Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte - Fachtagung 09 - Akademie ...

 
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Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte - Fachtagung 09 - Akademie ...
Fachtagung 09

               und leben, so
              wie ich es möchte
             Werden, der ich bin

Fachakademie für Heilpädagogik | Fachaschule für Heilerziehungspflege
Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte - Fachtagung 09 - Akademie ...
2    Inhalt

     Einführung
 3   Georg Blaser und Michael Kreisel
     Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte

 5   Georg Blaser
     Vom Ursprung des Begriffes „Bildung“ –
     Kennzeichen eines biblisch-christlichen Bildes vom Menschen

     Der Fachtag
 7   Lilo Nitz
     Heilpädagogisch gestaltete Erwachsenenbildung –
     Ein Handlungskonzept in der Heilpädagogik
     zur Unterstützung von Resilienz, Teilhabe und Selbstbestimmung

14   Dr. Dieter Fischer
     Sinn – und die Arbeit mit schwerst behinderten Menschen

21   Prof. Dr. Christian Lindmeier
     Zusammenfassung des Vortrages
     Identitäts- und Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung
     mit Menschen mit geistiger Behinderung

23   Michael Kreisel
     Die Workshops der Fachtagung

     Resümee
29   Elisabeth Dausch
     Heilpädagogisch gestaltete Erwachsenenbildung
     als Chance für mehr Lebensqualität

     Impressum | Verantwortlich für den Inhalt: Georg Blaser, Michael Kreisel | Redaktion: Elisabeth Dausch, Michael Kreisel
                 Auflage: 1000 Stück | Druck: Druckerei Ortmeier | Januar 2011 | Gestaltung: leporello-company.de
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Einführung    3

Werden, der ich bin
und leben, so wie ich es möchte
                                                     Georg Blaser und Michael Kreisel

Wir freuen uns Ihnen mit dieser Broschüre eine     Bildung ist einer der zentralen Begriffe der
Zusammenfassung der Tagung „Werden der ich         Pädagogik. Seit Jahren ziehen sich Diskussionen
bin und leben, so wie ich es möchte“ vorlegen      zum Begriff Bildung durch die Fachöffentlichkeit.
zu können.                                         Einmal wird mit dem Begriff der Prozess, einmal
                                                   das Resultat, einmal Selbstbildung und einmal
Es ist nun seit mehreren Jahren Tradition in der   werden damit die Institutionen beschrieben. In der
Fachakademie für Heilpädagogik sich einmal im      Heilpädagogik haben wir zusätzlich den Begriff
Jahr einem besonderen Thema zu widmen.             der Förderung. Wie wäre dies zu unterscheiden?
Mit diesem Fachtag haben wir uns dem Thema         Welche Bildung brauche ich, um in dieser Welt
„Heilpädagogisch gestalteter Erwachsenen-          leben zu können, um mir die Welt aneignen zu
bildung“ zu gewandt. Den Fachtag führte die        können, um teilhaben zu können? Welche
Fachakademie für Heilpädagogik in Kooperation      Bildung brauche ich als Mensch mit Beeinträchti-
mit der Fachschule für Heilerziehungspflege        gungen?
durch. Mit einbezogen waren Mitarbeiterinnnen
des Franziskuswerks, die in Referaten und vor      Wir können sagen, dass wir momentan in der
allem in Workshops ihre Kompetenzen und            Behindertenhilfe in einer Umbruchsituation
Erfahrungen einbrachten.                           stehen. Einerseits wird das Soziale vermehrt von
                                                   einer ökonomischen Mentalität bestimmt,
Heilpädagogische Erwachsenenbildung wird in        andererseits verändern die Leitideen Selbstbestim-
der Fachakademie für Heilpädagogik als vertiefte   mung, Empowerment, Inklusion und Teilhabe die
Methode unterrichtet. Man kann sich im dritten     Praxis. Ein Titel eines gerade erschienen Buches
Studienjahr entscheiden, ob man entweder           der Lebenshilfe lautet daher: „Zwischen Tradition
Heilpädagogische Spieltherapie, Psychomotorik      und Innovation“. Wir erwarten Umbrüche in der
oder Heilpädagogische Erwachsenenbildung           Erwartung an das Profil sozialer und pflegerischer
wählt.                                             Berufe. Es droht in vielen Arbeitsfeldern ein
                                                   Fachkräftemangel. Wir sehen in den heutigen
Fachlich aufgebaut hat dies die ehemalige Schul-   Zeiten Chancen und Risiken.
leiterin der Fachakademie Lilo Nitz. Sie hat in
ihrem Beitrag Inhalte und Themen dieses Unter-     Wie passt das Thema „Erwachsenenbildung“
richtsfaches beschrieben. Weitergeführt wird       hinein in diese Zeit? Das Fachgebiet Heilpädago-
das Unterrichtsfach jetzt von Elisabeth Dausch,    gik und die Berufsgruppen der Heilerziehungs-
die abschließend einen Ausblick zum Thema          pfleger/in und Heilpädagogen/in müssen sich
geben wird.                                        dieser Umbruchssituation stellen.
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4    Einführung

    Werden, der ich bin                                 Heilerziehungspfleger/innen begleiten, beraten,
    und leben, so wie ich es möchte.                    assistieren und pflegen Menschen mit Behinde-
    Diese Selbstverständlichkeit ist für Menschen mit   rungen aller Altersstufen. Diese Tätigkeiten und
    Beeinträchtigung in der deutschen Gesellschaft      mit ihnen auch die Bildungsangebote sind
    immer noch mit Hürden belegt. Genauso wie           vorrangig auf den Alltag bezogen. Die Bildungs-
    jeder Erwachsene, benötigen Menschen mit            angebote entwickeln sich im Lebensumfeld dieser
    mentalen oder psychischen Beeinträchtigungen        Menschen und wirken in dieses unmittelbare
    Bildungsangebote für ihre Subjektwerdung.           Lebensumfeld hinein. Sie dienen dem, was
                                                        letztlich mit „Gestaltung des eigenen Lebens“
    Heilpädagog/innen und Heilerziehungspfleger/-       und „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“
    innen können mit Bildungsangeboten helfen,          umschrieben werden könnte.
    Menschen in ihrer Selbstbestimmung und ihrem
    Bestreben nach Teilhabe zu unterstützen. Die        Heilpädagogen/innen handeln vorrangig, jedoch
    Tätigkeitsmerkmale beider Berufsbilder sind         nicht ausschließlich, bezogen auf den Ablauf von
    bestimmt vom Fundament der Beziehung und            Hilfeleistungen und bezogen auf heilpädagogi-
    vom Geschehen der Begegnung. Die beruflichen        sche Angebote. Heilpädagogisch gestaltete
    Schulen der Akademie legen diesem Geschehen,        Erwachsenenbildung ist dann ein spezielles
    das sich immer zwischen Menschen ereignet, ein      Angebot, eine bestimmte Art und Weise der
    auf der Vorstellung des Christlich geprägten        Herangehensweise mit dem Richtziel der Inklusi-
    Menschenbildes zu Grunde. „Menschenbild“,           on. In der personalen Begegnung wird sie oftmals
    „Bild vom Menschen“ – „Bildung“, „bilden“.          eher zeitlich begrenzt angeboten. Die vertiefte
    Wenn wir von Erwachsenenbildung, wenn wir von       Gestaltung sozialer Beziehungen wird durch
    Bildung insgesamt sprechen, werden wir uns          organisierende und steuernde Unterstützungs-
    natürlich auch die Frage stellen müssen: Und an     maßnahmen ergänzt.
    welchem Bild orientieren wir uns denn eigentlich?
                                                        Mit dieser Broschüre möchten wir Impulse für eine
    Unter dem Dach des Heilpädagogischen sind           kleine heilpädagogische Bildungsoffensive vor Ort
    Aufgaben, Rollen und Funktionen von Heilpäda-       geben – vielleicht zunächst eher im Kleinen, dann
    gogen/innen und Heilerziehungspfleger/innen         aber umso wirkungsvoller auch in den jeweiligen
    verwandt und doch auch unterschiedlich. Unter-      Einrichtungen.
    schiede in der beruflichen Tätigkeit beider
    Berufsgruppen sind vor allem in den jeweiligen
    Aufgabenstellungen begründet.

    Während Heilpädagogen/innen innerhalb von
    „deklarierten Orten der Förderung, Therapie und
    Bildung“ tätig sind, bezieht sich das Berufsbild
    des Heilerziehungspflegers eher auf die „Orte
    des Alltäglichen“. Durch die unterschiedlichen
    Settings ergeben sich auch unterschiedliche
    Vorgehensweisen.
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Einführung    5

Vom Ursprung des Begriffes
„Bildung“ – Kennzeichen eines
biblisch-christlichen Bildes
vom Menschen
                                                       Georg Blaser

An der Geschichte des Bildungsbegriffs lässt sich    Es loht demnach durchaus, im Zusammenhang
verfolgen, dass dieser im Laufe der Zeit nicht nur   mit dem Themenbereich „Erwachsenenbildung“
eine, sondern mehrere, teilweise recht unter-        Akzentsetzungen, die für die biblisch-christliche
schiedliche Deutungen erfahren hat: angefangen       Tradition in ihrem bildhaften Denken und Verste-
bei der religiösen Bedeutung über die Persönlich-    hen prägend sind, ins Bewusstsein zu heben. In
keitsentwicklung bis hin zur Ware „Bildung“.         wenigen Strichen skizziert, können diese dann
                                                     Ausgangspunkt sein für ernsthafte gedankliche
Der deutsche Begriff „Bildung“ entstand im           Auseinandersetzung um ein tieferes Verstehen
Mittelalter, wohl als eine Begriffsschöpfung des     des Menschen, bzw. des Menschseins.
Mystikers Meister Eckhart. Der Begriff ist nach
dieser Annahme theologischen Ursprungs.              Der Mensch erfährt sein Leben als ein
„Bilden“ wird demnach verstanden als ge-bildet       Geschenk. Es ist ihm Gabe und Aufgabe
werden durch Gott und als ge-bildet werden nach      zugleich, und es ist seiner Verfügungs-
dem Ab-Bild Gottes.                                  gewalt entzogen.
Verwiesen wird dabei auf die entsprechenden
Textpassagen vor allem am Beginn der hebräi-         Nach dem Bild der Bibel ist der Mensch von Gott,
schen Bibel. Als eindrückliches Beispiel sollen      als dessen Abbild und Gleichnis geschaffen. Darin
einige Verse aus dem Buch Genesis dienen:            liegt im Kern die Unantastbarkeit seiner Würde
                                                     und seiner Freiheit begründet.
  „Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als        Der Mensch ist nach biblischem Verständnis
  unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen    zudem als Mann und Frau geschaffen. Als
  über die Fische des Meeres, über die Vögel des     Einzelwesen genügt er sich selber nicht; er ist
  Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde        vielmehr auf seinen Mitmenschen verwiesen.
  und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott       Wesenmerkmale des Menschen sind damit seine
  schuf also den Menschen als sein Abbild; als       Sozialität wie seine Sexualität.
  Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau      Gleichzeitig ist ausgesagt, dass der Mensch
  schuf er sie. Gott segnete sie …“                  aufgrund seines geistigen Vermögens, seiner
  (Genesis 1,26-28).                                 Freiheit und seiner Gestaltungskraft Anteil hat am
                                                     fortdauernden Schöpfungsgeschehen Gottes.
                                                     Dieser „Kulturauftrag“ schließt eine große
                                                     Verantwortung für die Welt mit ein. In diesem
                                                     Punkt unterscheidet sich der Mensch von den
                                                     anderen Mit-Geschöpfen – er ist zugleich deren
                                                     Anwalt und deren Stimme.
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6    Einführung

    Der Mensch erfährt sein Leben als be-               Viele Menschen nehmen daher in Achtsam-
    grenzt. In unterschiedlicher Form                   keit und Sensibilität etwas Besonderes,
    stößt er auf Endlichkeit in seinem Dasein           etwas „Geheimnis-Volles“ im eigenen
    auf dieser Welt.                                    Erleben und Erfahren, wie auch in den
                                                        Begegnungen mit den Mitmenschen und
    Der Mensch ist bestimmt durch das Zusammen-         mit der gesamten Schöpfung wahr. Sie
    spiel von körperlichen, geistigen und seelischen    spüren sich in Berührung mit ihrem Ur-
    Prozessen. Bei einem ganzheitlichen Verständnis     sprung, und ahnen zugleich ihre endgülti-
    von menschlichem Dasein, gilt es, Begrenztheit in   ge Bestimmung und Vollendung.
    unterschiedlicher Form anzunehmen, z.B. in der
    • Unmöglichkeit, die ganze Wirklichkeit in          Menschliches Leben lässt sich in biblisch-christli-
       seinem geistigen Vermögen auch nur annä-         cher Tradition sehr treffend im Bild des Weges
       hernd zu erfassen; z.B. in der Tatsache,         charakterisieren. Der Weg nimmt seinen Ausgang
       Krankheit und Leid ertragen zu müssen;           von Gott als dem Schöpfer des Menschen wie des
    • Schwierigkeit, von seiner Freiheit richtigen      gesamten Daseins; dieser Weg findet sein Ziel
       Gebrauch zu machen, bzw. in der Möglichkeit,     wiederum bei Gott als dem, der alles Leben zur
       schuldig zu werden;                              Vollendung, zur Ganzheit führt.
    • Notwendigkeit, den irdischen Tod sterben zu
       müssen.                                          Im christlichen Glauben beheimatete
                                                        Menschen erfahren an Jesus Christus den
    Der Mensch erfährt sich auf der Suche und           Maßstab menschlichen Lebens überhaupt.
    von Sehnsucht getrieben. Er nimmt sich als          Im Bestehen von Höhen und Tiefen wird
    einer wahr, der sich nicht selber genügt;           dieser besondere Mensch zum „Vor-Bild“
    er erfährt sich als ein Wesen, das über sich        von Menschsein.
    selber und das über diese Welt hinaus weist.
                                                        Jesus Christus ist nach christlichem Verständnis
    Der Mensch ist in biblischem Verständnis als ein    Gott ganz nahe. Er stammt „aus der Mitte
    freies Wesen gedacht. Er ist nicht von Instinkten   Gottes“; er wird „Sohn Gottes“ genannt. An
    bestimmt und damit auch nicht in einen abge-        Jesus Christus wird von seiner Geburt an bis über
    grenzten Lebens- und Erfahrungsraum eingebun-       seinen Tod hinaus – bis zu seiner „Auferstehung“,
    den. Dies zeigt sich in einem Fragen und Streben,   seiner „Heimkehr zu Gott“ – das Bild eines
    das im letzten jeden Antwortversuch und jede        erfüllten und im letzten geglückten Menschseins
    Erfüllung einer Sehnsucht als vorläufig, vergäng-   ablesbar.
    lich und ungenügend empfindet; es kommt
    ebenso zum Ausdruck in der Vielfalt menschlicher    Nicht von jeder und jedem werden solche
    Gewissensempfindungen und Gewissensanfra-           „Grundannahmen“ geteilt werden, geteilt
    gen.                                                werden können. Für eine gedankliche und
                                                        sprachliche Auseinandersetzung taugen sie
                                                        allemal. Insofern könnten sie durchaus ein
                                                        kleiner Beitrag sein, im gegenseitigen Austausch
                                                        „Bildung“ zu erproben und zu erfahren.
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Der Fachtag    7

Heilpädagogisch
gestaltete Erwachsenenbildung –
Ein Handlungskonzept in der
Heilpädagogik zur Unterstützung von
Resilienz, Teilhabe und Selbstbestimmung
                                                       Lilo Nitz

Geschichte des Konzeptes in der Fach-                Kommunikationsmöglichkeiten zu erweitern oder
akademie für Heilpädagogik Schönbrunn                uns auf neue berufliche Aufgaben vorzubereiten.
Im September 2000 startete die staatlich ge-         Kurz: Mit einer Weiterbildung im Erwachsenen-
nehmigte Fachakademie für Heilpädagogik der          alter wollen wir uns für künftige Herausforderun-
Akademie Schönbrunn ihren Betrieb, entspre-          gen im Leben wappnen und unsere Möglichkeiten
chend staatlichem Lehrplan und der staatlichen       erweitern. Dem war also mit einem Ausbildungs-
Fachakademieordnung in Bayern. Dieser Lehrplan       konzept zu entsprechen, mit dem sich angehende
ist vor allem auf die Arbeit mit Kindern und         Heilpädagogen für eine angestrebte Arbeit mit
Jugendlichen ausgerichtet, sowohl in den grund-      Erwachsenen spezialisieren konnten.
legenden Theoriefächern wie in den Methoden
und Konzepten heilpädagogischen Handelns.            Mein Ausbildungskonzept „Heilpädagogisch
                                                     gestaltete Erwachsenenbildung“ sollte alle
Für eine heilpädagogische Spezialisierung boten      Studierenden in einer allgemeinen Übung in das
wir den Studierenden des ersten Ausbildungsgan-      Konzept einführen. In einer vertiefenden speziel-
ges daher neben all denen, die im Lehrplan bereits   len Übung zur Wahl konnten sich danach diejeni-
vorgesehen waren, vor allem Inhalte und Übun-        gen spezialisieren und weiter qualifizieren, die das
gen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.     Handlungskonzept in unterschiedlichen Praxisfel-
Es waren insbesondere Methoden und Konzepte          dern möglichst inklusiv anwenden wollten. Alle
aus den Handlungsspektren „Spielförderung,           Studierenden erhielten also im ersten Studienab-
Spieltherapie und kreativ-gestaltende Verfahren“     schnitt (zweites Studienjahr der Teilzeitausbildung)
sowie „Psychomotorik“.                               eine Einführung und interessierte Studierende
                                                     schrieben sich danach ein für eine theoretische
Einzelne Studierende bedauerten, sich nicht für      Vertiefung und praktische Spezialisierung. Das
eine Arbeit mit Erwachsenen spezialisieren zu        Wahlangebot war mit großem Stundenumfang
können. Auch mein Wunsch als Leiterin des            ausgestattet und im zweiten Studienabschnitt
Ausbildungsbereiches war es, dem heilpädago-         eingeplant (3. und 4. Studienjahr der Teilzeitaus-
gischen Bedarf Erwachsener mit spezifischen          bildung). Parallel zum Unterricht erfolgte eine
Angeboten noch mehr zu entsprechen. Erwachse-        Umsetzung im Praktikum. Den Lernprozess in
ne mit einem heilpädagogischen Bedarf möchten,       Theorie und Praxis begleitete ich selbst als Fach-
wie wir auch, ihr Leben in die eigene Hand           und Praxisdozentin durch individuelle Gespräche,
nehmen und nach eigenen Wünschen realisieren.        durch Praxisbesuche und durch eine Gruppen-
Entsprechende Bildungs- und Freizeitangebote         supervision für diese Studierenden. Das Hand-
sollten daher sowohl auf ihre gesellschaftliche      lungskonzept traf bei Studierenden und in den
Teilhabe wie auf persönliche Weiterentwicklung       Praxisstellen auf große Nachfrage und große
zielen. Wir Erwachsenen nutzen Bildung in der        Wertschätzung.
Regel dazu, Neues kennen zu lernen, unsere
Persönlichkeit zu entfalten, unsere Gesundheit zu
pflegen, unsere Aufnahme-, Ausdrucks- und
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8     Der Fachtag

Praxisfelder, in denen
unsere heilpädagogisch
gestalteten Bildungs-
angebote für Erwachsene
nachgefragt wurden und
werden.

                          Rechtsanspruch auf lebenslanges Lernen             Beispiele alltäglicher Hürden:
                          und bestehende Realität bilden den didak-          • Belastende Lernerfahrungen in der Regelschule
                          tischen Rahmen für eine heilpädagogisch               hemmen die Motivation
                          gestaltet Erwachsenenbildung                       • Geeignete Bildungsangebote für Erwachsene
                          Bildung, Selbstbestimmung und Teilhabe sind           sind zu wenig bekannt
                          nach UN-Charta lebenslang Rechtsgut aller          • Gewünschte Bildungsangebote sind verkehrs-
                          Menschen. Bildungsangebote müssen daher allen         technisch nicht erreichbar
                          Menschen zur Verfügung stehen und auch             • Gewünschte Kurse finden zu schwer realisier-
                          Lernern mit Einschränkungen ein Lernen auf einer      baren Zeiten statt
                          ihnen gemäßen Ebene bieten. Erwachsene mit         • Erste Versuche in Kursen oder Seminaren
                          mentalen oder psychischen Einschränkungen             verliefen stressig und freudlos, weil Teilnehmer
                          haben zwar die gleichen Wünsche, wie wir auf          keinen Einfluss nehmen konnten oder ihre
                          Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Erweiterung       Wünsche und Bedürfnisse zu wenig berück-
                          ihrer individuellen Möglichkeiten. Ihr Zugang zu      sichtigt wurden. Zu Isolation und Frustration
                          entsprechenden Bildungsangeboten war jedoch           kam es auch, wenn Sprache, Tempo und
                          2002 in Deutschland noch wenig gesichert und          Methodik des Referenten nicht angepasst
                          ist auch heute noch nicht gänzlich barrierefrei       waren.
                          möglich.
                                                                             Erwachsenenbildung ist daher anzusiedeln auf
                                                                             einer für die Teilnehmer passenden Ebene.
                                                                             Leitidee ist nach Klafki und Theunissen Hilfe zur
                                                                             Selbstbildung (Theunissen, G. 2002, Seite 78 ff).
Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte - Fachtagung 09 - Akademie ...
Der Fachtag   9

Sie wird realisiert durch eine Unterstützung bzw.     einer vierten Ebene. Fähigkeiten der Wahrneh-
Begleitung der Identitätsbildung und der Persön-      mung, des Ausdrucks und des Lebensgenusses
lichkeitsentwicklung. Soziales Lernen zum Zweck       schließlich werden auf einer basalen fünften
der sozialen und gesellschaftlichen Partizipation     Ebene verfolgt.
ist von großer Bedeutung, wobei immer auch
eine Unterstützung und Begleitung der Sachwelt-       Klafki und Theunissen (ebd. S. 62–64) benennen
erschließung geschehen muss.                          zentrale Funktionen, die Bildungsangebote bei
                                                      erwachsenen Teilnehmern bewirken sollen.
Das Lernen selbst geschieht auf unterschiedlichen     Leitprinzipien der Erwachsenenbildung, wie sie
Zielebenen (ebd. S. 79 ff). Emanzipation durch        von Arnold, Edelmann oder Ruddies allgemein
Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidari-         formuliert wurden, sollen auch im heilpädagogi-
tät stellt die oberste Zielebene dar. Dazu bedarf     schen Feld das Handeln bestimmen. Theunissen,
es personaler und sozialer Schlüsselqualifikationen   Schuchart und Senckel haben sie dafür teilweise
für das Zusammenleben, die auf einer zweiten          spezifiziert (Vgl.ebd.S.65 ff).
Ebene immer mit fokussiert werden. Ziele und
Inhalte verbinden sich zu „Schlüsselthemen der
Teilhabe“, die auf einer dritten Ebene verfolgt
werden. Sach- und Methodenkompetenz entsteht
durch das Vermitteln funktionaler und lebensprak-
tischer Fähigkeiten für Beruf und Alltagsleben auf

                                                                                                          Funktion von heilpäda-
                                                                                                          gogisch gestalteter
                                                                                                          Erwachsenenbildung
                                                                                                          (Abb. in Anlehnung nach
                                                                                                          Klafki und Theunissen)
10   Der Fachtag

Inhaltliche und methodische Schwerpunkte heilpädagogisch gestalteter Erwachsenenbildung
Der Fachtag   11

Alle Teilnehmer der Erwachsenenbildungsange-         Das Salutogenese-Konzept von Aaron
bote, die unsere Studierenden im Praktikum           Antonovsky und seine Wirkung auf
durchführten, wünschten sich eine Fortsetzung        Bildungsprozesse
des Angebotes. Ihre Wertschätzung für die            Antonovsky belegt in seinen Forschungen, was
Angebote selbst und für die Studierenden als         Unterrichts- und Seminarerfahrungen bestätigen:
Anbieter war durchweg sehr groß.                     Schüler und Teilnehmer bleiben gesund und
                                                     fühlen sich wohl, wenn sie ihren Lernstoff
In der Praxis erwies sich die Gruppe selbst als      verstehen, die an sie gestellten Anforderungen
wichtigstes Lernfeld. In der Gruppe können           handhaben können und wenn sie ihr Lernen
Schlüsselfähigkeiten für das soziale Zusammen-       selbstwirksam gestalten können. Auf diesem Weg
leben und erste Teilhabekompetenzen erworben         stärken sie ihr Kohärenzgefühl, das mit einer Art
werden. Gelungene Teilhabe im Kleinen ermutigt       positivem Vertrauen in die Welt und in eigene
dann zu mehr Teilhabe in der Gesellschaft.           Möglichkeiten übersetzt werden kann. Das
                                                     Kohärenzgefühl erhöht Leistungsbereitschaft und
Ein heilpädagogisch gestaltetes Bildungsangebot      Leistungsvermögen und erweitert Copingfähig-
ermöglicht Lernern mit Einschränkungen Erfolge.      keiten und Belastbarkeit in Stresssituationen.
Erfolg erhöht die intrinsische Lernmotivation.       Ergebnis: Das Vertrauen in eigene Ressourcen und
Dialogisch gestaltete Beziehung erhöht den           Fähigkeiten wächst, Lernen macht Freude.
Zusammenhalt in der Lerngruppe und die Lern-
motivation der Teilnehmer darüber hinaus. So         Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl
entsteht eine positive hermeneutische Spirale und    • begünstigt Selbstannahme und ein positives
löst die alte Negativspirale ab.                        Selbstkonzept der Lerner
                                                     • bestärkt die Einsicht, dass sich Anstrengung
Diese Wirkung zeigt sich auch im heilpädagogisch        und Einsatz beim Lernen lohnen,
gestalteten Bildungsangebot für Lerner unserer       • unterstützt den Lernerfolg.
Berufsfachschule für Sozialpflege: Heilpädagogi-
sche Lernbegleitung als Gruppenangebot und           Ein schwach ausgeprägtes Kohärenzgefühl
individuelles Lern-Coaching, angeboten durch         hingegen
unsere Studierenden, befähigt die Hauptschul-        • führt zu negativer Selbstbewertung,
absolventen dieser Schulform, auch wenn sie aus      • wirkt sich negativ auf Lernmotivation und
bildungsfernen Elternhäusern kommen und                 Leistungsvermögen aus,
schwierige Biografien oder brüchige Schullauf-       • schwächt die körperliche und psychische
bahnen mitbringen, zu großen Lernerfolgen.              Belastbarkeit der Lerner,
Viele Schüler bekamen dadurch zum ersten Mal         • bewirkt Gefühle der Nichtlösbarkeit von
in ihrem Leben Lust am Lernen, was weitere              Aufgaben und persönliches Ohnmachtsgefühl,
Lernerfolge bewirkte. Die praktizierte dialogische   • lässt Lerner häufig vorschnell abbrechen.
Beziehung in den sogenannten. „Kompetenz-
gruppen“ erhöhte den Gruppenzusammenhalt.            Folgende Konsequenzen aus dem Salutogenese-
Die erkennbare Wirkung des Angebots „Zunahme         Paradigma sollten Anbieter für die Gestaltung des
an Lernmotivation und Leistungsbereitschaft bei      Bildungsprozesses ziehen:
den Schülern“ wurde zum Modell für die Bezie-        • Lerner als Experten ihres persönlichen
hungsgestaltung durch die Lehrer, wo sie weitere        Health-Disease-Kontinuums achten,
positive Ergebnisse bei Leistungsbereitschaft und    • sich als Lehrer nicht auf Probleme und Risiko-
Erfolgen bewirkte.                                      faktoren eines Lerners fokussieren, sondern
                                                        auf seine Ressourcen und Widerstandskräfte
Konsequenzen für den Unterricht:                     • Lernern Erkenntnisse der Resilienz- und
Zur Festigung der positiven hermeneutischen             Ressourcenforschung vermitteln, sie die eigene
Spirale beschloss ich, Erkenntnisse aus dem             Biografie als Ressource begreifen lehren und
Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky,          sie über Quellen für die Stärkung ihrer Wider-
dem Konzept der Logotherapie von Viktor E.              standskräfte informieren,
Frankl und aus neurobiologischen Forschungen         • Lernern sinnvolle Bewältigungsmöglichkeiten
von Joachim Bauer zu vermitteln und als metho-          und Copingstrategien aufzeigen
disch-didaktische Handlungsorientierung im
Unterricht selbst anzuwenden.
12    Der Fachtag

     •   Lernern persönliche Wege zum Sinn aufzeigen        Literatur
         als befriedigende Form der Lebensgestaltung,       Frankl, Viktor E.: Der Mensch vor der Suche nach dem Sinn,
         die Freude, Gesundheit und Belastbarkeit           München 1999
         erhöht,                                            und: Der Seele Heimat ist der Sinn, München 2007
     •   Humor in den Unterricht einbeziehen, weil er       Lotz Dieter: Heilpädagogische Übungsbehandlung als
         Hemmungen löst und Problemlösung aktiviert         Suche nach Sinn, Bielefeld 1999
         und weil gemeinsames Lachen als freizügige         Lukas, Elisabeth: Dein Leben ist deine Chance, München
         Gleichwertigkeit erlebt wird                       2010

     Literatur                                              Neurobiologische Forschungsergebnisse
     Antonovsky, Aaron: Salutogenese, Tübingen 1997         von Joachim Bauer und ihre Relevanz für
     Felbinger, Andrea: Kohärenzorientierte Lernkultur,     Beziehungs- und Prozessgestaltung auf
     Wiesbaden 2010                                         Lern- und Bildungswegen
                                                            Motivation resultiert aus erlebter dialogischer
     Die Logotherapie Viktor Frankls und ihre               Beziehung, Angst und Aggression sind Folge
     Wirkung auf Bildungsprozesse                           fehlender dialogischer Beziehung. Beides beruht
     Erfolg und Leistung sind nach Frankl ohne              auf Botenstoffen des Gehirns, die nur bei erlebter
     Sinnerfahrung nicht denkbar. Erst wenn ein             dialogischer Beziehung ausgeschüttet werden.
     Mensch erkennt, worin für ihn ein persönlicher         Ohne Beziehung keine Motivation.
     Sinn liegt, ist er zu sinnvollem Handeln in der
     Lage. Das Ergebnis einer sinnvollen Handlung           •   Dopamin macht Lust sich anzustrengen und
     erlebt er als Erfolg. Sinnerfüllung erweist sich als       Leistung zu zeigen („ich will etwas tun“)
     sein wichtigstes Motivationsreservoire, während        •   Körpereigene Opioide erzeugen Wohlgefühl
     Sinnfrustration Leistungsverweigerung nach sich            und reduzieren Schmerzen („es macht Freude
     zieht. Erfolg ist Folge sinnvollen Handelns,               etwas zu tun“)
     Leistung ist Ausdruck sinnvollen Handelns. Beides      •   Oxytozin befähigt als Freundschaftshormon zu
     gelingt vorzüglich bei kreativem Handeln, wenn es          Empathie und Beziehung („ich setze mich für
     freizügig, offen und unvoreingenommen abläuft.             dich ein“)

     Konsequenzen aus der Logotherapie für                  Ergebnisse aus Kernspinaufnahmen der
     die Gestaltung von Bildungsprozessen:                  Suchtforschung belegen:
     •   Lerner beraten, wie sie eigene Werte als Wege      Blickkontakt aktiviert die Ausschüttung von
         zum Sinn finden und nutzen können.                 Dopamin, Beistandserwartung bewirkt Linderung
     •   Lernern Möglichkeiten bieten, dass sie ihre        wie eine Morphingabe. Gesehen werden und
         Wege zum Sinn im persönlichen Bildungspro-         soziale Akzeptanz bewirken Motivation und
         zess aktiv leben können. Dafür selbstwirksames     Leistungsbereitschaft, Nicht-gesehen-werden
         Lernen einplanen, damit Lerner Lösungen            aktiviert Stress in den Systemen des Gehirns. Diese
         selbstständig und auf eigenen Wegen ent-           Stresshormone bewirken Angst, Depression und
         wickeln können und Lehrer nur Hilfe zur            Aggression als Abwehrverhalten. Empathie und
         Selbsthilfe bieten.                                Sozialverhalten entwickeln Menschen nur durch
     •   Lernern ihre Erfolge bewusst machen und sie        Lernen am Modell über Spielegelneuronen, denn:
         loben. Dazu müssen sie die Ziele ihres Bildungs-   Spiegelneuronen
         prozesses kennen und sich daraus kurzfristige      • werden aktiv, wenn der eigene Organismus
         und langfristige persönliche Ziele ableiten,          denkt, handelt und fühlt, aber genauso,
         für deren Realisierung sie sich dann aktiv         • wenn sie nur mitfühlen und mitdenken, sich
         einsetzen.                                            also einfühlen in einen anderen Menschen
     •   Lernern Mittel bereitstellen, damit sie Teil-      • machen aus Beobachtung echtes inneres
         erfolge erleben, Belastung in Grenzen halten          Erleben möglich als intuitive Information
         und das Optimum ihrer Leistungsbereitschaft           sowohl über das Befinden Anderer wie
         und –fähigkeit erreichen können.                      darüber, was ich selbst auslösen kann bei
                                                               Anderen
Der Fachtag   13

•   sind die Basis für emotionale Ansteckung            •   Lernanstrengungen der Lerner anerkennen
    (Gähneffekt) oder für emotionale Motivations-           und wertschätzen, und die fatale Wirkung
    killer (als solche wirken uninteressierte Lehrer)       eines ungestillten Bedeutungshungers beden-
•   können nur in der Interaktion mit anderen               ken
    Menschen geübt werden, müssen aber                  •   Assistenz als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen,
    zwingend geübt werden, damit sie als Fähig-             aber selbstgesteuertes Lernen nicht zu
    keit erhalten bleiben                                   selbstbestimmter Oberflächlichkeit ver-
•   sind auch die Basis für das dialogische Prinzip         kommen lassen,
    („Zeige mir, wer ich bin, indem du auf mich         •   Wohlbefindenskriterien berücksichtigen
    reagierst, lass mich spüren, dass ich da bin,           bei der Gestaltung der Lernräume, des Schul-
    indem du dich mir zuwendest, gib mir Lebens-            lebens und des Seminarbetriebs.
    zutrauen, indem du an meine Fähigkeiten
    glaubst“)                                           Literatur
•   wirken als Resonanz bei Lernern im Sinne einer      Joachim Bauer: Lob der Schule, Hamburg 2008
    self-fullfilling-prophethy                          Derselbe: Prinzip Menschlichkeit, Hamburg 2008
                                                        Derselbe: Warum ich fühle, was du fühlst, Hamburg 2006
Aggressives Verhalten
                                                        Hüther, Gerald u.a. Damit das Denken Sinn bekommt,
kann Ausdruck von Schmerzvermeidung oder                Freiburg 2008
Ausdruck von Angstabwehr sein, denn Stress und
soziale Ausgrenzung stimulieren dieselben
Regionen im Gehirn.
                                                            SINN
Häufiger Hintergrund von Aggression
•   selber erfahrene Gewalt oder Aggression,                Wenn ich krank gewesen bin
•   Angstabwehrverhalten,                                   (Sehr krank und in Krankenhäusern),
•   Ersatz gegen seelischen Schmerzen des                   Kannte ich gut den Lebenssinn.
    Nicht-gesehen-/Nicht-wertgeschätzt-Werdens,             Und er war einfach zu äußern:
•   Lernen am Modell aggressiver Vorbilder.                 Licht auf der Haut. Und der grüne Duft
                                                            Von Fichtennadelseife.
Mittel der Wahl gegen Destruktivität und                    Und die Freiheit zu gehen in irdischer Luft,
Aggression                                                  die ich atmend begreife.
•   liebevolle Erfahrungen des Gesehen-Werdens              Und Sonnenwärme ist fast schon zuviel
    und der Wertschätzung,                                  Und ein Ereignis der Morgen.
•   Sicherheit und Vertrauen durch sichere Bindung          Und Leben leicht wie ein zielloses Spiel.
•   Gehaltensein in einer glückenden Beziehung.             Und Hysterie sind die Sorgen,
                                                            Mit denen man sich die Tage vergällt
Konsequenzen aus der Neurobiologie für                      Und die Freude am Dasein vernichtet.
die Gestaltung des Bildungsprozesses:
•   Unterricht konsequent dialogisch gestalten              Und wunderbar ist das Bild dieser Welt,
    dadurch Botenstoffe anregen, die intrinsische           Wenn man es richtig belichtet.
    Motivation bewirken und Leistungsbereitschaft           Eva STRITTMATTER
    und Sozialverhalten erzeugen,
•   Vorbild sein in Empathie, Lerner anerken-
    nen und wertschätzen dadurch die Entwick-
    lung eben dieser Fähigkeiten bei den Lernern
    befördern,
•   Ängste, depressive Verstimmung und
    aggressives Verhalten von Lernern auch in
    ihrer möglichen neurobiologischen Logik
    bedenken. Es könnten Stressreaktionen sein
14    Bereich

     Sinn –
     und die Arbeit mit schwerst behinder-
     ten Menschen
                                                              Dr. Dieter Fischer

       Es ist des Menschen Jammer,                         Sinn hat nichts mit Glück zu tun. Fast könnte man
       dass er nicht fertig wird mit dem,                  eine Parallele zur Gesundheit ziehen, von der der
       was der Schöpfer vollbrachte                        Philosoph H. G. Gadamer (1993) sagt, gesund sei
       Elazar BENYOETZ                                     man, wenn man sich nicht spürt. Übertragen auf
                                                           unseren Zusammenhang hieße das: Sinn erlebt
                                                           man, wenn man sich wohl fühlt, ohne groß
     (1) Das voraus                                        nachzudenken. Dann fließt Energie und Ideen
     Mit Sinn im Gepäck ist für Menschen kaum ein          sprießen. Dann steht man am Morgen gerne auf,
     Weg zu weit und eine Anstrengung zu groß.             unterzieht sich auch einer größeren Mühe oder
     Dabei stehen sie vor zwei unterschiedlichen           stellt sich einer Aufgabe.
     Aufgaben, zum einen Sinn für die jeweilige
     Situation zu besitzen wie zu gewinnen, zum            (2) Die Rolle von Sinn im Leben eines
     anderen aber doch auch Sinn für den Gesamt-           Menschen
     zusammenhang von Welt und Leben als ihr Eigen         Zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zählt
     zu wissen und zu entdecken. (vgl. Frankl)             unbestreitbar, sein Leben als sinnvoll zu empfin-
                                                           den. Dabei reicht die Frage nach Lebenssinn weit
     Kaum jemand fragt sich, ob es Sinn mache, in          über das konkrete Bedürfen hinaus. Sinnfragen
     einer Fußballmannschaft mitzuspielen oder             beinhalten immer auch eine transzendente, eine
     Mitglied eines Orchesters zu sein, wenn die dazu      über sie selbst hinausweisende Dimension (Frankl
     notwendigen Fähigkeiten wie auch ein über den         2o5). Sinn selbst lässt sich mit dem Treibstoff für
     Tag hinaus reichendes Interesse vorliegen, weil in    ein Auto vergleichen; immer aber besteht die
     diesen ja Sinn bereits indirekt „aufgehoben“ ist.     Notwendigkeit, hierfür jeweils eine Tankstelle zu
                                                           wissen.
     Behinderung oder Krankheit dagegen, unabhän-
     gig von ihrer Schwere und Dauer, sind Gegeben-        Sinn hat mit dem Erleben von Identität und deren
     heiten, wo sich diese Selbstverständlichkeit nur      sich fortsetzende Bestätigung zu tun. Identität ist
     bedingt einstellt. Die Eltern fragen nach dem Sinn,   Ausdruck des Bewusstseins seiner selbst und
     ein behindertes oder krankes Kind zu haben;           bildet den inneren Kern der eigenen Person. Wird
     gleichermaßen stellen Menschen Fragen nach            etwas im Hinblick auf die eigene Person und
     dem Sinn, wenn sie selbst von einer Behinderung       deren subjektive Einschätzung als stimmig
     oder Krankheit betroffen sind.                        empfunden, wird die jeweilige Situation auch als
                                                           sinnvoll erlebt. Lebenssituationen, die diesem
                                                           Empfinden widersprechen, erscheinen als sinnlos.
                                                           Durchgängig erlebte Sinnlosigkeit gilt als Irritation
                                                           pur und ist für den Menschen auf Dauer kaum zu
                                                           ertragen.
Bereich   15

Da aber Befinden wie auch Gefühle selten               annehmen oder ablehnen, etwas als schön oder
dauerhaft sind, sondern auf- und absteigen wie         hässlich finden oder den Dingen und Situation des
ein Nebel oder ein Sonnenstrahl, bedeutet das          eigenen Lebens eine persönliche Bedeutung
ein Doppeltes:                                         zusprechen oder einen übergeordneten Wert
• zum einen man kann erfahrenen Sinn nur               verneinen.
   bedingt über den Tag hinaus festhalten
• zum anderen muss man das Erleben von Sinn              Insofern ist Sinn nie gegeben –
   ständig erneuern und ihn aufladen wie einen           sondern Ergebnis persönlicher „Arbeit“!
   Akku, was eine passende Steckdose voraus-
   setzt.                                              Dabei überrascht, dass die Frage nach dem Sinn
                                                       sich vor allem dann stellt, wenn es einem verhält-
Deshalb greifen viele Menschen immer wieder            nismäßig gut geht. (vgl. auch J. Hersch 1979)
gerne auf ihre Vergangenheit zurück und suchen         Man hat seine Arbeit, feiert Feste, hat gute
nach Punkten, wo ihnen Sinn begegnet ist. Indem        Kontakte zu Nachbarn und täglich genügend
sie anderen Menschen davon erzählen, fühlen sie        Essen, eine Wohnung und ausreichend Kleidung.
sich bestätigt, wiederholen quasi den Sinn aus         Jeanne Hersch sagt, dieser Sinn sei arm, er ist
jener Zeit und holen diesen in die Gegenwart.          nicht menschlich und kulturell entwickelt, aber er
                                                       ist in seiner biologischen Schlichtheit und Selbst-
Das Prinzip dabei ist einfach: Damals war es auch      verständlichkeit außerordentlich fest. „Wer nur
eine schwere Zeit, sie hat man nicht nur überstan-     die Fülle will, verzichtet darauf, ein Mensch zu
den, sondern am Ende sogar als „sinnvoll“ – mit        sein. (1979, 314). Darin gründet auch die Tatsa-
Sinn gefüllt – erlebt. Daraus erwächst die Hoff-       che, dass es in Kriegs- und Krisenzeiten viel
nung, das Neue, jetzt Schwierige auch wieder zu        weniger Depressionen, Melancholie und Selbst-
meistern.                                              morde gibt als in normalen geschichtlichen
                                                       Perioden.
Manche sehen sich auch nach Vorbildern oder
anderen Betroffenen um und versuchen von deren         Das Leben wird sinnvoll, weil es ganz und gar in
Sinn-Erfahrungen zu profitieren. Daraus erklären       der dringenden Anstrengung aufgeht, überleben
sich u.a. die positiven Wirkungen von Selbsthilfe-     zu können. Dieser Druck des Vitalen verschwindet
gruppen.                                               nie ganz – weil wir täglich essen oder uns kleiden
                                                       müssen, täglich hoffen, nicht krank zu werden
(3) Gedanken zum „Sinn des Sinns“                      oder gar zu sterben.
Die Philosophin Jeanne Hersch hat sich in ihrer
Arbeit mehrfach mit der Frage nach dem Sinn des        Und so ist nur zu verständlich, dass sich jeder
Lebens befasst (1979/1988). Nach ihrer Überzeu-        bemüht, einen gewissen Grad an Sicherheit zu
gung finden dann Menschen keinen Sinn im               erwerben. Bedürfnisse wie auch Bedrohungen
Leben, wenn dieser für sie wie ein Gegenstand,         werden quasi auf Distanz gehalten. So gewinnt
fast wie eine Ware gesehen wird. Sie glauben,          die Seele einen ganz eigenen Raum, um zu
man könne ihn wie Nahrung, Kleider, Bücher,            sich zu kommen und sich dann auch anderen
Blumen, Autos, CDs, Erlebnisse oder Abenteuer          Problemen zu stellen – eben den menschlichen,
einfach kaufen (Hersch 1979, 311).                     der Frage nach dem Sinn!

Doch weder Gegenstände oder Tatsachen noch             Es stimmt also nicht, dass unser Leben quasi
Situationen haben einen Sinn an sich – außer           „sinnlos“ geworden ist. Sinn kann man nur
jenem, dass es sie gibt. Man muss sie „in Kauf         bedingt außerhalb finden, sondern vor allem in
nehmen“, wie sie eben sind, ob sie einem gefallen      sich selbst! Das heißt, es geht darum, in uns den
oder nicht. Erst in der Art, wie wir sie aufnehmen,    „Sinn für den Sinn“ zu wecken und wach zu
erleben, sie deuten oder verarbeiten, erhalten sie     halten. Erachten wir die Welt als sinnlos, dann
für uns und durch uns einen Sinn. Den Sinn             ist meist unsere den Sinn belebende Quelle
finden wir – im Gegensatz zum Leiden (1988) –          erschöpft, nicht aber der Sinn grundsätzlich
nie vor. Wir sind für ihn verantwortlich in der Art,   abhanden gekommen.
wie wir mit den Dingen und Geschehnissen
unseres Lebens umgehen. Genau darin spiegelt
sich ein Stück unserer Freiheit – man kann etwas
16    Der Fachtag

     Äußere Bedingungen garantieren den Sinn             (4) Heilpädagogik und Sinn
     nicht, aber sie können ihn begünstigen. Der Weg     Unsere Versuchung, vorschnell einer Behinderung
     geht vom einfachen, biologischen Überleben          oder Krankheit Sinn zuzusprechen, wird von
     hinauf zu der Frage nach dem Sinn für uns –         Betroffenen nicht selten und mit Recht als
     als der eigentlichen menschlichen Frage. Alle       über-heblich empfunden, ebenso die Neigung,
     sozialen Momente und Ereignisse dienen dem          Behinderung oder Krankheit „klein zu reden“ –
     Erwachen der Frage nach einem menschen-             z.B. nach dem provokativen Motto „Behinderung
     würdigen Sinn.                                      ist schön“ oder aber „Es ist normal, verschieden
                                                         zu sein“. Wer dies tut, hat noch zu wenig über
     Innere Bedingungen sind für Jeanne Hersch           Behinderung und Krankheit nachgedacht oder
     „bestimmte Einstellungen“. Nur Abstand zu           aber sich einer ideologischen Sichtweise hinge-
     nehmen von den das Leben bedrohenden wie            geben.
     auch förderlichen Bedürfnissen, genügt sicher
     nicht. Aber auch ein überzogenes Hoffen und         Heilpädagogisches Tun wird nur dann glaubhaft,
     Streben nach durchgängigem Glück erschweren         wenn es sich der Realität nicht verschließt und
     jede Möglichkeit, den Sinn zu finden.               das auf- und annimmt, was Menschen erleben
                                                         und wie sie ihrem Schweren begegnen. Das heißt
     Man muss für Sinn empfänglich sein – konkret        noch lange nicht, aus jeder Behinderung oder
     Dinge wahrnehmen und hinter dem Grün das            Krankheit ein Drama zu schmieden. Vielmehr gilt
     Grün suchen und entdecken („Tritt ein in das        es, dem zuzuhören, was der oder die andere zu
     Grün hinter dem Grün“, Albert von Schirnding),      berichten oder zu erzählen hat.
     es als solches erkennen, für sich aufsammeln und
     sich damit identifizieren.                          Heilpädagogik weiß von der Brüchigkeit mensch-
                                                         lichen Lebens. Insofern ist für sie das Imperfekte
     Sinn setzt Mangel voraus. Dort, wo man sein         des Menschen Credo wie auch Erfahrungsgrund-
     Leben auf der Bedürfnisebene zuschüttet,            lage. Dabei geht es nicht darum, die Menschen in
     verstopft man quasi die Kanäle für den Sinn.        zwei Gruppen einzuteilen – hier die Leistungsträ-
     Ohne Mangel gäbe es nur Vorhandensein. Wäre         ger, also die „Perfekten“ und dort die „Im-Perfek-
     der Mensch ein Wesen der Fülle, würde er weder      ten“, jene, die wenig bis nichts zum Sozialprodukt
     zielen noch sich sehnen, er würde nach nichts       der Gesellschaft beitragen, sondern im Gegenteil
     streben. Und da er kein Wesen der Fülle ist,        Geld kosten, Zeit benötigen und Energie verbrau-
     sehnt er sich nach Sinn. (ebd. 314/315)             chen.

     „Der Sinn nach dem Sinn ist nur dann lebendig,      Das Moment des „Im-Perfekten“ geht durch
     wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht.“        jeden Menschen hindurch – jeder hat Anteil, wenn
     (a.a.O.). Ohne ein Sich-Binden an Unersetzliches    auch in unterschiedlichem Maße. Leonardo Boff
     kann auch nichts Radikales passieren. Viele         bezeichnete den Menschen einmal als UND-We-
     Menschen tun alles dafür, absolut unverwundbar      sen – bei ihm als männlich und weiblich, als fleißig
     zu sein. Wer sich keiner Gefahr der absoluten       und faul, als jung und alt, als krank und als
     Bindung aussetzen will, erfährt eine eigenartige    gesund – und so auch als „perfekt“ wie auch als
     Sinnlosigkeit des Lebens. (a.a.O.) Mit der Zeit     „im-perfekt“.
     wird die so erfahrene Sinnlosigkeit schlimmer als
     das zu erwartende oder gefürchtete Unglück.

     Menschen, die ein Gefühl für den Sinn oder – mit
     Jeanne Hersch gesprochen – „einen Sinn für den
     Sinn“ haben, genügt das Faktum „Leben“ allein
     meist nicht. Sie fragen darüber hinaus, ob ihr
     Leben auch in besonders schwierigen Situationen
     Sinn habe, das sie selbst als Belastung, Begren-
     zung oder als Irritation empfinden bzw. als
     Kränkung erleben.
Der Fachtag    17

Heilpädagogik ist von ihrem Selbstverständnis her    (5) Behinderung bzw. Krankheit und Sinn
weit davon entfernt, weder das Im-Perfekte zu        Die nachfolgenden fünf Zeitzeugen sollen stell-
huldigen noch das Im-Perfektes möglichst in          vertretend für andere stehen und den schwierigen
Perfektes umzuwandeln; vielmehr besteht ihre         Zusammenhang von Krankheit, Behinderung oder
Aufgabe darin, ein Votum für die tatsächlichen       Irritationen und Sinn auf sehr persönliche Weise
Gegebenheiten menschlichen Seins einzubringen        beleuchten:
und in diesem Kontext jeweils das ihre zu tun.       • Herta MÜLLER –
Wenn sich Heilpädagogik besonders um beein-              Beschädigungen auf Grund eines Lebens
trächtige Menschen bemüht, um jene also,                 unter Diktatur
„die sich selbst nicht forthelfen können“            • Christof SCHLINGENSIEF –
(Joh. H. Pestalozzi), dann arbeitet sie einerseits       das Leben mit und nach Krebs
ganz konkret – subjektbezogen wie auch syste-        • Maximilian DORNER – sein Leben mit MS
misch – mit behinderten, kranken oder in Not         • Harold KUSHNER –
geratenen Menschen und andererseits beispielhaft         Erfahrungen mit seinem behinderten,
im Hinblick auf die gesellschaftliche Wahrneh-           früh verstorbenen Sohn
mung und Akzeptanz.                                  • Jörg WIDMANN –
                                                         und seine Dubaier Tänze (Exkurs 3)
Will man andere verstehen – auch im Hinblick auf
persönlichen Sinn, empfiehlt es sich, der jeweili-
gen Lebensgeschichte hinreichend Aufmerksam-
keit zu schenken und für biografische Erzählun-
gen offen zu sein. Lebensgeschichten gelten als      Zu (1) – Herta MÜLLER
unverzichtbare Schnittstellen von übernommenem       Herta MÜLLER formuliert in einem Interview:
Sinn als Sinn „von oben“ wie auch von selbst         „Die Vergangenheit vergeht bei keinem Men-
erlebtem und selbst geschürftem Sinn als Sinn        schen, egal, unter welchen Umständen er gelebt
„von unten“. Wollte professionelle Begleitung        hat. Jeder hat Ängste, etwa wenn Beziehungen
im Hinblick auf ein „sinnerfülltes Leben“ diese      zerbrechen oder wenn man an einer Krankheit
Quellen übergehen, bliebe ihr Tun auf Sand           leidet. Durch solche Dinge wird man verändert,
gebaut. Dabei gilt es, Sinnkerne aufzuspüren,        die Ängste bleiben. Und das gilt erst recht, wenn
die sich in den Furchen eines noch so gequälten      man mit extremen Situationen zu tun hatte, die
Lebens finden lassen. Schweres wird sich nicht       einen beschädigt haben, wenn man Todesangst
immer in Gutes, ja Sinnvolles verwandeln. Trotz      erlitten hat, weil man wie ich von einem repressi-
noch so engagiertem Bemühen um Sinnhaftigkeit        ven Apparat verfolgt wurde, und das fünfzehn
bleiben Anteile von Leid und Schweres unbe-          Jahre lang. Aber auf seltsame Weise gewöhnt
zwingbar und gegenwärtig.                            man sich daran, es wird zu einer gespenstischen
                                                     Normalität. Man zähmt seine Angst und versucht,
Professionalität bringen wir meist mit Theorien,     daraus etwas anderes zu machen. Das gelingt
Konzepten oder Methoden in Verbindung. Sie           sogar zeitweise, obwohl man immer weiß, dass es
sollen heilpädagogischen Ziele umsetzen helfen.      eigentlich anders ist. Man steht neben sich, und
Doch heilpädagogischen Handeln bleibt „steril“,      das habe ich in all den Jahren lernen müssen:
wenn nicht das konkret gelebte Leben mit ins         neben mir zu stehen. So wie ich auch jetzt neben
Spiel kommt. Und dieses erfahren wir vorrangig       mir stehe, wenn es um diesen Preis geht. Ich bin
durch jene Menschen, denen sich professionelle       auf eine sehr praktische Weise schizophren.“
Helfer verpflichtet fühlen. Sie lassen uns Anteil
nehmen an ihrer Sinnsuche wie an ihrer Sinnarbeit
und bewahren uns gleichzeitig vor der irrigen
Auffassung, wir als Begleiter seien für den Sinn
des jeweils anderen verantwortlich. Ganz im
Gegenteil. Als professionelle Helfer können wir
von ihnen lernen, wie sie „erlebte Betroffenheit“
in Sinn verwandeln und dennoch mit bleibenden
Ambivalenzen leben müssen.
18    Der Fachtag

     Ergänzend seien noch ein paar besonders ein-        Die Basis ist für ihn das Erfahren der Welt und dies
     drucksvolle Sätze von ihr hinzugefügt:              hat mit Fühlen zu tun. „Man muss dieses Leid als
     • Gott – Wenn man nicht an ihn glaubt, dann         Kraft begreifen …“ (2009, 165). Das Denken, die
        braucht man etwas anderes.                       Einstellung und die Frage nach innerer Verantwor-
     • Erinnerungen sind weder gut noch schlecht. Es     tung können nur Teilaspekte sein. „Diesmal habe
        kommt immer darauf an, inwieweit ich in der      ich die Wunde der Welt berührt, die Wunde des
     • Lage bin, sie zu zertrümmern, damit sie           Leben-Wollens und des Sterben-Müssens.“ (ebd.
        künstlich werden und ich sie wieder zusam-       160). Gleichzeitig verweist er auf ein Zitat von
        mensetzen                                        Joseph Beuys „Zeig mal deine Wunde. Wer seine
     • kann.                                             Wunde zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird
     • Leben ist das Gegenteil vom Schreiben.            nicht geheilt.“ (ebd. 197)
     • Beschädigungen können nicht aushaltbar sein
        oder einen hinterrücks an etwas binden.
     • Glück kann tragisch sein.
                                                         Zu (3) – Maximilian DORNER:
                                                         Maximilian Dorner, ein überaus begabter und
                                                         hoch gelobter Autor, ist seit zwei Jahren an MS
     Zu (2) – Christof SCHLINGENSIEF                     erkrankt. In seinem Buch „Mein Dämon ist ein
     Der an Krebs erkrankte Theaterregisseur Chris-      Stubenhocker“ (2007) schreibt er, bei seinen
     toph Schlingensief (2009) schreibt in seinem        Recherchen sei er auf einen Aufsatz mit dem
     beeindruckenden, ja aufwühlenden Buch „So           Titel „Die prophetische Aufgabe behinderter
     schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“,    Menschen“ gestoßen, woraus er Folgendes zitiert:
     das voller Leben strotzt, dass das Reflektieren     „Behinderung ginge jeden etwas an, weil Leiden,
     bzw. besser ausgedrückt: das Nachdenken über        Krankheit, Behinderung und Tod zum vollen
     die uns umgebende Welt und deren Sinnange-          Menschsein gehörten. Behinderte Menschen
     bote erst Wahlfreiheit und grundsätzlich Freiheit   erinnern somit uns alle an unser eigenes Mensch-
     ermöglicht. Es mag anfangs vielleicht schmerzlich   sein. Sie führen jedermann – ob gewollt oder
     sein, ein wenig genauer hinzusehen und den          ungewollt – die begrenzte Hinfälligkeit des
     Urgrund seines Fühlens erkennen zu wollen, und      Menschen vor Augen.“ (2007,160)
     dennoch ist diese Form der Auseinandersetzung
     mit seiner gefühlten Wahrnehmung der Welt           M. Dorner schreibt weiter:
     unerlässlich, um möglicherweise zu einem kleinen    „So ist das also … es tut mir herzlich leid, ich bin
     Stück intensiveren und sinnvolleren Lebens zu       34 Jahre alt und kein lebendes Denkmal, das zu
     gelangen. Schlingensiefs Tagebuch einer Krebs-      Allerseelen an die Türen klopft und mit rauer
     erkrankung verdeutlicht das eindrucksvoll.          Stimme flüstert: Sieh her, so wirst du auch bald
                                                         aussehen!“… „Ich stelle mich auch nicht mit dem
     Diese Auseinandersetzung geschieht nicht            Carpe-Diem-T-Shirt auf den Marktplatz und
     theoretisch. Es geht eher um die Kunst, eine        skandiere: Morgen kann es bereits vorbei sein.“
     Kunst zu leben. Diese Kunst gilt es dann in die     (ebd.)
     Arbeit mit alten wie auch behinderten Menschen
     zu transformieren, sie selbst ins Senioren- bzw.    „Niemand soll durch meinen Anblick an seine
     Wohnheim mitzubringen und in verschiedenen          eigene Gebrechlichkeit gemahnt werden. Es
     Situationen gemeinsam mit ihnen zu leben.           mögen die, die erinnert werden wollen, an einem
     Dieses Bemühen – eine Lebenskunst – benötigt        regnerischen Vormittag über den Friedhof
     eine Zusammenführung von Fühlen und Denken,         schlendern … Ich werde jedenfalls nicht, wenn ich
     letztlich aber auch verändertes Handeln.            im Rollstuhl, mit Krücken oder sonst wie hum-
                                                         pelnd, stolpernd, torkelnd zu einer Party komme,
                                                         allen Gästen die Laune verderben, damit sie
                                                         während einer Schweigeminute über die Musik-
                                                         auswahl für ihre eigene Beerdigung nachdenken
                                                         können.“ (ebd.)
Der Fachtag   19

                                                     Zusammengefasst bedeutet dies
Zu (4) – Harold KUSHNER:                             Alle diese ausgewählten Persönlichkeiten lassen
In dessen bemerkenswertem Buch „Wenn guten           die verbleibende Ambivalenz zwischen Behinde-
Menschen Böses widerfährt“ (2004) lesen wir          rung und/oder Krankheit und Sinn bewegend
folgende Sätze:                                      erkennen. Neben den gewonnenen Sinnmomen-
                                                     ten lugt doch zwischen den Zeilen hervor, man
„Ich bin ein mitfühlender Mensch, ein Pfarrer mit    würde am Ende sogar auf solche Sinnspuren
mehr Ausstrahlung, ein besserer Ratgeber durch       verzichten, wäre das Leben weiterhin leicht und
Aarons Leben (als schwerstbehindertes Kind) und      unbeschwert.
dessen Tod geworden, als ich ohne ihn je hätte
sein können. Doch ich gäbe alle diese Vorzüge in     Spannend aber bleibt darüber hinaus die Frage,
einer einzigen Sekunde wieder zurück, wenn ich       wie man von einer so zentralen Beeinträchtigung
meinen Sohn zurück haben könnte. Wenn ich            wie eine massive Krankheit oder schwere Be-
die Wahl hätte, würde ich alle geistige Größe und    hinderung zu Sinnmomenten kommt, genauer
Tiefe, die mir durch meine Erfahrungen zuteil        gefragt, wie sich dieser Umwandlungsprozess
geworden sind, von mir werfen, um nur das zu         vollzieht, um dem Minus ein Plus abzugewinnen –
sein, was ich vor 15 Jahren war: ein durchschnitt-   ohne dem Fehler zu erliegen, das gesamt Minus in
licher Rabbiner, ein mittelmäßiger Ratgeber, der     ein Plus verändern zu wollen. Hierzu findet jeder
einigen helfen konnte und anderen nicht, und der     Betroffene seine eigenen Wege. Das Gemeinsame
Vater eines heiteren glücklichen Jungen. Aber ich    jedoch scheint darin zu liegen, dass man diese
hatte keine Wahl.“ (2004, 128)                       Umwandlung aus sich heraus vollbringen muss
                                                     und eine Predigt oder Anleitung „von oben“
H. Kushner konfrontiert seine Leser mit einer        alleine selten trägt.
weiteren Erfahrung im Erleben einer schweren
Behinderung. Die durch die Behinderung und den       Und am Beispiel von Jörg Widmann beeindruckt
frühen Tod seines einzigen Sohnes, an Progerie       besonders dieser Weg der inneren Wandlung.
erkrankt, bedingten Veränderungen der eigenen
Person samt seiner beruflichen Qualität werden
realistisch, aber dennoch positiv gesehen, und       Zu (5) – Jörg WIDMANN
trotzdem bohrt in ihm dem treusorgenden Vater        Kürzlich wurde in einer TV-Dokumentation mit
jene schmerzende Sehnsucht nach jenem Früher         dem Titel „Es werde Klang“ Jörg WIDMANN, ein
– einem unbeschwerten, heiteren und „irgendwie       in München geborener, vielfach ausgezeichneter
ganz normalen“ Leben in seiner Familie und mit       Komponist und Klarinettist, vorgestellt. Hierbei
seiner Gemeinde.                                     spielte weder eine Behinderung noch eine Krank-
                                                     heit eine Rolle, wohl aber eine massiv erlebte
                                                     Irritation – hervorgerufen durch eine total be-
                                                     fremdliche wie verfremdende Umgebung. Sie
                                                     wurde von ihm als massiver Angriff auf seine
                                                     Identität erlebt. Wie er damit umging und zu
                                                     neuer Sinnqualität vorstieß, hat Vorbild- wie auch
                                                     Zeichencharakter über sein persönliches Erleben
                                                     und die bedingende Situation hinaus.

                                                     Die Dokumentation zeigt den unvorstellbaren
                                                     Bauboom in Dubai. Nach seinen Worten hielt er
                                                     diese brachiale „Moderne“ in ihrem atemberau-
                                                     benden Gigantismus, unvorstellbarem Lärm und
                                                     in ihrer grenzenlosen Vermessenheit kaum aus.
                                                     Als er versuchte, sich, von diesen Eindrücken
                                                     überwältigt, in einem der vielen Cafés zu erholen,
                                                     fiel ihm urplötzlich als „krasses Gegenbild“
                                                     bayerische Volksmusik ein – und mit dieser ein
                                                     schon fast vergessenes heimatliches Grundgefühl,
                                                     das ihn vor Verzweiflung bewahrte. In den darauf
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