gruppen waren aber sehr gering; für Pa-     dieser pathologischen Daten das Kon-       der Immunsuppression substanztypische
tienten mit monofokaler klinischer          zept der „kompartimentalisierten“ Ent-     Probleme berücksichtigt werden. Das
Symptomatik und/oder < 9 T2-Läsi-           zündung für die chronischen Formen         Beispiel von anfänglich zwei Fällen pro-
onen im initialen MRT waren die Ef-         der MS ein [26]. Im ZNS produzierte        gressiver multifokaler Leukoenzephalo-
fekte nicht signifikant [24]. Das geringe   Chemokine und Wachstumsfaktoren            pathie unter Natalizumab 2005 zeigt,
Ausmaß dieser Effekte sollte sicherlich     beispielsweise für B-Zellen könnten an     dass dies nicht immer einfach ist. Ob-
in Überlegungen zur Entscheidung über       der Erzeugung eines entsprechenden         wohl unter verschiedenen Formen der
eine Therapie nach einem CIS einflie-       Milieus im ZNS beteiligt sein. Warum       Immunmodulation und -suppression
ßen. Gerade bei eher zögerlichen Pati-      es zum Übergang in die diffuse, vor        beobachtet (inklusive Alemtuzumab
enten und klinisch wie radiologisch ge-     allem durch Mikrogliaaktivierung ge-       und Rituximab), könnten substanzspe-
ring ausgeprägter Erkrankung kann die       kennzeichnete Entzündung kommt, ist        zifische Eigenschaften eine Rolle spielen,
Strategie des „watchful waiting“ erwo-      nicht bekannt.                             zum Beispiel auf B-Zell-Vorstufen im
gen werden. Die Empfehlungen der                                                       Knochenmark [30]. Noch wenig ver-
Multiple Sklerose Therapie Konsensus-       Was bringt die immunsuppressive            standen ist schließlich, wie sich die Sup-
gruppe (MSTKG) zur Frühtherapie             Therapie?                                  pression von Entzündung auf zytopro-
sind in diesem Zusammenhang nach            Die verfügbaren klinischen Daten legen     tektive Mechanismen und auf die Re-
wie vor aktuell [25].                       nahe, dass vor allem jüngere Patienten     myelinisierung auswirkt [31, 32].
                                            mit schubförmiger Erkrankung und ge-
Zusammenhang von Entzündungs-               ringer Behinderung von immunsuppres-       Ausblick
prozessen, chronischer Progression          siven und immunmodulierenden Strate-       Derzeit erlebt das Interesse an immun-
und Neurodegeneration?                      gien profitieren. Bei der PPMS scheinen    suppressiven Konzepten bei der MS eine
Entzündliche Veränderungen sind in          sie weitgehend wirkungslos zu sein. An-    gewisse Renaissance. Während bei jungen
allen Stadien der MS nachweisbar; neu-      dererseits liegen bislang keine Hinweise   Patienten mit rasch progredientem Ver-
rodegenerative Prozesse sind in patholo-    dafür vor, dass andere als antiinflamma-   lauf und absehbar schlechter Prognose
gischen Untersuchungen immer von            torische Mechanismen für die eindeutig     frühzeitig aggressive Immuntherapien
entzündlichen Prozesse begleitet [26].      nachweisbaren klinischen Effekte der       trotz Inkaufnahme von Risiken erwogen
In der frühesten Phase der Läsionsent-      Substanzen bei schubförmiger Erkran-       werden müssen, ist eine Verallgemeine-
wicklung finden sich milde perivenöse       kung verantwortlich sind. Da MS-Pati-      rung dieser Strategie angesichts des brei-
Lymphozyteninfiltrate, wobei die initia-    enten vor Akkumulation der klinischen      ten Spektrums natürlicher Verläufe der-
le Demyelinisierung lokal mit Mikro-        Behinderung bislang nur vereinzelt einer   zeit nicht denkbar [23]. Eine der wich-
gliaaktivierung einhergeht. Die typi-       AHSZT oder intensiver immunsuppres-        tigsten Aufgaben für die Forschung ist
schen Läsionen der schubförmigen MS         siver Therapie unterzogen wurden, lässt    daher die Entwicklung von Parametern,
sind fokal und primär demyelinisierend      sich nicht abschließend beurteilen, ob     die eine frühe Abschätzung des individu-
und lassen sich je nach Ausmaß und Art      langfristig diffuse entzündliche und       ellen Risikos für den weiteren Verlauf er-
der entzündlichen Veränderung in ver-       neurodegenerative Veränderungen ver-       lauben, sowie von Prädiktoren für das
schiedene Typen klassifizieren. Das Aus-    hindert oder deutlich verzögert werden     Ansprechen auf bestimmte Therapie-
maß der akuten axonalen Schädigung          können. Die Ergebnisse jüngerer Thera-     formen.                                ò
und der entzündlichen Veränderungen         piestudien mit neuen Substanzen schei-
korrelieren miteinander [27, 28]. In der    nen vordergründig das Konzept einer
                                                                                       LITERATUR
spät(er)en Phase der Erkrankung findet      frühen Therapie („hit hard and early“)
                                                                                       beim Verfasser
sich ein stark verändertes Bild. Ausge-     zu stützen, sind aber aufgrund der Beo-
prägte kortikale Demyelinisierung ist       bachtungsdauer nur begrenzt aussage-       PD Dr. med. Andreas Steinbrecher
mit lokaler Mikrogliaaktivierung und        kräftig. Auch die temporäre Stabilisie-    Klinik und Poliklinik für Neurologie der
submeningeal lokalisierten Plaques aus      rung des Verlaufes, die nach AHSZT         Universität Regensburg im Bezirksklinikum,
T-, B- und Plasmazellen assoziiert. In      oder Mitoxantron-Therapie bei vielen       Universitätsstr. 84, 93053 Regensburg
der normal erscheinenden weißen Sub-        Patienten beobachtet wird [9, 20],         E-Mail: Andreas.Steinbrecher@medbo.de

NeuroTransmitter _ 6.2008                                                                                                      59
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