ZOOLOGIE 2020 Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft - AG Biologiedidaktik Jena
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00_Umschlag_Zoologie_2020_Umschlag_Zoologie_2010.qxd 21.07.2020 22:16 Seite 1 ZOOLOGIE 2020 ZOOLOGIE 2020 . Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft Mitteilungen Herausgegeben von Rudolf Alexander Steinbrecht der Deutschen Zoologischen Gesellschaft 112. Jahresversammlung Jena, 10. - 13. September 2019 Biohistoricum im Zoologischen Museum Alexander Koenig · Bonn Basilisken-Presse · Rangsdorf
Umschlagsbild Hunderassen werden häufig mit Menschenrassen verglichen. Es gibt allerdings wesentliche Unterschiede. Beide haben aber gemein, dass sie – wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise – willkürliche Konstrukte des menschlichen Geistes darstellen. Lesen Sie mehr zu diesem Thema in dem Beitrag Jena, Haeckel und die Frage nach den Menschenrassen oder der Rassismus macht Rassen von M. Fischer, U. Hoßfeld, J. Krause und S. Richter in diesem Heft. Fotos private Bildarchive; Montage R.A. Steinbrecht Die Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft erscheinen einmal jährlich. Einzelhefte sind bei der Geschäftsstelle (Corneliusstr. 12, 80469 München), zum Preis von 10,00 € erhältlich. Gestaltung: Klaus Finze ProSatz&Gestaltung Adam-Brüderle-Straße 33 86633 Neuburg an der Donau Druck: FORSTNER Nunzenrieder Straße 9 92526 Oberviechtach Copyright 2020 by Basilisken-Presse im Verlag Natur & Text in Brandenburg GmbH . Rangsdorf Printed in Bundesrepublik Deutschland ISSN 1617-1977
Jena, Haeckel und die Frage nach den Menschen- rassen oder der Rassismus macht Rassen Martin S. Fischer, Uwe Hoßfeld, Johannes Krause und Stefan Richter Einleitung in der besonderen Verantwortung, Ideo- Die 112. Jahrestagung der Deutschen logien und ihre Begriffe oder auch au- Zoologischen Gesellschaft, die vom 10. genscheinliche Sachverhalte aufgrund bis 13. September 2019 in Jena stattfand, unserer Fachkunde zu kritisieren und wurde traditionell mit der Begrüßung gegebenenfalls zu dekonstruieren. durch den Präsidenten, Prof. Dr. Jacob Rassismus ist von Angst getrieben, Engelmann, und einem öffentlichen Vor- Ängste sind hier irrational, man kann ih- trag eröffnet. Anders als sonst hatten sich nen rational im Moment der Angst nur die Veranstalter entschlossen, nicht die schwer entgegentreten. Man muss ihnen Geschichte der Zoologie am Tagungsort zuvorkommen. Rassismus braucht eine vorzustellen, sondern als Thema „Jena, Legitimation, deshalb sucht er sich Erklä- Haeckel und die Frage nach den Men- rungen und besonders gern biologische schenrassen oder der Rassismus macht Erklärungen, weil sie naturgegeben er- Rassen“ gewählt. Die Veranstaltung fand scheinen sollen, und genau dort setzt die kurz nach dem 100. Todestag von Ernst „Jenaer Erklärung“ an. Haeckel statt, weshalb es hier einen be- Claude Lévi-Strauss hat Rassismus de- sonderen Bezug gab. Im Anschluss an finiert als „eine Lehre, die behauptet, in den von den Autoren dieses Aufsatzes den geistigen und moralischen Eigen- gemeinsam gehaltenen Vortrag wurde schaften, die einer wie immer definierten die „Jenaer Erklärung“ bekannt gege- Gruppe von Individuen zugeschrieben ben (https://www.uni-jena.de/190910_Je- werden, die unausweichliche Wirkung ei- naerErklaerung)1. Der Vorstand der nes gemeinsamen genetischen Erbes zu Deutschen Zoologischen Gesellschaft erkennen“ (Rede vor der UNESCO 1971, und der Präsident der Friedrich-Schiller- s.a. Lévi-Strauss, 1972). Universität, Prof. Dr. Walter Rosenthal, Rassismus schafft Rassen unterstützten die Autoren in dem Bestre- ben, mit dieser Erklärung gegen schein- „Hier sieht es aus oder geht es zu wie bar wissenschaftliche Rechtfertigungen bei den Hottentotten“ ist ein in Deutsch- für Rassismus vorzugehen. Im Folgen- land geläufiger Satz im Alltagsgebrauch, den werden wir die wissenschaftlichen um Unordnung zu kritisieren. Klingt „ot- Hintergründe der „Jenaer Erklärung“ ten-otten“ nicht schon wie eine Busch- darlegen. Als Wissenschaftler stehen wir trommel und suggeriert uns dieser Satz 1 Die Jenaer Erklärung wurde im Nachgang der Bekanntgabe in der „Biologie in unserer Zeit“ publiziert. Fischer et al. (2019). BiuZ 49: 399-402. ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 7
nicht, dass zumindest Unordnung ein We- Negrito“ zusammen auf der niedrigsten sensmerkmal der Hottentotten sei? Stufe der Menschheit stehen geblieben. Aber es ist viel absurder, denn Hotten- „Das letztere (eben die niedrigste Stufe totten gab es nie, die Bezeichnung war der Menschheit) gilt auch von den schon immer ein diskriminierender Be- nächstverwandten Hottentotten oder griff für ethnisch sehr unterschiedliche Schmiermenschen (Homo hottentottus), Menschen im südlichen Afrika, von denen worunter wir nicht bloss die echten Hot- wir heute wissen, dass ihre genetische tentotten oder Quaiquas, sondern auch Diversität diejenige von Nicht-Afrikanern die viehischen Buschmänner und einige übertrifft. andere nächstverwandte Stämme des Schon Carl von Linné wusste über die südlichen Afrikas begreifen“ (ebd., S. Hottentotten Folgendes zu berichten: 512). Haeckel weiß also nichts über Hot- „Von eben diesem Ursprung stammen tentotten, er gibt auch keine Quellen oder auch die Hottentotten ohnweit dem Vorge- andere Informationen an, aber er be- birge der guten Hoffnung her; jedoch hauptet zu wissen, dass sie mit den Men- sind diese Völker viel gesitteter, welches schen von Papua-Neuguinea nächstver- vielleicht von dem Umgang mit den Hol- wandt sind und dass beide auf der ländern herrühret. Sie sind nicht so niedrigsten Stufe der Menschheit stehen schwarz, als die Neger, ja diejenigen, würden. Und „wir“ begreifen unter Hot- welche unter den Holländern erzogen tentotten nun alle Stämme des südlichen werden, bleiben weiß. Damit sie recht Afrikas. Mit diesem Satz diskreditiert schwarz seyn mögen, beschmieren sie Haeckel sich selbst. ihren Körper mit Fettigkeit und Ruß“ Aus nicht nachvollziehbaren Gründen (Linné 1773, S. 95). hätten „zwei am meisten divergente, eine Ernst Haeckel wusste auch nicht, was wollhaarige Art und eine schlichthaarige Hottentotten sein sollen, er hat streng ge- Art, im Kampf um’s Dasein über die übri- nommen nur das Wort „Hottentotten“ gen (gemeint sind „ausgestorbene Men- klassifiziert. Er fragte sich nicht, ob seine schenarten”) den Sieg davon“ getragen Zuschreibungen überhaupt real existie- und seien zu den „Stammformen der ren, sondern er übernahm Begriffe aus übrigen Menschenarten“ geworden. Und dem holländischen und dann deutschen er fährt fort (ebd., S. 515): „Der wollhaari- kolonialen Sprachgebrauch, also primär ge Zweig breitete sich zunächst südlich rassistische Begriffe, und bildete daraus des Äquators aus, indem er sich theils Rassen und sogar Arten. nach Osten (nach Neuguinea), theils nach In seinem Stammbaum des Menschen- Westen (nach Südafrika) hinüberwandte. geschlechts schreibt Haeckel, dass man ... Der schlichthaarige Zweig dagegen die verschiedenen sogenannten Rassen wandte sich hauptsächlich nach Norden. „mit eben so vielem Rechte als gute Alle heute noch lebenden wollhaarigen Arten oder Species ansehen“ könne Völker (Ulotriches) sind auf einer viel tie- (Haeckel 1868a, S. 512). Die Hottentotten feren Stufe der Ausbildung stehen geblie- seien mit den „Papua-Menschen oder ben, als die meisten schlichthaarigen. Sie 8
alle haben die langköpfige und schief- gie und sogar designierter Gründungsdi- zähnige Schädelform und die dunkle rektor des Phyletischen Museums. Schult- Hautfarbe beibehalten.“ Ernst Haeckels ze reiste im Auftrag von Johann Albrecht erstes Kriterium zur Unterscheidung aller Herzog zu Mecklenburg, Präsident der Menschen ist die Beschaffenheit ihrer Deutschen Kolonialgesellschaft, 1903 nach Kopfhaare – wollhaarige und schlichthaa- Deutsch-Südwestafrika, zunächst um die rige – und ohne nähere Begründung „Fischereiverhältnisse an der südwestafri- schließt er daraus, dass die Wollhaarigen kanischen Küste und am Kap der guten auf einer niedrigen Stufe stehen (Levit & Hoffnung“ im Hinblick auf ihre wirtschaft- Hoßfeld 2020). Die „Urheimat” der ver- lich verwertbaren Potentiale zu untersu- schiedenen Menschenarten deutete sei- chen (diese und die nachfolgenden Anga- ner Meinung nach auf einen versunkenen ben s. Förster & Stöcker 2016). Mit Zu- Kontinent im Indischen Ozean – Lemu- stimmung der Königlich Preußischen Aka- rien genannt – hin (Wogawa 2015). demie der Wissenschaften zu Berlin er- Das Denken von Haeckel ist grund- hielt Schultze von der Alexander von sätzlich von der Idee der Vervollkomm- Humboldt Stiftung für Naturforschung und nung geprägt, die Ausdruck seiner moni- Reisen für das Jahr 1903 eine Summe von stischen Weltanschauung war (Haeckel rund 7000 Mark für systematische und 1866). Wenn er, wie beim Stammbaum geographisch-zoologische Untersuchun- des Menschen, von vornherein festlegt, gen in Deutsch-Südwestafrika. Neben wer am Ende oder besser an der Spitze zoologischen, geographischen und lingui- stehen wird, stellt sich die Frage, woher stischen Aufzeichnungen sammelte er er diese Gewissheit nimmt? Schließt man fortwährend auch anthropologische Daten Selbstliebe oder die Zugehörigkeit eines (wie Körpermessungen) und fotografische Autors zu einer bestimmten Gruppe als Aufnahmen, vor allem von San und Nama. Motiv aus, stößt man auf einen wesent- Wie Schultze selbst berichtete, boten ihm lichen Aspekt der anthropogenetischen die „Kriegsumstände” – gemeint ist der Forschung, ihren Eurozentrismus, dessen Völkermord an den Herero und Nama Kehrseite der vermeintliche Primitivismus 1904 -1908 – mehrfach die Möglichkeit, von „Afrikanern“ ist. sich „die Opfer des Krieges zunutze [zu] In der Lehrsammlung des Zoologi- machen und frischen Leichen von Ein- schen Institutes in Jena befand sich – bis geborenen Teile [zu] entnehmen, die das zu ihrer Rückführung nach Namibia im Studium des lebenden Körpers (gefange- Jahr 2018 – die „Kopfhaut eines Herrero“, ne Hottentotten standen mir häufig zu um vermeintlich ulotriches Haar zu de- Gebote) willkommen ergänzten“. Neben monstrieren. Dieser Skalp war Haeckel der Kopfhaut sandte Schultze weitere von Leonhard Schultze geschickt worden. menschliche Überreste in zweistelliger Er hatte bei Haeckel studiert, war von ihm Anzahl aus Deutsch-Südwestafrika nach promoviert und habilitiert worden und Deutschland. Dass auch an anderen Uni- war dann zunächst Privatdozent, schließ- versitäten Sammlungen vorhanden sind, lich außerordentlicher Professor für Zoolo- die auf solch grauenvolle Weise angeeig- ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 9
Ernst Haeckel - Über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts Im Jubiläumsjahr 2019 wurden die Verdienste Ernst Haeckels für die deutsche und inter- nationale Zoologie vielerorts beschrieben und gewürdigt, stellvertretend seien hier die Bei- träge von Hoßfeld et al. (2019) und Levit & Hoßfeld (2019) genannt. Seine hier zur Diskus- sion stehende Beschäftigung mit humanphylogenetischen Fragestellungen reichte über einen Zeitraum von 45 Jahren. Sie begann 1863 (Stettiner Vortrag) und endete 1908 mit der Schrift über Unsere Ahnenreihe (Progonotaxis Hominis) (Hoßfeld 2010, 2016). In dem Vortrag auf der 38. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Stettin am 19. September 1863 Ueber die Entwickelungstheorie Darwin`s sagte Haeckel: „Was uns Menschen selbst betrifft, so hätten wir also consequenter Weise, als die höchst organisirten Wirbelthiere, unsere uralten gemeinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säugethieren, weiter- hin in känguruhartigen Beutelthieren, noch weiter hinauf in der sogenannten Secundärperio- de in eidechsenartigen Reptilien, und endlich in noch früherer Zeit, in der Primärperiode, in niedrig organisirten Fischen zu suchen“ (Haeckel 1864, S. 17). Der Mensch sei weder „als eine gewappnete Minerva aus dem Haupte des Jupiter“ noch „als ein erwachsener sünden- freier Adam aus der Hand des Schöpfers“ (ebd., S 26) hervorgegangen. Im zweiten seiner beiden 1865 gehaltenen Vorträge Ueber die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts (gedruckt 1868) unterteilte er die Menschenaffen (Anthropoides) in „Asiatische Waldmenschen (Kleiner Orang, Großer Orang)“ und „Afrikani- sche Waldmenschen (Schimpanse, Gorilla)“. Die zuvor u.a. von Johann Friedrich Blumen- bach unterschiedenen Menschenrassen fasste Haeckel als Menschenarten auf und erweiter- te diese auf zehn (Haeckel 1868b). Im 27. Kapitel seines Hauptwerkes Generelle Morphologie der Organismen mit dem Untertitel „Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch be- gründet durch die von Charles Darwin reformierte Descendenz-Theorie“, thematisierte Haeckel die Stellung des Menschen in der Natur. Die somatischen und psychischen Differen- zen zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren seien nur quantitativer, nicht qualitati- ver Natur. Anthropologie sei nichts anderes als ein spezieller Zweig der Zoologie. Als hypo- thetisches Verbindungsglied zwischen den Menschenaffen (Anthropoiden) und den echten (sprechenden) Menschen stellte er den Affenmenschen, den Pithecanthropus, wohlgemerkt ohne Fossilfund. Seine populäre Natürliche Schöpfungsgeschichte (Haeckel 1868a) erbrachte im Hinblick auf die früheren Arbeiten dann nichts wesentlich Neues. Er unterschied „zehn verschiedene Species der Gattung Homo“, unterteilt in die Abteilungen: Wollhaarige Menschen (Homines ulotriches) sowie Schlichthaarige Menschen (Homines lissotriches). Als 10. Art wird der Kau- kasische Mensch (Iranischer oder weißer Mensch) gelistet, der wiederum in zwei gleichran- gige „Abarten” unterteilt ist, nämlich den semitischen (südlichen) Zweig und den indoger- manischen (nördlichen Zweig). Ersterer umfasst Araber, Berber, Abessinier und Juden. Letz- terer umfasst Arier, Romanen, Slaven und Germanen. Von der zweiten Auflage (1870) an werden nicht mehr 10 sondern 12 Menschen-Arten (mit 36 Rassen) unterschieden. Man fin- det nun auch erste rassenkundliche Bemerkungen und Abbildungen, die eine Wertung als „niedere“ und „höhere“ Menschen erkennen lassen: „Die niedersten Menschen stehen of- fenbar den höchsten Affen viel näher, als dem höchsten Menschen“ (ebd., S. 555). In der An- thropogenie (1874) kehrt dieselbe Humanphylogenie wieder (Haeckel 1874: 481-496) und blieb bis zur sechsten und letzten Ausgabe (1910) unverändert.
Im Werk Systematische Phylogenie (1895) diskutierte Haeckel im Kapitel „Systematische Phylogenie der Wirbelthiere (Vertebrata)“ nochmals ausführlich die „Systematische Phylo- genie des Menschen“ unter stärkerer Berücksichtigung der Paläontologie. Von den gefunde- nen Fossilien sprach er einigen wie dem Pithecanthropus erectus von Java einen gewissen „hohen Werth...“ (Haeckel 1895, S. 617) zu.. Im Frühjahr 1898 erhielt Haeckel die Einladung, auf dem 4. internationalen Zoologenkon- gress in Cambridge einen Vortrag zu halten. Er sollte dort eine der großen allgemeinen Fra- gen, wenn nicht gar die „Frage aller Fragen“ (T. H. Huxley) thematisieren. Der Inhalt des Vor- trages stellte eine Kompilation seiner Ansichten zur biologischen Anthropologie, Entwicklungsgeschichte und Zoologie dar (Haeckel 1898). In späteren Schriften wie Der Kampf um den Entwickelungsgedanken (1905), Das Men- schen-Problem und die Herrentiere von Linné (1907) schloss Haeckel dann an seine Ausfüh- rungen aus den Jahren 1866 bis 1895 unmittelbar ohne nennenswerte Ergänzungen an. Die Schrift Unsere Ahnenreihe (Progonotaxis Hominis) von 1908 bildet den publizistischen Ab- schluss der Beschäftigung mit diesem Themengebiet. Auch in seinen „philosophischen“ Schriften wie Die Welträthsel (1899), Die Lebenswun- der (1904), Sandalion (1910) oder den „Kriegsschriften“ wie Ewigkeit (1915) finden sich ver- einzelt Aussagen zur Herkunftsgeschichte der Menschen nunmehr mit einem stärkeren Be- zug auf Politik und Gesellschaft. In Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod/Reli- gion und Entwicklungslehre (1915) sah Haeckel nach wie vor in der Anthropologie einen „Teil der Zoologie“, benutzt aber wie schon in den Lebenswundern nun ausschließlich den Terminus „monistische Anthropologie“, die die „richtige Wertschätzung des Menschenwe- sens“ zum Ziel hat (Haeckel 1915, S. 65). Die biologische Anthropologie sollte nunmehr in ei- ner mehr philosophisch orientierten Anthropologie aufgehen und politische Bemerkungen enthalten. So wirft er an einer Stelle dem „Todfeind England“ vor, „alle verschiedenen Men- schenrassen zur Vernichtung des deutschen Brudervolkes [der nächstverwandten Germa- nen] mobil gemacht“ zu haben: „[…] ruft es [England] als Verbündete die niederen farbigen Menschenrassen aus allen Erdteilen zusammen: vorab die gelben, schlitzäugigen Japaner, die perfiden Seeräuber des Ostens!, dann die Mongolen aus Hinterindien und die braunen Malayen aus dem benachbarten Malakka und Singapore; die schwarzbraunen Australneger und Papuas aus Ozeanien, die Kaffern aus Südafrika und die Senegalneger aus den nordafri- kanischen Kolonien – und damit kein Farbton der tief verachteten ‘Niederen Menschenras- sen’ fehlt, und das buntscheckige Heer des stolzen Albion auch in ethnographischer Zu- sammensetzung die ‘ewige Weltherrschaft’ des anglosächsischen Inselvolks demonstriert, werden auch noch die Reste der Rothäute aus Amerika auf die blutdampfenden Schlachtfel- der von Europa herübergeschleppt!“ (Haeckel 1915, S. 86, Hervorhebungen im Orig.). Aus seiner Sicht stellte sich der gesamte Erste Weltkrieg als ein „niederträchtiger Verrat an der weißen Rasse“ dar und musste „als ein Meuchelmord der höheren menschlichen Kul- tur gebrandmarkt“ werden (ebd., S. 86). Es sei sichtbar, dass der kulturelle und psychologi- sche Abstand zwischen den „höchstentwickelten europäischen Völkern und den niedrigst stehenden Wilden größer ist, als derjenige zwischen diesen letzteren und den Menschenaf- fen“; d.h. Haeckel deutete und übertrug hier sein Schema „Die Familiengruppe der Katarrhi- nen“ von 1868 (Natürliche Schöpfungsgeschichte) auf die zivilisatorischen Entwicklungen (Pithecometra-Satz). Und er klagte den „brutalen National-Egoismus“ Englands an, der nur der Aufrechterhaltung der „pambritischen [gemeint ist wohl panbritischen] Weltherrschaft (‘für alle Ewigkeit!’)“ diene (ebd., S. 86). ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 11
net wurden, mildert den Sachverhalt Varietäten um Merkmale der Körperge- nicht. stalt und Eindrücke des Temperaments. Immanuel Kant kam von der Beschäfti- „Menschenrassen“ - was ist das? gung mit der Geographie zur Anthropolo- Der Ursprung der anthropologischen gie. Im Jahre 1775 erschien „Von den ver- Rassenkunde liegt im 18. Jahrhundert, als schiedenen Racen der Menschen zur mit Carl von Linné die Klassifikation der Ankündigung der Vorlesungen der physi- natürlichen Ordnung ihren Anfang nahm. schen Geographie im Sommerhalbjahre Am Ende des 18. Jahrhunderts lassen 1775“. In dieser Vorlesung unterschied er sich dann drei Stränge der anthropologi- zunächst eine „Schuleinteilung“, die sich schen Forschung ausmachen: die Diskus- auf Klassen (Ähnlichkeiten) und eine „Na- sionen über ein allgemeines Menschen- tureinteilung“, die sich auf Stämme (Ver- bild auf der Grundlage des „Tier-Mensch- wandtschaft) bezog. Die Menschen bilde- Vergleiches“, der Beitrag von Ärzten bei ten dabei eine Gattung und mussten alle der Erarbeitung von Kenntnissen über die aus einem Stamm kommen. Als „Stamm- menschliche Anatomie und deren Varia- gattung“ aller Menschen nahm Kant tionen und das Sammeln von Wissen „Weiße von brünetter Farbe“ an, als de- über die geographische Variabilität und ren „Anartungen“ folgende Gruppen auf- Verbreitung des Menschen während der treten sollten: „Erste Rasse Hochblonde umfangreichen Sammelexpeditionen und (Nördl. Eur.) von feuchter Kälte | Zweite wissenschaftlichen Reisen. All dies verein- Rasse Kupferrote (Amerik.) von trockner igte sich dann in einer Naturgeschichte Kälte | Dritte Rasse Schwarze (Senegam- des Menschen. bia) von feuchter Hitze | Vierte Rasse Oli- Es ist Linnés Verdienst, den Menschen vengelbe (Indianer) von trockner Hitze“ wieder in eine vergleichende Betrachtung (Kant 1775, S. 28). der Tierwelt eingebettet zu haben (Bro- Diese Einteilung basierte hauptsäch- berg 1994). Bereits 1735 findet sich in der lich auf seiner Anschauung von der Ein- ersten Auflage seines Werkes Systema wirkung des Klimas; so sollte z.B. trocke- Naturae eine Klassifikation des Tierrei- ne Kälte das Wachstum hemmen: „In den ches mit dem Menschen an der Spitze. heißen Ländern reift der Mensch in allen Dabei stellte er den Menschen (Homo) in Stücken früher, erreicht aber nicht die die Ordnung der Anthropomorpha. Zu- Vollkommenheit der temperirten Zonen. nächst nach der Herkunft und dem Ein- Die Menschheit ist in ihrer größten Voll- zelmerkmal der Hautfarbe unterschei- kommenheit in der Race der Weißen. Die dend, benennt er vier Varietäten: Homo gelben Indianer [sic] haben schon ein Europaeus albescens, Americanus rube- geringeres Talent. Die Neger sind weit scens, Asiaticus fuscus und Africanus nigre- tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der scens. Später (1758) errichtet er die Ord- amerikanischen Völkerschaften" (Kant nung „Primates” (Herrentiere), verleiht 1802, S. 316). dem Menschen seinen Artnamen Homo Allerdings stellt Kant auch fest: „Die sapiens und ergänzt die Klassifikation der Klasse der Weißen ist nicht als besondere 12
Art in der Menschengattung von der der zustellen. Ebenso ist es sein Verdienst, die schwarzen unterschieden; und es giebt „technischen Mittel zur direkten Beob- gar keine verschiedenen Arten von Men- achtung und Untersuchung, die seine Zeit schen“ und ist damit vielleicht schon ei- ihm bot, für die Anthropologie ausgewählt nen Schritt weiter als seine Zeitgenossen und zusammengestellt zu haben“ (Kant 1785, S. 75). (Scheidt 1922, S. 293). Als Methode und Ferner maß Kant in seinen anthropo- Objekt nutzte er den Schädelvergleich. logischen Studien der Erblichkeit der Später verband Blumenbach seine Er- „natürlichen Anlagen“ einen hohen Stel- gebnisse mit denen aus der vergleichen- lenwert bei. Insbesondere mit Georg R. den Anatomie, Physiologie und Psycholo- Forster kam es hierüber in der Zeitschrift gie. Der Teutsche Merkur zu einem Streitge- Mit seiner Rassengliederung, die auf spräch (Forster 1786, Kant 1788). Forster unterschiedlichen Hauttönungen beruhte, wandte sich zudem gegen die Möglich- gab Blumenbach eine Klassifikation vor, keiten einer Anpassung der Hautfarbe, die bis heute eine außerordentliche Ver- weil er damit eine „Zerklüftung der breitung erlangte. Er unterschied fünf Menschheit“ befürchtete und lehnte Hauptrassen: 1. Die caucasische Rasse, 2. ferner den Rassenbegriff Kants ab. Kant die mongolische Rasse, 3. die äthiopische hatte Rasse bereits 1785 wie folgt defi- Rasse, 4. die americanische Rasse und 5. niert: „Der Begriff einer Rasse ist also: die malayische Rasse“ (Blumenbach der Klassenunterschied der Tiere eines 1803). und desselben Stammes, so fern er un- Wenn auch mit Vorbehalt und durch- ausbleiblich erblich ist“ (Kant 1785, S. aus differenziert, erklärte er die „Euro- 75; Hervorhebung im Orig.). Nach For- päer und westlichen Asiaten … nebst den ster ist eine Rasse dagegen nur „ein Volk Nord-Africanern” für „mehr oder weniger von eigentümlichem Charakter und un- weiß”, die „übrigen Asiaten … nebst den bekannter Abstammung“ (Forster 1786, nordlichsten Americanern” für „meist S. 160). gelbbraun”, die „übrigen Africaner” für Nahezu zeitgleich mit Kant hatte „mehr oder weniger schwarz“, die „übri- Johann Friedrich Blumenbach Vorstellun- gen Americaner” für „meist von kupfer- gen über die Menschheitsgeschichte ent- rother Farbe” und die „Südsee-Insulaner” wickelt. Zunächst mit dem Katalogisieren für „meist schwarzbraun” (Blumenbach von Schädeln befasst, sollte sich seine 1790, S. 82-83). 100 Seiten umfassende Dissertation De Als wichtigste „reizende Eindrücke“, generis humani varietate nativa (1775) als welche diese Varietätenunterschiede her- bedeutend für die Geschichte der An- vorbringen, sah Blumenbach den Einfluss thropologie erweisen. Seine Arbeit stellt des Klimas auf Hautfarbe und Körpergrö- für die damaligen wissenschaftlichen Ver- ße an. Dies veranlasste ihn, die Urheimat hältnisse einen ersten Versuch dar, die des Menschengeschlechts in Asien anzu- körperlichen Verschiedenheiten der Men- nehmen und somit die kaukasische Rasse schen übersichtlich und anschaulich dar- mit der weißen Hautfarbe (als die ur- ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 13
sprünglichste) an die Spitze seiner Eintei- he zur Blumenbachschen Einteilung, aber lung zu stellen. auch eine gewisse Nähe zu den geogra- Die Variabilität innerhalb der als Men- phischen Rassen Ernst Mayrs. schenrassen bezeichneten Gruppen be- Für Mayr (2002), dem herausragenden merkt auch Charles Darwin (Darwin Proponenten des sogenannten Biologi- 1875: S. 228), so dass kein „Character an- schen Artbegriffes, bestand kein Zweifel, geführt werden kann, welcher für eine dass Menschenrassen als geographische Rasse distinctiv und constant ist“, was ihn Rassen, wie bei anderen Wirbeltieren, allerdings nicht hinderte, Rassen zu unter- biologischer Fakt sind. Für den Zoologen scheiden. Er fährt fort: „Der Mensch ist ist das Konzept der Rasse in aller Regel sorgfältiger als irgend ein anderes Wesen mit einer geographischen Aufgliederung studiert worden und doch besteht die innerhalb von Arten im Rahmen eines al- größtmögliche Verschiedenheit des Ur- lopatrischen Artbildungsprozesses ver- theils zwischen fähigen Richtern darüber, bunden. Von eher untergeordneter Be- ob er als eine einzige Species oder Ras- deutung sind andere Ansätze, wie die se classificiert werden solle oder als zwei Suche nach monophyletischen Einheiten (Virey), als drei (Jacquinot), als vier innerhalb des Menschen (Andreasen (Kant), fünf (Blumenbach), sechs (Buffon), 1998) oder der Versuch, menschliche sieben (Hunter), acht (Agassiz), elf (Pik- Ökotypen zu definieren und diese dann kering), fünfzehn (Bory St. Vincent), sech- als Rassen zu bezeichnen (Pigliucci & Ka- zehn (Desmoulins), zweiundzwanzig plan 2003). Es sind diese vorgeblich bio- (Morton), sechzig (Crawfurd), oder als logischen Konzepte, die auf den Prüfstand dreiundsechzig nach Burke. Diese Ver- gestellt werden und nach ihrer Existenz schiedenartigkeit der Beurtheilung be- und Realität hinterfragt werden sollen, weist nicht, daß die Rassen nicht als Spe- nicht nur, aber auch, da sie als Argumen- cies zu classificieren wären, es zeigt aber tationshilfen den sozialen Rassismus dieselbe, daß sie allmählich in einander rechtfertigen sollen. übergehen und daß es kaum möglich ist, scharfe Unterscheidungsmerkmale zwi- Rasse als soziales Konstrukt schen ihnen aufzufinden.“ Teresa J. Guess hat in ihrem Aufsatz Wir machen nun einen großen Sprung „Social construction of whiteness” ge- in die Gegenwart. Im Amerikanischen zeigt, wie sich die Frage nach Rassen in wird häufig von „folk races” gesprochen, den USA nie für die weiße Rasse stellt. um die Mehrdeutigkeit des Begriffes Deren Existenz wird in konventionellen „Volk” zu umgehen, am besten mit „Je- Ansätzen als gegeben betrachtet, in neu- dermannsrassen” zu übersetzen, denen eren wird dagegen „whiteness in relation dann auch kulturelle Eigenschaften zuge- to the „other”“ gesehen. Die Frage nach wiesen werden können. Die Korrelation der sozialen Konstruktion des Weißseins von phänotypischen Merkmalen mit konti- ist aber essentiell, wenn es um die Supe- nentaler geographischer Verbreitung riorität von Weißen geht. So bestimmte zeigt auch heute noch eine deutliche Nä- der erste U. S. Naturalization Act 1790, 14
dass „freie Weiße“ („free white per- minimal intrinsic significance but has ta- sons“), die zwei Jahre in den USA lebten, ken on immense cultural significance and die amerikanische Staatsbürgerschaft er- will continue to do so for a long time to werben konnten, was praktisch zumeist come” (Evans 2019, S. 104). auf weiße, meist angelsächsische Männer Es geht uns im vorliegenden Aufsatz mit Grundbesitz beschränkt blieb. explizit nicht um die beispielsweise in Die Idee einer konstruierten Superio- den USA dominierende gesellschaftliche rität von Weiß geht ab der Mitte des 19. Konstruktion von Rassen (West 2017). Jahrhunderts eine Verbindung mit evolu- Aber auch für diese hat bereits Van den tionsbiologischem Denken ein. Herbert Berghe in Race and Racism geschrieben, Spencer, von dem der Ausdruck „survi- dass die Existenz von Rassen in einer Ge- val of the fittest“ stammt (und nicht von sellschaft Rassismus als Voraussetzung Darwin, der diesen Ausdruck erst in der hat, denn ohne Rassismus hätten körperli- 5. Auflage seines Werkes On the Origin che Merkmale keine soziale Bedeutung of Species … als Kapitelüberschrift über- (Guess 2006). Es seien nicht diese, wel- nahm), begründete im viktorianischen che Rassen schaffen, sondern die gesell- England mit seiner Fortschrittsgetrieben- schaftliche Wahrnehmung von solchen heit und „biological Spencerism“ (Free- Unterschieden als sozial bedeutsam. Ein man et al. 1974) schon vor Haeckel den anderer Soziologe, John Stanfield, defi- Sozialdarwinismus und die extreme Form niert „racism as the generator of race- von weißer Superiorität. Im Kern wird making” (zit. n. Guess 2006). nun zunehmend davon ausgegangen, dass es den unterschiedlichen Men- Rasse - eine biologische Realität? schengruppen innewohnende Eigen- Zoologen, Evolutionsbiologen, Biolo- schaften gibt, welche sich z. B. in der gen und generell Naturwissenschaftler Hautfarbe zeigen und die mit der Ge- interessieren sich für das, was in der Na- schichte seines Trägers, dessen Ahnen tur existiert, d.h. für das, was außerhalb und dessen Gruppe verknüpft werden. des menschlichen Geistes, der sich ja be- Der „Erfolg“ der „Weißen“ wird umge- kanntlich alles Mögliche konstruieren kehrt zur Diskriminierung von Menschen kann, real vorhanden ist. Die allermeisten anderer Hautfarbe genutzt. Und da die Naturwissenschaftler folgen damit einem Hautfarbe am auffälligsten ist, fängt der naturalistischen Realismus. Ein einfaches Rassismus damit häufig an. Die Wahrneh- Beispiel: der Stuhl, auf dem der Leser ge- mung von Hautfarbe hängt aber in ho- rade sitzen mag, existiert real als 'Ding', hem Maße vom Grad der Sesshaftigkeit aber die Zusammenfassung der Sitzgele- und damit lokaler Beschränktheit zusam- genheiten aller Leser als 'Stühle' existiert men. Je seltener andersfarbige Men- nur als Konstrukt des menschlichen Gei- schen in eine solche kleine Welt kom- stes. Wir können damit 'Dinge' von 'Klas- men, um so undifferenzierter ist die sen' unterscheiden. Während nun die Wahrnehmung der Bewohner – im wahr- meisten 'Klassen' Konstrukte des mensch- sten Sinne schwarzweiß: „Skin colour has lichen Geistes sind, werden manche ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 15
'Klassen' durch natürliche Eigenschaften Auswahl bestimmter Merkmale die Mor- definiert, deren Existenz unabhängig vom phospezies wohl eher als Konstrukt des menschliche Erkenntnisapparat ist, wie z. menschlichen Geistes bezeichnet werden B. Mineralien. Man nennt diese 'Klassen' muss. Die Art als Individuum wird eben- dann „Natürliche Sorten“ (Mahner & Bun- falls vertreten von Ghiselin (1997) und ge 1997). jüngst von Zachos (2016). Dabei wird ins- Überträgt man dies nun auf die Frage besondere die Historizität der Art als Kri- nach der Realität von Menschenrassen, so terium herangezogen. Der dinghafte müssen wir festhalten, dass nicht nur Indi- (oder Individuen-) Charakter der Biospe- viduen (denken wir z.B. an den „weißen” zies ist aber keineswegs eindeutig. Ge- Donald Trump und den „schwarzen” Ba- rade Mayrs eigene Erweiterung, um allo- rack Obama), sondern auch Populationen patrische Populationen zu einer gemein- zugesprochen wird, 'Dinge' zu sein. Das samen Art zusammenzufassen, gibt den verwundert auf den ersten Blick, doch Charakter des integralen Systems einer wird hier das integrale System betont, Fortpflanzungsgemeinschaft auf. Die mor- das eine Population als enge panmikti- phologischen Merkmale, die die allopatri- sche Fortpflanzungsgemeinschaft kenn- schen Populationen gemeinsam haben, zeichnet (Mahner 1993; Mahner & Bunge werden zwar nicht zur Definition dieser 1997). Sicher ist es auch möglich, beim Art herangezogen wie im Morphospe- Menschen von Populationen zu sprechen, zieskonzept, sondern als Indizien für die wenn auch Abgrenzungen zu benachbar- nicht verwirklichte (da nur potentiell be- ten Populationen nur selten gelingen wer- stehende) Fortpflanzungsgemeinschaft. den. Wir kommen weiter unten darauf zu- Das wäre aber genau das Kennzeichen ei- rück. ner 'Natürlichen Sorte'. Das dürfte dann Der ontologische Status einer Art ist auch auf die Art Homo sapiens zutreffen, umstritten. Eine wesentliche Rolle spielt wenn auch allopatrische Populationen dabei natürlich auch das Artkonzept. Wir dort kaum noch existieren dürften. fokussieren hier auf das sogenannte Biolo- Mayr versteht nun Rassen als (Zwi- gische Artkonzept (z.B. Mayr 1942), wel- schen-) Ergebnis einer allopatrischen ches gerade auch für die Trennung von Artbildung, Rassen als „incipient species“ Rassen die entscheidende Grundlage lie- (Mayr 1942, S. 155). Er definiert: „A geo- fert. Gerade Mayr als Hauptvertreter des graphic race (or subspecies) is an aggre- Biologischen Artkonzeptes im 20. Jahrhun- gate of phenotypically similar populations dert – es hat seinen Ursprung bereits am of a species inhabiting a geographic sub- Ende des 19. Jahrhunderts – hat den Indi- divison of the range of that species and viduencharakter (hier synonym zu 'Ding') differing taxonomically from other popu- der Biospezies im Gegensatz zur mor- lations of that species” (Mayr 1969, S. phologischen Abgrenzung der Art (Mor- 451). Was uns hier schon aufhorchen las- phospezies) betont. Letztere kennzeichnet sen muss, ist die Notwendigkeit „taxono- Mayr (2000) interessanterweise als 'Natür- mischer” Differenz, ist diese taxonomi- liche Sorte', obwohl durch die willkürliche sche Gliederung doch Ergebnis einer 16
menschlichen Unterscheidung. Das Ras- Aspekt deutlicher werden lässt (Meier & senkonzept Mayrs bleibt im Typologi- Willmann 2000). Die Rasse als „incipient schen verhaftet. species“ kehrt zur Statik zurück, da nur Bezogen auf den Menschen schreibt ein bestimmter Zeitaspekt betrachtet Mayr (2002, S. 90): „No matter what the wird, das Raum-Zeit-Kontinuum wird cause of the racial difference might be, unterbrochen. the fact that species of organisms may ha- Es ist interessant zu sehen, wie in an- ve geographic races has been demon- deren Wissenschaften wie der Psycholo- strated so frequently that it cannot longer gie in derselben Weise zwischen stati- be denied. And the geographic races of schem und dynamischem Selbstbild the human races – established before the (fixed and growth mindset) unterschieden voyages of European discovery and sub- wird und beispielsweise im statischen sequent rise of a global economy – agree Selbstbild davon ausgegangen wird, dass in most characteristics with the geogra- Fähigkeiten und Intelligenz grundsätzlich phic races of animals. Recognizing races vorgegeben und nicht oder nur wenig is only recognizing a biological fact.“ veränderbar sind (z. B. Dweck & Leggett Ein Problem wird schon hier deutlich. 1988). Der Bezug zur Frage nach den Mit der Evolutionstheorie wurde ein stati- Menschenrassen ist offensichtlich. sches, typologisches Weltbild mit der Wir werden zur genauen Bedeutung Konstanz der Arten als unveränderbare von Rassen in der Zoologie gleich zurück- Einheiten der Schöpfung durch ein dyna- kommen, können aber schon einmal fest- misches Weltbild abgelöst. „Seit Darwin halten, dass Rassen Gruppierungen in- ist die Definition grundlegender klassifi- nerhalb von Arten darstellen, dass sie katorischer Kategorien wie Art und Gat- aber im allgemeinen Verständnis eine tung notwendigerweise verhältnismäßig umfassendere Gruppierung darstellen als willkürlich und höchst problematisch ge- die Populationen es sind. Daher könnte worden und geblieben“ (Kuhn 1978, S. man zunächst vermuten, dass Rassen 209). Die Morphospezies als Typus ist durchaus irgendwo zwischen 'Dingen' wesentliches Element dieses statischen und 'Natürlichen Sorten' anzuordnen sind. Weltbildes, in dem Arten durch einer von Aber, was für Merkmale sind es, die Ras- Systematikern ausgewählten Zuordnung sen kennzeichnen? Waren es nicht histo- bestimmter Merkmale definiert wurden. risch willkürlich vom Menschen definierte Arten waren 'Klassen' und als solche un- Merkmale, die für die Charakterisierung veränderlich. Das Biospezieskonzept geht von Menschenrassen herangezogen wur- dagegen an, verleugnet aber gerade in den? Wie sieht es also aus mit dem „Raci- seiner Reinform (Mayr 2000) den dyna- al Realism“, worunter die Diskussion ge- mischen Aspekt, in dem es auf Gleichzei- führt wird (Spencer 2018a, b)? tigkeit der Fortpflanzungsbarrieren ab- hebt. Es ist die Abwandlung des Bio- Rassen in der Zoologie spezieskonzepts durch Willi Hennig Innerhalb der Wirbeltiere werden re- (1950, 1966), welche den evolutiven gelmäßig Rassen bzw. Unterarten (beide ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 17
Begriffe werden in der Regel synonym meintlichen Menschenrassen sein kön- gebraucht) beschrieben und auch in nen. manchen Insektengruppen ist dies üblich. Schimpansen (Pan troglodytes) sind Dass in anderen Taxa Arten nicht oder über Zentral- und Westafrika verbreitet. nur selten in Unterarten unterschieden Sie haben Afrika nie verlassen. Es werden werden, gibt schon einen Hinweis auf ei- 3-4 Unterarten (Rassen) unterschieden. ne gewisse Willkür, die wir in der Defini- Die Schwesterart des Schimpansen, der tion Mayrs mit der Betonung “taxonomi- Bonobo (Pan paniscus), kommt ebenfalls scher Differenz” ja schon kennengelernt in Zentralafrika vor, südlich des Kongo haben. Das steht natürlich auch im engen Flusses in der Demokratischen Republik Zusammenhang mit dem Artbegriff. An- Kongo. Die westlichste Population des hänger phylogenetischer (z. B. Wheeler & Schimpansen ist durch den sogenannten Plattnick 2000) oder evolutiver Artkon- Dahomey Gap von den übrigen Popula- zepte (Wiley & Mayden 2000) würden al- tionen klar getrennt, wir haben also echte lopatrische Linien eben als eigene Arten Allopatrie vor uns. Die übrigen Unterar- beschreiben und potentielle Fortpflan- ten sind durch Flusssysteme, die die Aus- zungsgemeinschaften ignorieren. Die breitung wohl einschränken mögen, nicht Vorstellung, dass es beim Menschen viel- vollständig voneinander getrennt. Hier leicht auch so etwas wie monophyletische liegt also eine parapatrische Verbreitung Linien gegeben hat, ist durchaus vertre- vor. Morphologisch lassen sich die Unter- ten worden (Andreasen 1998). Entspre- arten nur schwer trennen, am ehesten chende ikonische Abbildungen der noch die allopatrische P. t. verus, z. B. an Sprachgruppen innerhalb der Mensch- der Gestalt des Innenohrs (Gunz et al. heit, korreliert mit molekularen Daten, 2012). Hinzu kommen auch Körpergrö- sind insbesondere durch Cavalli-Sforza ßenunterschiede, Gruppengrößen, Ver- (1999) popularisiert worden. Die ver- haltensunterschiede, die aber in der Re- meintliche, weil augenscheinliche Tren- gel als kulturelle Eigenschaften angese- nung der Afrikaner von allen Nicht-Afrika- hen werden (Yaxley & Foley 2019). nern beruht jedoch auf einer methodisch Gonder et al. (2011) haben nun die bedingten Vorabgruppierung. Man muss genetische Strukturierung der Schimpan- allerdings Cavalli-Sforza zu Gute halten, sen untersucht. Ein wesentliches Ergebnis dass er sich deutlich gegen eine Unter- ist, dass ein Großteil der genetischen gliederung in menschliche Rassen ausge- Unterschiede innerhalb einer Population sprochen hat. zu finden ist (64,2%) und nicht zwischen Die generelle Problematik der Ab- Populationen verschiedener Regionen grenzung von geographischen Rassen/ (30,1%) (Gonder et al. 2011). Bestimmte Unterarten soll am Beispiel der Schim- Analyseverfahren, wie die Admixture- pansen erläutert werden, die ja als näch- Structure Analyse, kurz STRUCTURE Ana- ste heute lebenden Verwandten des Men- lyse (Pritchard et al. 2000), ermöglichen schen noch einmal von besonderem dennoch nicht nur die Gliederung in re- Interesse für die Betrachtung der ver- gionale Cluster (die dann gegebenenfalls 18
als Unterarten klassifiziert werden), son- levels of within-group diversity“, Norton dern setzen deren Existenz sogar voraus. et al. 2019). So entsteht offensichtlich die Gefahr des Ein Airedale Terrier ist ein Airedale Zirkelschlusses (Weiss & Lambert 2014), Terrier und kein Boxer! Dass diese Unter- wenn auch bei Schimpansen mit ihrer pa- schiede das Ergebnis einer künstlichen rapatrischen oder teilweise allopatrischen Zuchtwahl, also vom Menschen geschaf- Verbreitung diese Annahme noch halb- fen sind, ist heute offensichtlich. Die mei- wegs gerechtfertigt sein mag. So ergibt sten Hunderassen sind weniger als 150 die Analyse eine Strukturierung in 3-5 Jahre alt und wurden von Menschen Cluster, je nach verwendeten Parametern. durch Inzuchtverpaarung gezüchtet, um Was aber macht P. t. verus mit allopatri- eben bestimmte Eigenschaften zu erzeu- scher Sonderung und spezifischer Innen- gen. Sie sind auf eine etwas andere Art ohrstruktur aber zu einer den anderen und Weise auch Konstrukte des mensch- Unterarten äquivalenten Kategorie? Wa- lichen Geistes. Das englische Wort rum ist P. t. verus nicht schon eine Art? Die 'breed' beschreibt dies viel besser als genetische Differenzierung innerhalb der das Wort 'Rasse' im Deutschen und der zentralafrikanischen Schimpansen (ohne Begriff Hundezüchtung wäre geeigneter P. t. verus) ist komplex, die Unterschei- als Rassezucht und warum nicht Hunde- dung in drei oder sogar vier Cluster will- sorte wie Pflanzensorte. Welchen Einfluss kürlich, erst recht die Kategorisierung die Hunderassenzucht am Ende des 19. dieser Gruppen als Unterarten. Wenn be- Jahrhunderts auf die Entwicklung rassen- reits in einem solch geographisch stati- hygienischer Überlegungen und Prakti- schen Komplex die Untergliederung will- ken hatte, beschreibt Amir Zelinger im kürlich ist, dann trifft dies umso mehr auf Kapitel „Das rassifizierte Haustier” seiner den Menschen mit seiner deutliche dyna- lesenswerten Dissertation: „Es sollte nach mischeren Verbreitungsgeschichte zu. ihrer Vision [Rassehundezüchter] im Deutschen Reich kein Hund existieren, Haustierrassen der keiner Rasse angehörte, der ein Die Analogie zwischen Haustierrassen, „Mischling” war.” (Zelinger 2018, S. 281). insbesondere Hunderassen, und ver- (Hunde-)Rassen seien „primordiale En- meintlichen Menschenrassen ist häufig titäten”, sie seien immer dagewesen, „die ein rechtfertigendes Argument für die Kreuzung zwischen ihnen sei ein Verstoß Existenz letzterer in der Gleichsetzung gegen ihre substanzielle Existenz als ge- von phänotypischer Variabilität und deren trennte Rassen” (ebd., S. 283), die Folge Kategorisierung. Man sähe doch hier wie sei Degeneration. dort die Unterschiede. Die dieser Analo- Norton et al. (2019) haben jüngst die gie zugrunde liegende Annahme ist ei- genetische Variation in und zwischen gentlich simpel, dass die Verschiedenheit Hunderassen und menschlichen Popula- zwischen unterschiedlichen Gruppen hö- tionen untersucht. Sie verweisen explizit her ist als innerhalb einer Gruppe („high auf den Umstand, dass die Ergebnisse levels of among-group diversity and low von STRUCTURE (Pritchard et al. 2000) ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 19
keine realen Gruppierungen ergeben, tions will reduce predictive power still sondern statistische Konstrukte sind. Wie further" Witherspoon et al. 2007, S. 358). zu erwarten, ist die genetische Variabilität Dieselben Autoren mahnen auch: „Thus, innerhalb einer Hunderasse gering caution should be used when using geo- (Heterozygotie, H = 0.313–0.610) und graphic or genetic ancestry to make infe- zwischen verschiedenen Hunderassen rences about individual phenotypes.” Das hoch (FST = 0.33). Hunderassen sind hoch heißt, natürlich gibt es eine genetische strukturierte Gruppen. Der hier verwen- Differenzierung des Menschen, die auch dete Fixations-Index FST (Wright 1978, eine kleinräumige, geographische Glie- Weir & Cockerham 1984) ist ein Maß zur derung aufweist; nichts anders wäre zu Quantifizierung der genetischen Variabi- erwarten gewesen, da Fortpflanzungs- lität zwischen Populationen. Höhere FST - partner nicht zufällig, sondern natürlich Werte verweisen auf eine strukturierte eher in der Nähe als in der Ferne gefun- Population, je stärker sich der Wert Null den werden. nähert, um so weniger bis gar keine Struktur existiert und es handelt sich um Die Entstehung des zufällige Paarungsraten. modernen Menschen Beim Menschen ist es genau umge- Die Entschlüsselung des menschlichen kehrt wie bei Hunderassen, und die und des Schimpansen-Genoms zu Beginn Schimpansen stehen dazwischen. Die Va- des 21. Jahrhunderts zeigte, dass zwi- riabilität innerhalb einer menschlichen schen beiden Genomen nur ca. 1.2% Population ist außergewöhnlich hoch – DNA Sequenzunterschiede bestehen, das 92.9 - 94.3% (Rosenberg et al. 2002), die heißt Menschen sind in fast 99% ihrer genetische Heterozygotie ist somit hoch DNA identisch mit der des Schimpansen, (H = 0.664 - 0.792), im Gegensatz dazu zwei Menschen weisen wiederum nur ca. sind die Unterschiede zwischen mensch- 0.1% DNA Sequenzunterschiede auf. Im lichen Populationen sehr gering (FST = Vergleich dazu bestehen zwischen dem 0.052–0.083) (The 1000 Genomes Project Genom der Hausratte und der Wanderrat- Consortium 2010). Es ist übrigens genau te ca. 3.5% DNA-Sequenzunterschiede, die hohe Variabilität in jeder mensch- obwohl es vielen Menschen schwer fallen lichen Population, welche – genügend ge- dürfte, diese beiden Nagetierarten mor- netische Daten vorausgesetzt – in der phologisch voneinander zu unterschei- Kombinatorik eine relativ gute Zuordnung den. Dieser Vergleich weist darauf hin, zu geographischen Populationen erlaubt, dass die Morphologie und der Phänotyp nicht jedoch zu einer „Rasse“. kein verlässliches Maß für die Klassifizie- „A final complication arises when raci- rung von Arten oder sogar Untergruppie- al classifications are used as proxies for rungen darstellen. geographic ancestry. Although many con- So wurden bis zum Ende des 20. Jahr- cepts of race are correlated with geogra- hunderts auch die Verwandtschaftsver- phic ancestry, the two are not interchan- hältnisse zwischen den heutigen mensch- geable, and relying on racial classifica- lichen Populationen der Kontinente (also 20
den vermeintlichen Menschenrassen) ba- hängig voneinander entwickelten. Diese sierend auf Morphologie und Phänotyp Hypothese kann als biologische Grundla- intensiv diskutiert. Es standen sich zwei ge für die Unterteilung des Menschen in Haupthypothesen gegenüber: Die erste Rassen angesehen werden. Sie ist aber Hypothese wird als Multiregionale Hypo- falsch. these oder auch Candelabra-Modell be- Die zweite Hypothese, die ihre Ur- zeichnet, da der menschliche Stamm- sprünge Mitte der 80er Jahre des 20. Jahr- baum nach diesem Modell einem Ker- hunderts findet, besagt, dass alle heuti- zenhalter gleicht. Die Hypothese besagt, gen Menschen auf einen gemeinsamen dass sich die heutigen menschlichen Po- afrikanischen Ursprung vor ca. 200.000 pulationen parallel auf allen Kontinenten Jahren zurückgehen und alle Menschen aus dem Homo erectus entwickelt haben. außerhalb Afrikas auf eine gemeinsame Dieser hätte Afrika vor mehr als 1 Millio- Population, die Afrika vor ca. 60.000 Jah- nen Jahren verlassen und sowohl Europa ren verließ. Nach dieser Hypothese, die als auch Asien und Australien besiedelt. als „Out of Africa“-Hypothese bezeichnet Daraus seien im Laufe der Zeit Asiaten, wird (Stringer & Andrews 1988), ist der Australier, Europäer und auch Afrikaner heutige moderne Mensch in Afrika ent- parallel, aber zum Großteil unabhängig standen und verdrängte nach seiner Aus- voneinander entstanden. Verschiedene wanderung aus Ostafrika alle anderen Auslegungen der Multiregionalen Hypo- nicht zu sapiens gehörenden Menschen- these besagen auch, dass genetischer formen außerhalb Afrikas, z.B. den Nean- Austausch zwischen den Populationen dertaler in Europa oder den Homo erec- der Welt gering war (Thorne & Wolpoff tus in Asien. 2003). Nach diesem Modell wäre der Ne- Erst mit Hilfe der Analyse mitochondri- andertaler, der bis vor 40.000 Jahren in aler DNA (mtDNA) heutiger Menschen Europa lebte, der direkte genetische Vor- aus unterschiedlichen Teilen der Welt fahre der heutigen Einwohner Europas, konnte die multiregionale Theorie weit- heutige Ostasiaten wären aus dem Homo estgehend zurückgewiesen werden erectus entstanden und die heutigen Ein- (Cann et al. 1987). Der Stammbaum der wohner Afrikas, südlich der Sahara, wür- mtDNA, die von der Mutter an die Kinder den dem Homo ergaster entstammen. vererbt wird, hat seine Wurzeln eindeutig Diese Hypothese war bis in die 1980er in Afrika. Alle großen Verzweigungen im Jahre die Mehrheitsmeinung in der An- menschlichen Stammbaum der mtDNA thropologie zur Entstehung des moder- finden sich ausschließlich bei Menschen, nen Menschen. Anders als noch bei Ernst die aus dem heutigen Afrika stammen, Haeckel 100 Jahre zuvor setzten die Ver- dort trennen sich die „basalen Linien” L0, treter der Multiregionalen Hypothese den L1, L2 und L3 voneinander. Außerhalb Europäer nicht an die Spitze des „men- von Afrika finden wir nur eine Seitenlinie schlichen Stammbaumes“, man ging aber von L3, die sich in die Linien M und N auf- davon aus, dass sich die Menschen der spaltet (Van Oven & Kayser 2009). Alle einzelnen Kontinente überwiegend unab- Menschen außerhalb Afrikas tragen ZOOLOGIE 2020, Mitteilungen d.Dtsch.Zool.Ges. 21
mtDNA vom Typ M oder N. Mit Hilfe der Exemplar, das 1856 von Johann Carl Fuhl- molekularen Uhr, die darauf beruht, dass rott im Neandertal bei Düsseldorf entdek- Mutationen relativ regelmäßig entstehen, kt und beschrieben wurde. Die mtDNA sich im Laufe der Zeit ansammeln und des Neandertaler- Typus und auch von daher mit der Zeit korrelieren, konnte mehr als zwei Dutzend weiteren Nean- auch berechnet werden, wann sich die dertalern, die bis heute genetisch unter- einzelnen Linien der mtDNA voneinander sucht wurden, zeigt mehr als doppelt so trennten. Dabei zeigte sich, dass sich die viele Unterschiede zu heutigen Men- afrikanischen mtDNA Linien L0-L3 vor schen, wie zwischen den tiefsten Linien mehr als 150.000 Jahren, irgendwo in Afri- im menschlichen Stammbaum in Afrika ka, voneinander trennten. Das heißt auch, zu finden sind. Die mtDNA Linien von dass es zu dieser Zeit eine Frau in Afrika Mensch und Neandertaler haben sich vor gab, auf die alle heutigen mtDNA’s der mehr als 400.000 Jahren getrennt (Posth Menschen zurückgehen. Sie wurde daher et al. 2017). auch „mitochondriale Eva” genannt. Na- Die Entschlüsselung des Neandertaler- türlich lebte sie nicht alleine, aber nur ih- Genoms aus dem Zellkern im Jahr 2010 re mtDNA hat sich an spätere Menschen brachte eine Überraschung: Sie zeigte, vererbt. Die Linien der Menschen außer- dass alle Menschen außerhalb Afrikas ca. halb Afrikas spalteten sich von der afrika- 2% Neandertaler- Gene in sich tragen. nischen Linie L3 hingegen vor ca. 70.000 Das gilt für Europäer, Asiaten, die Urein- Jahren ab. Die Linien M und N, die sich in wohner Australiens und die indigene Be- allen heutigen Menschen außerhalb Afri- völkerung Amerikas (Green et al. 2010). kas befinden, verzweigen sich hingegen Neandertaler mussten sich demnach vor erst beginnend vor ca. 55.000 Jahren. Das ca 55.000 Jahren mit den Vorfahren heuti- heißt, dass sich die Träger der M und N ger Nicht-Afrikaner vermischt haben mtDNA zu dieser Zeit beginnen, in Eur- (Sankaraman et al. 2014). Auch mit dem asien und Australien auszubreiten (Posth Denisovaner (Krause et al. 2010), der bis et al. 2016). Der menschliche mtDNA vor ca. 40.000 Jahren in Asien lebte, hat- Stammbaum steht also in Afrika, seine ten sich moderne Menschen vermischt. Wurzeln, sein Stamm und seine dicksten Noch heute finden sich in Ostasiaten ca. Äste, nur die Linien M und N zweigen 0.4% Denisovaner-Gene und in den Ur- sich von der Ostafrikanischen Linie L3 ab einwohnern Papua Neuguineas und Au- und sind in allen Menschen außerhalb straliens ca. 5% Denisovaner-DNA (Reich Afrikas zu finden. Ein ganz ähnliches Mu- et al. 2010). ster ergibt sich auch für das Y-Chromo- Die wenigen Prozent an Neandertaler- som und für den Rest des menschlichen DNA, die wir in Europäern finden und Genoms (Mallick et al. 2016, Haber et al. nicht in Afrikanern südlich der Sahara, 2019). wurden sogleich nach ihrer Entdeckung Mitte der 1990er Jahre wurde die erste instrumentalisiert. Von „White Suprema- mtDNA eines Neandertalers entschlüsselt. cists“ in den USA wurden plötzlich gera- Es handelte sich dabei um das Typus- de Neandertalergene als Argument ver- 22
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