Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte - Fachtagung 09 - Akademie ...
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Fachtagung 09 und leben, so wie ich es möchte Werden, der ich bin Fachakademie für Heilpädagogik | Fachaschule für Heilerziehungspflege
2 Inhalt Einführung 3 Georg Blaser und Michael Kreisel Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte 5 Georg Blaser Vom Ursprung des Begriffes „Bildung“ – Kennzeichen eines biblisch-christlichen Bildes vom Menschen Der Fachtag 7 Lilo Nitz Heilpädagogisch gestaltete Erwachsenenbildung – Ein Handlungskonzept in der Heilpädagogik zur Unterstützung von Resilienz, Teilhabe und Selbstbestimmung 14 Dr. Dieter Fischer Sinn – und die Arbeit mit schwerst behinderten Menschen 21 Prof. Dr. Christian Lindmeier Zusammenfassung des Vortrages Identitäts- und Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung mit Menschen mit geistiger Behinderung 23 Michael Kreisel Die Workshops der Fachtagung Resümee 29 Elisabeth Dausch Heilpädagogisch gestaltete Erwachsenenbildung als Chance für mehr Lebensqualität Impressum | Verantwortlich für den Inhalt: Georg Blaser, Michael Kreisel | Redaktion: Elisabeth Dausch, Michael Kreisel Auflage: 1000 Stück | Druck: Druckerei Ortmeier | Januar 2011 | Gestaltung: leporello-company.de
Einführung 3 Werden, der ich bin und leben, so wie ich es möchte Georg Blaser und Michael Kreisel Wir freuen uns Ihnen mit dieser Broschüre eine Bildung ist einer der zentralen Begriffe der Zusammenfassung der Tagung „Werden der ich Pädagogik. Seit Jahren ziehen sich Diskussionen bin und leben, so wie ich es möchte“ vorlegen zum Begriff Bildung durch die Fachöffentlichkeit. zu können. Einmal wird mit dem Begriff der Prozess, einmal das Resultat, einmal Selbstbildung und einmal Es ist nun seit mehreren Jahren Tradition in der werden damit die Institutionen beschrieben. In der Fachakademie für Heilpädagogik sich einmal im Heilpädagogik haben wir zusätzlich den Begriff Jahr einem besonderen Thema zu widmen. der Förderung. Wie wäre dies zu unterscheiden? Mit diesem Fachtag haben wir uns dem Thema Welche Bildung brauche ich, um in dieser Welt „Heilpädagogisch gestalteter Erwachsenen- leben zu können, um mir die Welt aneignen zu bildung“ zu gewandt. Den Fachtag führte die können, um teilhaben zu können? Welche Fachakademie für Heilpädagogik in Kooperation Bildung brauche ich als Mensch mit Beeinträchti- mit der Fachschule für Heilerziehungspflege gungen? durch. Mit einbezogen waren Mitarbeiterinnnen des Franziskuswerks, die in Referaten und vor Wir können sagen, dass wir momentan in der allem in Workshops ihre Kompetenzen und Behindertenhilfe in einer Umbruchsituation Erfahrungen einbrachten. stehen. Einerseits wird das Soziale vermehrt von einer ökonomischen Mentalität bestimmt, Heilpädagogische Erwachsenenbildung wird in andererseits verändern die Leitideen Selbstbestim- der Fachakademie für Heilpädagogik als vertiefte mung, Empowerment, Inklusion und Teilhabe die Methode unterrichtet. Man kann sich im dritten Praxis. Ein Titel eines gerade erschienen Buches Studienjahr entscheiden, ob man entweder der Lebenshilfe lautet daher: „Zwischen Tradition Heilpädagogische Spieltherapie, Psychomotorik und Innovation“. Wir erwarten Umbrüche in der oder Heilpädagogische Erwachsenenbildung Erwartung an das Profil sozialer und pflegerischer wählt. Berufe. Es droht in vielen Arbeitsfeldern ein Fachkräftemangel. Wir sehen in den heutigen Fachlich aufgebaut hat dies die ehemalige Schul- Zeiten Chancen und Risiken. leiterin der Fachakademie Lilo Nitz. Sie hat in ihrem Beitrag Inhalte und Themen dieses Unter- Wie passt das Thema „Erwachsenenbildung“ richtsfaches beschrieben. Weitergeführt wird hinein in diese Zeit? Das Fachgebiet Heilpädago- das Unterrichtsfach jetzt von Elisabeth Dausch, gik und die Berufsgruppen der Heilerziehungs- die abschließend einen Ausblick zum Thema pfleger/in und Heilpädagogen/in müssen sich geben wird. dieser Umbruchssituation stellen.
4 Einführung Werden, der ich bin Heilerziehungspfleger/innen begleiten, beraten, und leben, so wie ich es möchte. assistieren und pflegen Menschen mit Behinde- Diese Selbstverständlichkeit ist für Menschen mit rungen aller Altersstufen. Diese Tätigkeiten und Beeinträchtigung in der deutschen Gesellschaft mit ihnen auch die Bildungsangebote sind immer noch mit Hürden belegt. Genauso wie vorrangig auf den Alltag bezogen. Die Bildungs- jeder Erwachsene, benötigen Menschen mit angebote entwickeln sich im Lebensumfeld dieser mentalen oder psychischen Beeinträchtigungen Menschen und wirken in dieses unmittelbare Bildungsangebote für ihre Subjektwerdung. Lebensumfeld hinein. Sie dienen dem, was letztlich mit „Gestaltung des eigenen Lebens“ Heilpädagog/innen und Heilerziehungspfleger/- und „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ innen können mit Bildungsangeboten helfen, umschrieben werden könnte. Menschen in ihrer Selbstbestimmung und ihrem Bestreben nach Teilhabe zu unterstützen. Die Heilpädagogen/innen handeln vorrangig, jedoch Tätigkeitsmerkmale beider Berufsbilder sind nicht ausschließlich, bezogen auf den Ablauf von bestimmt vom Fundament der Beziehung und Hilfeleistungen und bezogen auf heilpädagogi- vom Geschehen der Begegnung. Die beruflichen sche Angebote. Heilpädagogisch gestaltete Schulen der Akademie legen diesem Geschehen, Erwachsenenbildung ist dann ein spezielles das sich immer zwischen Menschen ereignet, ein Angebot, eine bestimmte Art und Weise der auf der Vorstellung des Christlich geprägten Herangehensweise mit dem Richtziel der Inklusi- Menschenbildes zu Grunde. „Menschenbild“, on. In der personalen Begegnung wird sie oftmals „Bild vom Menschen“ – „Bildung“, „bilden“. eher zeitlich begrenzt angeboten. Die vertiefte Wenn wir von Erwachsenenbildung, wenn wir von Gestaltung sozialer Beziehungen wird durch Bildung insgesamt sprechen, werden wir uns organisierende und steuernde Unterstützungs- natürlich auch die Frage stellen müssen: Und an maßnahmen ergänzt. welchem Bild orientieren wir uns denn eigentlich? Mit dieser Broschüre möchten wir Impulse für eine Unter dem Dach des Heilpädagogischen sind kleine heilpädagogische Bildungsoffensive vor Ort Aufgaben, Rollen und Funktionen von Heilpäda- geben – vielleicht zunächst eher im Kleinen, dann gogen/innen und Heilerziehungspfleger/innen aber umso wirkungsvoller auch in den jeweiligen verwandt und doch auch unterschiedlich. Unter- Einrichtungen. schiede in der beruflichen Tätigkeit beider Berufsgruppen sind vor allem in den jeweiligen Aufgabenstellungen begründet. Während Heilpädagogen/innen innerhalb von „deklarierten Orten der Förderung, Therapie und Bildung“ tätig sind, bezieht sich das Berufsbild des Heilerziehungspflegers eher auf die „Orte des Alltäglichen“. Durch die unterschiedlichen Settings ergeben sich auch unterschiedliche Vorgehensweisen.
Einführung 5 Vom Ursprung des Begriffes „Bildung“ – Kennzeichen eines biblisch-christlichen Bildes vom Menschen Georg Blaser An der Geschichte des Bildungsbegriffs lässt sich Es loht demnach durchaus, im Zusammenhang verfolgen, dass dieser im Laufe der Zeit nicht nur mit dem Themenbereich „Erwachsenenbildung“ eine, sondern mehrere, teilweise recht unter- Akzentsetzungen, die für die biblisch-christliche schiedliche Deutungen erfahren hat: angefangen Tradition in ihrem bildhaften Denken und Verste- bei der religiösen Bedeutung über die Persönlich- hen prägend sind, ins Bewusstsein zu heben. In keitsentwicklung bis hin zur Ware „Bildung“. wenigen Strichen skizziert, können diese dann Ausgangspunkt sein für ernsthafte gedankliche Der deutsche Begriff „Bildung“ entstand im Auseinandersetzung um ein tieferes Verstehen Mittelalter, wohl als eine Begriffsschöpfung des des Menschen, bzw. des Menschseins. Mystikers Meister Eckhart. Der Begriff ist nach dieser Annahme theologischen Ursprungs. Der Mensch erfährt sein Leben als ein „Bilden“ wird demnach verstanden als ge-bildet Geschenk. Es ist ihm Gabe und Aufgabe werden durch Gott und als ge-bildet werden nach zugleich, und es ist seiner Verfügungs- dem Ab-Bild Gottes. gewalt entzogen. Verwiesen wird dabei auf die entsprechenden Textpassagen vor allem am Beginn der hebräi- Nach dem Bild der Bibel ist der Mensch von Gott, schen Bibel. Als eindrückliches Beispiel sollen als dessen Abbild und Gleichnis geschaffen. Darin einige Verse aus dem Buch Genesis dienen: liegt im Kern die Unantastbarkeit seiner Würde und seiner Freiheit begründet. „Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als Der Mensch ist nach biblischem Verständnis unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen zudem als Mann und Frau geschaffen. Als über die Fische des Meeres, über die Vögel des Einzelwesen genügt er sich selber nicht; er ist Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde vielmehr auf seinen Mitmenschen verwiesen. und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott Wesenmerkmale des Menschen sind damit seine schuf also den Menschen als sein Abbild; als Sozialität wie seine Sexualität. Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau Gleichzeitig ist ausgesagt, dass der Mensch schuf er sie. Gott segnete sie …“ aufgrund seines geistigen Vermögens, seiner (Genesis 1,26-28). Freiheit und seiner Gestaltungskraft Anteil hat am fortdauernden Schöpfungsgeschehen Gottes. Dieser „Kulturauftrag“ schließt eine große Verantwortung für die Welt mit ein. In diesem Punkt unterscheidet sich der Mensch von den anderen Mit-Geschöpfen – er ist zugleich deren Anwalt und deren Stimme.
6 Einführung Der Mensch erfährt sein Leben als be- Viele Menschen nehmen daher in Achtsam- grenzt. In unterschiedlicher Form keit und Sensibilität etwas Besonderes, stößt er auf Endlichkeit in seinem Dasein etwas „Geheimnis-Volles“ im eigenen auf dieser Welt. Erleben und Erfahren, wie auch in den Begegnungen mit den Mitmenschen und Der Mensch ist bestimmt durch das Zusammen- mit der gesamten Schöpfung wahr. Sie spiel von körperlichen, geistigen und seelischen spüren sich in Berührung mit ihrem Ur- Prozessen. Bei einem ganzheitlichen Verständnis sprung, und ahnen zugleich ihre endgülti- von menschlichem Dasein, gilt es, Begrenztheit in ge Bestimmung und Vollendung. unterschiedlicher Form anzunehmen, z.B. in der • Unmöglichkeit, die ganze Wirklichkeit in Menschliches Leben lässt sich in biblisch-christli- seinem geistigen Vermögen auch nur annä- cher Tradition sehr treffend im Bild des Weges hernd zu erfassen; z.B. in der Tatsache, charakterisieren. Der Weg nimmt seinen Ausgang Krankheit und Leid ertragen zu müssen; von Gott als dem Schöpfer des Menschen wie des • Schwierigkeit, von seiner Freiheit richtigen gesamten Daseins; dieser Weg findet sein Ziel Gebrauch zu machen, bzw. in der Möglichkeit, wiederum bei Gott als dem, der alles Leben zur schuldig zu werden; Vollendung, zur Ganzheit führt. • Notwendigkeit, den irdischen Tod sterben zu müssen. Im christlichen Glauben beheimatete Menschen erfahren an Jesus Christus den Der Mensch erfährt sich auf der Suche und Maßstab menschlichen Lebens überhaupt. von Sehnsucht getrieben. Er nimmt sich als Im Bestehen von Höhen und Tiefen wird einer wahr, der sich nicht selber genügt; dieser besondere Mensch zum „Vor-Bild“ er erfährt sich als ein Wesen, das über sich von Menschsein. selber und das über diese Welt hinaus weist. Jesus Christus ist nach christlichem Verständnis Der Mensch ist in biblischem Verständnis als ein Gott ganz nahe. Er stammt „aus der Mitte freies Wesen gedacht. Er ist nicht von Instinkten Gottes“; er wird „Sohn Gottes“ genannt. An bestimmt und damit auch nicht in einen abge- Jesus Christus wird von seiner Geburt an bis über grenzten Lebens- und Erfahrungsraum eingebun- seinen Tod hinaus – bis zu seiner „Auferstehung“, den. Dies zeigt sich in einem Fragen und Streben, seiner „Heimkehr zu Gott“ – das Bild eines das im letzten jeden Antwortversuch und jede erfüllten und im letzten geglückten Menschseins Erfüllung einer Sehnsucht als vorläufig, vergäng- ablesbar. lich und ungenügend empfindet; es kommt ebenso zum Ausdruck in der Vielfalt menschlicher Nicht von jeder und jedem werden solche Gewissensempfindungen und Gewissensanfra- „Grundannahmen“ geteilt werden, geteilt gen. werden können. Für eine gedankliche und sprachliche Auseinandersetzung taugen sie allemal. Insofern könnten sie durchaus ein kleiner Beitrag sein, im gegenseitigen Austausch „Bildung“ zu erproben und zu erfahren.
Der Fachtag 7 Heilpädagogisch gestaltete Erwachsenenbildung – Ein Handlungskonzept in der Heilpädagogik zur Unterstützung von Resilienz, Teilhabe und Selbstbestimmung Lilo Nitz Geschichte des Konzeptes in der Fach- Kommunikationsmöglichkeiten zu erweitern oder akademie für Heilpädagogik Schönbrunn uns auf neue berufliche Aufgaben vorzubereiten. Im September 2000 startete die staatlich ge- Kurz: Mit einer Weiterbildung im Erwachsenen- nehmigte Fachakademie für Heilpädagogik der alter wollen wir uns für künftige Herausforderun- Akademie Schönbrunn ihren Betrieb, entspre- gen im Leben wappnen und unsere Möglichkeiten chend staatlichem Lehrplan und der staatlichen erweitern. Dem war also mit einem Ausbildungs- Fachakademieordnung in Bayern. Dieser Lehrplan konzept zu entsprechen, mit dem sich angehende ist vor allem auf die Arbeit mit Kindern und Heilpädagogen für eine angestrebte Arbeit mit Jugendlichen ausgerichtet, sowohl in den grund- Erwachsenen spezialisieren konnten. legenden Theoriefächern wie in den Methoden und Konzepten heilpädagogischen Handelns. Mein Ausbildungskonzept „Heilpädagogisch gestaltete Erwachsenenbildung“ sollte alle Für eine heilpädagogische Spezialisierung boten Studierenden in einer allgemeinen Übung in das wir den Studierenden des ersten Ausbildungsgan- Konzept einführen. In einer vertiefenden speziel- ges daher neben all denen, die im Lehrplan bereits len Übung zur Wahl konnten sich danach diejeni- vorgesehen waren, vor allem Inhalte und Übun- gen spezialisieren und weiter qualifizieren, die das gen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Handlungskonzept in unterschiedlichen Praxisfel- Es waren insbesondere Methoden und Konzepte dern möglichst inklusiv anwenden wollten. Alle aus den Handlungsspektren „Spielförderung, Studierenden erhielten also im ersten Studienab- Spieltherapie und kreativ-gestaltende Verfahren“ schnitt (zweites Studienjahr der Teilzeitausbildung) sowie „Psychomotorik“. eine Einführung und interessierte Studierende schrieben sich danach ein für eine theoretische Einzelne Studierende bedauerten, sich nicht für Vertiefung und praktische Spezialisierung. Das eine Arbeit mit Erwachsenen spezialisieren zu Wahlangebot war mit großem Stundenumfang können. Auch mein Wunsch als Leiterin des ausgestattet und im zweiten Studienabschnitt Ausbildungsbereiches war es, dem heilpädago- eingeplant (3. und 4. Studienjahr der Teilzeitaus- gischen Bedarf Erwachsener mit spezifischen bildung). Parallel zum Unterricht erfolgte eine Angeboten noch mehr zu entsprechen. Erwachse- Umsetzung im Praktikum. Den Lernprozess in ne mit einem heilpädagogischen Bedarf möchten, Theorie und Praxis begleitete ich selbst als Fach- wie wir auch, ihr Leben in die eigene Hand und Praxisdozentin durch individuelle Gespräche, nehmen und nach eigenen Wünschen realisieren. durch Praxisbesuche und durch eine Gruppen- Entsprechende Bildungs- und Freizeitangebote supervision für diese Studierenden. Das Hand- sollten daher sowohl auf ihre gesellschaftliche lungskonzept traf bei Studierenden und in den Teilhabe wie auf persönliche Weiterentwicklung Praxisstellen auf große Nachfrage und große zielen. Wir Erwachsenen nutzen Bildung in der Wertschätzung. Regel dazu, Neues kennen zu lernen, unsere Persönlichkeit zu entfalten, unsere Gesundheit zu pflegen, unsere Aufnahme-, Ausdrucks- und
8 Der Fachtag Praxisfelder, in denen unsere heilpädagogisch gestalteten Bildungs- angebote für Erwachsene nachgefragt wurden und werden. Rechtsanspruch auf lebenslanges Lernen Beispiele alltäglicher Hürden: und bestehende Realität bilden den didak- • Belastende Lernerfahrungen in der Regelschule tischen Rahmen für eine heilpädagogisch hemmen die Motivation gestaltet Erwachsenenbildung • Geeignete Bildungsangebote für Erwachsene Bildung, Selbstbestimmung und Teilhabe sind sind zu wenig bekannt nach UN-Charta lebenslang Rechtsgut aller • Gewünschte Bildungsangebote sind verkehrs- Menschen. Bildungsangebote müssen daher allen technisch nicht erreichbar Menschen zur Verfügung stehen und auch • Gewünschte Kurse finden zu schwer realisier- Lernern mit Einschränkungen ein Lernen auf einer baren Zeiten statt ihnen gemäßen Ebene bieten. Erwachsene mit • Erste Versuche in Kursen oder Seminaren mentalen oder psychischen Einschränkungen verliefen stressig und freudlos, weil Teilnehmer haben zwar die gleichen Wünsche, wie wir auf keinen Einfluss nehmen konnten oder ihre Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Erweiterung Wünsche und Bedürfnisse zu wenig berück- ihrer individuellen Möglichkeiten. Ihr Zugang zu sichtigt wurden. Zu Isolation und Frustration entsprechenden Bildungsangeboten war jedoch kam es auch, wenn Sprache, Tempo und 2002 in Deutschland noch wenig gesichert und Methodik des Referenten nicht angepasst ist auch heute noch nicht gänzlich barrierefrei waren. möglich. Erwachsenenbildung ist daher anzusiedeln auf einer für die Teilnehmer passenden Ebene. Leitidee ist nach Klafki und Theunissen Hilfe zur Selbstbildung (Theunissen, G. 2002, Seite 78 ff).
Der Fachtag 9 Sie wird realisiert durch eine Unterstützung bzw. einer vierten Ebene. Fähigkeiten der Wahrneh- Begleitung der Identitätsbildung und der Persön- mung, des Ausdrucks und des Lebensgenusses lichkeitsentwicklung. Soziales Lernen zum Zweck schließlich werden auf einer basalen fünften der sozialen und gesellschaftlichen Partizipation Ebene verfolgt. ist von großer Bedeutung, wobei immer auch eine Unterstützung und Begleitung der Sachwelt- Klafki und Theunissen (ebd. S. 62–64) benennen erschließung geschehen muss. zentrale Funktionen, die Bildungsangebote bei erwachsenen Teilnehmern bewirken sollen. Das Lernen selbst geschieht auf unterschiedlichen Leitprinzipien der Erwachsenenbildung, wie sie Zielebenen (ebd. S. 79 ff). Emanzipation durch von Arnold, Edelmann oder Ruddies allgemein Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidari- formuliert wurden, sollen auch im heilpädagogi- tät stellt die oberste Zielebene dar. Dazu bedarf schen Feld das Handeln bestimmen. Theunissen, es personaler und sozialer Schlüsselqualifikationen Schuchart und Senckel haben sie dafür teilweise für das Zusammenleben, die auf einer zweiten spezifiziert (Vgl.ebd.S.65 ff). Ebene immer mit fokussiert werden. Ziele und Inhalte verbinden sich zu „Schlüsselthemen der Teilhabe“, die auf einer dritten Ebene verfolgt werden. Sach- und Methodenkompetenz entsteht durch das Vermitteln funktionaler und lebensprak- tischer Fähigkeiten für Beruf und Alltagsleben auf Funktion von heilpäda- gogisch gestalteter Erwachsenenbildung (Abb. in Anlehnung nach Klafki und Theunissen)
10 Der Fachtag Inhaltliche und methodische Schwerpunkte heilpädagogisch gestalteter Erwachsenenbildung
Der Fachtag 11 Alle Teilnehmer der Erwachsenenbildungsange- Das Salutogenese-Konzept von Aaron bote, die unsere Studierenden im Praktikum Antonovsky und seine Wirkung auf durchführten, wünschten sich eine Fortsetzung Bildungsprozesse des Angebotes. Ihre Wertschätzung für die Antonovsky belegt in seinen Forschungen, was Angebote selbst und für die Studierenden als Unterrichts- und Seminarerfahrungen bestätigen: Anbieter war durchweg sehr groß. Schüler und Teilnehmer bleiben gesund und fühlen sich wohl, wenn sie ihren Lernstoff In der Praxis erwies sich die Gruppe selbst als verstehen, die an sie gestellten Anforderungen wichtigstes Lernfeld. In der Gruppe können handhaben können und wenn sie ihr Lernen Schlüsselfähigkeiten für das soziale Zusammen- selbstwirksam gestalten können. Auf diesem Weg leben und erste Teilhabekompetenzen erworben stärken sie ihr Kohärenzgefühl, das mit einer Art werden. Gelungene Teilhabe im Kleinen ermutigt positivem Vertrauen in die Welt und in eigene dann zu mehr Teilhabe in der Gesellschaft. Möglichkeiten übersetzt werden kann. Das Kohärenzgefühl erhöht Leistungsbereitschaft und Ein heilpädagogisch gestaltetes Bildungsangebot Leistungsvermögen und erweitert Copingfähig- ermöglicht Lernern mit Einschränkungen Erfolge. keiten und Belastbarkeit in Stresssituationen. Erfolg erhöht die intrinsische Lernmotivation. Ergebnis: Das Vertrauen in eigene Ressourcen und Dialogisch gestaltete Beziehung erhöht den Fähigkeiten wächst, Lernen macht Freude. Zusammenhalt in der Lerngruppe und die Lern- motivation der Teilnehmer darüber hinaus. So Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl entsteht eine positive hermeneutische Spirale und • begünstigt Selbstannahme und ein positives löst die alte Negativspirale ab. Selbstkonzept der Lerner • bestärkt die Einsicht, dass sich Anstrengung Diese Wirkung zeigt sich auch im heilpädagogisch und Einsatz beim Lernen lohnen, gestalteten Bildungsangebot für Lerner unserer • unterstützt den Lernerfolg. Berufsfachschule für Sozialpflege: Heilpädagogi- sche Lernbegleitung als Gruppenangebot und Ein schwach ausgeprägtes Kohärenzgefühl individuelles Lern-Coaching, angeboten durch hingegen unsere Studierenden, befähigt die Hauptschul- • führt zu negativer Selbstbewertung, absolventen dieser Schulform, auch wenn sie aus • wirkt sich negativ auf Lernmotivation und bildungsfernen Elternhäusern kommen und Leistungsvermögen aus, schwierige Biografien oder brüchige Schullauf- • schwächt die körperliche und psychische bahnen mitbringen, zu großen Lernerfolgen. Belastbarkeit der Lerner, Viele Schüler bekamen dadurch zum ersten Mal • bewirkt Gefühle der Nichtlösbarkeit von in ihrem Leben Lust am Lernen, was weitere Aufgaben und persönliches Ohnmachtsgefühl, Lernerfolge bewirkte. Die praktizierte dialogische • lässt Lerner häufig vorschnell abbrechen. Beziehung in den sogenannten. „Kompetenz- gruppen“ erhöhte den Gruppenzusammenhalt. Folgende Konsequenzen aus dem Salutogenese- Die erkennbare Wirkung des Angebots „Zunahme Paradigma sollten Anbieter für die Gestaltung des an Lernmotivation und Leistungsbereitschaft bei Bildungsprozesses ziehen: den Schülern“ wurde zum Modell für die Bezie- • Lerner als Experten ihres persönlichen hungsgestaltung durch die Lehrer, wo sie weitere Health-Disease-Kontinuums achten, positive Ergebnisse bei Leistungsbereitschaft und • sich als Lehrer nicht auf Probleme und Risiko- Erfolgen bewirkte. faktoren eines Lerners fokussieren, sondern auf seine Ressourcen und Widerstandskräfte Konsequenzen für den Unterricht: • Lernern Erkenntnisse der Resilienz- und Zur Festigung der positiven hermeneutischen Ressourcenforschung vermitteln, sie die eigene Spirale beschloss ich, Erkenntnisse aus dem Biografie als Ressource begreifen lehren und Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky, sie über Quellen für die Stärkung ihrer Wider- dem Konzept der Logotherapie von Viktor E. standskräfte informieren, Frankl und aus neurobiologischen Forschungen • Lernern sinnvolle Bewältigungsmöglichkeiten von Joachim Bauer zu vermitteln und als metho- und Copingstrategien aufzeigen disch-didaktische Handlungsorientierung im Unterricht selbst anzuwenden.
12 Der Fachtag • Lernern persönliche Wege zum Sinn aufzeigen Literatur als befriedigende Form der Lebensgestaltung, Frankl, Viktor E.: Der Mensch vor der Suche nach dem Sinn, die Freude, Gesundheit und Belastbarkeit München 1999 erhöht, und: Der Seele Heimat ist der Sinn, München 2007 • Humor in den Unterricht einbeziehen, weil er Lotz Dieter: Heilpädagogische Übungsbehandlung als Hemmungen löst und Problemlösung aktiviert Suche nach Sinn, Bielefeld 1999 und weil gemeinsames Lachen als freizügige Lukas, Elisabeth: Dein Leben ist deine Chance, München Gleichwertigkeit erlebt wird 2010 Literatur Neurobiologische Forschungsergebnisse Antonovsky, Aaron: Salutogenese, Tübingen 1997 von Joachim Bauer und ihre Relevanz für Felbinger, Andrea: Kohärenzorientierte Lernkultur, Beziehungs- und Prozessgestaltung auf Wiesbaden 2010 Lern- und Bildungswegen Motivation resultiert aus erlebter dialogischer Die Logotherapie Viktor Frankls und ihre Beziehung, Angst und Aggression sind Folge Wirkung auf Bildungsprozesse fehlender dialogischer Beziehung. Beides beruht Erfolg und Leistung sind nach Frankl ohne auf Botenstoffen des Gehirns, die nur bei erlebter Sinnerfahrung nicht denkbar. Erst wenn ein dialogischer Beziehung ausgeschüttet werden. Mensch erkennt, worin für ihn ein persönlicher Ohne Beziehung keine Motivation. Sinn liegt, ist er zu sinnvollem Handeln in der Lage. Das Ergebnis einer sinnvollen Handlung • Dopamin macht Lust sich anzustrengen und erlebt er als Erfolg. Sinnerfüllung erweist sich als Leistung zu zeigen („ich will etwas tun“) sein wichtigstes Motivationsreservoire, während • Körpereigene Opioide erzeugen Wohlgefühl Sinnfrustration Leistungsverweigerung nach sich und reduzieren Schmerzen („es macht Freude zieht. Erfolg ist Folge sinnvollen Handelns, etwas zu tun“) Leistung ist Ausdruck sinnvollen Handelns. Beides • Oxytozin befähigt als Freundschaftshormon zu gelingt vorzüglich bei kreativem Handeln, wenn es Empathie und Beziehung („ich setze mich für freizügig, offen und unvoreingenommen abläuft. dich ein“) Konsequenzen aus der Logotherapie für Ergebnisse aus Kernspinaufnahmen der die Gestaltung von Bildungsprozessen: Suchtforschung belegen: • Lerner beraten, wie sie eigene Werte als Wege Blickkontakt aktiviert die Ausschüttung von zum Sinn finden und nutzen können. Dopamin, Beistandserwartung bewirkt Linderung • Lernern Möglichkeiten bieten, dass sie ihre wie eine Morphingabe. Gesehen werden und Wege zum Sinn im persönlichen Bildungspro- soziale Akzeptanz bewirken Motivation und zess aktiv leben können. Dafür selbstwirksames Leistungsbereitschaft, Nicht-gesehen-werden Lernen einplanen, damit Lerner Lösungen aktiviert Stress in den Systemen des Gehirns. Diese selbstständig und auf eigenen Wegen ent- Stresshormone bewirken Angst, Depression und wickeln können und Lehrer nur Hilfe zur Aggression als Abwehrverhalten. Empathie und Selbsthilfe bieten. Sozialverhalten entwickeln Menschen nur durch • Lernern ihre Erfolge bewusst machen und sie Lernen am Modell über Spielegelneuronen, denn: loben. Dazu müssen sie die Ziele ihres Bildungs- Spiegelneuronen prozesses kennen und sich daraus kurzfristige • werden aktiv, wenn der eigene Organismus und langfristige persönliche Ziele ableiten, denkt, handelt und fühlt, aber genauso, für deren Realisierung sie sich dann aktiv • wenn sie nur mitfühlen und mitdenken, sich einsetzen. also einfühlen in einen anderen Menschen • Lernern Mittel bereitstellen, damit sie Teil- • machen aus Beobachtung echtes inneres erfolge erleben, Belastung in Grenzen halten Erleben möglich als intuitive Information und das Optimum ihrer Leistungsbereitschaft sowohl über das Befinden Anderer wie und –fähigkeit erreichen können. darüber, was ich selbst auslösen kann bei Anderen
Der Fachtag 13 • sind die Basis für emotionale Ansteckung • Lernanstrengungen der Lerner anerkennen (Gähneffekt) oder für emotionale Motivations- und wertschätzen, und die fatale Wirkung killer (als solche wirken uninteressierte Lehrer) eines ungestillten Bedeutungshungers beden- • können nur in der Interaktion mit anderen ken Menschen geübt werden, müssen aber • Assistenz als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen, zwingend geübt werden, damit sie als Fähig- aber selbstgesteuertes Lernen nicht zu keit erhalten bleiben selbstbestimmter Oberflächlichkeit ver- • sind auch die Basis für das dialogische Prinzip kommen lassen, („Zeige mir, wer ich bin, indem du auf mich • Wohlbefindenskriterien berücksichtigen reagierst, lass mich spüren, dass ich da bin, bei der Gestaltung der Lernräume, des Schul- indem du dich mir zuwendest, gib mir Lebens- lebens und des Seminarbetriebs. zutrauen, indem du an meine Fähigkeiten glaubst“) Literatur • wirken als Resonanz bei Lernern im Sinne einer Joachim Bauer: Lob der Schule, Hamburg 2008 self-fullfilling-prophethy Derselbe: Prinzip Menschlichkeit, Hamburg 2008 Derselbe: Warum ich fühle, was du fühlst, Hamburg 2006 Aggressives Verhalten Hüther, Gerald u.a. Damit das Denken Sinn bekommt, kann Ausdruck von Schmerzvermeidung oder Freiburg 2008 Ausdruck von Angstabwehr sein, denn Stress und soziale Ausgrenzung stimulieren dieselben Regionen im Gehirn. SINN Häufiger Hintergrund von Aggression • selber erfahrene Gewalt oder Aggression, Wenn ich krank gewesen bin • Angstabwehrverhalten, (Sehr krank und in Krankenhäusern), • Ersatz gegen seelischen Schmerzen des Kannte ich gut den Lebenssinn. Nicht-gesehen-/Nicht-wertgeschätzt-Werdens, Und er war einfach zu äußern: • Lernen am Modell aggressiver Vorbilder. Licht auf der Haut. Und der grüne Duft Von Fichtennadelseife. Mittel der Wahl gegen Destruktivität und Und die Freiheit zu gehen in irdischer Luft, Aggression die ich atmend begreife. • liebevolle Erfahrungen des Gesehen-Werdens Und Sonnenwärme ist fast schon zuviel und der Wertschätzung, Und ein Ereignis der Morgen. • Sicherheit und Vertrauen durch sichere Bindung Und Leben leicht wie ein zielloses Spiel. • Gehaltensein in einer glückenden Beziehung. Und Hysterie sind die Sorgen, Mit denen man sich die Tage vergällt Konsequenzen aus der Neurobiologie für Und die Freude am Dasein vernichtet. die Gestaltung des Bildungsprozesses: • Unterricht konsequent dialogisch gestalten Und wunderbar ist das Bild dieser Welt, dadurch Botenstoffe anregen, die intrinsische Wenn man es richtig belichtet. Motivation bewirken und Leistungsbereitschaft Eva STRITTMATTER und Sozialverhalten erzeugen, • Vorbild sein in Empathie, Lerner anerken- nen und wertschätzen dadurch die Entwick- lung eben dieser Fähigkeiten bei den Lernern befördern, • Ängste, depressive Verstimmung und aggressives Verhalten von Lernern auch in ihrer möglichen neurobiologischen Logik bedenken. Es könnten Stressreaktionen sein
14 Bereich Sinn – und die Arbeit mit schwerst behinder- ten Menschen Dr. Dieter Fischer Es ist des Menschen Jammer, Sinn hat nichts mit Glück zu tun. Fast könnte man dass er nicht fertig wird mit dem, eine Parallele zur Gesundheit ziehen, von der der was der Schöpfer vollbrachte Philosoph H. G. Gadamer (1993) sagt, gesund sei Elazar BENYOETZ man, wenn man sich nicht spürt. Übertragen auf unseren Zusammenhang hieße das: Sinn erlebt man, wenn man sich wohl fühlt, ohne groß (1) Das voraus nachzudenken. Dann fließt Energie und Ideen Mit Sinn im Gepäck ist für Menschen kaum ein sprießen. Dann steht man am Morgen gerne auf, Weg zu weit und eine Anstrengung zu groß. unterzieht sich auch einer größeren Mühe oder Dabei stehen sie vor zwei unterschiedlichen stellt sich einer Aufgabe. Aufgaben, zum einen Sinn für die jeweilige Situation zu besitzen wie zu gewinnen, zum (2) Die Rolle von Sinn im Leben eines anderen aber doch auch Sinn für den Gesamt- Menschen zusammenhang von Welt und Leben als ihr Eigen Zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zählt zu wissen und zu entdecken. (vgl. Frankl) unbestreitbar, sein Leben als sinnvoll zu empfin- den. Dabei reicht die Frage nach Lebenssinn weit Kaum jemand fragt sich, ob es Sinn mache, in über das konkrete Bedürfen hinaus. Sinnfragen einer Fußballmannschaft mitzuspielen oder beinhalten immer auch eine transzendente, eine Mitglied eines Orchesters zu sein, wenn die dazu über sie selbst hinausweisende Dimension (Frankl notwendigen Fähigkeiten wie auch ein über den 2o5). Sinn selbst lässt sich mit dem Treibstoff für Tag hinaus reichendes Interesse vorliegen, weil in ein Auto vergleichen; immer aber besteht die diesen ja Sinn bereits indirekt „aufgehoben“ ist. Notwendigkeit, hierfür jeweils eine Tankstelle zu wissen. Behinderung oder Krankheit dagegen, unabhän- gig von ihrer Schwere und Dauer, sind Gegeben- Sinn hat mit dem Erleben von Identität und deren heiten, wo sich diese Selbstverständlichkeit nur sich fortsetzende Bestätigung zu tun. Identität ist bedingt einstellt. Die Eltern fragen nach dem Sinn, Ausdruck des Bewusstseins seiner selbst und ein behindertes oder krankes Kind zu haben; bildet den inneren Kern der eigenen Person. Wird gleichermaßen stellen Menschen Fragen nach etwas im Hinblick auf die eigene Person und dem Sinn, wenn sie selbst von einer Behinderung deren subjektive Einschätzung als stimmig oder Krankheit betroffen sind. empfunden, wird die jeweilige Situation auch als sinnvoll erlebt. Lebenssituationen, die diesem Empfinden widersprechen, erscheinen als sinnlos. Durchgängig erlebte Sinnlosigkeit gilt als Irritation pur und ist für den Menschen auf Dauer kaum zu ertragen.
Bereich 15 Da aber Befinden wie auch Gefühle selten annehmen oder ablehnen, etwas als schön oder dauerhaft sind, sondern auf- und absteigen wie hässlich finden oder den Dingen und Situation des ein Nebel oder ein Sonnenstrahl, bedeutet das eigenen Lebens eine persönliche Bedeutung ein Doppeltes: zusprechen oder einen übergeordneten Wert • zum einen man kann erfahrenen Sinn nur verneinen. bedingt über den Tag hinaus festhalten • zum anderen muss man das Erleben von Sinn Insofern ist Sinn nie gegeben – ständig erneuern und ihn aufladen wie einen sondern Ergebnis persönlicher „Arbeit“! Akku, was eine passende Steckdose voraus- setzt. Dabei überrascht, dass die Frage nach dem Sinn sich vor allem dann stellt, wenn es einem verhält- Deshalb greifen viele Menschen immer wieder nismäßig gut geht. (vgl. auch J. Hersch 1979) gerne auf ihre Vergangenheit zurück und suchen Man hat seine Arbeit, feiert Feste, hat gute nach Punkten, wo ihnen Sinn begegnet ist. Indem Kontakte zu Nachbarn und täglich genügend sie anderen Menschen davon erzählen, fühlen sie Essen, eine Wohnung und ausreichend Kleidung. sich bestätigt, wiederholen quasi den Sinn aus Jeanne Hersch sagt, dieser Sinn sei arm, er ist jener Zeit und holen diesen in die Gegenwart. nicht menschlich und kulturell entwickelt, aber er ist in seiner biologischen Schlichtheit und Selbst- Das Prinzip dabei ist einfach: Damals war es auch verständlichkeit außerordentlich fest. „Wer nur eine schwere Zeit, sie hat man nicht nur überstan- die Fülle will, verzichtet darauf, ein Mensch zu den, sondern am Ende sogar als „sinnvoll“ – mit sein. (1979, 314). Darin gründet auch die Tatsa- Sinn gefüllt – erlebt. Daraus erwächst die Hoff- che, dass es in Kriegs- und Krisenzeiten viel nung, das Neue, jetzt Schwierige auch wieder zu weniger Depressionen, Melancholie und Selbst- meistern. morde gibt als in normalen geschichtlichen Perioden. Manche sehen sich auch nach Vorbildern oder anderen Betroffenen um und versuchen von deren Das Leben wird sinnvoll, weil es ganz und gar in Sinn-Erfahrungen zu profitieren. Daraus erklären der dringenden Anstrengung aufgeht, überleben sich u.a. die positiven Wirkungen von Selbsthilfe- zu können. Dieser Druck des Vitalen verschwindet gruppen. nie ganz – weil wir täglich essen oder uns kleiden müssen, täglich hoffen, nicht krank zu werden (3) Gedanken zum „Sinn des Sinns“ oder gar zu sterben. Die Philosophin Jeanne Hersch hat sich in ihrer Arbeit mehrfach mit der Frage nach dem Sinn des Und so ist nur zu verständlich, dass sich jeder Lebens befasst (1979/1988). Nach ihrer Überzeu- bemüht, einen gewissen Grad an Sicherheit zu gung finden dann Menschen keinen Sinn im erwerben. Bedürfnisse wie auch Bedrohungen Leben, wenn dieser für sie wie ein Gegenstand, werden quasi auf Distanz gehalten. So gewinnt fast wie eine Ware gesehen wird. Sie glauben, die Seele einen ganz eigenen Raum, um zu man könne ihn wie Nahrung, Kleider, Bücher, sich zu kommen und sich dann auch anderen Blumen, Autos, CDs, Erlebnisse oder Abenteuer Problemen zu stellen – eben den menschlichen, einfach kaufen (Hersch 1979, 311). der Frage nach dem Sinn! Doch weder Gegenstände oder Tatsachen noch Es stimmt also nicht, dass unser Leben quasi Situationen haben einen Sinn an sich – außer „sinnlos“ geworden ist. Sinn kann man nur jenem, dass es sie gibt. Man muss sie „in Kauf bedingt außerhalb finden, sondern vor allem in nehmen“, wie sie eben sind, ob sie einem gefallen sich selbst! Das heißt, es geht darum, in uns den oder nicht. Erst in der Art, wie wir sie aufnehmen, „Sinn für den Sinn“ zu wecken und wach zu erleben, sie deuten oder verarbeiten, erhalten sie halten. Erachten wir die Welt als sinnlos, dann für uns und durch uns einen Sinn. Den Sinn ist meist unsere den Sinn belebende Quelle finden wir – im Gegensatz zum Leiden (1988) – erschöpft, nicht aber der Sinn grundsätzlich nie vor. Wir sind für ihn verantwortlich in der Art, abhanden gekommen. wie wir mit den Dingen und Geschehnissen unseres Lebens umgehen. Genau darin spiegelt sich ein Stück unserer Freiheit – man kann etwas
16 Der Fachtag Äußere Bedingungen garantieren den Sinn (4) Heilpädagogik und Sinn nicht, aber sie können ihn begünstigen. Der Weg Unsere Versuchung, vorschnell einer Behinderung geht vom einfachen, biologischen Überleben oder Krankheit Sinn zuzusprechen, wird von hinauf zu der Frage nach dem Sinn für uns – Betroffenen nicht selten und mit Recht als als der eigentlichen menschlichen Frage. Alle über-heblich empfunden, ebenso die Neigung, sozialen Momente und Ereignisse dienen dem Behinderung oder Krankheit „klein zu reden“ – Erwachen der Frage nach einem menschen- z.B. nach dem provokativen Motto „Behinderung würdigen Sinn. ist schön“ oder aber „Es ist normal, verschieden zu sein“. Wer dies tut, hat noch zu wenig über Innere Bedingungen sind für Jeanne Hersch Behinderung und Krankheit nachgedacht oder „bestimmte Einstellungen“. Nur Abstand zu aber sich einer ideologischen Sichtweise hinge- nehmen von den das Leben bedrohenden wie geben. auch förderlichen Bedürfnissen, genügt sicher nicht. Aber auch ein überzogenes Hoffen und Heilpädagogisches Tun wird nur dann glaubhaft, Streben nach durchgängigem Glück erschweren wenn es sich der Realität nicht verschließt und jede Möglichkeit, den Sinn zu finden. das auf- und annimmt, was Menschen erleben und wie sie ihrem Schweren begegnen. Das heißt Man muss für Sinn empfänglich sein – konkret noch lange nicht, aus jeder Behinderung oder Dinge wahrnehmen und hinter dem Grün das Krankheit ein Drama zu schmieden. Vielmehr gilt Grün suchen und entdecken („Tritt ein in das es, dem zuzuhören, was der oder die andere zu Grün hinter dem Grün“, Albert von Schirnding), berichten oder zu erzählen hat. es als solches erkennen, für sich aufsammeln und sich damit identifizieren. Heilpädagogik weiß von der Brüchigkeit mensch- lichen Lebens. Insofern ist für sie das Imperfekte Sinn setzt Mangel voraus. Dort, wo man sein des Menschen Credo wie auch Erfahrungsgrund- Leben auf der Bedürfnisebene zuschüttet, lage. Dabei geht es nicht darum, die Menschen in verstopft man quasi die Kanäle für den Sinn. zwei Gruppen einzuteilen – hier die Leistungsträ- Ohne Mangel gäbe es nur Vorhandensein. Wäre ger, also die „Perfekten“ und dort die „Im-Perfek- der Mensch ein Wesen der Fülle, würde er weder ten“, jene, die wenig bis nichts zum Sozialprodukt zielen noch sich sehnen, er würde nach nichts der Gesellschaft beitragen, sondern im Gegenteil streben. Und da er kein Wesen der Fülle ist, Geld kosten, Zeit benötigen und Energie verbrau- sehnt er sich nach Sinn. (ebd. 314/315) chen. „Der Sinn nach dem Sinn ist nur dann lebendig, Das Moment des „Im-Perfekten“ geht durch wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht.“ jeden Menschen hindurch – jeder hat Anteil, wenn (a.a.O.). Ohne ein Sich-Binden an Unersetzliches auch in unterschiedlichem Maße. Leonardo Boff kann auch nichts Radikales passieren. Viele bezeichnete den Menschen einmal als UND-We- Menschen tun alles dafür, absolut unverwundbar sen – bei ihm als männlich und weiblich, als fleißig zu sein. Wer sich keiner Gefahr der absoluten und faul, als jung und alt, als krank und als Bindung aussetzen will, erfährt eine eigenartige gesund – und so auch als „perfekt“ wie auch als Sinnlosigkeit des Lebens. (a.a.O.) Mit der Zeit „im-perfekt“. wird die so erfahrene Sinnlosigkeit schlimmer als das zu erwartende oder gefürchtete Unglück. Menschen, die ein Gefühl für den Sinn oder – mit Jeanne Hersch gesprochen – „einen Sinn für den Sinn“ haben, genügt das Faktum „Leben“ allein meist nicht. Sie fragen darüber hinaus, ob ihr Leben auch in besonders schwierigen Situationen Sinn habe, das sie selbst als Belastung, Begren- zung oder als Irritation empfinden bzw. als Kränkung erleben.
Der Fachtag 17 Heilpädagogik ist von ihrem Selbstverständnis her (5) Behinderung bzw. Krankheit und Sinn weit davon entfernt, weder das Im-Perfekte zu Die nachfolgenden fünf Zeitzeugen sollen stell- huldigen noch das Im-Perfektes möglichst in vertretend für andere stehen und den schwierigen Perfektes umzuwandeln; vielmehr besteht ihre Zusammenhang von Krankheit, Behinderung oder Aufgabe darin, ein Votum für die tatsächlichen Irritationen und Sinn auf sehr persönliche Weise Gegebenheiten menschlichen Seins einzubringen beleuchten: und in diesem Kontext jeweils das ihre zu tun. • Herta MÜLLER – Wenn sich Heilpädagogik besonders um beein- Beschädigungen auf Grund eines Lebens trächtige Menschen bemüht, um jene also, unter Diktatur „die sich selbst nicht forthelfen können“ • Christof SCHLINGENSIEF – (Joh. H. Pestalozzi), dann arbeitet sie einerseits das Leben mit und nach Krebs ganz konkret – subjektbezogen wie auch syste- • Maximilian DORNER – sein Leben mit MS misch – mit behinderten, kranken oder in Not • Harold KUSHNER – geratenen Menschen und andererseits beispielhaft Erfahrungen mit seinem behinderten, im Hinblick auf die gesellschaftliche Wahrneh- früh verstorbenen Sohn mung und Akzeptanz. • Jörg WIDMANN – und seine Dubaier Tänze (Exkurs 3) Will man andere verstehen – auch im Hinblick auf persönlichen Sinn, empfiehlt es sich, der jeweili- gen Lebensgeschichte hinreichend Aufmerksam- keit zu schenken und für biografische Erzählun- gen offen zu sein. Lebensgeschichten gelten als Zu (1) – Herta MÜLLER unverzichtbare Schnittstellen von übernommenem Herta MÜLLER formuliert in einem Interview: Sinn als Sinn „von oben“ wie auch von selbst „Die Vergangenheit vergeht bei keinem Men- erlebtem und selbst geschürftem Sinn als Sinn schen, egal, unter welchen Umständen er gelebt „von unten“. Wollte professionelle Begleitung hat. Jeder hat Ängste, etwa wenn Beziehungen im Hinblick auf ein „sinnerfülltes Leben“ diese zerbrechen oder wenn man an einer Krankheit Quellen übergehen, bliebe ihr Tun auf Sand leidet. Durch solche Dinge wird man verändert, gebaut. Dabei gilt es, Sinnkerne aufzuspüren, die Ängste bleiben. Und das gilt erst recht, wenn die sich in den Furchen eines noch so gequälten man mit extremen Situationen zu tun hatte, die Lebens finden lassen. Schweres wird sich nicht einen beschädigt haben, wenn man Todesangst immer in Gutes, ja Sinnvolles verwandeln. Trotz erlitten hat, weil man wie ich von einem repressi- noch so engagiertem Bemühen um Sinnhaftigkeit ven Apparat verfolgt wurde, und das fünfzehn bleiben Anteile von Leid und Schweres unbe- Jahre lang. Aber auf seltsame Weise gewöhnt zwingbar und gegenwärtig. man sich daran, es wird zu einer gespenstischen Normalität. Man zähmt seine Angst und versucht, Professionalität bringen wir meist mit Theorien, daraus etwas anderes zu machen. Das gelingt Konzepten oder Methoden in Verbindung. Sie sogar zeitweise, obwohl man immer weiß, dass es sollen heilpädagogischen Ziele umsetzen helfen. eigentlich anders ist. Man steht neben sich, und Doch heilpädagogischen Handeln bleibt „steril“, das habe ich in all den Jahren lernen müssen: wenn nicht das konkret gelebte Leben mit ins neben mir zu stehen. So wie ich auch jetzt neben Spiel kommt. Und dieses erfahren wir vorrangig mir stehe, wenn es um diesen Preis geht. Ich bin durch jene Menschen, denen sich professionelle auf eine sehr praktische Weise schizophren.“ Helfer verpflichtet fühlen. Sie lassen uns Anteil nehmen an ihrer Sinnsuche wie an ihrer Sinnarbeit und bewahren uns gleichzeitig vor der irrigen Auffassung, wir als Begleiter seien für den Sinn des jeweils anderen verantwortlich. Ganz im Gegenteil. Als professionelle Helfer können wir von ihnen lernen, wie sie „erlebte Betroffenheit“ in Sinn verwandeln und dennoch mit bleibenden Ambivalenzen leben müssen.
18 Der Fachtag Ergänzend seien noch ein paar besonders ein- Die Basis ist für ihn das Erfahren der Welt und dies drucksvolle Sätze von ihr hinzugefügt: hat mit Fühlen zu tun. „Man muss dieses Leid als • Gott – Wenn man nicht an ihn glaubt, dann Kraft begreifen …“ (2009, 165). Das Denken, die braucht man etwas anderes. Einstellung und die Frage nach innerer Verantwor- • Erinnerungen sind weder gut noch schlecht. Es tung können nur Teilaspekte sein. „Diesmal habe kommt immer darauf an, inwieweit ich in der ich die Wunde der Welt berührt, die Wunde des • Lage bin, sie zu zertrümmern, damit sie Leben-Wollens und des Sterben-Müssens.“ (ebd. künstlich werden und ich sie wieder zusam- 160). Gleichzeitig verweist er auf ein Zitat von mensetzen Joseph Beuys „Zeig mal deine Wunde. Wer seine • kann. Wunde zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird • Leben ist das Gegenteil vom Schreiben. nicht geheilt.“ (ebd. 197) • Beschädigungen können nicht aushaltbar sein oder einen hinterrücks an etwas binden. • Glück kann tragisch sein. Zu (3) – Maximilian DORNER: Maximilian Dorner, ein überaus begabter und hoch gelobter Autor, ist seit zwei Jahren an MS Zu (2) – Christof SCHLINGENSIEF erkrankt. In seinem Buch „Mein Dämon ist ein Der an Krebs erkrankte Theaterregisseur Chris- Stubenhocker“ (2007) schreibt er, bei seinen toph Schlingensief (2009) schreibt in seinem Recherchen sei er auf einen Aufsatz mit dem beeindruckenden, ja aufwühlenden Buch „So Titel „Die prophetische Aufgabe behinderter schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“, Menschen“ gestoßen, woraus er Folgendes zitiert: das voller Leben strotzt, dass das Reflektieren „Behinderung ginge jeden etwas an, weil Leiden, bzw. besser ausgedrückt: das Nachdenken über Krankheit, Behinderung und Tod zum vollen die uns umgebende Welt und deren Sinnange- Menschsein gehörten. Behinderte Menschen bote erst Wahlfreiheit und grundsätzlich Freiheit erinnern somit uns alle an unser eigenes Mensch- ermöglicht. Es mag anfangs vielleicht schmerzlich sein. Sie führen jedermann – ob gewollt oder sein, ein wenig genauer hinzusehen und den ungewollt – die begrenzte Hinfälligkeit des Urgrund seines Fühlens erkennen zu wollen, und Menschen vor Augen.“ (2007,160) dennoch ist diese Form der Auseinandersetzung mit seiner gefühlten Wahrnehmung der Welt M. Dorner schreibt weiter: unerlässlich, um möglicherweise zu einem kleinen „So ist das also … es tut mir herzlich leid, ich bin Stück intensiveren und sinnvolleren Lebens zu 34 Jahre alt und kein lebendes Denkmal, das zu gelangen. Schlingensiefs Tagebuch einer Krebs- Allerseelen an die Türen klopft und mit rauer erkrankung verdeutlicht das eindrucksvoll. Stimme flüstert: Sieh her, so wirst du auch bald aussehen!“… „Ich stelle mich auch nicht mit dem Diese Auseinandersetzung geschieht nicht Carpe-Diem-T-Shirt auf den Marktplatz und theoretisch. Es geht eher um die Kunst, eine skandiere: Morgen kann es bereits vorbei sein.“ Kunst zu leben. Diese Kunst gilt es dann in die (ebd.) Arbeit mit alten wie auch behinderten Menschen zu transformieren, sie selbst ins Senioren- bzw. „Niemand soll durch meinen Anblick an seine Wohnheim mitzubringen und in verschiedenen eigene Gebrechlichkeit gemahnt werden. Es Situationen gemeinsam mit ihnen zu leben. mögen die, die erinnert werden wollen, an einem Dieses Bemühen – eine Lebenskunst – benötigt regnerischen Vormittag über den Friedhof eine Zusammenführung von Fühlen und Denken, schlendern … Ich werde jedenfalls nicht, wenn ich letztlich aber auch verändertes Handeln. im Rollstuhl, mit Krücken oder sonst wie hum- pelnd, stolpernd, torkelnd zu einer Party komme, allen Gästen die Laune verderben, damit sie während einer Schweigeminute über die Musik- auswahl für ihre eigene Beerdigung nachdenken können.“ (ebd.)
Der Fachtag 19 Zusammengefasst bedeutet dies Zu (4) – Harold KUSHNER: Alle diese ausgewählten Persönlichkeiten lassen In dessen bemerkenswertem Buch „Wenn guten die verbleibende Ambivalenz zwischen Behinde- Menschen Böses widerfährt“ (2004) lesen wir rung und/oder Krankheit und Sinn bewegend folgende Sätze: erkennen. Neben den gewonnenen Sinnmomen- ten lugt doch zwischen den Zeilen hervor, man „Ich bin ein mitfühlender Mensch, ein Pfarrer mit würde am Ende sogar auf solche Sinnspuren mehr Ausstrahlung, ein besserer Ratgeber durch verzichten, wäre das Leben weiterhin leicht und Aarons Leben (als schwerstbehindertes Kind) und unbeschwert. dessen Tod geworden, als ich ohne ihn je hätte sein können. Doch ich gäbe alle diese Vorzüge in Spannend aber bleibt darüber hinaus die Frage, einer einzigen Sekunde wieder zurück, wenn ich wie man von einer so zentralen Beeinträchtigung meinen Sohn zurück haben könnte. Wenn ich wie eine massive Krankheit oder schwere Be- die Wahl hätte, würde ich alle geistige Größe und hinderung zu Sinnmomenten kommt, genauer Tiefe, die mir durch meine Erfahrungen zuteil gefragt, wie sich dieser Umwandlungsprozess geworden sind, von mir werfen, um nur das zu vollzieht, um dem Minus ein Plus abzugewinnen – sein, was ich vor 15 Jahren war: ein durchschnitt- ohne dem Fehler zu erliegen, das gesamt Minus in licher Rabbiner, ein mittelmäßiger Ratgeber, der ein Plus verändern zu wollen. Hierzu findet jeder einigen helfen konnte und anderen nicht, und der Betroffene seine eigenen Wege. Das Gemeinsame Vater eines heiteren glücklichen Jungen. Aber ich jedoch scheint darin zu liegen, dass man diese hatte keine Wahl.“ (2004, 128) Umwandlung aus sich heraus vollbringen muss und eine Predigt oder Anleitung „von oben“ H. Kushner konfrontiert seine Leser mit einer alleine selten trägt. weiteren Erfahrung im Erleben einer schweren Behinderung. Die durch die Behinderung und den Und am Beispiel von Jörg Widmann beeindruckt frühen Tod seines einzigen Sohnes, an Progerie besonders dieser Weg der inneren Wandlung. erkrankt, bedingten Veränderungen der eigenen Person samt seiner beruflichen Qualität werden realistisch, aber dennoch positiv gesehen, und Zu (5) – Jörg WIDMANN trotzdem bohrt in ihm dem treusorgenden Vater Kürzlich wurde in einer TV-Dokumentation mit jene schmerzende Sehnsucht nach jenem Früher dem Titel „Es werde Klang“ Jörg WIDMANN, ein – einem unbeschwerten, heiteren und „irgendwie in München geborener, vielfach ausgezeichneter ganz normalen“ Leben in seiner Familie und mit Komponist und Klarinettist, vorgestellt. Hierbei seiner Gemeinde. spielte weder eine Behinderung noch eine Krank- heit eine Rolle, wohl aber eine massiv erlebte Irritation – hervorgerufen durch eine total be- fremdliche wie verfremdende Umgebung. Sie wurde von ihm als massiver Angriff auf seine Identität erlebt. Wie er damit umging und zu neuer Sinnqualität vorstieß, hat Vorbild- wie auch Zeichencharakter über sein persönliches Erleben und die bedingende Situation hinaus. Die Dokumentation zeigt den unvorstellbaren Bauboom in Dubai. Nach seinen Worten hielt er diese brachiale „Moderne“ in ihrem atemberau- benden Gigantismus, unvorstellbarem Lärm und in ihrer grenzenlosen Vermessenheit kaum aus. Als er versuchte, sich, von diesen Eindrücken überwältigt, in einem der vielen Cafés zu erholen, fiel ihm urplötzlich als „krasses Gegenbild“ bayerische Volksmusik ein – und mit dieser ein schon fast vergessenes heimatliches Grundgefühl, das ihn vor Verzweiflung bewahrte. In den darauf
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