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   Ist ein bisschen Deradikalisierung besser als
   keine? Zur Ausstiegsarbeit mit Rückkehrerinnen
   und Rückkehrern aus dschihadistischen Gruppen
   in Deutschland
   Röing, Tim

   Veröffentlichungsversion / Published Version
   Arbeitspapier / working paper

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Röing, T. (2021). Ist ein bisschen Deradikalisierung besser als keine? Zur Ausstiegsarbeit mit Rückkehrerinnen und
Rückkehrern aus dschihadistischen Gruppen in Deutschland. (BICC Working Paper, 1/2021). Bonn: Bonn International
Center for Conversion (BICC). https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-75098-5

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https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de
\ WORKING PAPER                                                 1\ 2021

Ist ein bisschen Deradikalisierung
besser als keine?

Zur Ausstiegsarbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus
dschihadistischen Gruppen in Deutschland

Tim Röing \ BICC

                                                Gefördert durch

   \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

     ZUSAMMENFASSUNG

     Zwischen 2013 und 2019 verließen mehr als 1.000 zumeist junge Menschen
     Deutschland, um sich in Syrien und dem Irak dschihadistischen Gruppen
     anzuschließen. Die bekannteste von ihnen ist der sogenannte „Islamische
     Staat“, auf dessen Konto in den Jahren 2015 und 2016 auch mehrere Anschläge
     in Europa gingen. An diesen Terrorakten beteiligten sich zurückgekehrte euro-
     päische Dschihadisten. Inzwischen gilt der „Islamische Staat“ zwar als weit-
     gehend besiegt und ein knappes Drittel der nach Syrien und Irak Ausgereisten
     ist wieder zurück in Deutschland. Doch nicht alle dieser Rückkehrerinnen und
     Rückkehrer sind desillusioniert. Einige hängen nach wie vor islamistischen
     Ideologien an, fast alle sind zudem traumatisiert. Ein nicht unerheblicher Teil
     befindet sich in Haft.
     Es stellt sich die Frage, wie der Sicherheitsbedrohung, die von diesen Rückkeh-
     rerinnen und Rückkehrern ausgeht, zu begegnen ist. Deutschland beschreitet
     dabei unter anderem den Weg der Resozialisierung: Ausstiegs- und Reintegra-
     tionsmaßnahmen sollen diesen Personen den Weg zurück in die Gesellschaft
     ermöglichen. Durchgeführt werden solche Maßnahmen sowohl von staatlichen
     Programmen, als auch von zivilgesellschaftlichen Trägern. Dieses BICC Working
     Paper untersucht, wie Fachkräfte solcher Träger dieser Aufgabe nachkommen
     und welchen Hindernissen sie dabei begegnen. Um dies zu erläutern, stellt das
     Paper den gesamten Komplex von der Rückreise ehemaliger Dschihadistinnen
     und Dschihadisten aus dem Konfliktgebiet, über ihre psychische und soziale
     Wiedereingliederung nach der Ankunft in Deutschland bis zum Abschluss des
     Ausstiegsprozesses dar und untersucht die Herausforderungen, die sich dabei
     für soziale Arbeit und Prävention ergeben. Hierzu gehören besondere Aspekte
     der Fallarbeit wie der Umgang mit Traumatisierungen, die Bedarfe minderjäh-
     riger Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die Arbeit in Haftanstalten sowie die
     Aufarbeitung extremistischer Ideologien. Die Untersuchung zeigt, dass Fach-
     kräfte sich ihrer Aufgabe zwar professionell gewachsen sehen, jedoch einigen
     strukturellen Herausforderungen gegenüberstehen. Diese umfassen etwa
     zeitlich und finanziell begrenzte Projektförderungen, einen Mangel an thera-
     peutischen Kapazitäten sowie Abstimmungsprobleme mit den Justizbehör-
     den bei der Arbeit mit inhaftierten Rückkehrerinnen und Rückkehrern.

2\        \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

INHALTSVERZEICHNIS

Hauptergebnisse und Empfehlungen                                                       5

Einleitung                                                                             8

Begriffsklärung und Vorgehen                                                           9
Methodologie der Studie                                                               11

Wer ist ausgereist, wer kommt zurück, was passiert nach der Rückkehr?                 12
Ausreisen Deutscher in den „Islamischen Staat“                                        12
Rückkehr Deutscher aus dem „Islamischen Staat“                                        13
Psychischer und sozialer Zustand der Rückkehrerinnen und Rückkehrer                   16

Kontaktaufbau zu Rückkehrerinnen und Rückkehrern in Freiheit                          17
Vorgehen staatlicher Aussteigerprogramme: direkte Ansprache                           17
Vorgehen zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen: aufsuchend oder abwartend?         17
Fallzugang unter Bewährungsauflagen                                                   19

Ausstiegsbegleitung in Freiheit                                                       20
Soziale und psychische Stabilisierung nach der Rückkehr                               20
Biographische und systemische Methoden in der Ausstiegsbegleitung                     22
Herausforderung: Psychische Gesundheitsprobleme und PTBS                              24
Herausforderung: Bedarfe Minderjähriger und Sorgerechtsfragen                         25

Ausstiegsarbeit mit inhaftierten Rückkehrerinnen und Rückkehrern                      28
Fallzugang und Stabilisierung bei eingeschränkter Freiwilligkeit                      28
Biografische und kognitive Methoden der Ausstiegsarbeit im Haftkontext                29
Herausforderung: Übergangsmanagement nach der Haft                                    30
Herausforderung: Kooperation staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure          31

Ziele der Ausstiegsarbeit: Deradikalisierung oder Distanzierung?                      33

Herausforderungen und Ausblick                                                        35

Literaturverzeichnis                                                                  38

                                                           \ WORKING PAPER 1 \ 2021   3\
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4\        \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

Hauptergebnisse und Empfehlungen

Zivilgesellschaftliche und staatliche                     Austauschformate zwischen Ausstiegsprogrammen,
Träger der Ausstiegsarbeit in dauerhafte                  der Justiz, der Bewährungshilfe und den Sicherheits-
Finanzierungsstrukturen einbinden                         behörden schaffen, welche dem gegenseitigen Ken-
                                                          nenlernen und Vertrauensaufbau dienen. Weiterhin
In Deutschland begleiten sowohl zivilgesellschaftliche    braucht es klare Strukturen für die Fallübergabe und
als auch staatliche Träger Rückkehrerinnen und            Koordination zwischen den Justizbehörden, der
Rückkehrer aus dschihadistischen Gruppen bei ihrem        Bewährungshilfe und den Anbietern von Ausstiegs-
Ausstieg aus der Szene. Zivilgesellschaftliche Träger     maßnahmen vor und nach einer Haftentlassung.
finanzieren sich zumeist über zeitlich und finanziell
befristete Projektförderungen, was ihre Arbeitsfähig-     Therapeutische und pädagogische
keit einschränkt. Mittelgeber, in erster Linie das Bun-   Arbeit mit Rückkehrerinnen und Rück-
desministerium für Familie, Senioren, Frauen und
                                                          kehrern dschihadistischer Gruppen
Jugend sowie die Landesregierungen, sollten die
                                                          stärken
Finanzierung zivilgesellschaftlicher Träger ausweiten
und verstetigen sowie diese idealerweise in Regel-        Fachkräfte der Ausstiegsarbeit fühlen sich generell
strukturen überführen.                                    gut aufgestellt für die individuelle Fallarbeit mit
                                                          Rückkehrerinnen und Rückkehrern. Herausforderungen
Austauschformate zur Koordination                         stellen jedoch Traumatisierungen unter ihren Klien-
und zum Vertrauensaufbau zwischen                         tinnen und Klienten und die therapeutische Beglei-
                                                          tung zurückgekehrter Kinder dar. Geldgeber sollten
Trägern der Ausstiegsarbeit, Sicher-
                                                          alle Ausstiegsprojekte daher in die Lage versetzen,
heitsbehörden und dem Justizvollzug                       psychotherapeutische Ansätze und therapeutische
schaffen                                                  Fachkräfte standardmäßig in ihre Arbeit zu integrieren.
Zivilgesellschaftliche Träger erleben häufig Abstim-      Dies würde die Aufarbeitung von Erlebnissen im
mungsprobleme mit den Justizbehörden beim Zu-             Kriegsgebiet und die Auseinandersetzung mit ideolo-
gang zu inhaftierten Rückkehrerinnen und Rückkeh-         gischen Einstellungsmustern, welche die Entschei-
rern. Mitarbeitende zivilgesellschaftlicher Träger        dung zur Ausreise beeinflussten, erleichtern.
beklagen, dass die Justizbehörden die hohen fachli-       Erschwerend hinzu kommt, dass manche Rückkehre-
chen Standards ihrer Arbeit nicht immer anerkennen        rinnen und Rückkehrer die Kooperation mit Aus-
würden und zivilgesellschaftliche Angebote als Kon-       stiegsbegleitenden komplett verweigern. Dies ist ihr
kurrenz wahrnähmen. Angestellte der Justizbehörden        gutes Recht, sie sollten aber dennoch eine sozialar-
wiederum nehmen auf Seiten mancher zivilgesell-           beiterische Begleitung erhalten. Daher sollten Aus-
schaftlicher Träger Vorurteile ihnen gegenüber wahr       stiegsprojekte die Möglichkeit bekommen, Methoden
und beklagen sich über nicht eingehaltene Zusagen.        der aufsuchenden Sozialarbeit in ihre Arbeitsansätze
Justizvollzugsanstalten schließlich haben Probleme,       aufzunehmen, um auch mit Personen in Kontakt zu
zivilgesellschaftliche Angebote in ihre Abläufe zu        kommen, die zunächst für eine Ausstiegsbegleitung
integrieren. Dies Alles erschwert die Kooperation         nicht erreichbar sind. Die Landes- und Kommunalpo-
zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen          litik sollte darüber hinaus in diesem Zusammenhang
Anbietern zur Resozialisierung von inhaftierten und       die Regelstrukturen der aufsuchenden Jugendsozial-
aus der Haft entlassenen Rückkehrerinnen und              arbeit stärken.
Rückkehrern. Die Landesregierungen sollten daher

                                                               \ WORKING PAPER 1 \ 2021                       5\
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

     Effiziente Strafverfolgung von IS-                       Rückholung aller im Kampfgebiet ver-
     Verbrechen sicherstellen; Vermischung                    bliebenen deutschen Staatsangehörigen
     von Ausstiegsarbeit und Strafverfol-
                                                              Alle für diese Studie interviewten Personen plädieren
     gung vermeiden
                                                              für eine Rückholung der in Nordsyrien inhaftierten
     Eine Strafverfolgung von Verbrechen, die Deutsche        deutschen Staatsangehörigen. Ihr psychischer und
     im IS-Gebiet begingen, scheitert häufig am Fehlen        physischer Gesundheitszustand verschlechtert sich,
     von Zeugen und Beweisen. Fachkräfte empfinden            je länger sie dort ausharren. Dies kann die von ihnen
     dies als Problem, da eine ausbleibende Strafverfolgung   potenziell ausgehende Bedrohung erhöhen und ihre
     das ohnehin große Misstrauen der Mehrheitsgesell-        Wiedereingliederung erschweren. Weiterhin sorgt
     schaft gegenüber Rückkehrerinnen und Rückkehrern         ihr Verbleib im Kampfgebiet für ein großes Maß an
     weiter steigert und damit ihre Chancen zur Reinte-       Frustration und Sorge unter ihren Angehörigen. Die
     gration verringert. Weiterhin sehen sich manche          extremistisch-salafistische Szene könnte diese Situa-
     Fachkräfte mit der Erwartung konfrontiert, zur Auf-      tion für ihre Propaganda ausnutzen. Zudem ist eine
     arbeitung der Verbrechen des IS beizutragen. Dies ist    Strafverfolgung der von dieser Personengruppe mut-
     jedoch nicht ihre Aufgabe. Eine Vermischung von          maßlich begangenen Kriegsverbrechen in Nordsyrien
     Ausstiegsarbeit und Strafverfolgung gefährdet vielmehr   kaum möglich, da das dortige Rechtssystem interna-
     die Glaubwürdigkeit und die Erfolgsaussichten von        tional nicht anerkannt ist. Auch im Sinne der öffent-
     Ausstiegsmaßnahmen. Um Straftaten von Rückkeh-           lichen Sicherheit wäre es daher besser, diese Menschen
     rerinnen und Rückkehrern aufzuklären, muss die           nach Deutschland zurückzuholen, sie hier unter Be-
     Bundesregierung daher auch im Sinne einer nach-          obachtung zu halten und in die Hände kompetenter
     haltigen Ausstiegsarbeit eine kohärente Strategie        Aussteigerprogramme zu übergeben, wenn eine
     zum Umgang mit den Verbrechen ehemaliger                 Bereitschaft zum Ausstieg besteht.
     Dschihadistinnen und Dschihadisten entwickeln.

                                                               Anmerkung
                                                               Dieses BICC Working Paper entstand im Rahmen des
                                                               Projekts „Radikalisierungsprävention in Nordrhein-
                                                               Westfalen: Wie können die Kapazitäten von Intermedi-
                                                               ären gestärkt werden?“, das vom Ministerium für Kultur
                                                               und Wissenschaft (MKW) des Landes Nordrhein- West-
                                                               falen gefördert wird. Es ist die vierte in einer Reihe von
                                                               Studien des BICC zum Thema Prävention islamistischer
                                                               Radikalisierung. Der Autor bedankt sich bei allen
                                                               Kolleginnen und Kollegen des BICC, welche mit ihren
                                                               Kommentaren und ihrer konstruktiven Kritik bei der
                                                               Erstellung dieses Working Papers halfen. Besonderer
                                                               Dank gilt Claudia Breitung, Maurice Döring, Luisa
                                                               Gerdsmeyer, Susanne Heinke, Alina Neitzert und Marc
                                                               von Boemcken. Weiterhin bedankt sich der Autor bei allen
                                                               Interviewpartnerinnen und -partnern für ihre Zeit und
                                                               ihre Bereitschaft, dem Projektteam Einblick in ihre
                                                               Arbeit zu gewähren. Für den Inhalt trägt allein der Autor
                                                               die Verantwortung.

6\        \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

Einleitung

    Am 29. April 2015 demonstrierten vor dem Aus-       Gruppen gelang es in den letzten Jahren dennoch,
wärtigen Amt in Berlin die Familien deutscher Ange-     auf eigene Faust zurückzukehren. Andere wurden von
höriger des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS).     der Türkei abgeschoben. Die deutschen Behörden
Sie verlangten eine Rückholung ihrer Verwandten         evakuierten zudem in Folge gerichtlicher Anordnungen
aus den Gefangenenlagern Nordsyriens. Sie zeigten       einige Frauen und Kinder aus Gefangenenlagern1 . Da
sich frustriert, dass die Bundesregierung nicht we-     eine nicht unerhebliche Zahl deutscher Staatsange-
nigstens Frauen und Kindern eine Rückkehr ermög-        höriger nach wie vor im Konfliktgebiet ausharrt, ist
licht. An der Demonstration nahm auch Bernhard          in Zukunft mit weiteren Rückkehrfällen zu rechnen.
Falk teil, ein ehemaliger Linksterrorist, der zum           Wenn Deutschland diese Personengruppe extre-
extremistischen Salafismus konvertierte und sich        mistischen Akteuren wie Bernhard Falk nicht über-
inzwischen als selbsternannter Helfer für „politische   lassen – und damit ihren Wiedereinstieg in die
muslimische Gefangene“ betätigt (Boeselager, 2019).     dschihadistische Szene riskieren möchte – führt an
Falk besucht Islamistinnen und Islamisten, darunter     ihrer (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft kein
auch Anhänger des IS, in deutschen Haftanstalten,       Weg vorbei. Staatliche und zivilgesellschaftliche
begleitet ihre Gerichtsverfahren und vermittelt ihnen   Programme zur Deradikalisierung und Reintegration
anwaltlichen Beistand (Hein & Felden, 2018). Zwar       müssen sie dabei begleiten. Diese Programme arbeiten
wollten die Demonstrierenden von einer Unterstüt-       jedoch in einem spannungsreichen Umfeld, in dem
zung dieses ungebetenen Gastes nichts wissen und        die Bedarfe der Rückkehrerinnen und Rückkehrer,
forderten ihn auf, zu gehen. Das PR-Desaster war        die Sicherheitsbedenken der Bevölkerung und des
jedoch, in den Worten eines Beraters, der mehrere der   Staates sowie das Gerechtigkeitsbedürfnis der Opfer
protestierenden Familien unterstützt, perfekt.          des IS nebeneinanderstehen. Dieses BICC Working
     Diese Episode wirft ein Schlaglicht auf die Her-   Paper stellt die Herausforderungen dar, die sich dabei
ausforderungen, die sich aus der Rückkehr deutscher     für die Deradikalisierungsarbeit ergeben. Hierfür
IS- Angehöriger ergeben. Familien und Angehörige        analysiert es Aussagen von Fachkräften, die im
haben verständlicherweise ein dringendes Interesse      Rahmen von Deradikalisierungs- und Reintegrations-
an der Reintegration ihrer Kinder, Nichten, Neffen      projekten mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern
und Enkelkinder. Ein Blick in die Kommentarspalten      aus dschihadistischen Organisationen arbeiten.
der Medien, welche über dieses Thema berichten,
zeigt jedoch, dass viele Menschen einer Rückkehr
deutscher IS-Anhänger ablehnend gegenüberstehen.
Große Teile der Öffentlichkeit befürchten, dass es
sich bei ihnen um indoktrinierte, kampferfahrene
und traumatisierte Extremistinnen und Extremisten
handelt, von denen eine erhebliche Sicherheitsbedro-
hung ausgeht. Mit einem Rückholprogramm ist daher
wohl nicht zu rechnen, zumal die Bundesregierung
argumentiert, dass sie aufgrund der fehlenden kon-
sularischen Vertretung in Syrien derzeit gar keine
Möglichkeit zur Rückführung habe. Einigen ehemali-
gen Angehörigen des IS und anderer dschihadistischer

                                                        1 \ Deutsche Welle (2020). Berichte: Deutschland holt IS-Anhängerinnen
                                                            aus Syrien zurück. URL (Stand: 20.03.2021): https://www.dw.com/de/
                                                            berichte-deutschland-holt-is-anh%C3%A4ngerinnen-aus-syri-
                                                            en-zur%C3%BCck/a-55998675

                                                               \ WORKING PAPER 1 \ 2021                                     7\
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

     Begriffsklärung und Vorgehen

          Es existiert sowohl eine Vielzahl an Begriffen zur       eine rein verhaltensbezogene Abwendung von Gewalt
     Bezeichnung der Arbeit mit radikalisierten Personen           und von der extremistischen Szene, zumeist als Dis-
     als auch zur Umschreibung ihrer Zielsetzung. Weder            tanzierung. Synonyme Begriffe sind Herauslösung
     die thematische Forschung noch die Praxis nutzen              oder Loslösung. Andere Autorinnen und Autoren
     diese Begriffe einheitlich. Dies kann zu Verwirrung           sprechen im selben Bedeutungszusammenhang
     führen, da die verschiedenen Begriffe durchaus unter-         auch von Demobilisierung (Ceylan & Kiefer, 2018, S. 73;
     schiedliche Konzepte bezeichnen.                              Neumann, 2013, S. 8) — ein missverständlicher Begriff,
          Im Jahr 2015 rief ein UN-Bericht dazu auf, Pro-          da er im UN-Kontext ausschließlich die Auflösung von
     gramme zur Entwaffnung, Demobilisierung und                   Streitkräften und bewaffneten Gruppen bezeichnet.
     Reintegration (disarmament, demobilisation and reinte-        Einen kognitiven Wandlungsprozess bezeichnet die
     gration, DDR) ehemaliger Kämpferinnen und Kämpfer             deutschsprachige Literatur zumeist als Deradikalisie-
     mit Methoden aus dem Bereich der Prävention von               rung (Pisoiu & Köhler, 2013, S. 242-247; Neitzert, 2021,
     gewalttätigem Extremismus (countering violent                 S. 15). Einige Autorinnen und Autoren konzeptionali-
     extremism, CVE) zu kombinieren. Namentlich gehören            sieren die Deradikalisierungs- und Distanzierungsar-
     hierzu Initiativen, die auf ein Disengagement (Loslö-         beit als Teil der Prävention. Sie fiele dann in den Be-
     sung) aktiv Kämpfender und, in Fällen von religiös            reich der tertiären oder auch indizierten Prävention,
     oder politisch begründeter Gewalt, auch auf deren             also der Arbeit mit Personen, die bereits Teil einer
     Deradicalisation (Deradikalisierung) abzielen (Richards,      gewaltaffinen extremistischen Szene sind und ihr
     2017, S. 1-2; Cockayne & O’Neill, 2015, S. 146-148). Dar-     angehörend Straftaten begangen haben, sie nun jedoch
     unter fasst die UN ausdrücklich auch den Umgang               verlassen möchten (Ceylan & Kiefer, 2018, S. 72-74;
     mit „foreign terrorist fighters“, also ausländischen          Neumann, 2013, S. 9). Dies erscheint auf den ersten
     Kämpferinnen und Kämpfern, wozu auch ausgereiste              Blick widersinnig, da das zu verhindernde Ereignis,
     Deutsche beim IS zählen würden (Cockayne & O’Neill,           also der Eintritt in die Szene bzw. die Straftat, bereits
     2015, S. 145-146). Der Bericht ermutigt alle UN-Mitglied-     eingetreten ist. Prävention kann jedoch auch als Ver-
     staaten zur Umsetzung derartiger Maßnahmen. Dis-              hinderung weiterer Straftaten bzw. als Schutz der
     engagement bezeichnet dabei einen verhaltensbezo-             Gesellschaft vor den Gefahren gedacht werden, die
     genen Prozess, in welchem sich Individuen von                 von einer solchen Person ausgingen, wenn sie in der
     gewalttätigen Gruppen loslösen und auf Gewalt                 Szene verbliebe.
     anwendung verzichten. Deradikalisierung bezeichnet                 Die Frage, ob das erstrebenswerte Ziel der Aus-
     demgegenüber den kognitiven Wandel einer Person               stiegsarbeit eine pragmatische Distanzierung oder
     von extremistischen hin zu moderaten Einstellungs-            eine kognitive Deradikalisierung sein sollte, ist
     mustern. Das eine muss nicht zwangsläufig mit dem             Gegenstand einer kontroversen Debatte. Manche
     anderen einhergehen: So ist es möglich, dass Personen         Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler argu-
     extremistische Denk- und Einstellungsmuster beibe-            mentieren, dass ein reiner Gewaltverzicht ohne kog-
     halten, jedoch auf Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele        nitive Neuorientierung nicht nachhaltig sein könne
     verzichten. Es ist aber auch denkbar, dass Personen           (Pisoiu & Köhler, 2013, S. 242-247; RAN Centre of Excel-
     zwar extremistische Einstellungsmuster ablegen,               lence, 2019a, S. 3-6). Die Kritik an dieser Position
     ihre Ziele aber weiterhin mit Gewalt durchzusetzen            betont, dass eine Absage radikalisierter Personen an
     versuchen (Richards, 2017, S. 2; Neitzert, 2021, S. 15–16).   die Ausübung von Gewalt und eine Abwendung von
          Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus             gewaltbereiten Gruppen, ohne dass sie notwendiger-
     dem deutschen Kontext beziehen sich kaum auf                  weise auch einer extremistischen Ideologie abschwö-
     diese UN-Debatten. Auch verwenden sie Begriffe und            ren, ausreichend sei (Horgan, 2008; Überblick bei
     Konzepte nicht einheitlich. Die deutschsprachige              Neitzert, 2021,S. 15-16). Andere wiederum stellen den
     Literatur übersetzt das Disengagement-Konzept, also           Begriff Deradikalisierung grundsätzlich in Frage. So

8\        \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

 gäbe es keine überzeugenden empirischen Beweise                        radikalisierten Person in die Gesellschaft, etwa durch
 dafür, dass ein kognitiver Wandel radikalisierter Per- Aufnahme einer Ausbildung oder Antritt einer Arbeits-
 sonen überhaupt möglich sei (vgl. Horgan, 2008).                       stelle. Die Methoden und Tätigkeiten, mit denen Praxis-
        Die deutsche Praxislandschaft rezipiert diese                   akteurinnen und -akteure diese Ziele erreichen
 wissenschaftlichen Debatten kaum. Meist nutzt sie                      möchten, fasst diese Studie unter den Begriffen „Aus-
 den in der Wissenschaft wenig gebräuchlichen Be-                       stiegsarbeit“ und „Ausstiegsbegleitung“ zusammen.
 griff der Ausstiegsarbeit zur Beschreibung ihrer Tätig-                     In Deutschland führen verschiedene Anbieter
 keiten. Deren Ziel bezeichnen sie entsprechend als                     solche Maßnahmen durch. Staatliche Träger bezeich-
„Ausstieg“, ohne jedoch zu spezifizieren, ob hiermit                    nen ihre Angebote in der Regel als „Aussteigerpro-
 eine verhaltensbezogene Distanzierung oder eine                        gramme“, zivilgesellschaftliche Träger bezeichnen
 kognitive Deradikalisierung gemeint ist2 . Die Arbeit                  sich als „Beratungsstellen“ mit „Beratungsangeboten“.
 mit zurückgekehrten Anhängerinnen und Anhängern Diese Unterscheidung gilt auch in dieser Studie.
 dschihadistischer Gruppen bezeichnet das Praxisper-                    Personen, die diese Arbeit durchführen, haben unter-
 sonal entsprechend als Ausstiegsbegleitung und/oder schiedliche professionelle Hintergründe, etwa aus
 als Reintegration, wobei letzterer Begriff auf einen                   Sozialpädagogik, Psychotherapie, Islamwissenschaft
 ressourcen- und bedarfszentrierten Ansatz hinweist,                    oder Polizei. Diese Studie bezeichnet sie, gemäß ihrer
 dessen Ziel die (Wieder-) Eingliederung einer vormals                  Eigenbezeichnung, als Fachkräfte oder Beratende.
 radikalisierten Person in die Gesellschaft ist. Diese                       Menschen aus Deutschland schlossen sich unter-
 Begriffsverwendung ist ebenfalls missverständlich,                     schiedlichen dschihadistischen Organisationen an.
 da Reintegration im UN-Kontext klar von Distanzie-                     Die bekannteste war der sogenannte „Islamische
 rung/ Disengagement und Deradikalisierung unter-                       Staat“ (IS), allerdings waren auch Al-Qaida-nahe
 schieden ist. Eine Klärung und Schärfung dieser Be-                    Gruppen in Syrien und, in der Vergangenheit, im
 griffe und der mit ihnen bezeichneten Konzepte wäre afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sowie
 daher angebracht, um Missverständnissen und                            Al-Shabaab in Somalia Ziele von Ausreisen aus
 Unklarheiten, die sich aus ihrer uneinheitlichen                       Deutschland. All diese Fälle fallen in den Zuständig-
 Verwendung ergeben, zu vermeiden. Dies liegt jedoch keitsbereich der hier untersuchten Programme und
 nicht in den Möglichkeiten dieser Studie (hierzu aus- Beratungsstellen. In dieser Studie bezieht sich das
 führlich: Neitzert, 2021).                                             Begriffspaar „Rückkehrerinnen und Rückkehrer“
        Diese Studie lehnt sich an den Begriffsgebrauch                 jedoch in der Regel auf Rückreisen aus dem soge-
 der Praxisakteurinnen und -akteure, welche im Zent- nannten „Islamischen Staat“, da dies die prominen-
 rum der Untersuchung stehen, an und vereinheit-                        testen und mit weitem Abstand zahlreichsten Fälle
 licht diesen. Der Begriff „Distanzierung“ bezeichnet im waren. Falls Angehörige einer anderen Gruppe gemeint
 Folgenden immer die Abwendung einer vormals radi- sind, spezifiziert die Studie dies explizit. Wenn diese
 kalisierten Person von der extremistischen Szene                       Personen an einem Aussteigerprogramm oder einem
 und einen Verzicht auf Gewaltausübung, ohne dass                       Beratungsangebot teilnehmen, bezeichnen Fachkräfte
 sie dabei auch zwangsläufig der Ideologie entsagt.                     sie als „Klientinnen und Klienten“, was diese Studie
„Deradikalisierung“ verweist hingegen immer auf die                     übernimmt. Der Begriff „Indexpersonen“ bezeichnet
 kognitive Neuorientierung einer solchen Person hin                     Personen, die mutmaßlich von einer Radikalisierung
 zu einem pluralistischen, demokratiebejahenden                         betroffen sind, in diesem Falle also die Rückkehrerin-
 Weltbild. „Reintegration“ wiederum meint die rein                      nen und Rückkehrer selbst (Fachstelle Liberi, 2020, S. 8).
 instrumentelle (Wieder-)Eingliederung einer vormals                         Menschen, die sich einer dschihadistischen
                                                                        Gruppe anschlossen, haben teilweise geschlechtsab-
 2 \ So etwa in der Tätigkeitsbeschreibung des Violence Prevention
     Network, eines der größten Anbieter von Ausstiegsmaßnahmen im      hängig unterschiedliche Motivationen für ihre Aus-
     deutschsprachigen Raum. Siehe VPN (n.d.). Violence Prevention Net- reise und verschiedene Bedarfe nach ihrer Rückkehr.
   work. Deradikalisierung, Intervention, Prävention. https://violen-
   ce-prevention-network.de/wp-content/uploads/2018/07/Violence-Pre-
   vention-Network-Deradikalisierung_Intervention_Prvention.pdf.

                                                                         \ WORKING PAPER 1 \ 2021                              9\
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

       Daher schreibt diese Studie „Rückkehrerinnen und                            sprach das Projektteam mit 14 Personen, mit drei von
       Rückkehrer“ immer dann aus, wenn Angehörige                                 ihnen mehrfach. Die Interviewten arbeiten in vier
       beider Geschlechter gemeint sind. Wenn nur eine der                         verschiedenen Bundesländern. Bei den Gesprächen
       beiden Formen- also „Rückkehrerin“ oder „Rückkehrer“-                       handelte es sich um leitfadengestützte Experten-
       ausgeschrieben ist, sind nur Angehörige des jeweiligen                      interviews. Aufgrund der Infektionslage im Zuge der
       Geschlechts gemeint. Aussagen der Interviewten, die                         COVID-19 Pandemie in Deutschland konnte das Team
       sich nicht durch Literaturangaben verifizieren ließen,                      nur einen Teil der Interviews persönlich führen. Für
       stehen im Konjunktiv bzw. in indirekter Rede.                               die restlichen Gespräche wurden Telefon- und Video-
       Anführungszeichen kennzeichnen wörtliche Zitate                             konferenzen genutzt. Das Projektteam wertete die
       der Interviewten.                                                           Daten unter Zuhilfenahme einer Codierungssoftware
                                                                                   aus. Des Weiteren flossen Ergebnisse einer früheren
       Methodologie der Studie                                                     Erhebung im Projekt, die die Bedarfe von Praxisperso-
                                                                                   nal der primären und sekundären Radikalisierungsprä-
           Dieses BICC Working Paper basiert auf Inter-                            vention in Nordrhein- Westfalen (NRW) untersuchte,
       views mit Fachleuten aus vier zivilgesellschaftlichen                       die teilweise ebenfalls mit Rückkehrerinnen und
       Beratungsstellen, zwei staatlichen Aussteigerpro-                           Rückkehrern arbeiten (Döring et al. 2020), sowie eine
       grammen und einem Netzwerk von Beratungsstellen,                            umfangreiche thematische Literaturauswertung in
       sowie mit drei Rückkehrkoordinierenden. Insgesamt                           die Studie ein.

       Kasten 1
       Daten- und Quellenschutz im Projekt „Radikalisierungsprävention in NRW – Wie können die Kapazitäten von Interme-
       diären gestärkt werden?“

       Dieses Working Paper beruht auf qualitativen Interviewdaten mit Praktizierenden der Präventionsarbeit. Da es sich hierbei um ein sehr sensibles
       Arbeitsfeld handelt, verständigte sich das Projektteam auf strenge Regeln zum Umgang mit Forschungsdaten. So werden sämtliche im Projekt
       gesammelten Interviewdaten verschriftlicht, durch die Entfernung von Namens- und Ortsangaben anonymisiert, codiert und an einem Ort aufbe-
       wahrt, zu welchem nur Projektmitarbeitende Zugriff haben. Weiterhin einigte sich das Projektteam darauf, keinerlei Interviewprotokolle an Dritte
       weiterzugeben, auch nicht in anonymisierter Form. Aus diesen Gründen werden auch keine Interviews im Fließtext referenziert. Diese Grundsätze
       hielt das Projektteam in einem Datenschutzkonzept fest.
       Dieses Vorgehen steht in einem gewissen Widerspruch zu den DFG-Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis, welche fordern, die einem For-
       schungsergebnis zugrundeliegenden Forschungsdaten öffentlich zugänglich zu machen (DFG, 2019, S. 18-19). Gleichzeitig erlauben die Leitlinien
       ausdrücklich einen gewissen Ermessungsspielraum in Abhängigkeit von der im jeweiligen Fachgebiet gängigen Praxis. Im Bereich der Radikalisie-
       rungs- und Präventionsforschung ist es nicht üblich, Forschungsdaten zu veröffentlichen, da sich bei einer Veröffentlichung negative Folgen für die
       Interviewpartnerinnen und -partner selbst bei Anonymisierung nie komplett ausschließen lassen (vgl. Eppert et al., 2020, S. 11-13). Eine vollständi-
       ge Anonymisierung würde zudem aufgrund der geringen Anzahl an Beratungsstellen und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Falle dieses
       Projekts die Entfernung so viel relevanter Informationen verlangen, dass eine Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse nicht mehr gegeben
       wäre (vgl. Krystalli, 2018, S. 4-5). Aus diesem Grund nutzt das Projektteam den von den DFG-Richtlinien zugestandenen Ermessensspielraum. Da-
       bei beruft es sich auf die „Handreichung Datenschutz“ des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten, welche empfiehlt, Daten nicht zu veröffentlichen,
       wenn sie Rückschluss auf die interviewte Person ermöglichen (RatSWD, 2020, S. 30-31).

       Literatur
       DFG (2019). Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Bonn: Deutsche Forschungsgemeinschaft.
       Eppert, K., Frischlich, L., Bögelein, N., Jukschat, N., Reddig, M.;,Schmidt-Kleinert, A. (2020). Navigating A Rugged Coastline. Ethics in
       Empirical (De-)Radicalization Research (CoRE NRW Forschungspapier 1). Bonn: CoRE NRW.
       Krystalli, R. (2018). Negotiating Data Management With the National Science Foundation: Transparency and Ethics in Research Relationships.
       RatSWD (2020). Handreichung Datenschutz. 2. vollständig überarbeitete Auflage. RatSWD Output 8 (6). Berlin: Rat für Sozial- und
       Wirtschaftsdaten (RatSWD).

10 \          \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

Wer ist ausgereist, wer kommt zurück, was passiert
nach der Rückkehr?

 Ausreisen Deutscher in den                             Moscheegemeinden, Vereinen oder Predigern den Aus-
„Islamischen Staat“                                     schlag zur Radikalisierung und zur Ausreise.
                                                        Weitere wichtige Faktoren waren Islamseminare,
    In den vergangenen acht Jahren reisten etwa         Koranverteilungen und das eigene familiäre Umfeld.
1.070 Personen aus Deutschland nach Syrien und in       Weiterhin geschahen diese Prozesse relativ schnell:
den Irak, um sich dort dschihadistischen Organisati-    Die meisten Befragten gaben an, sich zwischen dem
onen anzuschließen. Höhepunkt dieser Ausreisewelle      Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2012 und der Aus-
waren die Jahre 2013 und 2014, als jeweils mehr als     rufung des Kalifats durch den IS im Juni 2014 radikali-
400 Menschen Deutschland verließen. In jedem der        siert zu haben. Minderjährige radikalisierten sich
folgenden drei Jahre halbierte sich diese Zahl (BKA,    sogar wesentlich schneller (BKA, 2016).
2016; Deutscher Bundestag, 2019a, S. 2). Inzwischen         Insbesondere ausgereiste Männer hatten, so ein
sind die Ausreisebewegungen fast gänzlich zum           Berater, häufig eine „Karriere des Scheiterns“ hinter
Erliegen gekommen. So reisten dem Bundeskriminal-       sich (vgl. Döring et al., 2020, S. 27). Sie seien ihren
amt zufolge im letzten Quartal 2019 und im ersten       eigenen Ansprüchen und denen ihres Umfelds nie
Quartal 2020 insgesamt nur noch sechs Personen aus      gerecht geworden und hätten in der extremistisch-
(Deutscher Bundestag, 2020).                            salafistischen Szene eine Möglichkeit gesehen, Aner-
    Fast alle Ausgereisten waren Jugendliche oder       kennung und Respekt zu finden. Die Zahlen des BKA
junge Erwachsene. Zum Stichtag am 30.06.2016 waren      unterstützen diese Annahme: Von knapp 800 Ausge-
mehr als 75 Prozent der zu diesem Zeitpunkt etwa 800    reisten im Jahr 2016 waren 166 vorher arbeitslos
ausgereisten Deutschen zwischen 18 und 29 Jahre alt,    gewesen. 32 Prozent derjenigen, die vor ihrer Ausreise
sieben Prozent waren minderjährig. Zusätzlich kamen     eine Ausbildung begonnen hatten, hatten diese abge-
im IS-Gebiet schätzungsweise 200 Kinder deutscher       brochen. Unter denjenigen, die ein Studium begonnen
Mütter zur Welt. Etwa 90 Prozent aller Ausgereisten     hatten, lag die Quote der Abbrecher bei 28 Prozent.
hatten eine familiäre Migrationsgeschichte, 61 Pro-     Zwei Drittel der Ausgereisten waren kriminell in
zent besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft. Etwa      Erscheinung getreten, meist mit Betäubungsmittel-
die Hälfte derer, die einen deutschen Pass besaßen,     oder Diebstahlsdelikten und Körperverletzungen (BKA,
hatte mehrere Staatsangehörigkeiten. Die meisten        2016, S. 16-21).
stammten aus muslimischen Familien, allerdings              Männer mit solchen gebrochenen Biographien
reisten auch mindestens 134 Konvertierte aus (BKA,      verbanden das Leben beim IS mit Vorstellungen
2016). Männer machten 75 Prozent aller Ausreisen aus.   von Ehrhaftigkeit, der Hoffnung, eine muslimische
    Bei der Herkunft der Ausreisenden zeigen sich       Partnerin zu finden und ein respektables Leben als
deutliche räumliche Schwerpunkte. Ein Viertel kam       Kämpfer und Versorger einer Familie führen zu
aus NRW. Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bre-      können (CTED, 2019, S. 12-13; Zick et al., 2018, S. 75-80).
men sowie die Bundesländer Niedersachsen, Hessen        Weiterhin berichten Fachkräfte, dass Diskriminierungs-
und Bayern stellten zusammen zwei Drittel aller         und Rassismuserfahrungen, insbesondere im Bildungs-
übrigen Fälle. Aus den neuen Bundesländern wurden       system und durch die Polizei, einen wichtigen Faktor
nur drei Fälle bekannt. Ausreisen waren zudem ein       in den Radikalisierungsbiographien der meisten
urbanes Phänomen. Fast die Hälfte der deutschen         Ausgereisten darstellten (vgl. Gerland, 2021, S. 3-6). Die
Dschihadistinnen und Dschihadisten kam aus nur          Propaganda des IS und anderer extremistisch-salafisti-
13 Großstädten. Dies legt einen bedeutenden Einfluss    scher Gruppen instrumentalisiert derartige Erfahrun-
lokaler Netzwerke auf einzelne Radikalisierungs-        gen und Hoffnungen sehr geschickt. Sie stellt sie als
verläufe nahe. Eine Studie des Bundeskriminalamts       Folge eines Krieges des Westens gegen den Islam dar.
(BKA) stützt diese Vermutung: Bei über der Hälfte       Es sei folglich die Pflicht der „wahren Muslime“, dage-
aller deutschen Ausgereisten, zu denen Daten vorla-     gen Widerstand zu leisten (vgl. Abou-Taam, 2015, S. 6-7;
gen, gaben Kontakte zu salafistischen                   Gustafsson & Ranstorp, 2017, S. 75-81).

                                                               \ WORKING PAPER 1 \ 2021                        11 \
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

             Die Ausreisebewegung nach Syrien und in den           Personen liegen Informationen vor, dass sie in Gefan-
        Irak unterscheidet sich durch ihren vergleichsweise        genenlagern in Nordsyrien einsitzen, darunter vor al-
        hohen Frauenanteil von etwa 25 Prozent von anderen         lem Frauen und Kinder, die die kurdischen Kräfte bei
        Ausreisebewegungen in Kriegsgebiete jüngerer Zeit,         der Erstürmung von Rakka gefangen nahmen (Deut-
        etwa in das ehemalige Jugoslawien, den Kaukasus            scher Bundestag, 2019a, S. 3-4; Bundesregierung, 2021).
        oder nach Afghanistan (Malet, 2018, S. 17). Dies über-           Fachkräfte unterscheiden drei größere Rückkehr-
        rascht, beinhaltet die Ideologie des IS doch einen         bewegungen. Eine signifikante Personenzahl kehrte
        extremen Anti-Feminismus. Für manche Frauen schien         bereits 2013/14 nach kurzem Aufenthalt im Kriegsge-
        das Leben beim IS dennoch verlockend, da sie hier          biet zurück nach Deutschland. Viele dieser Menschen
        eine Gelegenheit sahen, einem repressiven Familien-        waren ausgereist, um humanitäre Hilfe zu leisten
        umfeld zu entkommen und in einer utopisch-idealen          und „Brüdern und Schwestern in Not“ beizustehen.
        islamischen Gesellschaft zu leben, in welcher die          Sie schlossen sich oftmals nicht dem IS, sondern an-
        Lebensführung beider Geschlechter zwar streng, aber        deren dschihadistischen und salafistischen Gruppen
        gerecht reglementiert ist. Dies stand im Gegensatz zu      an. Was sie in Syrien vorfanden, entsprach jedoch
        ihren Herkunftsfamilien, welche sie gegenüber              nicht ihren Erwartungen. Sie nutzen die zum damali-
        männlichen Verwandten benachteiligten, aber auch           gen Zeitpunkt noch wenig kontrollierten Grenzen
        zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, von der sie sich      zwischen Syrien und der Türkei zur Flucht (Handle et
        als muslimische Frauen diskriminiert und ausge-            al., 2019, S. 5; Dantschke et al., 2018, S. 10). Fachkräfte
        schlossen fühlten (vgl. Döring et al., 2020, S. 21-24;     berichten, dass die meisten Angehörigen dieser
        Baer & Weilnböck, 2017). Die Propaganda des IS sugge-      ersten Kohorte nach diesem „Realitätsschock“ der
        rierte diesen Frauen, dass die westlichen Gesellschaften   dschihadistischen Ideologie abgeschworen hätten,
        sie aufgrund ihrer Religion nicht akzeptieren würden,      oder zumindest deutliche Zweifel an ihr entwickelten.
        während sie im „Islamischen Staat“ Achtung und             Diesen Prozess bezeichnet die Forschung als sponta-
        Respekt als Ehefrauen und als Mütter einer zukünftigen     ne oder nicht-assistierte Deradikalisierung (Speck-
        islamischen Generation erführen (CTED, 2019, S. 14-15;     hard & Ellenberg, 2020, S. 117-118). Entsprechend ist
        OSCE, 2020, S. 98-100). Andere sahen in der Ausreise       die Ausstiegsarbeit mit dieser Personengruppe relativ
        eine Möglichkeit, einen Schlussstrich unter destruk-       problemlos verlaufen, viele gelten mittlerweile als
        tive Beziehungen oder ein unbefriedigendes Leben in        gut in Deutschland reintegriert (Abgeordnetenhaus
        Deutschland zu ziehen und einen Neustart in einer          von Berlin, 2020, S. 11; Berg et al., 2019, S. 5).
       „reinen“ Gesellschaft zu versuchen (Toprak et al., 2018,          Die zweite Rückkehrbewegung verlief parallel zur
        S. 9-10).                                                  großen Migrationsbewegung der Jahre 2015 und 2016.
                                                                   Die Mitglieder dieser Gruppe hatten verschiedene
        Rückkehr Deutscher aus dem                                 individuelle Motive für ihre Flucht. Desillusionierung
                                                                   und der zunehmend unerträgliche Alltag im IS-Gebiet
       „Islamischen Staat“
                                                                   standen nach wie vor an erster Stelle, hinzukam bei
           Die deutschen Behörden gehen davon aus, dass            vielen Druck zur Rückkehr durch die Familie oder
       etwa ein Viertel aller aus Deutschland zum IS ausge-        das soziale Umfeld. Andere waren schlicht enttäuscht
       reisten Personen ums Leben gekommen ist. Der Ver-           vom nachlassenden Kriegsglück des IS. Für sie han-
       bleib von bis zu 100 Männern, über 200 Frauen und           delte es sich eher um einen strategischen Rückzug.
       rund 60 Kindern ist ungeklärt (Berg et al., 2019, S. 16).   Sie waren nicht zwangsläufig auch desillusioniert.
       Etwa ein Drittel ist inzwischen wieder zurückgekehrt        Da die türkischen Behörden ihre Grenzen zu diesem
       (Toprak et al., 2018, S. 3). Darunter befinden sich nach    Zeitpunkt bereits stärker überwachten und die
       Auskunft der Bundesregierung (2021) mindestens 148          bekannten Reisewege nach Syrien abgeriegelt waren,
       Personen, denen die Ermittlungsbehörden eine IS-            nutzten viele dieser Rückkehrerinnen und Rückkehrer
       Mitgliedschaft nachweisen konnten. Zu etwa 100              Migrationsnetzwerke (Berg et al., 2019, S. 5). Ein

12 \         \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

Bericht der OSCE zeigt, dass der IS auf diesem Wege        Rückkehrerinnen und Rückkehrer in Empfang. Falls
auch diejenigen Attentäter und Koordinationsfiguren        Kinder dabei sind, unternimmt der Notdienst des
nach Europa einschleuste, die später Anschläge in          jeweiligen Jugendamtes zudem einen Erstcheck (BMI,
Paris, Brüssel und London begingen (OSCE/ODIHR,            2019; Gropp, 2019). Wenn keine Haftgründe vorliegen,
2018, S. 12).                                              kann die Person in ihren Niederlassungsort weiter-
    Die dritte und bisher letzte Rückkehrbewegung          reisen, ansonsten nehmen die Behörden sie direkt
setzte nach der militärischen Niederlage des IS und        nach der Einreise in Untersuchungshaft.
dem Zerfall seines selbsternannten Kalifats ab Ende              Genaue Zahlen, wie viele Rückkehrerinnen und
2017 ein. In dieser Gruppe befinden sich überdurch-        Rückkehrer aus dem IS- Gebiet in Deutschland insge-
schnittlich viele Frauen und Kinder, die teilweise aus     samt inhaftiert wurden, existieren nicht. Der Bundes-
ideologischen Motiven, teilweise aufgrund von              regierung zufolge liegen Haftbefehle gegen 22 derzeit
Zwangslagen nicht heimkehren konnten oder wollten.         in Syrien und im Irak gefangene deutsche Staatsan-
Einige versuchten, sich im Chaos des Bürgerkrieges         gehörige vor, gegen 38 führt der Generalbundesanwalt
auf eigene Faust in Richtung türkischer Grenze             Ermittlungen (Deutscher Bundestag, 2019b, S. 2-4).
durchzuschlagen. Andere wurden von der türkischen          Derzeit laufen gegen 134 Rückgekehrte Strafverfahren,
Polizei oder von kurdischen Einheiten festgenommen         42 befinden sich in Haft, 110 Rückkehrerinnen und
und abgeschoben bzw. von deutschen Behörden                Rückkehrern konnten die Behörden eine Beteiligung
repatriiert (Berg et al., 2019, S. 5). Ein Berater eines   an Kampfhandlungen nachweisen (Berg et al., 2019,
Aussteigerprogramms ordnet die Rücklehrerinnen             S. 3; Deutscher Bundestag, 2021). Die Sicherheitsbe-
und Rückkehrern dieser letzten Kohorte in Abhän-           hörden stufen etwa die Hälfte aller Rückkehrerinnen
gigkeit ihres jeweiligen Radikalisierungsgrades drei       und Rückkehrer als Gefährder oder relevante Personen
Typen zu: 1) die weiterhin Ideologisierten, die die        ein. Diese Personen verbleiben unter Beobachtung
Niederlage des IS als Rückschritt auf dem Weg zum          (Deutscher Bundestag, 2019b, S. 10). Zwar eröffnen die
nächsten Kalifat empfinden; 2) die Distanzierten, die      zuständigen Strafverfolgungsbehörden gegen jede
vielleicht nie ideologisch gefestigt waren und aus         Person, die aus Deutschland mit dem Ziel ausreiste,
Zwang im Kriegsgebiet verharrten; sowie 3) die             eine terroristische Organisation zu unterstützen, ein
Desillusionierten, die von ihren Erfahrungen irritiert     Ermittlungsverfahren. Eine Verurteilung für im Aus-
und ernüchtert sind.                                       land begangene Straftaten scheitert jedoch häufig an
    Um zurückzukehren, müssen Rückkehrerinnen              der schwierigen Beweislage und fehlenden Zeugen.
und Rückkehrer die türkische Grenze überqueren             Dies trifft insbesondere auf Frauen zu. Diese beteilig-
und das deutsche Konsulat in Gaziantep in der Süd-         ten sich zwar an Gräueltaten des IS, begingen diese
türkei kontaktieren. Im Falle einer Rückführung aus        allerdings meist im Haushalt, etwa an versklavten
humanitären Gründen bringen kurdische Sicherheits-         Jesidinnen. Hierfür gibt es in der Regel keine Zeugen-
kräfte eine Indexperson an die Grenze und übergeben        schaft. In Propagandaaufnahmen des IS tauchen
sie dort den deutschen Behörden. Das Konsulat infor-       Frauen nur in Vollverschleierung auf, was einen
miert in beiden Fällen das Auswärtige Amt sowie das        Nachweis ihrer Beteiligung an Verbrechen zusätzlich
Gemeinsame Terror-Abwehrzentrum (GTAZ) des Bun-            erschwert (Cook & Vale, 2019, S. 7-8). Eine Gesetzesän-
deskriminalsamtes (BKA) und der Bundespolizei.             derung aus dem Jahr 2015, die allein die Ausreise mit
Angehörige dieser Behörden reisen dann in die Türkei,      der Absicht, eine terroristische Organisation zu un-
um die Indexperson zu befragen und zu prüfen, ob           terstützen, unter Strafe stellt, kann auf die meisten
Haftgründe vorliegen. Wenn dies geklärt ist und das        IS-Rückkehrerinnen und Rückkehrer nicht ange-
Konsulat Passersatzpapiere ausgestellt hat, erfolgt der    wandt werden, da sie Deutschland vor 2015 verließen
Rückflug in Begleitung von Beamten der Bundespolizei.      (Moldenhauer, 2018). Damit liegen die Hürden für
Am Ankunftsort, zumeist der Flughafen Frankfurt am         eine Verurteilung zurückgekehrter Dschihadistinnen
Main, nehmen Angehörige der Bundespolizei, des             und Dschihadisten in Deutschland im europäischen
BKA und des jeweiligen Landeskriminalamtes die             Vergleich relativ hoch (Heinke & Raudszus, 2018, S. 50).

                                                                \ WORKING PAPER 1 \ 2021                       13 \
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

       Die deutsche Justiz verurteilt Rückkehrerinnen und                      förderungen, in der Regel aus Mitteln des Bundespro-
       Rückkehrer häufig für Straftaten, welche sie vor ihrer                  gramms Demokratie Leben. Sie sind im Rahmen der
       Ausreise begangen hatten (Heinke & Raudszus, 2018,                      Beratungsstelle Radikalisierung des BAMF vernetzt.
       S. 49-50; Gutheil et al., 2017, S. 85-95).                              Ihre Vertreterinnen und Vertreter treffen sich dort
            Die Bundesregierung reagierte auf die zuneh-                       regelmäßig, um sich über ihre Arbeit auszutauschen
       mende Zahl an Rückkehrfällen ab 2018 mit der Ein-                       und gemeinsame Standards für die Beratung zu ent-
       richtung von Fachkraftstellen zur Unterstützung                         wickeln (Uhlmann, 2017, S. 31-34). Die Beratungsstelle
       derjenigen Bundesländer, welche eine größere Zahl                       erhält regelmäßig Berichte über den Verlauf der Arbeit
       an Wiedereinreisen verzeichneten. Seit Anfang 2019                      mit Rückkehrfällen von ihren lokalen Partnerorgani-
       gibt es in Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-                   sationen. Angehörige von Rückkehrerinnen und
       Westfalen, Hessen und Bayern sogenannte Rückkehr-                       Rückkehrern können sich zudem an die Hotline
       koordinierende (Gropp, 2019). Im Jahr 2020 kam eine                     dieser Beratungsstelle wenden, welche sie an lokale
       weitere Stelle in Bremen dazu.3 Das Bundesamt für                       Partner weitervermittelt, welche die individuelle
       Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanziert diese                       Ausstiegsbegleitung übernehmen.
       Stellen. Angesiedelt sind sie entweder bei den jeweili-                      Fachkräfte setzen bei der Ausstiegsarbeit mit
       gen Innenministerien bzw. -Senaten, oder beim                           Rückkehrerinnen und Rückkehrern auf der emotional-
       jeweiligen Landeskriminalamt (LKA). Ihre Aufgabe                        affektiven, der pragmatischen und der kognitiv-
       besteht darin, Informationen über anstehende Rück-                      ideologischen Ebene an. Auf der affektiven Ebene ver-
       kehrfälle zu bündeln und an die zuständigen Stellen,                    suchen sie, die emotionale Bindung der Klientin oder
       etwa Sozial- und Jugendämter, Jobcenter oder Schul-                     des Klienten zu einer extremistisch-salafistischen
       behörden, weiterzuleiten und Ausstiegsmaßnahmen                         Gruppe aufzulösen und Beziehungen zu Personen
       einzuleiten. Hierfür können sie in von einem Rück-                      außerhalb einer solchen zu stärken. Dabei helfen
       kehrfall betroffenen Kommunen Runde Tische einbe-                       positive Beziehungserlebnisse mit und ein empathi-
       rufen, an welchen alle in den Fall involvierten kom-                    sches Auftreten der Fachkraft. Weiterhin adressieren
       munalen Akteure teilnehmen. Die jeweiligen Landes-                      sie aktuelle pragmatische Bedarfe ihrer Klienten-
       kriminalämter berufen zusätzlich Fallkonferenzen                        schaft und solche, die sie in der Vergangenheit nicht
       für jeden einzelnen Rückkehrfall ein. Damit gibt es                     erfüllen konnte. Die kognitive Dimension umfasst
       seit 2018 ein bundeseinheitliches Konzept zum Um-                       die Aufarbeitung der Biographie sowie der ideologi-
       gang mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus                            schen und religiösen Versatzstücke, mit denen radi-
       dschihadistischen Gruppen.                                              kalisierte Personen ihre Handlungen begründen und
            In allen genannten Bundesländern arbeiten zivil-                   rechtfertigen. Hier nutzen Fachkräfte auch Mittel der
       gesellschaftliche Beratungsstellen mit Rückkehrerin-                    politischen Bildung und der Religionspädagogik (vgl.
       nen und Rückkehrern. Nordrhein-Westfalen und                            BAMF, 2018, S. 18-19; el Mafaalani et al., 2016, S. 17;
       Niedersachsen unterhalten zudem staatliche Ausstei-                     Pisoiu & Köhler, 2013, S. 242-244). Es kann mehrere Jahre
       gerprogramme (Uhlmann 2017: 24-25). Baden-Württem-                      dauern, bis Klientinnen und Klienten Bereitschaft
       berg hat als einziges Bundesland, das eine nennens                      zur Auseinandersetzung mit ideologischen Einstel-
       werte Zahl von Ausreise- und Rückkehrfällen ver                         lungsmustern zeigen. Fachkräfte versuchen daher,
       zeichnete, weder Rückkehrkoordinierende, noch ein                       sich über die Adressierung affektiver und pragmati-
       zivilgesellschaftliches Angebot. Hier übernimmt ein                     scher Bedarfe zur kognitiv-ideologischen Ebene vor-
       staatlicher Träger sämtliche Maßnahmen. Alle                            zuarbeiten. Sie gewichten diese Dimensionen indivi-
       zivilgesellschaftlichen Programme erhalten Projekt                      duell unterschiedlich, in Abhängigkeit von ihrer
                                                                               Bedeutung für den Radikalisierungsprozess und die
                                                                               aktuelle Bedarfslage ihrer Klientenschaft.
       3 \ Diese ist angesiedelt beim Kompetenzzentrum für Deradikalisierung
           und Extremismusprävention im Land Bremen. KODEX (n.d.). Rück-
           kehrkoordination.\ https://www.kodex.bremen.de/projekte/rueck-
           kehrkoordination-12117

14 \          \ WORKING PAPER 1 \ 2021
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Psychischer und sozialer Zustand der                            Zudem zeigten in Untersuchungen aus den Nie-
Rückkehrerinnen und Rückkehrer                             derlanden bis zu 60 Prozent aller IS-Rückkehrerinnen
                                                           und Rückkehrer psychische Auffälligkeiten, die nicht
      Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)          ausschließlich auf den Aufenthalt im Kriegsgebiet
und andere psychische Gesundheitsprobleme er-              zurückzuführen waren (Paulussen et al., 2017, S. 7). Bis
schweren die Wiedereingliederung der Rückkehre-            zu 80 Prozent der Frauen, die aus den Niederlanden
rinnen und Rückkehrer. Genaue Zahlen zu deren Ver-         ausgereist waren, hatten vorher häusliche oder sexu-
breitung liegen nicht vor. Umfragen in den Gefange-        alisierte Gewalt erlebt (Paulussen et al. ,2017, S. 8-9).
nenlagern im Norden Syriens zeigen jedoch, dass            28 Prozent der niederländischen Dhschihadistinnen
eine große Zahl der Menschen, die im IS Gebiet gelebt      und Dschihadisten zeigten schwere Persönlichkeits-
hatten, potentiell traumatisierende Erfahrungen            störungen oder Suchtproblematiken (Weenink, 2019,
gemacht hat. So gaben fast 50 Prozent der befragten        S. 136). Bei Letzteren handelte es sich häufig um Füh-
Männer an, Bombardierungen und Beschuss erlebt zu          rungspersönlichkeiten der dschihadistischen Szene.
haben, 34 Prozent waren bereits vor ihrer Festnahme        Für den deutschen Kontext liegen solche Zahlen
durch die syrisch-demokratischen Kräfte in IS-Ge-          nicht vor, aufgrund der ähnlichen Profile der aus
fangenschaft gewesen, wo etwa ein Drittel von ihnen        Deutschland Ausgereisten sind die niederländischen
gefoltert wurde. Unter den Frauen gaben 65 Prozent         Daten aber vermutlich übertragbar. Diese Zahlen ver-
an, Bombardierungen erlebt zu haben, mehr als 40           deutlichen die Notwendigkeit therapeutischer Unter-
Prozent hatten ihren Ehemann oder Angehörige               stützung, um sowohl der Fremd- als auch der Eigen-
durch Kriegshandlungen verloren. 21 Prozent wurden         gefährdung vorzubeugen, die potenziell von dieser
zwangsverheiratet (Speckhard & Ellenberg, 2020,            Personengruppe ausgeht. Weiterhin verdeutlichen sie,
S. 111-116). Alle Ausgereisten, auch diejenigen, die vor   dass Ausstiegsmaßnahmen den Ausreisezeitpunkt, die
der Eskalation der Kampfhandlungen oder nur für            Verweildauer im Kampfgebiet sowie die individuelle
einen kurzen Zeitraum im IS-Gebiet waren, sahen            Motivationslage der Rückkehrenden aber auch die
extreme Gewalttaten und erlebten eine Atmosphäre           Faktoren Alter, Geschlecht und psychischer Gesund-
intensiver Anspannung (CTED, 2018, S. 5-7; de Bont et      heitszustand berücksichtigen müssen. Beratungsstel-
al., 2017, S. 8). Fachkräfte berichten entsprechend,       len stimmen daher ihre Maßnahmen auf jeden Fall
dass viele Rückkehrerinnen und Rückkehrer als              individuell ab. Im Folgenden erläutert diese Studie
Folge ihrer Erfahrungen im Kriegsgebiet Symptome           die Herausforderungen, welche sich dabei in der Fall-
von PTBS aufwiesen. Darunter fallen etwa Schlaf-           arbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern
und Essstörungen, Nervosität, Aggression, Angst,           ergeben.
intensive Scham- und Trauergefühle sowie manifeste
Verhaltensauffälligkeiten, etwa vernachlässigte
Körperhygiene oder Suchtproblematiken. Einige
Betroffene ziehen sich aus Angst vor einer Retrauma-
tisierung zurück und vereinsamen (Briggs Obe &
Silverman, 2014, S. 38-39; RAN Centre of Excellence,
2017, S. 81-83).

                                                                \ WORKING PAPER 1 \ 2021                        15 \
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING

       Kontaktaufbau zu Rückkehrerinnen und Rückkehrern
       in Freiheit

            Die Kontaktaufnahme zu Indexpersonen in Frei-        Programme haben aber eine Art „Erstzugriffsrecht“,
       heit ist für Beratungsorganisationen und Aussteiger-      da die Sicherheitsbehörden sie meist über Rückkehr-
       programme eine Herausforderung. Zwar prüfen vor           fälle in Kenntnis setzen. Außerdem bevorzugen viele
       einer Rückkehr die im Rahmen der Fallkonferenzen          Indexpersonen die Arbeit mit einem staatlichen Pro-
       der Landeskriminalämter zusammengetretenen Ak-            gramm, da sie sich davon Vorteile, etwa Hafterleich-
       teure eine Teilnahme an einem Aussteigerprogramm.         terungen oder Fürsprache in Gerichtsverfahren, aber
       Da die Teilnahme freiwillig ist, solange sie nicht als    auch eine effizientere Unterstützung in Alltagsdingen,
       Teil von Bewährungsauflagen verordnet wurde, müs-         versprechen. Fachleute staatlicher Programme weisen
       sen Fachkräfte Indexpersonen nach der Kontaktauf-         Indexpersonen allerdings darauf hin, dass sie keine
       nahme jedoch von einer Teilnahme überzeugen.              Vorteile gewähren können. Wer sich für die Teilnahme
       Dafür ergeben sich im Verlauf des Rückkehrprozesses       an einem staatlichen Ausstiegsprogramm entscheidet,
       unterschiedliche Ansatzpunkte, von der Ankunft einer      bekommt innerhalb von 24 Stunden nach dem Kon-
       Person am Flughafen, über ihre Rückkehr in den            taktaufbau einen Termin für ein Erstgespräch. An
       alten Sozial- und Lebensraum, bis zum Wiedersehen         dieses erste Kennenlernen schließt eine Sondierungs-
       mit der Familie. Dieses Kapitel analysiert die in die-    phase an, bevor die eigentliche Ausstiegs- und Reinte-
       sem Prozess auftretenden Herausforderungen und            grationsarbeit beginnt. Da die Teilnahme an einem
       beschreibt, wie Fachkräfte ihnen begegnen. Besondere      Ausstiegsprogramm immer freiwillig ist, können
       Berücksichtigung finden dabei die unterschiedlichen       Rückkehrerinnen und Rückkehrer die Zusammenar-
       Herangehensweisen staatlicher und zivilgesellschaft-      beit auch ablehnen. In diesem Fall behalten die auf
       licher Programme.                                         der Fallkonferenz zusammengetretenen Institutionen
                                                                 die Indexperson im Blick und tauschen Informatio-
       Vorgehen staatlicher Aussteiger-                          nen über sie aus. Das Angebot zur Teilnahme am
       programme: direkte Ansprache                              Programm besteht weiterhin. Wenn das Verhalten
                                                                 der Indexperson irgendwann auf eine kognitive Öff-
           Für staatliche Ausstiegsprogramme ist die Kon-        nung gegenüber dem Ausstiegsprogramm hindeutet,
       taktaufnahme zu Rückkehrerinnen und Rückkehrern           sprechen die Beraterinnen und Berater sie erneut an.
       in Freiheit leichter als für zivilgesellschaftliche. Da   Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn jemand
       sie beim jeweiligen Landesverfassungsschutz oder          gegenüber seiner Familie oder gegenüber einer Fach-
       den Landeskriminalämtern angesiedelt sind, wissen         kraft der Sozialen Arbeit Reue über seine Ausreise
       ihre Fachleute über anstehende Rückkehrfälle in der       bekundet (RAN Centre of Excellence, 2017, S. 54). Fami-
       Regel im Voraus Bescheid. Meist befragen die Sicher-      lienmitglieder können sich in solchen Fällen auch
       heitsbehörden Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus          direkt an staatliche Beratungsstellen wenden (BMI,
       dschihadistischen Kampfgebieten direkt am Flugha-         2019, S. 11-12).
       fen, ob sie Kontakt zu einem staatlichen Ausstiegs-
       programm aufnehmen möchten. Solche proaktiven             Vorgehen zivilgesellschaftlicher
       Ansprachen seien, so ein Mitarbeiter eines solchen        Beratungsstellen: aufsuchend oder
       Programms, politisch gewollt (BMI, 2019, S. 12). Alle
                                                                 abwartend?
       Rückkehrerinnen und Rückkehrer sollten ein Ange-
       bot zur Deradikalisierung und Reintegration bekom-             In Bundesländern, in denen es kein staatliches
       men, damit niemand ohne professionelle Begleitung         Aussteigerprogramm für Islamismus gibt, übernehmen
       in die deutsche Gesellschaft zurückkehrt. Sie dürfen      zivilgesellschaftliche Beratungsstellen die Erst-
       dann zwischen einem staatlichen oder einem zivil-         ansprache nach der Einreise. Das weitere Vorgehen
       gesellschaftlichen Angebot, wenn im jeweiligen            ist deckungsgleich mit dem vorher beschriebenen. In
       Bundesland vorhanden, auswählen. Staatliche               Bundesländern, in denen ein staatliches Programm

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