Würde Du darfst springen und tanzen, Gotteskind Wir haben alle denselben Vater + Glanz strahlt von der Krippe auf - Pallottiner

 
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Würde Du darfst springen und tanzen, Gotteskind Wir haben alle denselben Vater + Glanz strahlt von der Krippe auf - Pallottiner
Ausgabe 12 | Dezember 2020 | 127. Jahrgang

 Würde

 + Du darfst springen und tanzen, Gotteskind
 + Wir haben alle denselben Vater
 + Glanz strahlt von der Krippe auf

D 11 901
Würde Du darfst springen und tanzen, Gotteskind Wir haben alle denselben Vater + Glanz strahlt von der Krippe auf - Pallottiner
12. 2020

    GERTRUD BREM
                                                         8
    DAS EWIGE DU

                                                                                                                                22
    Wir Menschen leben von der Begegnung
    mit anderen Menschen. Erst in dieser                                    P. ALEXANDER HOLZBACH
    Begegnung mit dem Du spüren wir, was
    es bedeutet, wenn wir Ich sagen. Die                                    Glanz strahlt von
    größte und tiefste Begegnung, die wir
    Menschen erleben können, ist die Begeg-                                 der Krippe auf
    nung mit dem ewigen Du, mit Gott.
                                                                            Weihnachten ist die dunkle Jahreszeit. Wir sehnen uns nach
                                                                            Licht und nach Wärme. Wir sehnen uns nach Glanz. Wenn
                                                                            wir Krippen in Kirchen besichtigen oder sie zu Hause im
                                                                            Wohnzimmer aufbauen, leuchten uns oft kleine Lichter oder
    ALEXANDER SCHWEDA

    Wie ich meine                                 16                        Kerzen entgegen. Unser Glaube sagt: Ja, aus der Krippe von
                                                                            Bethlehem, letztlich vom göttlichen Kind, vom Erlöser strahlt
                                                                            der eigentliche Glanz aus, das Licht von Weihnachten.

    Würde wieder
    zurückbekam
    Was passiert mit der Würde, wenn ein
                                                                            MARIA WEILAND                                       24
    Mann einen Fehler begeht, sich selbst                                   Wunderbar wiederhergestellt
    anzeigt und vor Gericht landet? Was
    passiert mit ihm und seiner Würde, wenn                                 In die Brüche und in die Zerrissenheit menschlicher Ge-
    er ins Gefängnis geht, und was passiert                                 schichte hinein wird Gott Mensch. In Jesus macht sich Gott
    mit ihm und seiner Würde, wenn er wieder                                selbst verletzlich. In seinem Leben und Sterben hat Jesus
    entlassen wird? Dieser Mann erzählt seine                               die Menschen in ihrer Verletzlichkeit und in ihren Brüchen
    Geschichte. Es ist die Geschichte einer ver-                            berührt und geheilt. Ein schönes Sinnbild dafür ist eine japa-
    lorenen und wiedergefundenen Würde.                                     nische Reparaturmethode für zerbrochene Keramik.

      Würde .................................................................................................. 4
      Michael Lehmler
      Du darfst springen und tanzen, Gotteskind .................................. 6                                       2021
      Vera Novelli
      »Danke, dass Sie mich siezen!« ..................................................... 10
      P. Peter Hinsen
      Den Himmel offen halten im KZ .................................................... 12
      P. Hubert Lenz                                                                                               IM NÄCHSTEN HEFT:

      Wir haben alle denselben Vater..................................................... 14                       Neu
      P. Jörg Müller                                                                                               anfangen
      Dem Tod im Leben Raum geben..................................................... 18
      Pia Biehl
      Die Würde des Menschen................................................................ 20                    FEBRUAR 2021
      Emmy Grund                                                                                                   Heilung und
      Der Heilige des Monats................................................................... 30                 Heil
      Ambrosius – 7. Dezember

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Die Würde wohnt in uns
Es ist so einfach und doch so schwer zu      Ist es zu kühn, anzunehmen, dass Artikel
verstehen. Wer ein kleines Kind ansieht,     1 des Grundgesetzes, das von der unan-
weiß, wovon ich rede: die unantastbare       tastbaren Würde des Menschen spricht, im
Würde eines kleinen Menschenkindes. Je-      Geheimnis der Weihnacht wurzelt?
dem leuchtet das ein. So ein kleines Wesen
ist heilig. Auch ohne Krippe, Hirten und     Sehen wir uns ruhig mal im Spiegel an. Es
den drei Weisen aus dem Morgenland.          blickt uns allen die Würde des Menschen
                                             entgegen. Und dies erst recht, wenn wir
Doch was ist später, wenn dieses Kind zu     uns im Spiegel des Mitmenschen erken-
wachsen beginnt, seine Fehler und Eigen-     nen. Im Du, an dem Sie selbst zum Ich wer-
heiten entwickelt, den Weg in seinem Le-     den, wie Gertrud Brem auf Seite 8 erzählt.
ben sucht und strauchelt? Wenn es von        Diese Würde spricht zu uns in unserer See-
Freuden und Leid geprägt wird, Jugend-       le, sie wohnt in uns. Vielleicht finden Sie
und Erwachsenenalter durchschreitet und      in diesen Weihnachtstagen die Ruhe, ihr
am Ende als betagter Mann oder Frau dem      zuzuhören, ihr Platz einzuräumen und sie
Tod entgegengeht, wie Pia Biehl auf Seite    zu bestaunen. So wie Sie ein Kind in der
18 thematisiert? Sehen wir da immer noch     Krippe bestaunen würden. Denn aus ihr
die Würde oder ist sie gar abhandenge-       leuchtet Ihnen ein Glanz entgegen, wie
kommen?                                      Pater Alexander Holzbach auf Seite 22 be-
                                             tont. Möge Ihnen dieser Glanz im Herzen
Das Tagesgebet der Liturgie an Weihnach-     aufleuchten. Das wünscht Ihnen
ten spricht davon, dass Gott den Menschen
»in seiner Würde wunderbar erschaffen«
und durch das Geheimnis der Weihnacht
»noch wunderbarer wiederhergestellt« hat.
Gottebenbildlichkeit gibt dem Menschen
jenseits aller menschlichen Denkmodelle
seine Würde. Christen glauben, dass diese    ihr
Würde durch die Menschwerdung Gottes         Alexander Schweda
einen besonderen Glanz bekommen hat.         chefredakteur

                                                                                              3
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würde
        für immer
        bedingungslos
        geliebt sein

        unantastbar
        die würde
        auf dem papier

        missbraucht
        zerbombt
        in wirklichkeit

        ständiges ausloten
        und definieren
        im alltag

        unzerstörbar
        je neu
        im glauben

        fragil
        im leben und
        im sterben

        gottes traum
        für alle - heute
        und in ewigkeit

        michael lehmler

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             Du darfst
             springen und tanzen,
             Gotteskind
                                                   Was für ein Wunder! Was für ein Abbild der
                                                   Liebe! Ein Mensch, neu geboren, zart und
                                                   klein und doch schon vollkommen. Von Gott
                                                   geliebt. Was für eine Würde. Von Anfang an.

S
      ie hat Wangen wie verblassendes Abendrot. Die            deiner Zellen ein Universum an Leben und Möglichkei-
      bläulichen Augenlider flattern wie Schmetterlin-         ten gehaucht. Du bist das große Wunder, in das alles hin-
      ge. Das Näschen ist wie aus rosa Porzellan, die          eingelegt ist, was es über Gott zu sagen gibt. Du bist sein
winzigen Ohrmuscheln wie aus Wachs. Ihre Lippen glei-          Abbild. Von Anfang an. Du brauchst nur zu erwachen
chen einer kleinen Rosenknospe am Morgen. Die makel-           und das Leben zu umarmen.
losen Händchen scheinen aus Marmor gemeißelt. Sie ist
ein Wunder der Schöpfung: Juliane, meine erste Enkelin!        Juliane, ich wünsche dir, dass du das Leben lebst mit der
                                                               Freude eines Welpen und mit der Würde eines Gottes-
Als ich sie das erste Mal im Arm hielt, hatte ich kein an-     kindes. Du darfst springen und tanzen, lachen und ge-
deres Wort für sie, als »Wunder«. Ein kleiner Mensch,          nießen. Diese Welt liegt dir zu Füßen. Ergreife sie!
wenige Tage alt und so vollkommen. Ihr Herzchen pocht
in der kleinen Brust wie eine Taube in der Hand. Ein klei-     Doch Vorsicht. Diese Welt birgt auch das Böse. Du wirst
nes menschliches Wesen, durchdacht bis in die kleinste         verletzt werden; nicht nur deine Knie beim Fallen. Du
Zelle, stark und ohnmächtig zugleich. Ihr Leben hängt          wirst von Klippen stürzen und Verrat trinken. Du wirst
ab von der Liebe.                                              weinen, verzweifeln und zweifeln. Ich wünsche dir Men-
                                                               schen, die deine Tränen trocknen, die mit dir schweigen
Bald macht sie die riesigen Augen auf und blickt umher:        können, wenn es keinen Rat mehr gibt. Ich wünsche dir,
erstaunt, grenzenloses Vertrauen. Keine Angst, kein            dass dann jemand da ist, der dich an deine Würde er-
Zweifel, dass die Geborgenheit und Sicherheit des Au-          innert, die Würde des Gotteskindes, das niemals tiefer
genblicks schwinden könnten.                                   fällt als in Gottes Hand. Eines Gottes, der selbst ein Men-
                                                               schenkind wurde, um bei uns zu sein.
Juliane, neu ist die Welt für dich, neu ist alles, was nicht
im Mutterschoß war. Du bist ein Kind der Liebe; der Lie-       Jetzt aber, Juliane, du kleine Prinzessin, will ich dir
be deiner Eltern und der Liebe Gottes. Du bist kein Zu-        noch etwas wünschen. Ich wünsche dir Eltern, die dich
fall, keine Ansammlung von Materie, die sich irgendwie         beschützen. Sie sollen auf dich schauen, wenn du die
ins Leben geschmuggelt hat. Du bist der Wunsch Gottes.         ersten Schritte machst, und ihre Arme sollen immer
Gott hat dich in dieses Leben gerufen, weil er dich liebt,     für dich offen sein. Ich wünsche dir Eltern, die an dich
noch mehr als deine Eltern dich lieben. Gott hat in jede       glauben, die nicht das Scheitern, sondern immer erst

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                                               Ich wünsche dir
                                            starke Wurzeln, aber
die tausend Möglichkeiten in dir sehen,
                                            noch stärkere Flügel,              Du hast ein Recht auf Schutz, bevor
die dein Herz, dein Verstand und deine     damit du dahin fliegen              du stark genug bist, zu ertragen, dem
große Seele bereithalten. Ich wünsche       kannst, wohin deine                Grauen ins Gesicht zu sehen. Es wird
dir Eltern, die dir nicht die Kindheit rau-                                    schon früh genug kommen.
                                           Bestimmung dich weist.
ben durch Egoismus und Achtlosigkeit.
Sie sollen dich vor dem Grauen, das es                                          Ich wünsche dir Eltern, die dich los-
tatsächlich gibt, schützen. Ja, sie sollen dir verbieten,   lassen können, wenn du deine Flügel ausbreitest. Ich
das Grauen anzuschauen. Du darfst, solange du an Feen,      wünsche dir starke Wurzeln, aber noch stärkere Flügel,
Elfen, Zauberschlösser und endlose Liebe, an die Guten      damit du dahin fliegen kannst, wohin deine Bestim-
und das Christkind glaubst, niemals das Grauen in die-      mung dich weist. Vergiss nicht, dass du Gottes Kind bist,
ser Welt sehen. Sie sollen deine Augen und deine Seele      eines Gottes, der auch Mensch und Kind ist, und der dich
bedecken, wenn das Grauen sichtbar wird.                    stark macht wie einen Adler. Es wird der Tag kommen,
                                                            da bist du kein tollpatschiges Menschenkind mehr, son-
Denn das Grauen ist da: Kriege, Folter, Gewalt und Hun-     dern groß und bereit für das Leben, das – trotz allem –
ger, Verrat und Schuld. Du musst nicht genau wissen,        wunderschön ist.
wie Jesus und die Märtyrer starben, was Sex zum Kaufen
ist, und wie es sich anfühlt, wenn Menschen brennen.                                                Vera Novelli

                                                                                                                    7
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                   Das ewige DU
    Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Und in dieser Begeg-
    nung erkennen wir wie in einem Spiegel unsere eigene
    Würde. Am Du werden wir zum Ich. Ein Gedanke, den der
    jüdische Philosoph Martin Buber entfaltet hat.

M
          artin Buber ist einer der wichtigsten Denker
          des vergangenen Jahrhunderts. Geboren ist er
          1878 in Wien, er war jüdischen Glaubens, stu-
dierte Philosphie, Psychiatrie und Germanistik und war
einige Zeit Professor an der Universität in Frankfurt. Zur
Zeit des Nationalsozialismus verließ er Deutschland. Er
starb 1965 in Jerusalem.

Eines seiner bekanntesten und wichtigsten Werke heißt:
ICH und DU, und in dieser Schrift entwickelt er seine Ge-
danken dazu, wie der Mensch zum wirklichen Mensch-
sein kommt. In jedem Menschen ist die Fähigkeit, das         Begegnung von Mensch zu Mensch
Menschsein zu verwirklichen, zunächst nur angelegt.
Erst, wenn der Mensch in Beziehung zu anderen Men-           Andererseits lebt der Mensch in einer ICH-DU-Bezie-
schen oder zur Welt tritt, entwickelt sich sein ganzes       hung. In dieser Beziehung begegnen sich die Menschen
Menschsein.                                                  unmittelbar, wie in einem offenen Raum, hier will man
                                                             kein Ziel erreichen und verfolgt auch keinen Zweck.
Für Buber gibt es zwei Arten von Beziehungsgeschehen.        Man öffnet sich ohne Vorbehalt seinem Gegenüber. Eine
Einerseits gibt es die ICH-ES Beziehung. Hier benutzt der    wirkliche Begegnung von Mensch zu Mensch umfasst
Mensch seine Beziehung, um etwas zu erreichen. Er hat        das Gegenüber in seiner Ganzheit und akzeptiert sein
einen rationalen und oberflächlichen Bezug zu den Din-       Anderssein. Und so beginnt ein Dialog, in dem man den
gen oder auch zu anderen Menschen. Die Beschäftigung         anderen in seiner ganzen Persönlichkeit verstehen will.
mit den Dingen, mit der Natur oder auch mit Menschen         Es geht nicht darum, sich gegenseitig zu überzeugen
in der ICH-ES-Beziehung verfolgt immer einen Zweck. Sie      oder sich zu bekehren und auch nicht darum, sich dem
ist von rationalen Überlegungen geleitet, sie nutzt und      anderen anzugleichen, sondern es gilt, den anderen zu
gebraucht das ES und bleibt dabei in Distanz. Wir brau-      schätzen, zu respektieren und zu tolerieren.
chen diese distanzierte Beziehung, um die Welt zu erfas-
sen, um Erfahrungen zu sammeln und unser Wissen zu           Alles Leben ist das Gegenüberstehen, sagt Martin Buber,
erweitern. Wenn wir aber in einer oberflächlichen Bezie-     und das ist ein wechselseitiges, ein dialogisches Gesche-
hung zu Menschen, Natur und Dingen bleiben, entfrem-         hen. Man hat von dem anderen kein vorgefasstes Bild
den wir uns auch von einer in uns wohnenden wesentli-        und man erwartet kein konkretes Ergebnis. Man lässt
chen Wirklichkeit.                                           sich auf ein wirkliches Gespräch ein, von dem man noch

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 OO Sobald Gott auf der Welt ist, geschieht Begegnung. Schon bei der Geburt Jesu. Das Foto zeigt eine Darstellung des Besuchs
    der drei Weisen im oberschwäbischen Krippenmuseum in Oberstadion.

nicht weiß, wie es sich entwickelt und was daraus ent-               ist der Ursprung aller zwischenmenschlicher Begegnun-
steht. Im »Hier und Jetzt« in der Gegenwart ereignet sich            gen. Durch diese Grundbeziehung zwischen Mensch
die Begegnung und schafft eine für die Dialogpartner                 und Gott ist eine Begegnung zwischen einem mensch-
unverfügbare Wirklichkeit, in der man sich als ganze, re-            lichen ICH und DU überhaupt erst möglich. Und in der
spektierte und geschätzte Person erleben kann.                       Begegnung zwischen Menschen ist dieses ewige DU
                                                                     auch immer da. Es verwirklicht sich sozusagen in einer
Wechsel zwischen Nähe und Distanz                                    solchen menschlichen Begegnung vom ICH zum DU.

Diese ICH-DU-Beziehung ist nicht von Dauer, sondern                  Wer so einen Dialog auf gleicher Ebene führt, spürt Zu-
sie ist punktuell und sie wechselt von der großen Nähe               neigung, Liebe, Wertschätzung und Respekt, und er er-
wieder hin zur Distanz. Denn wir können nicht in eine                lebt sich als ganzer, lebendiger und wirklicher Mensch.
Beziehung zu einem anderen eintreten, wenn wir ihn                   Und damit taucht er auch in die Wirklichkeit Gottes ein.
nicht auch in der Distanz betrachten können. Einen                   Das ewige DU ist für uns Menschen in die Welt gekom-
Menschen wirklich wahrnehmen bedeutet, zwischen                      men, um in einem menschlichen Dialog uns zu unserem
beiden Prinzipien von gegenwärtiger Begegnung und                    wirklichen, ganzen Menschsein zu führen.
Distanz zu wechseln. Aus einer ICH-ES-Begegnung zwi-
schen Menschen kann immer auch eine ICH-DU-Begeg-                    Eine gute Botschaft: An diesem DU werde ich zum ICH!
nung werden und umgekehrt.

Für Martin Buber gibt es aber ein ewiges DU, das nie zum
ES werden kann. Dieses ewige DU, das wir Gott nennen,                                                                 Gertrud Brem

                                                                                                                                      9
Würde Du darfst springen und tanzen, Gotteskind Wir haben alle denselben Vater + Glanz strahlt von der Krippe auf - Pallottiner
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»Danke,
dass Sie mich
siezen!«
         E
               s kann einem Theologiestudenten nicht schaden,
               den Alltag eines Krankenhauses zu erleben. Noch in
               den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts stand
         am Eingang des alten Schlosses »Nervenklinik«, die Leute
         sagten »Irrenanstalt« dazu. Hier sollte ich als Praktikant in
         einem Saal 18 Patienten beaufsichtigen.

         Da waren Menschen mit unterschiedlichen neurologi-
         schen und psychiatrischen Krankheitsbildern eingeschlos-
         sen. Diese Vermischung verwirrte mich. Dazu kamen kom-
         plizierte Konflikte zwischen den Patienten, die routinierte
         Distanzlosigkeit etlicher Ärzte und des Personals, und
         manchmal auch eine eigenartige Scham der Angehörigen.

         Im hintersten Eck, wo kaum jemand hinschaute, stand das
         Bett eines Mannes, der eine große Nachdenklichkeit aus-
         strahlte. Ich merkte, dass er häufig leise lange Passagen der
         »Odyssee« des Dichters Homer in griechischer Sprache
         deklamierte. Seinen Blick zu mir konnte ich leicht über-
         setzen: »Gell, da staunen Sie!« Er klärte mich auf: »Mein
         Vater ist ein alter Griechischlehrer.«

         Kurz vor meinem Abschied sprach er mich an: »Ich möch-
         te Ihnen danken. Sie sind der Einzige hier, der mich mit
         ›Sie‹ anspricht!« Das war damals in dieser Klinik tatsäch-
         lich die absolute Ausnahme. Herr Meier (Name geändert)
         litt schon jahrelang unter einer manischen Depression.
         Immer wieder wurde er nach Hause zu seinem Vater ent-
         lassen, aber stets Monate später wieder in die »Nervenkli-
         nik« eingeliefert. Herr Meier registrierte die Bewegung
         der Vorhänge der neugierigen Nachbarn und ahnte ihr Tu-
         scheln: »Jetzt wird er wieder geholt.«

         Zwei Jahre später, nach dem plötzlichen Tod seines Vaters,
         hat sich Herr Meier das Leben genommen. Schon lange
         ist sein Name in Stein gemeißelt, wie eine Erinnerung an
         seine Würde. Wenn mehr Menschen »Sie« zu ihm gesagt
         hätten, vielleicht wäre manches anders gelaufen.

         P. Peter Hinsen

                                                                               11
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  DEN HIMMEL OFFEN
  HALTEN IM KZ Der selige Pater Richard Henkes lässt sich in Dachau
               in die Typhusbaracke einsperren, um die Kranken
                                                  zu begleiten, und steckt sich dort an. Er zeigt seine
                                                  Achtung vor der Würde jedes Menschen.

1945 starb Pater Richard Henkes im KZ Dachau. Bei der           Widerstandskraft der Häftlinge brechen. Angriffspunkt
Pflege typhuskranker Mithäftlinge hatte sich der Pallot-        war auch das christlich-jüdische Gottes- und Menschen-
tiner infiziert. Als er noch in Freiheit war, erklärte er zum   bild.
Euthanasieprogramm: »Die Tötung Wehrloser ist Mord!«
Klar, dass er den Nazis ein Dorn im Auge war.                   Danach besitzt jeder Mensch als Abbild Gottes eine
                                                                gottgeschenkte Größe. Diese können andere oder man
»Man ist der Willkür der Menschen ausgeliefert«, schrieb        selbst nicht zerstören, wohl aber leugnen und verdun-
er kurz nach seiner Ankunft im KZ. Schikane und Willkür         keln. In der prinzipiellen Verachtung der Würde jedes
bekamen die neuen Häftlinge dort gleich beim »Emp-              Menschen steckte sicher auch der Versuch, diesen aus
fang« zu spüren. Nach der Abgabe ihrer persönlichen Sa-         seinem Bezug zu Gott und zum Glauben zu lösen.
chen müssen sie sich ausziehen. Kahlgeschoren werden
sie mit einer ätzenden Säure eingerieben. »Zur Desinfi-         Zugleich gab es auch das andere: Da begegneten Häftlin-
zierung«, heißt es. Nach einer kalten Dusche erhalten sie       ge ihren Leidensgenossen mitfühlend, fanden trösten-
die Häftlingskleidung samt gut sichtbarer Nummer. Mit           de Worte, teilten Lebensmittel, setzten sich für schwer
dieser, nicht mit ihrem Namen, werden sie fortan von            Erkrankte ein (denen die Vergasung drohte). Sie waren
den Aufsehern gerufen und angeschrien.                          Boten der Menschlichkeit, die Mut und Hoffnung ver-
                                                                breiteten – gewissermaßen den Himmel offenhielten.
Der Versuch systematischer Auslöschung von Selbst-              Damit stärkten sie bei sich selbst wie auch bei anderen
wert und Identität nahm damit seinen Anfang. Die aus-           die Widerstandskraft gegen Resignation, Abstumpfung
drückliche Missachtung ihrer Würde sollte nicht nur die         und Verzweiflung.

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LL Das Ölgemälde von Beate Heinen (1995) zeigt Pater Richard Hen-
   kes sowie Stationen seines Lebens.
                                                                    hier ein und lebt Tag und Nacht mitten unter Infizierten
                                                                    und Sterbenden. Der Tod ist allgegenwärtig – ebenso die
Zu denen, die ihren Mitgefangenen Ermutigung und Zu-                Angst. Nach neun bis zehn Wochen steckt er sich an.
wendung schenkten, gehörte auch Richard Henkes. In
der Poststelle bekam er mit, wo Pakete eingingen und                2019 wurde Pater Henkes seliggesprochen – als Märty-
wo nicht. Immer wieder teilte er die ihm geschickten Le-            rer der Nächstenliebe. Erzählt man von ihm, wird immer
bensmittel mit Hungrigen, die leer ausgingen.                       wieder gefragt: »Bei allem Respekt vor diesem Einsatz,
                                                                    war das richtig – so kurz vor Ende des Krieges? – Hätte
Besonders lag ihm die Situation der Neuankömmlinge                  der nicht noch viel Gutes tun können?«
am Herzen. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie die
ersten Lagererfahrungen einem zusetzen konnten und                  Selbst gefragt, hätte R. Henkes vielleicht geantwortet:
wie gut ihm die erste Begegnung mit einem Mitbruder                 Sollte ich die Menschen allein lassen? Ich möchte, dass
tat.                                                                sie in der Botschaft des Glaubens Ermutigung und Hoff-
                                                                    nung finden. Vielleicht kann ich dem einen oder ande-
Es gelang ihm, in einer der Baracken für die Neulinge als           ren helfen, wieder an seine eigene Würde zu glauben, an
»Kantinenwirt« tätig zu sein, zuständig u. a. für die Es-           seine Berufung zur Ewigkeit.
sensausgabe. Gleichzeitig wirkte er heimlich als Seelsor-
ger – offiziell war dies unter Strafe gestellt.                     Ich möchte teilen und weitergeben, was mich selbst er-
                                                                    füllt: Dass Gott auch hier im Lager DA ist – dass er mich
Der Typhus kommt, Henkes bleibt                                     ganz persönlich meint, DU zu mir sagt. Und dass er ohne
                                                                    Wenn und Aber JA zu mir sagt. Ist diese Liebe Gottes, die
Im Herbst 1944 bricht im Lager Typhus aus. Betroffen                alles für uns tat, nicht den Einsatz des eigenen Lebens
ist auch Baracke 17, in der Henkes tätig ist. Als sich die          wert?
Krankheit ausbreitet, werden mehrere Unterkünfte                    Eine Haltung, die nachdenken lässt, zum Gespräch ein-
unter Quarantäne gestellt. Die SS zieht sich zurück –               lädt …
Richard Henkes zeigt Haltung und bleibt. Er zieht ganz                                                       P. Hubert Lenz

                         Oft wächst aus einem Anfangsim-            In der Ausstellung erleben die Besucher an den bis
                         puls, jeder Menge Geistkraft und           zu 22 Stationen Freude am Tun, betrachten ihre
HALTUNG                  viel    Unterstützung                                 zwischenmenschlichen Beziehungen,
                         eine rundum gute Sa-                                  erfahren Zuspruch und reflektieren un-
HEUTE                    che!                                                  terschiedlichste Lebensfragen.

                        Anlässlich der Selig-                                   Besonders mit Blick auf die Corona-
      sprechung des Pallottinerpaters Ri-                                       Erfahrungen, die wachsende Radikali-
      chard Henkes 2019 entstanden                                              sierung auf der einen und die Zunahme
        › die Erlebnisausstellung                                              von Gleichgültigkeit auf der anderen
           MEHR∙LEBEN∙ENTDECKEN –                                               Seite, zeigt sich, dass unsere Gesell-
           interaktiv auf den Spuren des Pal-                                   schaft Menschen mit Werten, Überzeu-
           lottinerpaters Richard Henkes                                        gungen und Mut braucht – Menschen,
         › das Ein-Personen-Theaterstück                                       die ›MEHR∙LEBEN∙ENTDECKEN‹ und
            ABGERUNGEN.                                                         ›HALTUNG HEUTE‹ zeigen wollen.

      In diesem Theaterstück befasst sich ein junger                Informationen und Eindrücke gibt es dazu im Inter-
      Mann mit P. Henkes. Die Auseinandersetzung mit                net unter der Adresse www.haltung-heute.de.
      dessen Leben und Wirken fordert ihn heraus, die
      eigenen Werte und Haltungen zu hinterfragen.                  Interessierte, die das eine oder beide Projekte
      Durch die ausdrucksstarke Darstellung werden die              in ihrem Umfeld erleben oder anderen ermöglichen
      Zuschauer mitgenommen und angesprochen, auf                   wollen, können ihre Buchungsanfrage an
      eigene Einstellungen und Haltungen zu schauen.                info@haltung-heute.de richten.

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                                      Wir haben alle
                                     denselben Vater
            Es ist ein neuer Satz in der Verfassungsgeschichte: »Die Würde des Menschen ist unan-
             tastbar«, heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Die UN-
           Generalversammlung verkündet am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der
           Menschenrechte in Artikel 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten
                  geboren.« Die Idee der Menschenwürde reicht jedoch zurück bis in die Bibel.

V
       om Uranfang her sind die Menschen von Gott            eigentlich nicht in der Lage sein, diesem Menschen Üb-
       gleichwürdig geschaffen, aufeinander bezogen          les anzutun und ihn zu verachten. Im Gegenteil. Die Bi-
       und verwiesen. Jeder Mensch kommt von Gott            bel ist hier unzweifelhaft eindeutig!
und hat von dorther seine unveräußerliche Würde.
Jeder Mensch hat das Recht, so angesehen, angespro-          Gott demütigt nicht einmal den Sünder: Was machte
chen, so behandelt zu werden: als ein Wesen, das gott-       Gott, als Adam und Eva ungehorsam waren und sich aus
ähnlich ist.                                                 Scham die Blöße mit einem Feigenblatt bedeckten? Er
                                                             gab ihnen ein Fell. Was machte er mit Kain, nachdem er
Der Umgang Jesu mit den Ausgestoßenen war stets von          seinen Bruder erschlagen hatte? Er zeichnete ihm ein
Freundlichkeit und Barmherzigkeit geprägt. Er verurteil-     Mal auf die Stirn zum Schutz vor Verfolgung.
te niemanden und gab jenen, die man unwürdig behan-
delte, die Würde zurück. Zum Beispiel: Zachäus. Ganz be-     Der wankelmütige Petrus wird zum »Fels«; der verräteri-
wusst lud er sich vor den Pharisäern bei ihm zum Essen       sche Judas wird mit »Bruder« angesprochen, die Ehebre-
ein, was ein absoluter Tabubruch war. Oder die Sünde-        cherin wird nicht verurteilt, der rechte Schächer erhält
rin, die ihn mit Öl salbte. Er sprach ihr Vergebung zu und   die Zusage, noch heute ins Paradies zu gelangen. Das un-
lobte ihr Handeln.                                           bürokratische Handeln hat ihm viel Ärger eingebracht
                                                             bei jenen, die meinten, etwas Besseres zu sein. Auch
Ja selbst die Kinder stellt uns Jesus als Vorbilder hin;     heute noch laufen religiöse Fundamentalisten Gefahr,
wir sollen sein wie sie: authentisch, selbstvergessen        sich für auserwählt zu halten und allen anderen den Re-
und hingabefähig. Er stellt sie unter seinen besonderen      spekt zu verweigern.
Schutz und droht jedem Verführer und Vergewaltiger
bittere Konsequenzen an.                                     Wie gehen wir um mit Tier und Natur? Die Amazonas-
                                                             Indianer bitten jedes Tier, das sie zum Verzehr töten
Beim Propheten Maleachi im Alten Testament der Bibel         müssen, und jeden Baum, den sie fällen müssen, um
klingt das so: »Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns    Vergebung. Sie empfinden sich selbst als Teil eines Gan-
nicht ein Gott geschaffen? Warum verachten wir denn          zen und stellen sich nicht hochmütig darüber. Und nun
einer den andern?« Genau das ist der entscheidende           erleben sie den Raubbau ihres Landes, die Verbrennung
Punkt: Menschen, Gruppen, Völker, Nationen erachten          der Wälder, die Versklavung ihrer Stämme – und das al-
sich besser als andere und erheben sich über sie. Ver-       les nur aus Habgier.
achtung greift um sich. Auch heute ist das immer wieder
deutlich spürbar.                                            Wir entsorgen den Müll im Meer, im Wald, im Weltall.
                                                             Nach uns die Sintflut. Zu Recht hat die junge Generati-
Wie kommt es dazu? Es ist eine Verrohung und letztlich       on Angst vor der Zukunft, wenn sie zusehen muss, wie
Gottvergessenheit, die sich hier Bahn bricht. Wenn ich       ihre Welt kaputt gemacht wird von einigen wenigen
im anderen Menschen denjenigen sehe, der genau wie           Großgrundbesitzern und Konzernen. Es fehlt jeglicher
ich von Gott gemacht und geliebt ist, dann sollte ich        Respekt.

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   OO Jesus beugt sich über die Sünderin und gibt ihr die Würde zurück.
      Gemälde von Emil Nolde. »Christus und die Sünderin«, 1926. Öl auf Leinwand, Berlin, Nationalgalerie.

Alle Geschöpfe werden in der Bibel als ein Geschenk                   die Schönheit des Menschen und verweist dabei immer
Gottes betrachtet; in vielen Psalmen loben und preisen                wieder auf die Ähnlichkeit mit dem Schöpfer, frei von
sie ihren Gott. 130 Tiere erwähnt die Bibel, vom Adler bis            Eitelkeit und narzisstischer Selbstbewunderung. Auch
zum Ziegenbock; manche stehen direkt im Dienst des                    das Alter hat seine Würde; es handelt sich um die Aus-
Menschen; Noah schickt eine Taube als Kundschafterin                  strahlung der Seele, um Reife und Lebensweisheit. Nur
aus; ein Wal spuckt Jonas ans Land, Raben brachten dem                der kann sie erwerben, der ein Leben lang Disziplin übte
Elias das Essen; Jesus reitet auf einer Eselin; ein Hahn be-          und seine Mitmenschen achtete. »Wer wird den ach-
stätigt die Verleumdung des Petrus usw.                               ten, der sich selbst die Ehre abspricht?«, fragt Sirach im
                                                                      Kapitel 10,29.
Es gibt Gnadenhöfe für kranke und alte Tiere; dort kön-
nen sie in Würde ihr restliches Leben verbringen. Sie                 Versöhnte Menschen, die mit sich, Gott, den Mitmen-
werden es uns danken. Ich bin überzeugt davon, dass sie               schen und mit der Natur im Einklang sind, sind dankba-
auch im Paradies sein werden, wo »der Säugling an der                 re Menschen. Und die Dankbarkeit ermöglicht einen ver-
Höhle der Otter spielt und der Wolf beim Lamm liegt«                  antwortungsvollen, solidarischen Umgang miteinander.
(Jes 11,6 f).                                                         Sie ist der Schlüssel zu einer zufriedenen, würdevollen
                                                                      Lebenshaltung.
Wie gehen wir mit uns selbst um? Die Bibel spricht von
Körperpflege und vom Schmücken des Leibes; sie preist                                                          P. Jörg Müller

                                                                                                                              15
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Wie ich meine Würde
wieder zurückbekam
Wer im Gefängnis sitzt, hat etwas abzubüßen. Er sitzt eine Strafe
ab. Oder er stellt sich einem Untersuchungsrichter. So wie der
Mann, der hier seine Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte
eines Mannes, der durch seine Tat und durch seine Strafe seine
Würde verliert – und sie dennoch wiederfindet. Stück für Stück.

Nennen wir ihn einfach Jürgen. Es ist natürlich nicht          umgekrempelt.
sein richtiger Name. Aber Jürgen hat sich selbst für et-       Die Justiz dach-
was angezeigt, wofür es auch im Knast keine Gnade              te: Da muss
gibt: Er ist einem Mädchen zu nahegekommen. Nicht se-          doch noch mehr sein! Ich wurde hochgradig pädophil
xuell, aber zu intim. Es ist das, was jedem Erzieher und       eingestuft, überall wurde nach pornographischen Da-
jeder Erzieherin passieren kann: Er hat ein Nachbarkind        teien gesucht, zu Hause, auf der Dienststelle und bei der
immer wieder auf den Schoß genommen, es hat Küss-              Familie des Mädchens. Am Ende des Tages hieß es: »Mor-
chen gegeben, er hat sie täglich zur Schule begleitet.         gen ist Haftprüfungstermin. Dann werden wir entschei-
Aber Jürgen ist kein Erzieher. Er ist circa 60 Jahre alt und   den.« Die darauffolgende Nacht im Polizeigewahrsam
Polizist. Er ist verheiratet und hat Kinder und Enkel.         war die schlimmste Nacht meines Lebens. Am nächsten
Was ist passiert?                                              Tag wurde ich dem Haftrichter vorgeführt. Der Haftbe-
                                                               fehl lag schon auf dem Tisch. Ich wusste: Die befragen
Wir wohnten in einem kleinen Dorf, die Familie nebenan         mich nicht mehr, die Haft ist beschlossen. Man stufte
war neu eingezogen. Die zwölfjährige Tochter kam oft           mich hochgradig pädophil ein.
rüber. Ihre Eltern wussten, wo sie war. Ich habe manch-
mal eine Tour auf dem Roller mit ihr gemacht und sie           Danach fuhr ich ins Gefängnis. Da war ich als Polizist
morgens zur Schule mitgenommen. Doch irgendwann                oft gewesen, weil ich Menschen hinbegleitet habe. Ich
merkte ich: Da ist etwas falsch. Ich habe eine Grenze          kannte die Räumlichkeiten bis zum Eingang. Von da hat-
überschritten. Deshalb sagte ich dem Mädchen: Wir              te ich vielen Häftlingen »viel Glück« hinterhergerufen.
müssen jetzt Abstand halten. Sie müsse allein mit dem          Das hätte ich besser sein lassen sollen, denn ich wusste
Bus zur Schule fahren. Kurz und gut: Sie hat dies dar-         jetzt. Zehn Meter weiter hört das Glück auf, da beginnt
aufhin ihren Eltern erzählt und auch die Begründung            eine andere Welt. Die kannte ich bisher nicht.
genannt. Natürlich kamen dann die Eltern auf mich zu
und konfrontierten mich damit. Das Mädchen habe er-            Als ich im Gefängnis saß, war das ein schlimmer Mo-
zählt, dass sie auf meinem Schoß gesessen hat und ich          ment: Ich stehe da, völlig nackt, vor den Wärtern. Auch
sie geküsst habe: Stimmt das? »Ja«, habe ich zugegeben.        eine Frau war dabei. Sie schauen zu, wie ich mich ent-
Da war erst mal Stille.                                        kleide und Häftlingskleidung anziehe. Sie schauen in
                                                               jede Körperöffnung. Da war meine Menschenwürde
Jürgen braucht eine Weile, dann geht er noch einmal zu         weg. Ich dachte: Die kommt auch nie wieder zurück. Wo
den Eltern und erklärt, dass er sich anzeigen werde. Er        bist du hier?
fährt auf seine Dienststelle, und geht aufs Amtsgericht.
Nach zwei Stunden im Präsidium wusste ich: Das                 Ich sage heute: Wenn man seine Würde verliert, bekommt
geht schlecht aus. Mein Gefühl war: Mein Leben wird            man sie nicht auf einmal zurück, sondern stückweise.

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                                                            LL Sich selbst erkennen im zerbrochenen Spiegel und an den Bruch-
                                                               linien des Lebens. Das Foto zeigt einen Teil der Ausstellung über
                                                               den Pallottinerpater Richard Henkes (siehe Seite 12 und 13)

                                                            Dann kommt der Tag der Verhandlung. Die Staats-
                                                            anwaltschaft will ein Urteil, dem der Angeklagte zu-
                                                            stimmt. Jürgen soll zugeben, dass er sexuelle Empfin-
                                                            dungen hat, wenn er Kinder auf dem Schoß hat. Dann
                                                            wird er auf Bewährung und mit Therapieauflage frei-
                                                            kommen.

                                                            Das habe ich gemacht. Ich hätte an diesem Morgen mei-
                                                            ne Großmutter verkauft, nur um rauszukommen. So ist
                                                            mir meine Würde wirklich abhandengekommen. Dass
                                                            ich etwas zugeben musste, was ich nicht so empfand,
                                                            nur um freizukommen, daran knabbere ich heute noch.
                                                            Ich hatte den Eindruck: Mein Leben ist vorbei.
                                                            Sein Urteil lautet: Sexueller Missbrauch von Kindern in
Zum Beispiel, als ein Wachmann sagte: »Setz dich erst       46 Fällen. Das hat man aus der Anzahl der Begegnungen
mal hin. Willst du nochmal nach Hause telefonieren?«        hochgerechnet. Zwei Jahre Freiheitsstrafe auf drei Jahre
Ich wollte nicht, erst später. Aber das Angebot tat gut.    Bewährung, ein halbes Jahr im Gefängnis, Bewährungs-
Es waren kleine Momente, die mir geholfen haben, mir        helfer und Sexualtherapie. Jürgen verliert seinen Beruf,
selbst wieder in die Augen zu schauen: Ich bekam viel       seinen Beamtenstatus, er wird arbeitslos, bekommt
Post. »Das ist ungewöhnlich bei diesem Vorwurf«, sagte      Hartz IV und inzwischen eine verminderte Rente.
mir ein Wärter. Sie sehen ja nur das Delikt, den Vorwurf,
keine Einzelheiten.                                         Was ist Würde? Ich dachte immer, es ist das, was man
                                                            sich erarbeitet hat. Jetzt war das alles kaputt. Durch
Der erste Hofgang war schrecklich. Ich habe die Kapuze      andere Menschen habe ich meine Würde zurückbekom-
übergezogen, bin im Kreis von 80 bis 100 Leuten gelau-      men. Schlimm war es, als ich wieder zu Hause war. Als
fen und habe gehofft, dass mich keiner anspricht. Dann      ich das erste Mal wieder mit meiner Frau einkaufen
passierte es. Aus der Nachbarzelle. »Neu hier? Warum?«      ging, bin ich im Auto geblieben. Nach dem vierten oder
Da habe ich angefangen zu lügen, entgegen meiner Ge-        fünften Mal sagte meine Frau: »Jetzt gehst du mit rein.«
wohnheit. Aber mit dieser Lüge musste ich mich über         Ich ging durch den Laden, als ob ich ein Schwerverbre-
Wasser halten. Und ich dachte mir: Meine Güte, was pas-     cher wäre. Ich habe mich geschämt und wollte mich in
siert hier mit mir? Ich lüge, obwohl ich immer die Wahr-    ein Loch versenken. An der Getränkeecke stand der Be-
heit gesagt habe.                                           sitzer des Geschäftes und sagte: »Dich habe ich lange
                                                            nicht mehr gesehen. Schön, dass du da bist.«
Ein großes Stück meiner verlorenen Würde hat mir der
Gefängnisseelsorger geschenkt. Er brachte mich eines        Das habe ich nicht vergessen. Ich brauchte das Signal
Tages in die Kapelle und sagte: »Ich verstoße jetzt ge-     der anderen. Mit einem netten Wort oder einer lie-
gen 100 Vorschriften und lasse dich eine Stunde allein.     bevollen Geste. Ich machte auch Musik in einer Band.
Du hast sicher viel zu erzählen.« Und dann hat er mich      Nach der U-Haft rief mich der Kollege an und sagte:
allein gelassen mit meinem Herrgott. Das tat so gut.        »Am Montag ist Probe.« Und ich fuhr zu der Probe.
Genauso, als ich mehrmals in die Augenklinik musste.        Ich bin reich beschenkt worden. Ich bin immer noch
Erst wurde ich immer dabei gefesselt. Beim dritten Mal      überzeugt: Die Wahrheit tut nur einmal weh, dann las-
nicht. Nur im Auto bekam ich eine Fußfessel. Ich habe       se ich Gott wirken.
gefragt, warum. Der Beamte sagte: »Es ist bekannt, dass
Sie sich an die Regeln halten.« Ich hätte heulen können.                  Aufgezeichnet von Alexander Schweda

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                 Dem Tod im Leben
                   Raum geben

                     In Würde sterben – wer will das nicht?
                               Aber was heißt das?
           Zunächst vielleicht einfach, dass der Tod zum Leben gehört.
             So wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in der
             Corona-Krise anmerkte: Das höchste Gut sei nicht die
           Gesundheit, sondern die Menschenwürde, und dazu gehöre
                            auch das Sterben, sagte er.

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Dieser Tage fiel mir eine Traueranzeige wieder in      Eine würdevolle Atmosphäre, die Raum gibt für den
die Hände, über der folgender Spruch stand:            Abschied, für Versöhnung, vielleicht dafür, noch
                                                       offene Dinge zu klären, Raum zum Lachen und
»Der Tod eines geliebten Menschen                      zum Weinen, die Möglichkeit, auch noch im Ster-
ist die Rückgabe einer Kostbarkeit,                    ben am Leben teilzuhaben.
die Gott uns nur geliehen hat.«
verfasser unbekannt                                    Es ist klar, dass ein solcher Rahmen im Zuhause, ob
                                                       das nun in einer Wohnung oder in einer Einrich-
Mich persönlich berührt dieser Satz stark, drückt er   tung ist, einem Hospiz oder einer Palliativstation,
doch tiefes Vertrauen aus, dass Gott uns das Leben     leichter zu schaffen ist, als in einem Mehrbettzim-
schenkt und wir nach dem Tod zu ihm zurückkeh-         mer im Krankenhaus. Wichtig ist es, dass es für uns
ren. Und er drückt aus, wie wertvoll jeder einzelne    selbstverständlicher wird, dem Thema Sterben und
Mensch vor Gott ist: eine Kostbarkeit.                 Tod im Leben einen Raum zu geben und es damit
                                                       aus der Tabu-Ecke zu holen. Wichtig ist es, die ver-
Gott hat jedem Menschen eine unantastbare Wür-         schiedenen palliativen Versorgungsmöglichkeiten,
de gegeben, und die gründet sich nicht in Ansehen      die die Schmerzen und die Angst des Sterbenden
oder Lebensleistung, sondern in Gottes JA zu jedem     mindern und damit die Sterbephase erleichtern
Menschen.                                              können, bekannter zu machen.

Aus christlicher Sicht ist es deshalb unabdingbar,     Auch den Leichnam ehren
jedem Menschen ein Sterben in Würde zu ermög-
lichen. Aus gesellschaftlicher Sicht ist ein Sterben   Wir müssen das Bewusstsein dafür stärken, dass
in Würde ein Recht jedes Menschen – auch und be-       es viele Hilfen gibt für Sterbende und ihre Ange-
sonders des hilfe- und pflegebedürftigen Menschen      hörigen, wie zum Beispiel Pflege- oder ambulante
(s. Artikel 8 der Charta der Rechte der hilfe- und     Hospizdienste. Menschen, die da sind, wenn Hilfe
pflegebedürftigen Menschen).                           und Unterstützung oder einfach mal eine Auszeit
                                                       gebraucht wird. Mich berühren jedes Mal die Be-
Was heißt das genau, Sterben in Würde? Viele Men-      richte aus dem hier stationierten Herzenswunsch-
schen verknüpfen damit die Diskussion um die           krankenwagen. Da sind Pflegekräfte ehrenamtlich
Sterbehilfe, die Entscheidung, im Krankheitsfall       mit Menschen unterwegs zu Wunschzielen, die sie
selbst bestimmen zu können, wann ich meinem Le-        sonst niemals mehr vor ihrem Tod hätten besu-
ben ein Ende setze. Derzeit wird dieses Thema viel     chen können.
diskutiert in Kirche, Politik und Gesellschaft.
                                                       Die Würde des Menschen ist unantastbar, im Le-
Gehalten, getragen und begleitet heimgehen             ben, im Sterben und auch über den Tod hinaus.
                                                       Dazu gehört auch eine würdevolle Versorgung des
Sterben in Würde umfasst so viel mehr: Wenn ich        Leichnams und eine ebensolche Bestattung. Hinter
mich mit Bewohnerinnen und Bewohnern darüber           uns allen liegen Monate, in denen die Corona-Pan-
unterhalte, was sie sich für ihr Sterben wünschen,     demie vieles durcheinandergebracht hat, in denen
steht der Wunsch, in der gewohnten Umgebung            Menschen nicht im Kreise ihrer Familie sterben,
gehen zu dürfen, ganz oben, dicht gefolgt von dem      nur im Beisein weniger Menschen bestattet wer-
Wunsch, möglichst wenig Angst und Schmerzen            den durften. Ich habe Situationen erlebt, in denen
haben zu müssen. »Gehalten, getragen und begleitet     Familien entscheiden mussten, wer ans Sterbebett
heimgehen dürfen, im Kreise der Familie oder ver-      darf, da nur eine Person zugelassen war; Trauerfei-
trauter Personen.«                                     ern, an denen nicht einmal alle Kinder teilnehmen
                                                       konnten, da nur fünf Personen erlaubt waren. Und
Wie hilfreich ist es doch, wenn über den Tod schon     doch waren es immer Situationen, in denen alle Be-
in aller Offenheit gesprochen wurde und vielleicht     teiligten sich mit ganzem Herzen dafür eingesetzt
Wünsche oder Abneigungen im Vorfeld formuliert         haben, trotz aller äußerer Umstände die Würde des
wurden und diese dann auch geachtet werden. Vie-       Sterbenden zu wahren.
le haben den Wunsch, in der Sterbephase durch-
aus auch mal allein zu sein, aber nicht einsam.                                                 Pia Biehl

                                                                                                           19
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           Die Würde des
           Menschen
           Bist du bereit

           für die Rechte der Menschen einzutreten
           ihre Würde zu wahren
           ohne Unterschied von Rasse und Religion

           bist du bereit
           Gewalt und Missbrauch zu ächten
           Manipulation und Intrigen
           ad absurdum zu führen

           bist du bereit
           statt schweigender Resignation
           Schutzlosen deine Stimme zu leihen
           und der Willkür die Stirne zu bieten

           bist du bereit
           schädlichem Drogenkonsum
           mangelnder Zuwendung Hilfsbedürftiger
           dem Klonen der Menschen
           infamer Korruption, Hass und Gewalt
           bis in die Verästelung übler Nachrede hinein
           entschieden zu begegnen

           bist du bereit
           ohne Vorurteil, Vorteil
           und Polemik
           deinem Gewissen zu folgen

           bist du bereit

           emmy grund

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                            Glanz
                            strahlt von
                            der Krippe
                            auf »Weil  Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht
                                 nicht traurig sein!«, heißt es in dem Liedtext, den Dieter
                                               Trautwein 1963 verfasst hat. Ja, die Geburt Jesu verheißt
                                               Lichtvolles. Mitten in der Dunkelheit.

OO Gerrit van Honthorst: Die Anbetung des Kindes (um 1620), Florenz, Galleria degli Uffizi.

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Man kann es auf Altarbildern sehen oder im Museum            Umstehenden: Maria, Josef, die Hirten. Und oft sieht
oder auf christlichen Weihnachtskarten: Manchmal ma-         man in diesen »angeleuchteten« Gesichtern Anmut und
len Künstler die Szene im Stall von Bethlehem so, dass       Frömmigkeit bei Maria, Nachdenklichkeit und Gebet
kein Licht von außen Maria, Josef, das Jesuskind, die Hir-   bei Josef, Staunen und stille Freude bei den Hirten. Ge-
ten, die Tiere beleuchtet. Nein, das Licht geht vom Kind     rade die »bestrahlten« Gesichter der armen und wenig
aus. Ob diese Künstler den Hymnus »Veni redemptor            geschätzten Hirten erhalten vom Kind her eine neue
gentium« kannten? Diesen wunderbaren Text hat der            Würde.
große Bischof Ambrosius (339 in Trier geboren, 397 in
Mailand gestorben) geschrieben. Martin Luther hat den        So wird in dieser Weihnachtsszene die Tiefe des christ-
Hymnus aufgegriffen und ins Deutsche übertragen. Was         lichen Menschenbildes deutlich: Jesus, der Christus, ist
wäre die evangelische Kirche ohne »Nun komm, der Hei-        Heiland und Bruder aller Menschen. Alle haben von Gott
den Heiland«, den Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)        her die gleiche Würde. Sie muss nicht verdient werden;
großartig vertonte?                                                                         sie ist Geschenk. Das
                                                                                            kündet jedes Weih-
Das katholische Gesang-                                                                     nachtsfest neu.
buch »Gotteslob« hat den       »Glanz strahlt von der Krippe auf,
Ambrosius-Hymnus,       der     neues Licht entströmt der Nacht. Und mag der Alltag
das Geheimnis der Mensch-                                                                dieses Menschenbild
werdung Gottes betrach-           Nun obsiegt kein Dunkel mehr,                          manchmal mit Füßen
tet, in seine Adventslieder      und der Glaube trägt das Licht.«                        treten. Mag sich die
(Nr. 227) aufgenommen. Die                                                               Frage auftun: Wo ist
Übertragung stammt von                                                                   denn die Würde der Ar-
dem aus der Schweiz stam-                                                                men, der Kranken, der
menden evangelischen Theologen und Kirchenmusiker Gemiedenen, der sozial oder intellektuell Schwachen?
Markus Jenny (1924 – 2001). Seine Worte sind nah bei Dieses dunkle Denken verbietet das Geheimnis der
Ambrosius, nah bei dem, der »wesenhaft ganz Gott und Weihnacht, verbietet unser Lied. Wie formuliert Markus
Mensch« ist, und nah bei den Gläubigen.                   Jenny: »Nun obsiegt kein Dunkel mehr, und der Glaube
                                                          trägt das Licht.«
Die vierte Strophe im »Gotteslob« ist bei Ambrosius die
sechste. Sie hebt an: »Praesepe iam fulget tuum«. Mar- Dass in Jesus Christus Gott in unsere Welt gekommen
kus Jenny hat daraus den wunderbaren Vers kreiert: ist, dass Jesus Christus das Licht der Welt ist, wir ihn zu
»Glanz strahlt von der Krippe auf, / neues Licht ent- recht Heiland und Erlöser nennen, das erschließt sich
strömt der Nacht. / Nun obsiegt kein Dunkel mehr, / und nicht einfach so. Nur »der Glaube trägt das Licht«. Heißt:
der Glaube trägt das Licht.«                              Glaubende Menschen »sehen« im Kind von Bethlehem
                                                          den Mann am Kreuz, den Auferstandenen des Ostermor-
Das Licht geht vom Kind aus                               gens. Sie sind darum von der Würde eines jeden Men-
                                                          schen überzeugt und treten dafür ein, wenn diese in
Ja, aus der Krippe von Bethlehem, letztlich vom göttli- Frage gestellt wird. Denn der Glanz der Weihnacht lässt
chen Kind, vom Erlöser strahlt Glanz aus. Und weiter glaubende Menschen mutige Menschen sein.
heißt es, dass dieser Nacht »neues Licht« entströmt.
Erinnert sei an die Gemälde und Weihnachtskarten.
Das Licht, das vom Kind ausgeht, macht die Nacht
hell. Mehr noch, dieser Glanz fällt auf die Gesichter der                              P. Alexander Holzbach

                                                                                                                    23
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        ie Schönheit der Tonschale fällt sofort ins Auge.   Eine Verletzung und die Geschichte ihrer Verwandlung
        Neben der schlichten Eleganz ihrer Form ist es
        vor allem die spannende Musterung ihrer mit         Hinter dieser traditionellen Technik steht der Gedanke,
goldenen Linien durchwirkten Glasur. Goldadern durch-       dass Scheitern nicht gleich das Ende bedeuten muss
ziehen die Oberfläche der Schale. Mal dünner, mal et-       und Brüche nicht versteckt werden müssen. Was zerbro-
was breiter, treffen sie aufeinander und verästeln sich     chen war, kann wieder ganz und heil werden. Folgt man
wieder.                                                     behutsam den Linien der Verletzung, kann gerade dar-
                                                            aus etwas einzigartig Neues und sehr Wertvolles entste-
Was so schön, edel und wertvoll wirkt, verdankt sich        hen. Kintsugi zeigt die Verletzung und erzählt zugleich
letztlich einem Totalschaden: Diese Schale ging zu          die Geschichte ihrer Verwandlung.
Bruch. Ihr Scherbenhaufen wäre wohl in den Müll ge-
wandert, hätte sich nicht ein Meister oder eine Meiste-     Die Geschichte dieser Tonschale ist wie ein Bild für das
rin des Kintsugi ihrer angenommen. Kintsugi ist eine ja-    Geheimnis und Geschenk der Würde des Menschen, die
panische Reparaturmethode für zerbrochene Keramik.          wir an Weihnachten feiern. Im Tagesgebet der Weih-
Dabei werden die einzelnen Scherben an ihren Bruchli-       nachtsmesse beten wir: »Allmächtiger Gott, du hast
nien mit Goldlack wieder zusammengefügt und fehlen-         den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen
de Teile damit aufgefüllt.                                  und noch wunderbarer wiederhergestellt. Lass uns

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www.ka-zeichen.de

   Wunderbar
        wiederhergestellt
                    Scheitern ist nicht schlimm. Scheitern gehört zum Leben.
                    Das Wort »scheitern« kommt von scheiten. Wir scheiten,
                    also spalten zum Beispiel Holz, weil dadurch die gespei-
                    cherte Energie im Feuer besser freigesetzt wird. Deshalb ist
                    Scheitern eine Kunst. Und sie hat viel mit Würde zu tun.

teilhaben an der Gottheit deines Sohnes, der unsere          dass er sie mit seiner Hingabe wiederherstellt, heilt und
Menschennatur angenommen hat.« An Weihnachten                in eine neue gemeinsame Heilsgeschichte verwandelt.
feiern wir die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus
und zugleich unsere eigene.                                  Der Mensch soll wieder aufatmen

Wunderbar hat Gott den Menschen in seiner Würde              Von diesem »wunderbaren Tausch« kündet das Gaben-
erschaffen, weil Gott ihn von Anfang an als sein Ge-         gebet in der Heiligen Nacht zu Weihnachten: »Gib, dass
genüber und zugleich als sein Abbild erschaffen hat,         wir durch diesen wunderbaren Tausch (commercium)
indem er ihm Anteil gab an seinem göttlichen Leben           deinem Sohn gleichgestaltet werden, in dem unsere
(»Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom          menschliche Natur mit deinem göttlichen Wesen vereint
Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So         ist«. Mit der Menschwerdung Gottes gibt es gerade an
wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen«, Gen             den Bruchstellen des Lebens und den tödlichen Abgrün-
2,7). Der Glanz dieser ursprünglichen Würde, die dem         den die Hoffnung, dass der Mensch wieder aufatmet
Menschen als Austausch und Lebensgemeinschaft mit            und sich aufrichtet, weil in Jesus wieder und zugleich
Gott zunächst so selbstverständlich mitgegeben zu            auf ganz neue, intensive Weise ein Ein- und Ausgehen,
sein scheint wie das Ein- und Ausatmen, bleibt über den      ein gemeinsames Abkommen und gutes Auskommen
Verlauf der Geschichte dessen, was er entscheidet und        zwischen Gott und Mensch eröffnet ist.
was ihm zustößt, nicht ungetrübt.
                                                             Weihnachten sagt jeder und jedem von uns zu: Die
In diese Brüche und in die Zerrissenheit menschlicher        Schönheit und Würde des Menschen liegt nicht darin,
Geschichte hinein wird Gott Mensch. In Jesus macht sich      unberührt von Erschütterungen, Brüchen und Macken
Gott selbst verletzlich. In seinem Leben und Sterben hat     durch das Leben zu gehen. Sie liegt in dem Angebot Got-
Jesus die Menschen in ihrer Verletzlichkeit und in ihren     tes, sich in die Bruchlinien unseres Lebens einzuschrei-
Brüchen berührt und geheilt. In der Menschwerdung            ben. So kann im Wahrhaben unserer Geschichte gemein-
Jesu nimmt Gott die Geschichte angesichts des Schei-         sam mit ihm Neues und Heilsames wirklich werden.
terns und aller Verletzungen der menschlichen Würde
nicht zurück. Er nimmt sie an und nimmt an dieser Ge-
schichte teil. Er begibt sich so sehr selbst in die Wunden
und Risse der verletzten menschlichen Würde hinein,                                                  Maria Weiland

                                                                                                                    25
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Für Sie gelesen
Eine Auswahl von Büchern, die unsere
Redaktion für Sie zusammengestellt hat.

MATHIAS SCHREIBER                   BENNO ELBS                           ELISABETH LUKAS                      JULIA KORBIK

Würde - Was wir verlie-             Werft eure Zuversicht                Was das Leben wert-                  How to be a girl
                                                                         voll macht                           stark frei und ganz du selbst
ren, wenn sie verloren              nicht weg
                                                                         Impulse einer spirituellen Psy-
geht                                                                     chologie                             153 Seiten | 14,99 €
                                    Gebunden | 192 Seiten | 19,95 €
                                                                                                              Gabriel Verlag, Stuttgart
256 Seiten | 19,99 €                Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien,
                                    2020                                 144 Seiten | 9,95 €
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA),                                                                               How to be a girl? Was ist ein Mäd-
                                                                         Verlag Butzon & Berker , Kevelaer,
2013                                                                                                          chen? Das fragen sich wahrschein-
                                    Benno Elbs, seit 2013 Bischof der    2020
                                                                                                              lich viele junge Mädchen bzw.
Sie ist zutiefst menschlich und     Diözese Feldkirch (Österreich),
                                                                         Ihrem Selbstverständnis nach ist     Frauen. In der Gesellschaft gibt es
angeboren: die Würde. Trotzdem      Psychotherapeut und Autor,
                                                                         Logotherapie ärztliche Seelsor-      viele Ideale von Frauen - schlank,
droht sie vergessen, verplap-       nimmt die aktuelle Corona-
                                                                         ge. Als Seelsorgerin bietet die      gut gepflegt, gutes Verhalten, ge-
pert und verkauft zu werden.        Epidemie zum Anlass, um
                                                                         Autorin ihren LeserInnen in acht     stylt, usw. Kurz gesagt, eine Frau
Der inzwischen verstorbene          unseren Blick auf die Chancen
                                                                         Kapiteln mutmachende spiritu-        soll den Anforderungen anderer
Kulturjournalist und Autor Ma-      und Perspektiven zu lenken, die
                                                                         elle Impulse an. Beispielsweise      Menschen entsprechen.
thias Schreiber sieht die Würde     sich trotz der vielen leidvollen
                                    Erfahrungen aus dieser wie auch      übersetzt und erläutert sie die
in höchster Gefahr. Ginge sie                                                                                 Aber was heißt es wirklich, eine
                                    aus anderen Krisen ergeben           zehn Gebote oder interpretiert
verloren, würde Entscheidendes                                                                                Frau zu sein? Genau diese Frage
                                    können.                              das bekannte Kirchenlied »Hilf,
fehlen. Dies zeigt der Publizist                                                                              hat sich auch Julia Korbik als
                                                                         Herr meines Lebens«. Daneben
auch mit einer Rückschau auf die                                                                              junge Frau gestellt. In ihrem Buch
                                    Der Autor unterteilt sein in gut     spricht sie mehrere psycho-
Kulturgeschichte der Würde bis                                                                                möchte sie jungen Mädchen und
                                    lesbarem Stil verfasstes Werk        logische Phänomene an, wie
zurück in die Antike.                                                                                         Frauen Mut machen, dass sie nicht
                                    in vier Abschnitte: Zunächst         Sucht, Todeswunsch, Angst und
                                                                         Neurose.                             den Idealen einer »richtigen« Frau
Zuweilen wirkt Schreiber altba-     zeigt er auf, was unsere Zuver-
                                                                                                              entsprechen müssen.
cken, wenn er sich über moder-      sicht bedroht und zerstört. Im
                                    zweiten Teil geht es ihm darum,      Gerade angesichts unserer
ne Kunst oder Stilfragen wie                                                                                  Das Buch soll eine Art Wegweiser
                                    bewusste Schritte in Richtung        menschlichen »Ecken und Kan-
Politiker-Turnschuhe aufregt.                                                                                 und Ratgeber sein und spricht
                                    Zuversicht aufzuzeigen. Die Hei-     ten« macht dieses Taschenbuch
Dennoch ist seine Analyse der                                                                                 Mädchen und junge Frauen im
                                    lige Schrift als unerschöpfliche     Lust auf ein sinnvolles Leben.
Gegenwart aufschlussreich.                                                                                    Alter von 13 bis ca.18 Jahren an.
Der Terror des Tempos unter         Quelle der Zuversicht ist Inhalt
                                                                                           josef eberhard     Vor allem die Kurzporträts von
anderem in sozialen Netzwerken      des dritten Abschnitts. Der
                                                                                                              historischen und aktuellen Vorbil-
bedroht die Würde. Eine würdige     letzte Teil versteht sich schließ-
                                                                                                              dern, Checklisten und Anleitungen
Kommunikation der leisen Töne       lich als eine Art »Zuversichts-
                                                                                                              geben Anreiz zum Nachdenken.
droht im allgemeinen Dampfge-       Trainingscamp« für alle Tage des
plauder überhört zu werden.         Jahres.
                                                                                                              Die Kapitel sind in fünf Abschnit-
                                                                                                              te unterteilt, welche mit einem
Doch Schreiber hat die Hoffnung     Benno Elbs ermutigt zu einem
                                                                                                              Überthema überschrieben sind.
nicht aufgegeben. Er glaubt,        realistischen Blick auf das Leben
                                                                                                              So kann man sich einen guten
dass die Würde eine Zukunft         und zur Grundhaltung, dass wir
                                                                                                              Überblick über die verschiedenen
hat – in einer neuen Kultur der     alle in ein größeres Ganzes hin-
                                                                                                              Themen des Ratgebers verschaf-
Einfachheit und Bescheidenheit:     ein verwoben sind, das uns trägt
                                                                                                              fen.
Ein würdevolles »Weniger« ist für   und unterstützt. Nicht zuletzt
ihn die entscheidende Losung        hat Jesus selbst die Menschen
                                                                                                              Außerdem ist das Buch durch die
der nächsten Jahrzehnte.            immer wieder ermutigt: »Werft
                                                                                                              vielen Überthemen gut lesbar
                                    eure Zuversicht nicht weg!«
                                                                                                              und bietet einen guten Einstieg
               andreas schmidt                                                                                in die Themen Feminismus und
                                                  theresia hartmann
                                                                                                              Diskriminierung.

                                                                                                                           jacqueline multrus

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LESERPOST

Ihre Meinung?                                           Viele Gedichte und Bilder sind außerdem in meine
Briefe an die Redaktion                                 pädagogische Arbeit mit jungen Familien und als
                                                        Referentin für Sebastian Kneipp und Hildegard von
                                                        Bingen eingeflossen und haben mich sagen lassen,
Schönheit und Tiefe des Glaubens entdeckt               was ich selbst nicht ausdrücken konnte.
                                                                                        A. S., Wiesenfeld
Ich (wir) sind mittlerweile 40 Jahre Bezieher des
»zeichen« und haben bereits P. Wallhof und P. Perne
kennengelernt. Als junge Erzieherin an meiner Ar-
beitsstätte in einem Kloster habe ich die Zeitschrift
kennen und schätzen gelernt. Ich habe sie »in die       schreiben sie uns
Ehe mitgenommen«, und sie hat ihren großen Teil         Eine Zeitschrift lebt vom Dialog. Wir freuen uns daher, wenn Sie uns
dazu beigetragen, dass ich die Schönheit und Tie-       schreiben. Ihre Meinung, Anregungen sowie Kritik werden wir lesen
                                                        und sie hier an dieser Stelle abdrucken. Dabei kann es sein, dass wir auch
fe des Glaubens entdecken und verstehen konnte.         Kürzungen vornehmen. Wir werden, wie dies in Leserbriefen üblich ist,
Jede Ausgabe hat unser Leben stets aufs Neue berei-     Ihren Namen und den Wohnort angeben, der in den bisherigen Ausgaben
chert und uns bei Gott gefestigt. Sie lag in unserer    nur abgekürzt war. Bitte nennen Sie uns daher immer Ihre vollständige
                                                        Anschrift.
Familie »einfach immer herum«. Unsere vier Kin-
der sind mit diesen Bildern und später auch mit         Sie erreichen uns unter der E-Mail-­Adresse: ­­­redaktion@pallottiner.org
                                                        oder: Redaktion »das z­ eichen«, Vinzenz-Pallotti-Straße 14,
den Texten »groß« geworden. Zu unserer großen
                                                        86316 ­Friedberg.
Freude sind sie alle immer noch fest bei Gott und       ihre redaktion
der Kirche.

        Liebe Leserinnen, liebe Leser

        »Das Volk, das in der Finsternis ging, sah
        ein helles Licht; über denen, die im Land
        des Todesschattens wohnten, strahlte ein
        Licht auf«, heißt es in Jesaja 9,1. Manchmal
        ist die Finsternis ziemlich groß und das
        helle Licht nur eine Kerze, die ganz klein
        ist. Aber wer schon einmal eine einzige
        Kerze in einem dunklen Raum angezündet
        hat, weiß: Dieses kleine Licht kann einen
        großen und warmen Schein verbreiten.

        Dass Ihnen an diesem Weihnachtsfest, das
        in einem krisengebeutelten Jahr gefeiert
        wird, ein solches warmes Licht aufschei-
        nen möge, wünscht Ihnen

        Ihr Redaktionsteam

                                                                                                                                    27
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