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www.ssoar.info Ist ein bisschen Deradikalisierung besser als keine? Zur Ausstiegsarbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus dschihadistischen Gruppen in Deutschland Röing, Tim Veröffentlichungsversion / Published Version Arbeitspapier / working paper Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Röing, T. (2021). Ist ein bisschen Deradikalisierung besser als keine? Zur Ausstiegsarbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus dschihadistischen Gruppen in Deutschland. (BICC Working Paper, 1/2021). Bonn: Bonn International Center for Conversion (BICC). https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-75098-5 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer CC BY-NC-ND Lizenz This document is made available under a CC BY-NC-ND Licence (Namensnennung-Nicht-kommerziell-Keine Bearbeitung) zur (Attribution-Non Comercial-NoDerivatives). For more Information Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden see: Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de
\ WORKING PAPER 1\ 2021 Ist ein bisschen Deradikalisierung besser als keine? Zur Ausstiegsarbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus dschihadistischen Gruppen in Deutschland Tim Röing \ BICC Gefördert durch \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING ZUSAMMENFASSUNG Zwischen 2013 und 2019 verließen mehr als 1.000 zumeist junge Menschen Deutschland, um sich in Syrien und dem Irak dschihadistischen Gruppen anzuschließen. Die bekannteste von ihnen ist der sogenannte „Islamische Staat“, auf dessen Konto in den Jahren 2015 und 2016 auch mehrere Anschläge in Europa gingen. An diesen Terrorakten beteiligten sich zurückgekehrte euro- päische Dschihadisten. Inzwischen gilt der „Islamische Staat“ zwar als weit- gehend besiegt und ein knappes Drittel der nach Syrien und Irak Ausgereisten ist wieder zurück in Deutschland. Doch nicht alle dieser Rückkehrerinnen und Rückkehrer sind desillusioniert. Einige hängen nach wie vor islamistischen Ideologien an, fast alle sind zudem traumatisiert. Ein nicht unerheblicher Teil befindet sich in Haft. Es stellt sich die Frage, wie der Sicherheitsbedrohung, die von diesen Rückkeh- rerinnen und Rückkehrern ausgeht, zu begegnen ist. Deutschland beschreitet dabei unter anderem den Weg der Resozialisierung: Ausstiegs- und Reintegra- tionsmaßnahmen sollen diesen Personen den Weg zurück in die Gesellschaft ermöglichen. Durchgeführt werden solche Maßnahmen sowohl von staatlichen Programmen, als auch von zivilgesellschaftlichen Trägern. Dieses BICC Working Paper untersucht, wie Fachkräfte solcher Träger dieser Aufgabe nachkommen und welchen Hindernissen sie dabei begegnen. Um dies zu erläutern, stellt das Paper den gesamten Komplex von der Rückreise ehemaliger Dschihadistinnen und Dschihadisten aus dem Konfliktgebiet, über ihre psychische und soziale Wiedereingliederung nach der Ankunft in Deutschland bis zum Abschluss des Ausstiegsprozesses dar und untersucht die Herausforderungen, die sich dabei für soziale Arbeit und Prävention ergeben. Hierzu gehören besondere Aspekte der Fallarbeit wie der Umgang mit Traumatisierungen, die Bedarfe minderjäh- riger Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die Arbeit in Haftanstalten sowie die Aufarbeitung extremistischer Ideologien. Die Untersuchung zeigt, dass Fach- kräfte sich ihrer Aufgabe zwar professionell gewachsen sehen, jedoch einigen strukturellen Herausforderungen gegenüberstehen. Diese umfassen etwa zeitlich und finanziell begrenzte Projektförderungen, einen Mangel an thera- peutischen Kapazitäten sowie Abstimmungsprobleme mit den Justizbehör- den bei der Arbeit mit inhaftierten Rückkehrerinnen und Rückkehrern. 2\ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING INHALTSVERZEICHNIS Hauptergebnisse und Empfehlungen 5 Einleitung 8 Begriffsklärung und Vorgehen 9 Methodologie der Studie 11 Wer ist ausgereist, wer kommt zurück, was passiert nach der Rückkehr? 12 Ausreisen Deutscher in den „Islamischen Staat“ 12 Rückkehr Deutscher aus dem „Islamischen Staat“ 13 Psychischer und sozialer Zustand der Rückkehrerinnen und Rückkehrer 16 Kontaktaufbau zu Rückkehrerinnen und Rückkehrern in Freiheit 17 Vorgehen staatlicher Aussteigerprogramme: direkte Ansprache 17 Vorgehen zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen: aufsuchend oder abwartend? 17 Fallzugang unter Bewährungsauflagen 19 Ausstiegsbegleitung in Freiheit 20 Soziale und psychische Stabilisierung nach der Rückkehr 20 Biographische und systemische Methoden in der Ausstiegsbegleitung 22 Herausforderung: Psychische Gesundheitsprobleme und PTBS 24 Herausforderung: Bedarfe Minderjähriger und Sorgerechtsfragen 25 Ausstiegsarbeit mit inhaftierten Rückkehrerinnen und Rückkehrern 28 Fallzugang und Stabilisierung bei eingeschränkter Freiwilligkeit 28 Biografische und kognitive Methoden der Ausstiegsarbeit im Haftkontext 29 Herausforderung: Übergangsmanagement nach der Haft 30 Herausforderung: Kooperation staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure 31 Ziele der Ausstiegsarbeit: Deradikalisierung oder Distanzierung? 33 Herausforderungen und Ausblick 35 Literaturverzeichnis 38 \ WORKING PAPER 1 \ 2021 3\
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IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Hauptergebnisse und Empfehlungen Zivilgesellschaftliche und staatliche Austauschformate zwischen Ausstiegsprogrammen, Träger der Ausstiegsarbeit in dauerhafte der Justiz, der Bewährungshilfe und den Sicherheits- Finanzierungsstrukturen einbinden behörden schaffen, welche dem gegenseitigen Ken- nenlernen und Vertrauensaufbau dienen. Weiterhin In Deutschland begleiten sowohl zivilgesellschaftliche braucht es klare Strukturen für die Fallübergabe und als auch staatliche Träger Rückkehrerinnen und Koordination zwischen den Justizbehörden, der Rückkehrer aus dschihadistischen Gruppen bei ihrem Bewährungshilfe und den Anbietern von Ausstiegs- Ausstieg aus der Szene. Zivilgesellschaftliche Träger maßnahmen vor und nach einer Haftentlassung. finanzieren sich zumeist über zeitlich und finanziell befristete Projektförderungen, was ihre Arbeitsfähig- Therapeutische und pädagogische keit einschränkt. Mittelgeber, in erster Linie das Bun- Arbeit mit Rückkehrerinnen und Rück- desministerium für Familie, Senioren, Frauen und kehrern dschihadistischer Gruppen Jugend sowie die Landesregierungen, sollten die stärken Finanzierung zivilgesellschaftlicher Träger ausweiten und verstetigen sowie diese idealerweise in Regel- Fachkräfte der Ausstiegsarbeit fühlen sich generell strukturen überführen. gut aufgestellt für die individuelle Fallarbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern. Herausforderungen Austauschformate zur Koordination stellen jedoch Traumatisierungen unter ihren Klien- und zum Vertrauensaufbau zwischen tinnen und Klienten und die therapeutische Beglei- tung zurückgekehrter Kinder dar. Geldgeber sollten Trägern der Ausstiegsarbeit, Sicher- alle Ausstiegsprojekte daher in die Lage versetzen, heitsbehörden und dem Justizvollzug psychotherapeutische Ansätze und therapeutische schaffen Fachkräfte standardmäßig in ihre Arbeit zu integrieren. Zivilgesellschaftliche Träger erleben häufig Abstim- Dies würde die Aufarbeitung von Erlebnissen im mungsprobleme mit den Justizbehörden beim Zu- Kriegsgebiet und die Auseinandersetzung mit ideolo- gang zu inhaftierten Rückkehrerinnen und Rückkeh- gischen Einstellungsmustern, welche die Entschei- rern. Mitarbeitende zivilgesellschaftlicher Träger dung zur Ausreise beeinflussten, erleichtern. beklagen, dass die Justizbehörden die hohen fachli- Erschwerend hinzu kommt, dass manche Rückkehre- chen Standards ihrer Arbeit nicht immer anerkennen rinnen und Rückkehrer die Kooperation mit Aus- würden und zivilgesellschaftliche Angebote als Kon- stiegsbegleitenden komplett verweigern. Dies ist ihr kurrenz wahrnähmen. Angestellte der Justizbehörden gutes Recht, sie sollten aber dennoch eine sozialar- wiederum nehmen auf Seiten mancher zivilgesell- beiterische Begleitung erhalten. Daher sollten Aus- schaftlicher Träger Vorurteile ihnen gegenüber wahr stiegsprojekte die Möglichkeit bekommen, Methoden und beklagen sich über nicht eingehaltene Zusagen. der aufsuchenden Sozialarbeit in ihre Arbeitsansätze Justizvollzugsanstalten schließlich haben Probleme, aufzunehmen, um auch mit Personen in Kontakt zu zivilgesellschaftliche Angebote in ihre Abläufe zu kommen, die zunächst für eine Ausstiegsbegleitung integrieren. Dies Alles erschwert die Kooperation nicht erreichbar sind. Die Landes- und Kommunalpo- zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen litik sollte darüber hinaus in diesem Zusammenhang Anbietern zur Resozialisierung von inhaftierten und die Regelstrukturen der aufsuchenden Jugendsozial- aus der Haft entlassenen Rückkehrerinnen und arbeit stärken. Rückkehrern. Die Landesregierungen sollten daher \ WORKING PAPER 1 \ 2021 5\
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Effiziente Strafverfolgung von IS- Rückholung aller im Kampfgebiet ver- Verbrechen sicherstellen; Vermischung bliebenen deutschen Staatsangehörigen von Ausstiegsarbeit und Strafverfol- Alle für diese Studie interviewten Personen plädieren gung vermeiden für eine Rückholung der in Nordsyrien inhaftierten Eine Strafverfolgung von Verbrechen, die Deutsche deutschen Staatsangehörigen. Ihr psychischer und im IS-Gebiet begingen, scheitert häufig am Fehlen physischer Gesundheitszustand verschlechtert sich, von Zeugen und Beweisen. Fachkräfte empfinden je länger sie dort ausharren. Dies kann die von ihnen dies als Problem, da eine ausbleibende Strafverfolgung potenziell ausgehende Bedrohung erhöhen und ihre das ohnehin große Misstrauen der Mehrheitsgesell- Wiedereingliederung erschweren. Weiterhin sorgt schaft gegenüber Rückkehrerinnen und Rückkehrern ihr Verbleib im Kampfgebiet für ein großes Maß an weiter steigert und damit ihre Chancen zur Reinte- Frustration und Sorge unter ihren Angehörigen. Die gration verringert. Weiterhin sehen sich manche extremistisch-salafistische Szene könnte diese Situa- Fachkräfte mit der Erwartung konfrontiert, zur Auf- tion für ihre Propaganda ausnutzen. Zudem ist eine arbeitung der Verbrechen des IS beizutragen. Dies ist Strafverfolgung der von dieser Personengruppe mut- jedoch nicht ihre Aufgabe. Eine Vermischung von maßlich begangenen Kriegsverbrechen in Nordsyrien Ausstiegsarbeit und Strafverfolgung gefährdet vielmehr kaum möglich, da das dortige Rechtssystem interna- die Glaubwürdigkeit und die Erfolgsaussichten von tional nicht anerkannt ist. Auch im Sinne der öffent- Ausstiegsmaßnahmen. Um Straftaten von Rückkeh- lichen Sicherheit wäre es daher besser, diese Menschen rerinnen und Rückkehrern aufzuklären, muss die nach Deutschland zurückzuholen, sie hier unter Be- Bundesregierung daher auch im Sinne einer nach- obachtung zu halten und in die Hände kompetenter haltigen Ausstiegsarbeit eine kohärente Strategie Aussteigerprogramme zu übergeben, wenn eine zum Umgang mit den Verbrechen ehemaliger Bereitschaft zum Ausstieg besteht. Dschihadistinnen und Dschihadisten entwickeln. Anmerkung Dieses BICC Working Paper entstand im Rahmen des Projekts „Radikalisierungsprävention in Nordrhein- Westfalen: Wie können die Kapazitäten von Intermedi- ären gestärkt werden?“, das vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) des Landes Nordrhein- West- falen gefördert wird. Es ist die vierte in einer Reihe von Studien des BICC zum Thema Prävention islamistischer Radikalisierung. Der Autor bedankt sich bei allen Kolleginnen und Kollegen des BICC, welche mit ihren Kommentaren und ihrer konstruktiven Kritik bei der Erstellung dieses Working Papers halfen. Besonderer Dank gilt Claudia Breitung, Maurice Döring, Luisa Gerdsmeyer, Susanne Heinke, Alina Neitzert und Marc von Boemcken. Weiterhin bedankt sich der Autor bei allen Interviewpartnerinnen und -partnern für ihre Zeit und ihre Bereitschaft, dem Projektteam Einblick in ihre Arbeit zu gewähren. Für den Inhalt trägt allein der Autor die Verantwortung. 6\ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Einleitung Am 29. April 2015 demonstrierten vor dem Aus- Gruppen gelang es in den letzten Jahren dennoch, wärtigen Amt in Berlin die Familien deutscher Ange- auf eigene Faust zurückzukehren. Andere wurden von höriger des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS). der Türkei abgeschoben. Die deutschen Behörden Sie verlangten eine Rückholung ihrer Verwandten evakuierten zudem in Folge gerichtlicher Anordnungen aus den Gefangenenlagern Nordsyriens. Sie zeigten einige Frauen und Kinder aus Gefangenenlagern1 . Da sich frustriert, dass die Bundesregierung nicht we- eine nicht unerhebliche Zahl deutscher Staatsange- nigstens Frauen und Kindern eine Rückkehr ermög- höriger nach wie vor im Konfliktgebiet ausharrt, ist licht. An der Demonstration nahm auch Bernhard in Zukunft mit weiteren Rückkehrfällen zu rechnen. Falk teil, ein ehemaliger Linksterrorist, der zum Wenn Deutschland diese Personengruppe extre- extremistischen Salafismus konvertierte und sich mistischen Akteuren wie Bernhard Falk nicht über- inzwischen als selbsternannter Helfer für „politische lassen – und damit ihren Wiedereinstieg in die muslimische Gefangene“ betätigt (Boeselager, 2019). dschihadistische Szene riskieren möchte – führt an Falk besucht Islamistinnen und Islamisten, darunter ihrer (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft kein auch Anhänger des IS, in deutschen Haftanstalten, Weg vorbei. Staatliche und zivilgesellschaftliche begleitet ihre Gerichtsverfahren und vermittelt ihnen Programme zur Deradikalisierung und Reintegration anwaltlichen Beistand (Hein & Felden, 2018). Zwar müssen sie dabei begleiten. Diese Programme arbeiten wollten die Demonstrierenden von einer Unterstüt- jedoch in einem spannungsreichen Umfeld, in dem zung dieses ungebetenen Gastes nichts wissen und die Bedarfe der Rückkehrerinnen und Rückkehrer, forderten ihn auf, zu gehen. Das PR-Desaster war die Sicherheitsbedenken der Bevölkerung und des jedoch, in den Worten eines Beraters, der mehrere der Staates sowie das Gerechtigkeitsbedürfnis der Opfer protestierenden Familien unterstützt, perfekt. des IS nebeneinanderstehen. Dieses BICC Working Diese Episode wirft ein Schlaglicht auf die Her- Paper stellt die Herausforderungen dar, die sich dabei ausforderungen, die sich aus der Rückkehr deutscher für die Deradikalisierungsarbeit ergeben. Hierfür IS- Angehöriger ergeben. Familien und Angehörige analysiert es Aussagen von Fachkräften, die im haben verständlicherweise ein dringendes Interesse Rahmen von Deradikalisierungs- und Reintegrations- an der Reintegration ihrer Kinder, Nichten, Neffen projekten mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern und Enkelkinder. Ein Blick in die Kommentarspalten aus dschihadistischen Organisationen arbeiten. der Medien, welche über dieses Thema berichten, zeigt jedoch, dass viele Menschen einer Rückkehr deutscher IS-Anhänger ablehnend gegenüberstehen. Große Teile der Öffentlichkeit befürchten, dass es sich bei ihnen um indoktrinierte, kampferfahrene und traumatisierte Extremistinnen und Extremisten handelt, von denen eine erhebliche Sicherheitsbedro- hung ausgeht. Mit einem Rückholprogramm ist daher wohl nicht zu rechnen, zumal die Bundesregierung argumentiert, dass sie aufgrund der fehlenden kon- sularischen Vertretung in Syrien derzeit gar keine Möglichkeit zur Rückführung habe. Einigen ehemali- gen Angehörigen des IS und anderer dschihadistischer 1 \ Deutsche Welle (2020). Berichte: Deutschland holt IS-Anhängerinnen aus Syrien zurück. URL (Stand: 20.03.2021): https://www.dw.com/de/ berichte-deutschland-holt-is-anh%C3%A4ngerinnen-aus-syri- en-zur%C3%BCck/a-55998675 \ WORKING PAPER 1 \ 2021 7\
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Begriffsklärung und Vorgehen Es existiert sowohl eine Vielzahl an Begriffen zur eine rein verhaltensbezogene Abwendung von Gewalt Bezeichnung der Arbeit mit radikalisierten Personen und von der extremistischen Szene, zumeist als Dis- als auch zur Umschreibung ihrer Zielsetzung. Weder tanzierung. Synonyme Begriffe sind Herauslösung die thematische Forschung noch die Praxis nutzen oder Loslösung. Andere Autorinnen und Autoren diese Begriffe einheitlich. Dies kann zu Verwirrung sprechen im selben Bedeutungszusammenhang führen, da die verschiedenen Begriffe durchaus unter- auch von Demobilisierung (Ceylan & Kiefer, 2018, S. 73; schiedliche Konzepte bezeichnen. Neumann, 2013, S. 8) — ein missverständlicher Begriff, Im Jahr 2015 rief ein UN-Bericht dazu auf, Pro- da er im UN-Kontext ausschließlich die Auflösung von gramme zur Entwaffnung, Demobilisierung und Streitkräften und bewaffneten Gruppen bezeichnet. Reintegration (disarmament, demobilisation and reinte- Einen kognitiven Wandlungsprozess bezeichnet die gration, DDR) ehemaliger Kämpferinnen und Kämpfer deutschsprachige Literatur zumeist als Deradikalisie- mit Methoden aus dem Bereich der Prävention von rung (Pisoiu & Köhler, 2013, S. 242-247; Neitzert, 2021, gewalttätigem Extremismus (countering violent S. 15). Einige Autorinnen und Autoren konzeptionali- extremism, CVE) zu kombinieren. Namentlich gehören sieren die Deradikalisierungs- und Distanzierungsar- hierzu Initiativen, die auf ein Disengagement (Loslö- beit als Teil der Prävention. Sie fiele dann in den Be- sung) aktiv Kämpfender und, in Fällen von religiös reich der tertiären oder auch indizierten Prävention, oder politisch begründeter Gewalt, auch auf deren also der Arbeit mit Personen, die bereits Teil einer Deradicalisation (Deradikalisierung) abzielen (Richards, gewaltaffinen extremistischen Szene sind und ihr 2017, S. 1-2; Cockayne & O’Neill, 2015, S. 146-148). Dar- angehörend Straftaten begangen haben, sie nun jedoch unter fasst die UN ausdrücklich auch den Umgang verlassen möchten (Ceylan & Kiefer, 2018, S. 72-74; mit „foreign terrorist fighters“, also ausländischen Neumann, 2013, S. 9). Dies erscheint auf den ersten Kämpferinnen und Kämpfern, wozu auch ausgereiste Blick widersinnig, da das zu verhindernde Ereignis, Deutsche beim IS zählen würden (Cockayne & O’Neill, also der Eintritt in die Szene bzw. die Straftat, bereits 2015, S. 145-146). Der Bericht ermutigt alle UN-Mitglied- eingetreten ist. Prävention kann jedoch auch als Ver- staaten zur Umsetzung derartiger Maßnahmen. Dis- hinderung weiterer Straftaten bzw. als Schutz der engagement bezeichnet dabei einen verhaltensbezo- Gesellschaft vor den Gefahren gedacht werden, die genen Prozess, in welchem sich Individuen von von einer solchen Person ausgingen, wenn sie in der gewalttätigen Gruppen loslösen und auf Gewalt Szene verbliebe. anwendung verzichten. Deradikalisierung bezeichnet Die Frage, ob das erstrebenswerte Ziel der Aus- demgegenüber den kognitiven Wandel einer Person stiegsarbeit eine pragmatische Distanzierung oder von extremistischen hin zu moderaten Einstellungs- eine kognitive Deradikalisierung sein sollte, ist mustern. Das eine muss nicht zwangsläufig mit dem Gegenstand einer kontroversen Debatte. Manche anderen einhergehen: So ist es möglich, dass Personen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler argu- extremistische Denk- und Einstellungsmuster beibe- mentieren, dass ein reiner Gewaltverzicht ohne kog- halten, jedoch auf Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele nitive Neuorientierung nicht nachhaltig sein könne verzichten. Es ist aber auch denkbar, dass Personen (Pisoiu & Köhler, 2013, S. 242-247; RAN Centre of Excel- zwar extremistische Einstellungsmuster ablegen, lence, 2019a, S. 3-6). Die Kritik an dieser Position ihre Ziele aber weiterhin mit Gewalt durchzusetzen betont, dass eine Absage radikalisierter Personen an versuchen (Richards, 2017, S. 2; Neitzert, 2021, S. 15–16). die Ausübung von Gewalt und eine Abwendung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus gewaltbereiten Gruppen, ohne dass sie notwendiger- dem deutschen Kontext beziehen sich kaum auf weise auch einer extremistischen Ideologie abschwö- diese UN-Debatten. Auch verwenden sie Begriffe und ren, ausreichend sei (Horgan, 2008; Überblick bei Konzepte nicht einheitlich. Die deutschsprachige Neitzert, 2021,S. 15-16). Andere wiederum stellen den Literatur übersetzt das Disengagement-Konzept, also Begriff Deradikalisierung grundsätzlich in Frage. So 8\ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING gäbe es keine überzeugenden empirischen Beweise radikalisierten Person in die Gesellschaft, etwa durch dafür, dass ein kognitiver Wandel radikalisierter Per- Aufnahme einer Ausbildung oder Antritt einer Arbeits- sonen überhaupt möglich sei (vgl. Horgan, 2008). stelle. Die Methoden und Tätigkeiten, mit denen Praxis- Die deutsche Praxislandschaft rezipiert diese akteurinnen und -akteure diese Ziele erreichen wissenschaftlichen Debatten kaum. Meist nutzt sie möchten, fasst diese Studie unter den Begriffen „Aus- den in der Wissenschaft wenig gebräuchlichen Be- stiegsarbeit“ und „Ausstiegsbegleitung“ zusammen. griff der Ausstiegsarbeit zur Beschreibung ihrer Tätig- In Deutschland führen verschiedene Anbieter keiten. Deren Ziel bezeichnen sie entsprechend als solche Maßnahmen durch. Staatliche Träger bezeich- „Ausstieg“, ohne jedoch zu spezifizieren, ob hiermit nen ihre Angebote in der Regel als „Aussteigerpro- eine verhaltensbezogene Distanzierung oder eine gramme“, zivilgesellschaftliche Träger bezeichnen kognitive Deradikalisierung gemeint ist2 . Die Arbeit sich als „Beratungsstellen“ mit „Beratungsangeboten“. mit zurückgekehrten Anhängerinnen und Anhängern Diese Unterscheidung gilt auch in dieser Studie. dschihadistischer Gruppen bezeichnet das Praxisper- Personen, die diese Arbeit durchführen, haben unter- sonal entsprechend als Ausstiegsbegleitung und/oder schiedliche professionelle Hintergründe, etwa aus als Reintegration, wobei letzterer Begriff auf einen Sozialpädagogik, Psychotherapie, Islamwissenschaft ressourcen- und bedarfszentrierten Ansatz hinweist, oder Polizei. Diese Studie bezeichnet sie, gemäß ihrer dessen Ziel die (Wieder-) Eingliederung einer vormals Eigenbezeichnung, als Fachkräfte oder Beratende. radikalisierten Person in die Gesellschaft ist. Diese Menschen aus Deutschland schlossen sich unter- Begriffsverwendung ist ebenfalls missverständlich, schiedlichen dschihadistischen Organisationen an. da Reintegration im UN-Kontext klar von Distanzie- Die bekannteste war der sogenannte „Islamische rung/ Disengagement und Deradikalisierung unter- Staat“ (IS), allerdings waren auch Al-Qaida-nahe schieden ist. Eine Klärung und Schärfung dieser Be- Gruppen in Syrien und, in der Vergangenheit, im griffe und der mit ihnen bezeichneten Konzepte wäre afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sowie daher angebracht, um Missverständnissen und Al-Shabaab in Somalia Ziele von Ausreisen aus Unklarheiten, die sich aus ihrer uneinheitlichen Deutschland. All diese Fälle fallen in den Zuständig- Verwendung ergeben, zu vermeiden. Dies liegt jedoch keitsbereich der hier untersuchten Programme und nicht in den Möglichkeiten dieser Studie (hierzu aus- Beratungsstellen. In dieser Studie bezieht sich das führlich: Neitzert, 2021). Begriffspaar „Rückkehrerinnen und Rückkehrer“ Diese Studie lehnt sich an den Begriffsgebrauch jedoch in der Regel auf Rückreisen aus dem soge- der Praxisakteurinnen und -akteure, welche im Zent- nannten „Islamischen Staat“, da dies die prominen- rum der Untersuchung stehen, an und vereinheit- testen und mit weitem Abstand zahlreichsten Fälle licht diesen. Der Begriff „Distanzierung“ bezeichnet im waren. Falls Angehörige einer anderen Gruppe gemeint Folgenden immer die Abwendung einer vormals radi- sind, spezifiziert die Studie dies explizit. Wenn diese kalisierten Person von der extremistischen Szene Personen an einem Aussteigerprogramm oder einem und einen Verzicht auf Gewaltausübung, ohne dass Beratungsangebot teilnehmen, bezeichnen Fachkräfte sie dabei auch zwangsläufig der Ideologie entsagt. sie als „Klientinnen und Klienten“, was diese Studie „Deradikalisierung“ verweist hingegen immer auf die übernimmt. Der Begriff „Indexpersonen“ bezeichnet kognitive Neuorientierung einer solchen Person hin Personen, die mutmaßlich von einer Radikalisierung zu einem pluralistischen, demokratiebejahenden betroffen sind, in diesem Falle also die Rückkehrerin- Weltbild. „Reintegration“ wiederum meint die rein nen und Rückkehrer selbst (Fachstelle Liberi, 2020, S. 8). instrumentelle (Wieder-)Eingliederung einer vormals Menschen, die sich einer dschihadistischen Gruppe anschlossen, haben teilweise geschlechtsab- 2 \ So etwa in der Tätigkeitsbeschreibung des Violence Prevention Network, eines der größten Anbieter von Ausstiegsmaßnahmen im hängig unterschiedliche Motivationen für ihre Aus- deutschsprachigen Raum. Siehe VPN (n.d.). Violence Prevention Net- reise und verschiedene Bedarfe nach ihrer Rückkehr. work. Deradikalisierung, Intervention, Prävention. https://violen- ce-prevention-network.de/wp-content/uploads/2018/07/Violence-Pre- vention-Network-Deradikalisierung_Intervention_Prvention.pdf. \ WORKING PAPER 1 \ 2021 9\
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Daher schreibt diese Studie „Rückkehrerinnen und sprach das Projektteam mit 14 Personen, mit drei von Rückkehrer“ immer dann aus, wenn Angehörige ihnen mehrfach. Die Interviewten arbeiten in vier beider Geschlechter gemeint sind. Wenn nur eine der verschiedenen Bundesländern. Bei den Gesprächen beiden Formen- also „Rückkehrerin“ oder „Rückkehrer“- handelte es sich um leitfadengestützte Experten- ausgeschrieben ist, sind nur Angehörige des jeweiligen interviews. Aufgrund der Infektionslage im Zuge der Geschlechts gemeint. Aussagen der Interviewten, die COVID-19 Pandemie in Deutschland konnte das Team sich nicht durch Literaturangaben verifizieren ließen, nur einen Teil der Interviews persönlich führen. Für stehen im Konjunktiv bzw. in indirekter Rede. die restlichen Gespräche wurden Telefon- und Video- Anführungszeichen kennzeichnen wörtliche Zitate konferenzen genutzt. Das Projektteam wertete die der Interviewten. Daten unter Zuhilfenahme einer Codierungssoftware aus. Des Weiteren flossen Ergebnisse einer früheren Methodologie der Studie Erhebung im Projekt, die die Bedarfe von Praxisperso- nal der primären und sekundären Radikalisierungsprä- Dieses BICC Working Paper basiert auf Inter- vention in Nordrhein- Westfalen (NRW) untersuchte, views mit Fachleuten aus vier zivilgesellschaftlichen die teilweise ebenfalls mit Rückkehrerinnen und Beratungsstellen, zwei staatlichen Aussteigerpro- Rückkehrern arbeiten (Döring et al. 2020), sowie eine grammen und einem Netzwerk von Beratungsstellen, umfangreiche thematische Literaturauswertung in sowie mit drei Rückkehrkoordinierenden. Insgesamt die Studie ein. Kasten 1 Daten- und Quellenschutz im Projekt „Radikalisierungsprävention in NRW – Wie können die Kapazitäten von Interme- diären gestärkt werden?“ Dieses Working Paper beruht auf qualitativen Interviewdaten mit Praktizierenden der Präventionsarbeit. Da es sich hierbei um ein sehr sensibles Arbeitsfeld handelt, verständigte sich das Projektteam auf strenge Regeln zum Umgang mit Forschungsdaten. So werden sämtliche im Projekt gesammelten Interviewdaten verschriftlicht, durch die Entfernung von Namens- und Ortsangaben anonymisiert, codiert und an einem Ort aufbe- wahrt, zu welchem nur Projektmitarbeitende Zugriff haben. Weiterhin einigte sich das Projektteam darauf, keinerlei Interviewprotokolle an Dritte weiterzugeben, auch nicht in anonymisierter Form. Aus diesen Gründen werden auch keine Interviews im Fließtext referenziert. Diese Grundsätze hielt das Projektteam in einem Datenschutzkonzept fest. Dieses Vorgehen steht in einem gewissen Widerspruch zu den DFG-Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis, welche fordern, die einem For- schungsergebnis zugrundeliegenden Forschungsdaten öffentlich zugänglich zu machen (DFG, 2019, S. 18-19). Gleichzeitig erlauben die Leitlinien ausdrücklich einen gewissen Ermessungsspielraum in Abhängigkeit von der im jeweiligen Fachgebiet gängigen Praxis. Im Bereich der Radikalisie- rungs- und Präventionsforschung ist es nicht üblich, Forschungsdaten zu veröffentlichen, da sich bei einer Veröffentlichung negative Folgen für die Interviewpartnerinnen und -partner selbst bei Anonymisierung nie komplett ausschließen lassen (vgl. Eppert et al., 2020, S. 11-13). Eine vollständi- ge Anonymisierung würde zudem aufgrund der geringen Anzahl an Beratungsstellen und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Falle dieses Projekts die Entfernung so viel relevanter Informationen verlangen, dass eine Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse nicht mehr gegeben wäre (vgl. Krystalli, 2018, S. 4-5). Aus diesem Grund nutzt das Projektteam den von den DFG-Richtlinien zugestandenen Ermessensspielraum. Da- bei beruft es sich auf die „Handreichung Datenschutz“ des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten, welche empfiehlt, Daten nicht zu veröffentlichen, wenn sie Rückschluss auf die interviewte Person ermöglichen (RatSWD, 2020, S. 30-31). Literatur DFG (2019). Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Bonn: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Eppert, K., Frischlich, L., Bögelein, N., Jukschat, N., Reddig, M.;,Schmidt-Kleinert, A. (2020). Navigating A Rugged Coastline. Ethics in Empirical (De-)Radicalization Research (CoRE NRW Forschungspapier 1). Bonn: CoRE NRW. Krystalli, R. (2018). Negotiating Data Management With the National Science Foundation: Transparency and Ethics in Research Relationships. RatSWD (2020). Handreichung Datenschutz. 2. vollständig überarbeitete Auflage. RatSWD Output 8 (6). Berlin: Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD). 10 \ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Wer ist ausgereist, wer kommt zurück, was passiert nach der Rückkehr? Ausreisen Deutscher in den Moscheegemeinden, Vereinen oder Predigern den Aus- „Islamischen Staat“ schlag zur Radikalisierung und zur Ausreise. Weitere wichtige Faktoren waren Islamseminare, In den vergangenen acht Jahren reisten etwa Koranverteilungen und das eigene familiäre Umfeld. 1.070 Personen aus Deutschland nach Syrien und in Weiterhin geschahen diese Prozesse relativ schnell: den Irak, um sich dort dschihadistischen Organisati- Die meisten Befragten gaben an, sich zwischen dem onen anzuschließen. Höhepunkt dieser Ausreisewelle Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2012 und der Aus- waren die Jahre 2013 und 2014, als jeweils mehr als rufung des Kalifats durch den IS im Juni 2014 radikali- 400 Menschen Deutschland verließen. In jedem der siert zu haben. Minderjährige radikalisierten sich folgenden drei Jahre halbierte sich diese Zahl (BKA, sogar wesentlich schneller (BKA, 2016). 2016; Deutscher Bundestag, 2019a, S. 2). Inzwischen Insbesondere ausgereiste Männer hatten, so ein sind die Ausreisebewegungen fast gänzlich zum Berater, häufig eine „Karriere des Scheiterns“ hinter Erliegen gekommen. So reisten dem Bundeskriminal- sich (vgl. Döring et al., 2020, S. 27). Sie seien ihren amt zufolge im letzten Quartal 2019 und im ersten eigenen Ansprüchen und denen ihres Umfelds nie Quartal 2020 insgesamt nur noch sechs Personen aus gerecht geworden und hätten in der extremistisch- (Deutscher Bundestag, 2020). salafistischen Szene eine Möglichkeit gesehen, Aner- Fast alle Ausgereisten waren Jugendliche oder kennung und Respekt zu finden. Die Zahlen des BKA junge Erwachsene. Zum Stichtag am 30.06.2016 waren unterstützen diese Annahme: Von knapp 800 Ausge- mehr als 75 Prozent der zu diesem Zeitpunkt etwa 800 reisten im Jahr 2016 waren 166 vorher arbeitslos ausgereisten Deutschen zwischen 18 und 29 Jahre alt, gewesen. 32 Prozent derjenigen, die vor ihrer Ausreise sieben Prozent waren minderjährig. Zusätzlich kamen eine Ausbildung begonnen hatten, hatten diese abge- im IS-Gebiet schätzungsweise 200 Kinder deutscher brochen. Unter denjenigen, die ein Studium begonnen Mütter zur Welt. Etwa 90 Prozent aller Ausgereisten hatten, lag die Quote der Abbrecher bei 28 Prozent. hatten eine familiäre Migrationsgeschichte, 61 Pro- Zwei Drittel der Ausgereisten waren kriminell in zent besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft. Etwa Erscheinung getreten, meist mit Betäubungsmittel- die Hälfte derer, die einen deutschen Pass besaßen, oder Diebstahlsdelikten und Körperverletzungen (BKA, hatte mehrere Staatsangehörigkeiten. Die meisten 2016, S. 16-21). stammten aus muslimischen Familien, allerdings Männer mit solchen gebrochenen Biographien reisten auch mindestens 134 Konvertierte aus (BKA, verbanden das Leben beim IS mit Vorstellungen 2016). Männer machten 75 Prozent aller Ausreisen aus. von Ehrhaftigkeit, der Hoffnung, eine muslimische Bei der Herkunft der Ausreisenden zeigen sich Partnerin zu finden und ein respektables Leben als deutliche räumliche Schwerpunkte. Ein Viertel kam Kämpfer und Versorger einer Familie führen zu aus NRW. Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bre- können (CTED, 2019, S. 12-13; Zick et al., 2018, S. 75-80). men sowie die Bundesländer Niedersachsen, Hessen Weiterhin berichten Fachkräfte, dass Diskriminierungs- und Bayern stellten zusammen zwei Drittel aller und Rassismuserfahrungen, insbesondere im Bildungs- übrigen Fälle. Aus den neuen Bundesländern wurden system und durch die Polizei, einen wichtigen Faktor nur drei Fälle bekannt. Ausreisen waren zudem ein in den Radikalisierungsbiographien der meisten urbanes Phänomen. Fast die Hälfte der deutschen Ausgereisten darstellten (vgl. Gerland, 2021, S. 3-6). Die Dschihadistinnen und Dschihadisten kam aus nur Propaganda des IS und anderer extremistisch-salafisti- 13 Großstädten. Dies legt einen bedeutenden Einfluss scher Gruppen instrumentalisiert derartige Erfahrun- lokaler Netzwerke auf einzelne Radikalisierungs- gen und Hoffnungen sehr geschickt. Sie stellt sie als verläufe nahe. Eine Studie des Bundeskriminalamts Folge eines Krieges des Westens gegen den Islam dar. (BKA) stützt diese Vermutung: Bei über der Hälfte Es sei folglich die Pflicht der „wahren Muslime“, dage- aller deutschen Ausgereisten, zu denen Daten vorla- gen Widerstand zu leisten (vgl. Abou-Taam, 2015, S. 6-7; gen, gaben Kontakte zu salafistischen Gustafsson & Ranstorp, 2017, S. 75-81). \ WORKING PAPER 1 \ 2021 11 \
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Die Ausreisebewegung nach Syrien und in den Personen liegen Informationen vor, dass sie in Gefan- Irak unterscheidet sich durch ihren vergleichsweise genenlagern in Nordsyrien einsitzen, darunter vor al- hohen Frauenanteil von etwa 25 Prozent von anderen lem Frauen und Kinder, die die kurdischen Kräfte bei Ausreisebewegungen in Kriegsgebiete jüngerer Zeit, der Erstürmung von Rakka gefangen nahmen (Deut- etwa in das ehemalige Jugoslawien, den Kaukasus scher Bundestag, 2019a, S. 3-4; Bundesregierung, 2021). oder nach Afghanistan (Malet, 2018, S. 17). Dies über- Fachkräfte unterscheiden drei größere Rückkehr- rascht, beinhaltet die Ideologie des IS doch einen bewegungen. Eine signifikante Personenzahl kehrte extremen Anti-Feminismus. Für manche Frauen schien bereits 2013/14 nach kurzem Aufenthalt im Kriegsge- das Leben beim IS dennoch verlockend, da sie hier biet zurück nach Deutschland. Viele dieser Menschen eine Gelegenheit sahen, einem repressiven Familien- waren ausgereist, um humanitäre Hilfe zu leisten umfeld zu entkommen und in einer utopisch-idealen und „Brüdern und Schwestern in Not“ beizustehen. islamischen Gesellschaft zu leben, in welcher die Sie schlossen sich oftmals nicht dem IS, sondern an- Lebensführung beider Geschlechter zwar streng, aber deren dschihadistischen und salafistischen Gruppen gerecht reglementiert ist. Dies stand im Gegensatz zu an. Was sie in Syrien vorfanden, entsprach jedoch ihren Herkunftsfamilien, welche sie gegenüber nicht ihren Erwartungen. Sie nutzen die zum damali- männlichen Verwandten benachteiligten, aber auch gen Zeitpunkt noch wenig kontrollierten Grenzen zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, von der sie sich zwischen Syrien und der Türkei zur Flucht (Handle et als muslimische Frauen diskriminiert und ausge- al., 2019, S. 5; Dantschke et al., 2018, S. 10). Fachkräfte schlossen fühlten (vgl. Döring et al., 2020, S. 21-24; berichten, dass die meisten Angehörigen dieser Baer & Weilnböck, 2017). Die Propaganda des IS sugge- ersten Kohorte nach diesem „Realitätsschock“ der rierte diesen Frauen, dass die westlichen Gesellschaften dschihadistischen Ideologie abgeschworen hätten, sie aufgrund ihrer Religion nicht akzeptieren würden, oder zumindest deutliche Zweifel an ihr entwickelten. während sie im „Islamischen Staat“ Achtung und Diesen Prozess bezeichnet die Forschung als sponta- Respekt als Ehefrauen und als Mütter einer zukünftigen ne oder nicht-assistierte Deradikalisierung (Speck- islamischen Generation erführen (CTED, 2019, S. 14-15; hard & Ellenberg, 2020, S. 117-118). Entsprechend ist OSCE, 2020, S. 98-100). Andere sahen in der Ausreise die Ausstiegsarbeit mit dieser Personengruppe relativ eine Möglichkeit, einen Schlussstrich unter destruk- problemlos verlaufen, viele gelten mittlerweile als tive Beziehungen oder ein unbefriedigendes Leben in gut in Deutschland reintegriert (Abgeordnetenhaus Deutschland zu ziehen und einen Neustart in einer von Berlin, 2020, S. 11; Berg et al., 2019, S. 5). „reinen“ Gesellschaft zu versuchen (Toprak et al., 2018, Die zweite Rückkehrbewegung verlief parallel zur S. 9-10). großen Migrationsbewegung der Jahre 2015 und 2016. Die Mitglieder dieser Gruppe hatten verschiedene Rückkehr Deutscher aus dem individuelle Motive für ihre Flucht. Desillusionierung und der zunehmend unerträgliche Alltag im IS-Gebiet „Islamischen Staat“ standen nach wie vor an erster Stelle, hinzukam bei Die deutschen Behörden gehen davon aus, dass vielen Druck zur Rückkehr durch die Familie oder etwa ein Viertel aller aus Deutschland zum IS ausge- das soziale Umfeld. Andere waren schlicht enttäuscht reisten Personen ums Leben gekommen ist. Der Ver- vom nachlassenden Kriegsglück des IS. Für sie han- bleib von bis zu 100 Männern, über 200 Frauen und delte es sich eher um einen strategischen Rückzug. rund 60 Kindern ist ungeklärt (Berg et al., 2019, S. 16). Sie waren nicht zwangsläufig auch desillusioniert. Etwa ein Drittel ist inzwischen wieder zurückgekehrt Da die türkischen Behörden ihre Grenzen zu diesem (Toprak et al., 2018, S. 3). Darunter befinden sich nach Zeitpunkt bereits stärker überwachten und die Auskunft der Bundesregierung (2021) mindestens 148 bekannten Reisewege nach Syrien abgeriegelt waren, Personen, denen die Ermittlungsbehörden eine IS- nutzten viele dieser Rückkehrerinnen und Rückkehrer Mitgliedschaft nachweisen konnten. Zu etwa 100 Migrationsnetzwerke (Berg et al., 2019, S. 5). Ein 12 \ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Bericht der OSCE zeigt, dass der IS auf diesem Wege Rückkehrerinnen und Rückkehrer in Empfang. Falls auch diejenigen Attentäter und Koordinationsfiguren Kinder dabei sind, unternimmt der Notdienst des nach Europa einschleuste, die später Anschläge in jeweiligen Jugendamtes zudem einen Erstcheck (BMI, Paris, Brüssel und London begingen (OSCE/ODIHR, 2019; Gropp, 2019). Wenn keine Haftgründe vorliegen, 2018, S. 12). kann die Person in ihren Niederlassungsort weiter- Die dritte und bisher letzte Rückkehrbewegung reisen, ansonsten nehmen die Behörden sie direkt setzte nach der militärischen Niederlage des IS und nach der Einreise in Untersuchungshaft. dem Zerfall seines selbsternannten Kalifats ab Ende Genaue Zahlen, wie viele Rückkehrerinnen und 2017 ein. In dieser Gruppe befinden sich überdurch- Rückkehrer aus dem IS- Gebiet in Deutschland insge- schnittlich viele Frauen und Kinder, die teilweise aus samt inhaftiert wurden, existieren nicht. Der Bundes- ideologischen Motiven, teilweise aufgrund von regierung zufolge liegen Haftbefehle gegen 22 derzeit Zwangslagen nicht heimkehren konnten oder wollten. in Syrien und im Irak gefangene deutsche Staatsan- Einige versuchten, sich im Chaos des Bürgerkrieges gehörige vor, gegen 38 führt der Generalbundesanwalt auf eigene Faust in Richtung türkischer Grenze Ermittlungen (Deutscher Bundestag, 2019b, S. 2-4). durchzuschlagen. Andere wurden von der türkischen Derzeit laufen gegen 134 Rückgekehrte Strafverfahren, Polizei oder von kurdischen Einheiten festgenommen 42 befinden sich in Haft, 110 Rückkehrerinnen und und abgeschoben bzw. von deutschen Behörden Rückkehrern konnten die Behörden eine Beteiligung repatriiert (Berg et al., 2019, S. 5). Ein Berater eines an Kampfhandlungen nachweisen (Berg et al., 2019, Aussteigerprogramms ordnet die Rücklehrerinnen S. 3; Deutscher Bundestag, 2021). Die Sicherheitsbe- und Rückkehrern dieser letzten Kohorte in Abhän- hörden stufen etwa die Hälfte aller Rückkehrerinnen gigkeit ihres jeweiligen Radikalisierungsgrades drei und Rückkehrer als Gefährder oder relevante Personen Typen zu: 1) die weiterhin Ideologisierten, die die ein. Diese Personen verbleiben unter Beobachtung Niederlage des IS als Rückschritt auf dem Weg zum (Deutscher Bundestag, 2019b, S. 10). Zwar eröffnen die nächsten Kalifat empfinden; 2) die Distanzierten, die zuständigen Strafverfolgungsbehörden gegen jede vielleicht nie ideologisch gefestigt waren und aus Person, die aus Deutschland mit dem Ziel ausreiste, Zwang im Kriegsgebiet verharrten; sowie 3) die eine terroristische Organisation zu unterstützen, ein Desillusionierten, die von ihren Erfahrungen irritiert Ermittlungsverfahren. Eine Verurteilung für im Aus- und ernüchtert sind. land begangene Straftaten scheitert jedoch häufig an Um zurückzukehren, müssen Rückkehrerinnen der schwierigen Beweislage und fehlenden Zeugen. und Rückkehrer die türkische Grenze überqueren Dies trifft insbesondere auf Frauen zu. Diese beteilig- und das deutsche Konsulat in Gaziantep in der Süd- ten sich zwar an Gräueltaten des IS, begingen diese türkei kontaktieren. Im Falle einer Rückführung aus allerdings meist im Haushalt, etwa an versklavten humanitären Gründen bringen kurdische Sicherheits- Jesidinnen. Hierfür gibt es in der Regel keine Zeugen- kräfte eine Indexperson an die Grenze und übergeben schaft. In Propagandaaufnahmen des IS tauchen sie dort den deutschen Behörden. Das Konsulat infor- Frauen nur in Vollverschleierung auf, was einen miert in beiden Fällen das Auswärtige Amt sowie das Nachweis ihrer Beteiligung an Verbrechen zusätzlich Gemeinsame Terror-Abwehrzentrum (GTAZ) des Bun- erschwert (Cook & Vale, 2019, S. 7-8). Eine Gesetzesän- deskriminalsamtes (BKA) und der Bundespolizei. derung aus dem Jahr 2015, die allein die Ausreise mit Angehörige dieser Behörden reisen dann in die Türkei, der Absicht, eine terroristische Organisation zu un- um die Indexperson zu befragen und zu prüfen, ob terstützen, unter Strafe stellt, kann auf die meisten Haftgründe vorliegen. Wenn dies geklärt ist und das IS-Rückkehrerinnen und Rückkehrer nicht ange- Konsulat Passersatzpapiere ausgestellt hat, erfolgt der wandt werden, da sie Deutschland vor 2015 verließen Rückflug in Begleitung von Beamten der Bundespolizei. (Moldenhauer, 2018). Damit liegen die Hürden für Am Ankunftsort, zumeist der Flughafen Frankfurt am eine Verurteilung zurückgekehrter Dschihadistinnen Main, nehmen Angehörige der Bundespolizei, des und Dschihadisten in Deutschland im europäischen BKA und des jeweiligen Landeskriminalamtes die Vergleich relativ hoch (Heinke & Raudszus, 2018, S. 50). \ WORKING PAPER 1 \ 2021 13 \
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Die deutsche Justiz verurteilt Rückkehrerinnen und förderungen, in der Regel aus Mitteln des Bundespro- Rückkehrer häufig für Straftaten, welche sie vor ihrer gramms Demokratie Leben. Sie sind im Rahmen der Ausreise begangen hatten (Heinke & Raudszus, 2018, Beratungsstelle Radikalisierung des BAMF vernetzt. S. 49-50; Gutheil et al., 2017, S. 85-95). Ihre Vertreterinnen und Vertreter treffen sich dort Die Bundesregierung reagierte auf die zuneh- regelmäßig, um sich über ihre Arbeit auszutauschen mende Zahl an Rückkehrfällen ab 2018 mit der Ein- und gemeinsame Standards für die Beratung zu ent- richtung von Fachkraftstellen zur Unterstützung wickeln (Uhlmann, 2017, S. 31-34). Die Beratungsstelle derjenigen Bundesländer, welche eine größere Zahl erhält regelmäßig Berichte über den Verlauf der Arbeit an Wiedereinreisen verzeichneten. Seit Anfang 2019 mit Rückkehrfällen von ihren lokalen Partnerorgani- gibt es in Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein- sationen. Angehörige von Rückkehrerinnen und Westfalen, Hessen und Bayern sogenannte Rückkehr- Rückkehrern können sich zudem an die Hotline koordinierende (Gropp, 2019). Im Jahr 2020 kam eine dieser Beratungsstelle wenden, welche sie an lokale weitere Stelle in Bremen dazu.3 Das Bundesamt für Partner weitervermittelt, welche die individuelle Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanziert diese Ausstiegsbegleitung übernehmen. Stellen. Angesiedelt sind sie entweder bei den jeweili- Fachkräfte setzen bei der Ausstiegsarbeit mit gen Innenministerien bzw. -Senaten, oder beim Rückkehrerinnen und Rückkehrern auf der emotional- jeweiligen Landeskriminalamt (LKA). Ihre Aufgabe affektiven, der pragmatischen und der kognitiv- besteht darin, Informationen über anstehende Rück- ideologischen Ebene an. Auf der affektiven Ebene ver- kehrfälle zu bündeln und an die zuständigen Stellen, suchen sie, die emotionale Bindung der Klientin oder etwa Sozial- und Jugendämter, Jobcenter oder Schul- des Klienten zu einer extremistisch-salafistischen behörden, weiterzuleiten und Ausstiegsmaßnahmen Gruppe aufzulösen und Beziehungen zu Personen einzuleiten. Hierfür können sie in von einem Rück- außerhalb einer solchen zu stärken. Dabei helfen kehrfall betroffenen Kommunen Runde Tische einbe- positive Beziehungserlebnisse mit und ein empathi- rufen, an welchen alle in den Fall involvierten kom- sches Auftreten der Fachkraft. Weiterhin adressieren munalen Akteure teilnehmen. Die jeweiligen Landes- sie aktuelle pragmatische Bedarfe ihrer Klienten- kriminalämter berufen zusätzlich Fallkonferenzen schaft und solche, die sie in der Vergangenheit nicht für jeden einzelnen Rückkehrfall ein. Damit gibt es erfüllen konnte. Die kognitive Dimension umfasst seit 2018 ein bundeseinheitliches Konzept zum Um- die Aufarbeitung der Biographie sowie der ideologi- gang mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus schen und religiösen Versatzstücke, mit denen radi- dschihadistischen Gruppen. kalisierte Personen ihre Handlungen begründen und In allen genannten Bundesländern arbeiten zivil- rechtfertigen. Hier nutzen Fachkräfte auch Mittel der gesellschaftliche Beratungsstellen mit Rückkehrerin- politischen Bildung und der Religionspädagogik (vgl. nen und Rückkehrern. Nordrhein-Westfalen und BAMF, 2018, S. 18-19; el Mafaalani et al., 2016, S. 17; Niedersachsen unterhalten zudem staatliche Ausstei- Pisoiu & Köhler, 2013, S. 242-244). Es kann mehrere Jahre gerprogramme (Uhlmann 2017: 24-25). Baden-Württem- dauern, bis Klientinnen und Klienten Bereitschaft berg hat als einziges Bundesland, das eine nennens zur Auseinandersetzung mit ideologischen Einstel- werte Zahl von Ausreise- und Rückkehrfällen ver lungsmustern zeigen. Fachkräfte versuchen daher, zeichnete, weder Rückkehrkoordinierende, noch ein sich über die Adressierung affektiver und pragmati- zivilgesellschaftliches Angebot. Hier übernimmt ein scher Bedarfe zur kognitiv-ideologischen Ebene vor- staatlicher Träger sämtliche Maßnahmen. Alle zuarbeiten. Sie gewichten diese Dimensionen indivi- zivilgesellschaftlichen Programme erhalten Projekt duell unterschiedlich, in Abhängigkeit von ihrer Bedeutung für den Radikalisierungsprozess und die aktuelle Bedarfslage ihrer Klientenschaft. 3 \ Diese ist angesiedelt beim Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention im Land Bremen. KODEX (n.d.). Rück- kehrkoordination.\ https://www.kodex.bremen.de/projekte/rueck- kehrkoordination-12117 14 \ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Psychischer und sozialer Zustand der Zudem zeigten in Untersuchungen aus den Nie- Rückkehrerinnen und Rückkehrer derlanden bis zu 60 Prozent aller IS-Rückkehrerinnen und Rückkehrer psychische Auffälligkeiten, die nicht Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) ausschließlich auf den Aufenthalt im Kriegsgebiet und andere psychische Gesundheitsprobleme er- zurückzuführen waren (Paulussen et al., 2017, S. 7). Bis schweren die Wiedereingliederung der Rückkehre- zu 80 Prozent der Frauen, die aus den Niederlanden rinnen und Rückkehrer. Genaue Zahlen zu deren Ver- ausgereist waren, hatten vorher häusliche oder sexu- breitung liegen nicht vor. Umfragen in den Gefange- alisierte Gewalt erlebt (Paulussen et al. ,2017, S. 8-9). nenlagern im Norden Syriens zeigen jedoch, dass 28 Prozent der niederländischen Dhschihadistinnen eine große Zahl der Menschen, die im IS Gebiet gelebt und Dschihadisten zeigten schwere Persönlichkeits- hatten, potentiell traumatisierende Erfahrungen störungen oder Suchtproblematiken (Weenink, 2019, gemacht hat. So gaben fast 50 Prozent der befragten S. 136). Bei Letzteren handelte es sich häufig um Füh- Männer an, Bombardierungen und Beschuss erlebt zu rungspersönlichkeiten der dschihadistischen Szene. haben, 34 Prozent waren bereits vor ihrer Festnahme Für den deutschen Kontext liegen solche Zahlen durch die syrisch-demokratischen Kräfte in IS-Ge- nicht vor, aufgrund der ähnlichen Profile der aus fangenschaft gewesen, wo etwa ein Drittel von ihnen Deutschland Ausgereisten sind die niederländischen gefoltert wurde. Unter den Frauen gaben 65 Prozent Daten aber vermutlich übertragbar. Diese Zahlen ver- an, Bombardierungen erlebt zu haben, mehr als 40 deutlichen die Notwendigkeit therapeutischer Unter- Prozent hatten ihren Ehemann oder Angehörige stützung, um sowohl der Fremd- als auch der Eigen- durch Kriegshandlungen verloren. 21 Prozent wurden gefährdung vorzubeugen, die potenziell von dieser zwangsverheiratet (Speckhard & Ellenberg, 2020, Personengruppe ausgeht. Weiterhin verdeutlichen sie, S. 111-116). Alle Ausgereisten, auch diejenigen, die vor dass Ausstiegsmaßnahmen den Ausreisezeitpunkt, die der Eskalation der Kampfhandlungen oder nur für Verweildauer im Kampfgebiet sowie die individuelle einen kurzen Zeitraum im IS-Gebiet waren, sahen Motivationslage der Rückkehrenden aber auch die extreme Gewalttaten und erlebten eine Atmosphäre Faktoren Alter, Geschlecht und psychischer Gesund- intensiver Anspannung (CTED, 2018, S. 5-7; de Bont et heitszustand berücksichtigen müssen. Beratungsstel- al., 2017, S. 8). Fachkräfte berichten entsprechend, len stimmen daher ihre Maßnahmen auf jeden Fall dass viele Rückkehrerinnen und Rückkehrer als individuell ab. Im Folgenden erläutert diese Studie Folge ihrer Erfahrungen im Kriegsgebiet Symptome die Herausforderungen, welche sich dabei in der Fall- von PTBS aufwiesen. Darunter fallen etwa Schlaf- arbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern und Essstörungen, Nervosität, Aggression, Angst, ergeben. intensive Scham- und Trauergefühle sowie manifeste Verhaltensauffälligkeiten, etwa vernachlässigte Körperhygiene oder Suchtproblematiken. Einige Betroffene ziehen sich aus Angst vor einer Retrauma- tisierung zurück und vereinsamen (Briggs Obe & Silverman, 2014, S. 38-39; RAN Centre of Excellence, 2017, S. 81-83). \ WORKING PAPER 1 \ 2021 15 \
IST EIN BISSCHEN DERADIKALISIERUNG BESSER ALS KEINE? \ TIM RÖING Kontaktaufbau zu Rückkehrerinnen und Rückkehrern in Freiheit Die Kontaktaufnahme zu Indexpersonen in Frei- Programme haben aber eine Art „Erstzugriffsrecht“, heit ist für Beratungsorganisationen und Aussteiger- da die Sicherheitsbehörden sie meist über Rückkehr- programme eine Herausforderung. Zwar prüfen vor fälle in Kenntnis setzen. Außerdem bevorzugen viele einer Rückkehr die im Rahmen der Fallkonferenzen Indexpersonen die Arbeit mit einem staatlichen Pro- der Landeskriminalämter zusammengetretenen Ak- gramm, da sie sich davon Vorteile, etwa Hafterleich- teure eine Teilnahme an einem Aussteigerprogramm. terungen oder Fürsprache in Gerichtsverfahren, aber Da die Teilnahme freiwillig ist, solange sie nicht als auch eine effizientere Unterstützung in Alltagsdingen, Teil von Bewährungsauflagen verordnet wurde, müs- versprechen. Fachleute staatlicher Programme weisen sen Fachkräfte Indexpersonen nach der Kontaktauf- Indexpersonen allerdings darauf hin, dass sie keine nahme jedoch von einer Teilnahme überzeugen. Vorteile gewähren können. Wer sich für die Teilnahme Dafür ergeben sich im Verlauf des Rückkehrprozesses an einem staatlichen Ausstiegsprogramm entscheidet, unterschiedliche Ansatzpunkte, von der Ankunft einer bekommt innerhalb von 24 Stunden nach dem Kon- Person am Flughafen, über ihre Rückkehr in den taktaufbau einen Termin für ein Erstgespräch. An alten Sozial- und Lebensraum, bis zum Wiedersehen dieses erste Kennenlernen schließt eine Sondierungs- mit der Familie. Dieses Kapitel analysiert die in die- phase an, bevor die eigentliche Ausstiegs- und Reinte- sem Prozess auftretenden Herausforderungen und grationsarbeit beginnt. Da die Teilnahme an einem beschreibt, wie Fachkräfte ihnen begegnen. Besondere Ausstiegsprogramm immer freiwillig ist, können Berücksichtigung finden dabei die unterschiedlichen Rückkehrerinnen und Rückkehrer die Zusammenar- Herangehensweisen staatlicher und zivilgesellschaft- beit auch ablehnen. In diesem Fall behalten die auf licher Programme. der Fallkonferenz zusammengetretenen Institutionen die Indexperson im Blick und tauschen Informatio- Vorgehen staatlicher Aussteiger- nen über sie aus. Das Angebot zur Teilnahme am programme: direkte Ansprache Programm besteht weiterhin. Wenn das Verhalten der Indexperson irgendwann auf eine kognitive Öff- Für staatliche Ausstiegsprogramme ist die Kon- nung gegenüber dem Ausstiegsprogramm hindeutet, taktaufnahme zu Rückkehrerinnen und Rückkehrern sprechen die Beraterinnen und Berater sie erneut an. in Freiheit leichter als für zivilgesellschaftliche. Da Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn jemand sie beim jeweiligen Landesverfassungsschutz oder gegenüber seiner Familie oder gegenüber einer Fach- den Landeskriminalämtern angesiedelt sind, wissen kraft der Sozialen Arbeit Reue über seine Ausreise ihre Fachleute über anstehende Rückkehrfälle in der bekundet (RAN Centre of Excellence, 2017, S. 54). Fami- Regel im Voraus Bescheid. Meist befragen die Sicher- lienmitglieder können sich in solchen Fällen auch heitsbehörden Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus direkt an staatliche Beratungsstellen wenden (BMI, dschihadistischen Kampfgebieten direkt am Flugha- 2019, S. 11-12). fen, ob sie Kontakt zu einem staatlichen Ausstiegs- programm aufnehmen möchten. Solche proaktiven Vorgehen zivilgesellschaftlicher Ansprachen seien, so ein Mitarbeiter eines solchen Beratungsstellen: aufsuchend oder Programms, politisch gewollt (BMI, 2019, S. 12). Alle abwartend? Rückkehrerinnen und Rückkehrer sollten ein Ange- bot zur Deradikalisierung und Reintegration bekom- In Bundesländern, in denen es kein staatliches men, damit niemand ohne professionelle Begleitung Aussteigerprogramm für Islamismus gibt, übernehmen in die deutsche Gesellschaft zurückkehrt. Sie dürfen zivilgesellschaftliche Beratungsstellen die Erst- dann zwischen einem staatlichen oder einem zivil- ansprache nach der Einreise. Das weitere Vorgehen gesellschaftlichen Angebot, wenn im jeweiligen ist deckungsgleich mit dem vorher beschriebenen. In Bundesland vorhanden, auswählen. Staatliche Bundesländern, in denen ein staatliches Programm 16 \ \ WORKING PAPER 1 \ 2021
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