Zwischenraum 02 | 2021 - Katholische Akademie Schwerte

Die Seite wird erstellt Felix Bender
 
WEITER LESEN
Zwischenraum
 Das Magazin der Katholischen Akademie Schwerte

                02 | 2021
Inhalt

                                                      4                                      27
                                  ­Sakralraumtransformationen                        Den anderen bei
                                      – Gottfried Böhm zum                        sich aufnehmen – mit
                                         100. Geburtstag                         ­unabsehbaren Folgen
                                              Text: Stefanie Lieb                     Text: Hans Stapel

                                                     12                                      33
                                        Gestaltwandel des                       Online-Vorlesungen
                                         ­Priesterlichen                     zu Kunst und Architektur
                                             Text: Peter Klasvogt                    Text: Stefanie Lieb

                                                     15                                      35
                                        34. Tagung des                              Ausstellungen
                                    Schwerter ­Arbeitskreises                       und Konzerte
                                     Text: Florian Bock und Daniel Gerster

                                                                                             36
                                                      20                           Veranstaltungen
                                         Mit den Psalmen                         Juli – Dezember 2021
                                          auf Ostern zu
                                            Text: Ulrich Dickmann

                                                      25
                                     Der Blick des Lammes
                                             Text: Markus Leniger

Akademie im Film
Lernen Sie uns aus neuem
Blickwinkel kennen und besuchen
Sie unseren YouTube-Kanal
Editorial
                                  DIGITAL – das neue REAL?

         Nicht, dass die Katholische Akademie              Die neuen Formate ermöglichen es, dass       »Da hätte ich erwartet«, wundert sich der          Resonanz sind, ein Problem sind. Wir sehen
         demnächst ihre Pforten schließt und sich          Teilnehmende nicht nur in virtuellen         Soziologe Hartmut Rosa, der sein tradi­            uns zwar, aber wir können uns nicht in die
         zur Digital-Akademie wandelt. Je länger der       Gruppenräumen in Wortkshops miteinan-        tionelles Klassentreffen coronabedingt             Augen schauen. Dieses Austauschen des
         wellenförmig über unser Haus hereinbre-           der im Gespräch sind, sondern über die       erstmals ins Netz verlegen musste, »dass es        Blickes ist für eine menschliche Begegnung
         chende Lockdown anhält, desto sehnsüchti-         Kommentarfunktion parallel zu den Talks      mühsam und auch nicht besonders intensiv           ein ganz fundamentales Moment. Und einen
         ger warten wir, dass in der Akademie              und Panels auch im Chat miteinander          wird, aber es ist zu einer sehr intensiven         Blick austauschen kann man tatsächlich im
         wieder Präsenzveranstaltungen stattfinden         kommunizieren, ihre Anregungen und           Erfahrung für alle geworden – so dass ich          Internet nicht.«
         können, irgendwann sogar maskenfrei und           Meinungen, kritische Fragen und neue         das Gefühl hatte, das ist eine fast ideale             Auch das lernen wir möglicherweise
         auf Tuchfühlung.                                  Perspektiven unmittelbar einbringen, die     Zeit, auch experimentell an sich selbst und        gerade in Zeiten des räumlichen und sozialen
             Auf Augenhöhe allerdings bewegen wir          etwa von »einer Anwältin oder einem          in der Erfahrung anderer zu erproben und           Abstandsgebots: eine neue Wahrnehmung
         uns auch jetzt, wenngleich im Kachel-For-         Anwalt des Publikums« live aufgegriffen      zu überprüfen, was trotzdem bleibt.«               und Wertschätzung der physischen Gegen-
         mat, wenn die vormals analog, dann hybrid         und in die laufende Podiumsdiskussion            Doch bei aller Euphorie über neue              wart, der menschlichen Begegnung, die mehr

                                                                                                                                                                                                           Ed ito rial
         geplanten Konferenzen, Tagungen und               eingebracht werden. Und da sich alles        Dimensionen der Bildungsarbeit und den             ist als konzentrierte Interaktion zwischen
         Seminare nun doch digital durchgeführt            »im Netz« abspielt, sind die Vorträge und    durchaus wechselhaften Erfahrungen mit             Sender und Empfänger – so konstruktiv und
         werden. Und angesichts der Kontaktverbo-          Medienberichte auf einer eigens einge­       digitalen Geräten und neuen Kommuni­               positiv die Effekte digitaler Kommunikation
         te und Reisebeschränkungen ist es doch            richteten Website eingestellt und können     kationsformen stellen sich natürlich auch          in Zeiten des Social Distancing auch sind. Es
         auch ein Segen der modernen Technik, sich         auch nach Veranstaltungsende nach            Fragen. Denn die Kommunikation im                  braucht, so lernen wir, Zwischenräume der
         über die Distanzen hinweg zusammenschal-          Belieben heruntergeladen und weiter­         digitalen Raum wirkt wie ein »Brandbe-             Menschlichkeit: Begegnung auf Augenhöhe,
         ten zu können. So sehr der Small Talk in          verbreitet werden. So wurden etwa die        schleuniger«. Das Digitale rast derzeit. Der       aber auch im Augen-Blick. Genau darum
         den Pausen, an der Kaffeetheke oder im            Videoclips der internationalen Tagung        Impuls, irgendwie am Ball bleiben zu               braucht es solche Orte wie die Akademien,
         Foyer fehlt: mit dem neuen Medium                 zum »Gestaltwandel des Priesterlichen«,      wollen, führt zu einer Hamsterradlogik, die        und wir sind froh, genau für solche Momente
         erzielen wir Reichweiten, die uns bislang         einer Kooperationsveranstaltung zum          vor allem über digitale Kanäle befeuert            des Verstehens unsere Tore weit öffnen zu
         verwehrt waren. Da erreichen uns beispiels-       Synodalen Weg zusammen mit den Katho­        wird. Es fehlen die Pausen, die resonanten         dürfen.
         weise für den »Juristentag« oder Online-­         lischen Akademien in Wien und Zürich,        Zwischenräume, das resiliente Aus- und
         Vorlesungen über »Künstler*innen der              innerhalb weniger Wochen an die 300 Mal      Durchatmen der Seele. Jenes Umschalten             Fühlen Sie sich eingeladen und willkommen!
         Moderne« Anmeldungen aus dem ganzen               downgeloaded (von den rd. 50.000 Klicks      von angespannter Hochleistungsphase und            Ihr Peter Klasvogt
         Bundesgebiet; da loggen sich Interessierte        auf die Website ganz zu schweigen).          entspannten Erholungszeiten entfällt in der
         aus Österreich, Luxemburg oder der                    Doch digitale Formate ermöglichen        unmittelbaren digitalen Kommunikation.
         Schweiz ein, um an dem Forum »Film und            nicht nur mehr Reichweite und eine höhere    Doch wir Menschen sind von Natur aus, so
         Theologie« oder an der Tagung Kirche              Taktung der Interaktion, sondern auch eine   beschreibt es Hartmut Rosa, Resonanzwesen:
         weitergebaut teilzunehmen, die nie zu einer       größere Intensität. Auch wenn man sich       »Menschen achten jetzt intensiver auf              Prälat Dr. Peter Klasvogt
         unserer analogen Akademieveranstaltungen          dies vormals nicht vorstellen konnte: auch   die Augen. Das ist übrigens auch einer der         Akademiedirektor
         angereist wären und vermutlich noch nicht         Beratungsgespräche und Bibelteilen           Gründe, warum digitale Begegnungen,
         einmal wissen, wo Schwerte liegt.                 »funktionieren«, wo man im persönlichen      obwohl sie nicht grundsätzlich ohne
                                                           Gespräch unmittelbar auf das Gegenüber
                                                           fokussiert ist.

Zur ück z um I n h a l t                               2                                                                                               3
kuns t + Kul tur
                                                                         Die elfte Folge der Tagungsreihe Kirche             Nach einer Begrüßung durch Tagungs­lei­terin
                                                                          weitergebaut der Katholischen Akademie             Prof. Dr. Stefanie Lieb, stellten Prof. Dr.
                                                                         Schwerte fand diesmal coronabedingt                 Albert Gerhards und Dr. Kim de Wildt die
                                                                         online am 30. November 2020 statt. Sie              Forschungsgruppe TRANSARA mit ihren
                                                                         hatte das Thema »Sakralraumtransforma­              sieben Teilprojekten aus unterschiedlichen
                                                                         tionen« und widmete sich hierbei aus                Fachdisziplinen der Theologie, Liturgie-
                                                                         aktuellem Anlass dem 100. Geburtstag von            und Religionswissenschaft, Architektur,
                                                                         Gottfried Böhm, dem großen Kirchbauar-              Kunstgeschichte und Immobilienwirtschaft
                                                                         chitekten der Moderne. Es wurden drei               und von den beteiligten Universitäten in
                                                                         Kirchen von ihm vorgestellt und diskutiert,         Bonn, Köln, Wuppertal, Leipzig und Regens-
                                                                         die alle Transformationsprozesse durch­             burg vor. Es wurde verdeutlicht, dass die
                                                                          laufen haben bzw. noch werden. Neben               Forschungsgruppe mit ihrem fächerüber-
                                                                         dem langjährigen Kooperationspartner der            greifenden Ansatz nicht nur die Probleme
                                                                         Tagung, dem Bauamt im Erzbischöflichen              und Defizite, die häufig mit Kirchenum­

                                                                                                                                                                             ­Sakralra umtrans formationen –
                                                                         Generalvikariat Paderborn, kam diesmal              nutzungen einhergehen, ­aufzeigen und
                                                                          federführend die neue interdisziplinäre            analysieren möchte, sondern vielmehr durch
                                                                         Forschungsgruppe der Deutschen Forschungs-          die Beobachtung und Auswertung von Trans-
                                                                         gemeinschaft TRANSARA 1 hinzu, die sich             formationsprozessen Chancen und Wege
                                                                         seit dem Frühjahr 2020 wissenschaftlich             für diverse und kreativere Modelle von
                                                                         mit der Thematik der »Sakralraumtransfor-           zukünftigen Sakralbau-Nutzungen in Deut-
                                                                         mation in Deutschland« auseinandersetzt             schland bis hin zu einer neu konfigurierten
                                                                         und ihr Konzept in einem vorgeschalteten            Theorie des Sakralraums erarbeiten will.
                                                                         Workshop zur Böhm-­Chapel in Hürth (Abb. 1)
                                                                         und zur Kirche St. Hubertus in Aachen               Workshop-Teil: Böhm-Chapel und
                                                                         (Abb. 2) präsentierte. Im Tagungsteil stand         St. Hubertus in Aachen

                                                                                                                                                                             Go ttfried
                                                                         die jüngst umgebaute Kirche »Zur Heiligen           Der Workshop begann dann mit der Vor-
                                                                         Familie« (die sogenannte »Waisenhauskirche«)        stellung der Böhm-Chapel in Hürth (bei Köln),
                                                                         von Gottfried Böhm in Köln-Sülz im Fokus            der ehemaligen katholischen ­Kirche St. Ur­

                                                                                                                                                                             B ö hm
                                                                         (Abb. 3–7). Das Kölner Architekturbüro              sula, die Gottfried Böhm 1956 als runden
                                                                         nebelpössl architekten, das den Transforma­-        Zentralbau mit Kapellenkranz und abschlie-

                                                                                                                                                                             zum
                                                                         tionsprozess von der »Waisenhauskirche«             ßendem Betonschalengewölbe sowie hohem
                                                                         zum »Kulturzentrum« eines neuen Wohn-               Betoncampanile im damaligen Neubauge-

                                                                                                                                                                             100. Geburtsta
           ­Sakralraumtransformationen                                   quartiers baulich umgesetzt hatte, wurde
                                                                         vom Architekten Dipl.-Ing. Bork Schiffer
                                                                         ­vertreten, der für den kurz vor der Tagung
                                                                                                                             biet von Hürth errichtet hatte (Abb. 1). 1993
                                                                                                                             erfolgte die Unterschutz­stellung durch die
                                                                                                                             staat­liche Denkmalpflege, 2006 wurde die

               – Gottfried Böhm zum                                      tragischerweise tödlich verunglückten
                                                                         Büroleiter Dipl.-Ing. Thomas Nebel einsprang.
                                                                                                                             Kirche profaniert und verkauft und ab 2010
                                                                                                                             vom Galeristen Jablonka zu einer Galerie
                                                                         Ihm wurde die Veranstaltung kurzfristig             für zeitgenössische Kunst umgebaut und
                  100. Geburtstag                                        gewidmet und einleitend seiner mit einem
                                                                         Gebet und einer Andachts­minute gedacht.
                                                                                                                             genutzt. Prof. Dr. Stefanie Lieb vom Kölner
                                                                                                                             TRANSARA-Teilprojekt 3 wertete diese
                                                                         Begleitend zur Vorstellung des Umbaus der           kulturelle Transformation kunsthistorisch
                           Tagungsbericht von »Kirche weitergebaut XI«   »Waisenhauskirche« gaben Erzdiözesan­               als gelungen, da trotz der Profanierung des
                                                                          baumeister Dipl.-Ing. Martin Struck sowie          Kirchenraums der heutige Galerieraum
                                     am 30.11.2020 (Online)              der Kölner Stadtkonservator Dr. Thomas              immer noch die Raumbezüge der umlie­
                                                                         Werner ihre Statements aus Sicht der                genden Sakramentskapellen erkennen ließe
                                           Text: Stefanie Lieb           Denkmalpflege ab.                                   und der präsentierten zeitgenössischen

Zur ück z um I n h a l t                           4                                                                     5
Kunst die Möglichkeit des Transzendenz­              (Abb. 2). Prof. Dr. Albert Gerhards analy­
                                     bezuges eröffne. Prof. Dr. Albert Gerhards           sierte das Raumprogramm dieser Kirche
                                     vom Teilprojekt 1 aus Bonn referierte                unter den drei Parametern »Versammlung«,
                                     nachfolgend aus eigener Erfahrung die                »­Annexräume« und »öffentlicher Raum« und
                                    ­Schwierigkeiten, die mit dem nach der Pro-           resümierte, dass es hier für die Liturgie­
                                     fanierung der Kirche einsetzenden lang­              wissenschaft Raumpotenziale zu entdecken
                                     wierigen Transformationsprozess verbunden            gäbe, die auch für ein Umnutzungskonzept
                                     waren; dokumentiert ist dieser Verlauf in            fruchtbar gemacht werden könnten.
                                     einer eigenen Publikation. 2 In ihrem Beitrag        Gerhards verwies auch auf das Seminarpro-
                                     »Mehr als ein Patrozinium? Von St. Ursula zur        jekt der FH Aachen von 2018, bei dem
                                    Böhm-Chapel« brachte Dr. Kim de Wildt                 Architekturstudierende im Seminar von
                                     vom Teilprojekt 6, aus­gehend von Marc               Prof. Dr.-Ing. Anke Fissabre Entwürfe für
                                    Augés Begriff der »Nicht-Orte«,3 die These            eine Umnutzung von St. Hubertus entwi-
                                     in die Diskussion, dass es sich bei der              ckelt haben. 4
100. Geburtsta

                                                                                                                                         Hürth-Kalscheuren, Böhm-Chapel (ehem. Kirche St. Ursula),          Aachen-Hanbruch, St. Hubertus, Gottfried Böhm (1966),
                                    Böhm-Chapel ähnlich wie bei der berühmten                 Nachfolgend referierte Dr. Robert Plum     Gottfried Böhm (1956), seit 2010 Kunstgalerie Jablonka,                          Außenansicht (Abb. 2)
                                    Rothko-Chapel um einen auratischen Kunst-             vom Bonner Teilprojekt 7 aus Sicht von                         Außenansicht (Abb. 1)
                                     raum handle, der durch die Kunstinsze­               Philosophie und Pastoraltheologie mit dem
                                     nierung in einer prominenten Architekten-­           Titel »Ich glaube, was ich baue – philoso­
                                     Kirche eine starke »Religionisierung«                phische Reflexionen über Sakralraumtrans­
zum

                                     erfahren habe. Dr.Kerstin Menzel und Prof.           formation« über das Architekturverständnis
B ö hm

                                     Dr. Alexander Deeg vom Leipziger Teilpro-            Gottfried Böhms und den Zusammenhang
                                     jekt 2 führten daraufhin unter dem Titel             zwischen Glauben und Bauen: Für den
Go ttfried

                                     »Offene Mitte und freigelegte Tendenz« ihre          Architekten Böhm war der konstruierte und
                                     Überlegungen zur Böhm-Chapel und zur                 gestaltete Kirchenraum selbst der Inhalt,
                                     Hybridität von Kunst und Kirchenraum an              sozusagen »Beton gewordene Liturgie«. 5
                                     und stellten die Frage in den Raum, ob               Prof. Dipl.-Ing. Ulrich Königs vom Wupper-
­S akralrau mtra ns formationen –

                                     vielleicht durch die Freiräumung der Pro­fa-         taler Teilprojekt 4 zu »Architektonischen
                                     nierung der ursprüngliche intendierte                Perspektiven der Sakralraumtransformation«
                                    Zentralraumcharakter der Böhm-Chapel                  erläuterte zu Beginn seiner Darlegung über
                                     sogar noch klarer zur Geltung gekommen               »Architektonische Machbarkeiten bei der
                                     sei. In der anschließenden Diskussion zur            Sakralraumtransformation von St. Hubertus«,
                                    Böhm-Chapel wurde die aktuelle städte­                dass Architekten generell Ideen von zu
                                     bauliche Situation mit der Randbebauung              bauender Architektur mit sich herum
                                     eng um das Kirchengebäude herum bemän-               tragen. Das Angebot zur Planung einer
                                     gelt, da sie nicht der freistehenden Ur-             Kirchenumnutzung sei also nicht der Anlass
                                     sprungslage entspricht. Grund dafür sei der          für einen Architekten zum Entwurf und zur
                                     unabhängig von der Kirche erfolgte Verkauf           Realisierung, sondern eher ein Mittel zum
                                     der umliegenden Grundstücke gewesen.                 Zweck. 6 Für mögliche Transformationsper­
                                         Als weiteres Beispiel einer in Transfor-         spektiven legte Königs drei Diagramme vor
                                     mation befindlichen Böhm-Kirche wurde                zu einer 1. Nutzungserweiterung mit
                                     im Workshop der 1966 entstandene Bau                 verbleibendem Gottesdienstraum, 2. Teil-
                                    St. Hubertus in Aachen-Hanbruch vorgestellt,          umnutzung mit Haus im Haus-Prinzip und
                                     eine als monolithischer »Betonfels« geformte         3. Neunutzung mit Variante »Kletterkirche«.
                                     Kirche, die als Vorstufe und Experimen­tier-         In der abschließenden Betrachtung beschrieb
                                     phase für den kurz danach entstandenen               Prof. Dr. Sven Bienert vom Regensburger
                                     berühmten »Mariendom« in Neviges von                ­Teilprojekt 5 zu »Immobilienwirtschaftlichen
                                                                                                                                                 Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche (ehem. Zur Heiligen Familie) von Gottfried Böhm (1959), Luftbild,
                                     Gottfried Böhm verstanden werden kann                Implikationen der Sakralraumtransformation«,                                       nebelpössl architekten, Köln, 2020 (Abb. 3)

  Zur ück z um I n h a l t                                                           6                                                                                                                 7
dass es bei Kirchenimmobilien eben nicht           Umbaus dieser Kirche zum »Kulturraum in
                                                                                                                                   um eine rein monetäre Einschätzung gehe,            einem neuen Wohnquartier«, die in engem
                                                                                                                                   sondern dass auch der immaterielle Wert             Austausch mit dem Architekturbüro Böhm
                                                                                                                                    eines Kirchengebäudes beurteilt werde, der         sowie der kirchlichen und staatlichen
                                                                                                                                   sich u. a. auch nach der religiösen Identifi-       Denkmalpflege erfolgte. Von Vorteil für das
                                                                                                                                   zierung und der Außenwirkung bemesse.               Gelingen dieses Transformationsprozesses
                                                                                                                                   Erfahrungsgemäß sind bei einer Kosten-­             war sicherlich auch der Tatbestand, dass
                                                                                                                                   Nutzen-Rechnung für Sakralraumtransfor-             eine Wohnungsbaugenossenschaft, die die
                                                                                                                                    mationen Konzepte mit einer alleinigen             Sanierung und den Teilneubau des umlie-
                                                                                                                                   Nutzung schwieriger umsetzbar, hybride              genden Wohnquartiers regelte und f­ örderte,
                                                                                                                                   Nutzungen sind hier vorzuziehen. Für den            ebenfalls beim Umbau der Kirche als Träger
                                                                                                                                   Fall von St. Hubertus in Aachen kann man            auftrat. Nach Auflösung des großen
                                                                                                                                    für eine erste Abwägung ein gutes Einzugs-         Kinderheims im Stadtteil Köln-Sülz 2010
                                                                                                                                   gebiet konstatieren, für das sich eine              stand die Kirche leer und verwahrloste

                                                                                                                                                                                                                                      ­Sakralra umtrans formationen –
                                                                                                                                   öffentliche Nutzung anbieten würde.                 zusammen mit den umgebenden ehemaligen
                                                                                                                                        In der darauffolgenden Diskussion im           Gebäuden des Kinderheims. Im nachfol-
                                                                                                                                   Plenum wurden die Nutzungsvorschläge                gend ausgeschriebenen Wettbewerb sollte
                                                                                                                                    für St. Hubertus in Aachen kontrovers              im Stadtviertel mit der Sanierung und dem
                                                                                                                                   ­diskutiert, u. a. da es zunächst Unstimmig-        Umbau zu Wohnungen und öffentlichen
                                                                                                                                    keiten über den originären Zustand der             Einrichtungen eine neue »Dorfstruktur«
                                                                                                                                   Fassadenverschieferung gab. Diese muss              entstehen, für die die ehemalige Kirche als
                                                                                                                                    man aber laut Entwurfsplanvorlage anneh-           Zentrum und Landmarke fungieren sollte.
                                                                                                                                    men, so dass St. Hubertus in dieser Fassung        Bei den Überlegungen zur neuen Nutzung
                                                                                                                                    als Denkmal anzuerkennen ist.                      der Kirche einigte man sich schnell auf eine
                                                                                                                                                                                       kulturelle und multifunktionale Version,

                                                                                                                                                                                                                                      Go ttfried
                                                                                                                                   Tagungs-Teil: Ehem. Kirche                          mit zunächst der Planung eines Restaurants
                                                     Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche
                                     (ehem. Zur Heiligen Familie) von Gottfried Böhm (1959), Außenansicht,                         »Zur ­Heiligen Familie«                             oder einer Kita für das gläserne Erdge-
                                                  nebelpössl architekten, Köln, 2020 (Abb. 4)                                      (Waisenhaus­kirche) in Köln-Sülz                    schoss, die dann später zur Einrichtung der

                                                                                                                                                                                                                                      B ö hm
                                                                                                                                   Der Tagungsteil von »Kirche weitergebaut            Geschäftsstelle der Wohnungsbaugenos-
                                                                                                                                   XI« am Nachmittag widmete sich dann                 senschaft mit Büros umdisponiert wurde.

                                                                                                                                                                                                                                      zum
                                                                                                                                   ausschließlich dem jüngst fertig gestellten         Auch in den wiederhergestellten seitlichen
                                                                                                                                   Umbau der ehemaligen Kirche Zur Heiligen            Brücken wurden Räumlichkeiten für die

                                                                                                                                                                                                                                      100. Geburtsta
                                                                                                                                   Familie in Köln-Sülz, die Gottfried Böhm            Genossenschaft eingerichtet. Im Oberge-
                                                                                                                                   von 1955 bis 1959 auf dem Gelände des               schoss, dem ehemaligen Kirchenraum,
                                                                                                                                   Kinderheims in Köln-Sülz als Waisenhaus­            wurde die besondere Raumatmosphäre
                                                                                                                                   kirche unter Einbeziehung des neubarocken           durch den punktuellen Lichteinfall der über
                                                                                                                                   Turms vom Vorgängerbau errichtet hat. Sie           120 kleinen achteckigen Fensteröffnungen
                                                                                                                                   ist als zweigeschossiger Betonkubus mit             erhalten. Als gravierendster Eingriff in die
                                                                                                                                   zwei seitlichen Brückenbauten zu den                ursprüngliche Raumstruktur erfolgte die
                                                                                                                                   angrenzenden Gebäuden angelegt und                  Entfernung der Altarzone inklusive Altar
                                                                                                                                   erhält aufgrund des verglasten Erdgeschos-          und Ziborium und der Einbau einer hölzer-
                                                                                                                                   ses sowie der dekorierten Außenwände mit            nen Treppenanlage, die nun vom Erdge-
                                                                                                                                   einem Hirte-Schäfchen-Relief eine leicht            schoss in den oberen Multifunktionssaal
                                                                                                                                   schwebende und spielerische Anmutung.               führt. Dieser kann zu diversen feierlichen
                   Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche,                           Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche,
                  Modell, nebelpössl architekten, Köln, 2020                     Detail des Brückenbaus, nebelpössl architekten,   Dipl.-Ing. Bork Schiffer vom Kölner Archi-          und kulturellen Anlässen gemietet und
                                  (Abb. 5)                                                     Köln, 2020 (Abb. 6)                 tekturbüro nebelpössl referierte ausführlich        entsprechend flexibel ausgestattet werden.
                                                                                                                                   die Planungen und die Umsetzung des                 Architekt Bork Schiffer erläuterte dann

Zur ück z um I n h a l t                                                8                                                                                                          9
die sakralen Utensilien in ihrer ehemaligen
                                                                                                                              Funktion gewürdigt würden.                             Kirche ­weitergebaut XII
                                                                                                                                  Stadtkonservator Dr. Dipl.-Ing. Thomas             29. November 2021
                                                                                                                              Werner referierte am Schluss aus Sicht der
                                                                                                                              städtischen Denkmalpflege über einzelne                Die nächste Tagung »Kirche weitergebaut XII«
                                                                                                                                                                                     wird am 29.11.2021 stattfinden, dann hoffentlich
                                                                                                                              besondere Aspekte bei der Sanierung der                wieder in Präsenz in der Katholischen Akademie
                                                                                                                              Waisenhauskirche. So wies er vor allem auf             Schwerte!
                                                                                                                              die Rekonstruktion und Neugestaltung der
                                                                                                                              seitlichen Brücken hin, die zur Sichtbarma-
                                                                                                                              chung des historischen Ensemblecharakters
                                                                                                                              der Kinderheimanlage mit Kirche bedeu-
                                                                                                                              tend seien, gleichzeitig aber auch als neu         1. Siehe online: www.transara.de
                                                                                                                                                                                 2. Albert Gerhards (Hg.) unter Mitarbeit von
                                                                                                                              erstellte Baukörper durch eine modische
                                                                                                                                                                                     Julia ­Niemann: St. Ursula in Hürth-Kalscheuren.
                                                                                                                              Verkleidung mit perforierten Metallpanelen

                                                                                                                                                                                                                                           ­Sakralra umtrans formationen –
                                                                                                                                                                                     Pfarrkirche – P­ rofanierung – Umnutzung.
                                                                                                                              gekennzeichnet sind. Thomas Werner wer-                Fakten und Fragen. Berlin 2009.
                                                                                                                                                                                 3. Vgl. Marc Augé: Nicht-Orte, 1992.
                                                                                                                              tete aus seiner Perspektive den gesamten
                                                                                                                                                                                     2. Auflage München 2011.
                                                                                                                              Transformationsprozess der Waisenhauskir-          4. Berg aus Beton. St. Hubertus in Aachen. ­
                                                                                                                              che in Zusammenarbeit mit der kirchlichen               Dokumen­tation studentischer Abschlussarbeiten
                                                                                                                                                                                      am Fachbereich Architektur (www.fh-aachen.de/
                                                                                                                              Denkmalpflege sowie dem verantwortlichen
                                                                                                                                                                                     menschen/fissabre/projekte)
                                                                                                                              Architekturbüro und dem genossenschaft­            5. Vgl. Gottfried Böhm, Peter Böhm: Das Sakrale
                                                                                                                              lichen Träger als überaus gelungen.                    in der ­Architektur. In: Mario Botta, Gottfried
                                                                                                                                                                                     ­Böhm-­Peter Böhm, Rafael Moneo: Sakralität
                                                                                                                                  In der aus Zeitgründen sehr kurzen
                                                                                                                                                                                      und Aura in der ­Architektur. Hrsg. v. D
                                                                                                                                                                                                                             ­ epartment
                                                                                                                              Abschlussdiskussion wurde der gerade                  ­Architektur der ETH Zürich. Zürich 2010,
                                                                                                                              fertiggestellte Umbau der Kölner Waisen-                S. 52 – 83.
                                                                                                                                                                                 6. Vgl. Stefan Netsch: Strategie und Praxis
                                                                                                                              hauskirche aufgrund der Sensibilität im

                                                                                                                                                                                                                                           Go ttfried
                           Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche, Innenansicht, nebelpössl architekten, Köln, 2020 (Abb. 7)                                                           der ­Umnutzung von Kirchengebäuden in den
                                                                                                                              Umgang mit der originalen Substanz und                ­Niederlanden. Karlsruhe 2018.
                                                                                                                              Raumwirkung gewürdigt und der Anlage
                                                                                                                              bereits jetzt das Zertifikat eines sozialen

                                                                                                                                                                                                                                           B ö hm
         noch ausführlich die aufwendige Betonsa-                              dass in diesem besonderen Fall die Stadt       Mittelpunkts im neuen Stadtviertel
         nierung am Außenbau sowie im Inneren des                              Köln der Besitzer der Kirche war, da das       verliehen!

                                                                                                                                                                                                                                           zum
         Gebäudes, die für einen langfristigen Erhalt                          Kinderheim als städtische Einrichtung
         im Sinne der denkmalpflegerischen Auf­                                fungierte und Ordensschwestern von der

                                                                                                                                                                                                                                           100. Geburtsta
         lagen notwendig war. Summa summarum                                   Erzdiözese Köln die Betreuung der Kinder
         ist das Büro nebelpössl mit dem Ergebnis                              übernommen hatten. Als Folge der Aufgabe
         der umgebauten Waisenhauskirche zu                                    und Entwidmung der Kirche nach 2010
         einem neuen Kulturraum im wiederbeleb-                                mussten auch Altar und Ziborium gemäß
         ten Stadtteilwohnviertel Köln-Sülz sehr                               Kirchenrecht leider zerstört und entfernt
         zufrieden, so Bork Schiffer. Er hofft, dass                           werden. Ebenso mussten das Taufbecken,
         der konzipierte neu entstandene öffentli-                             der Tabernakel, die Orgel, das Gabelkreuz
         che Raum in und um die ehemalige Kirche                               und die massiven Ahorn-Holzbänke im
         entsprechend von den Bewohnern auch                                   Kirchenraum entfernt bzw. an andere
         angenommen werde.                                                     Gemeinden, Museen sowie Depots weiter-
             Im Anschluss an die Ausführungen des                              gegeben werden, von der sakralen Aus­
         Architekturbüros äußerte sich der Kölner                              stattung konnten jedoch die Beichtstühle
         Erzdiözesanbaumeister Dipl.-Ing. Martin                               (da im Bauverband) sowie der Kreuzweg
         Struck zum Transformationsprozess der                                 im Raum verbleiben. Hier wäre es wichtig,
         Waisenhauskirche und betonte einleitend,                              dass bei der neuen Nutzung des Raumes

Zur ück z um I n h a l t                                                  10                                                                                                11
kir che + gesellschaft
                                                                                                            s­ ondern auch Verletzungen durch die kle-             Art. Und es gibt auch keinen Zusammen-
                                                                                                             rikale Arroganz von ›Wahrheitsbesitzern‹.«            hang zwischen Eucharistie, Stundengebet

                            Gestaltwandel des                                                               In diesem Sinn trifft sich seine prophetische
                                                                                                            Kirchenvision mit der Zuschreibung der
                                                                                                            Erfurter Dogmatikerin Julia Knop, wenn sie
                                                                                                                                                                   und Beichte mit Dankbarkeit und ehr­
                                                                                                                                                                   fürchtigem Staunen. Frömmigkeitspraxis
                                                                                                                                                                   ist dissoziiert von der Sorge für die Armen

                             ­Priesterlichen                                                                 darauf verweist, »dass Gestalt und Funk­
                                                                                                             tion ineinandergreifen, im Amt der Dienst
                                                                                                                                                                   und Bedrängten aller Art und ähnlich von
                                                                                                                                                                   Gefühlen der Dankbarkeit und des Staunens.«
                                                                                                            glaubhaft wird und das Amt tatsächlich                 Was Halík als das Kennzeichen der Kirche
                                                                                                             seinen Dienst tut und weder ins Leere greift          im 21. Jahrhundert ausmacht, findet in der
                           Verortung des Leitungsdienstes in einer                                           noch in frommen Gefilden versandet«.                  Lebensgestalt der Priester offensichtlich
                                  sich wandelnden Kirche                                                                                                           nur geringen Widerhall. Auch wenn das
                                                                                                            Kleriker – Riskierte Berufung.                         Zweite Vatikanische Konzil vom »Dienst-
                             Digitale inernationale Tagung zum Synodalen Weg
                                                                                                            (Un-)Gebrochenes Ideal                                 priestertum« spricht, muss der Umgang mit
                                                                                                            Fragt man, wie es »dem Priester« geht                  pastoraler geistlicher Macht von den
                                             Text: Peter Klasvogt                                           angesichts jener massiven Erschütterungen,             kirchlichen »Amtsträgern« nicht nur gelernt,
                                                                                                            nicht zuletzt auf dem Hintergrund der                  sondern als geistlicher Dienst auch verin-
                                                                                                            Missbrauchskrise, orchestriert von dem                 nerlicht werden. Denn »die Versuchung zur
                                                                                                            lauten Protest oder dem stillen Auszug so              Macht«, so die Psychotherapeutin Schwes-
                                                                                                            vieler aus der Kirche, kommt die aktuelle              ter Bernadette Steinmetz RSM, »schlum-

                                                                                                                                                                                                                  Gestaltwand el d es ­P ries terlichen
         Kirche im Prozess, nicht nur in Corona-­            Im Rahmen der digital durchgeführten           Seelsorgestudie (2012 bis 2014) zu einem               mert in jedem Menschen. Sie lässt sich nur
         Zeiten. Das gilt auch für das geistliche Amt        Veranstaltung ist es gelungen, unterschied-    »frappierenden« Befund, so der Freiburger              mit Hilfe von Selbsterkenntnis und Liebe
         in der Kirche. Es gab eine Zeit, da wusste          liche Ideen, Konzepte und Perspektiven         Caritaswissenschaftler Klaus Baumann:                  überwinden, denn je unsicherer, unreifer
         man, was die Kirche und in ihr der Priester         miteinander ins Gespräch zu bringen – in       »Es gibt keinen Zusammenhang zwischen                  und egozentrischer ein Mensch ist, desto
         ist. Dagegen verlangt der gegenwärtige              Panels und Workshops ebenso wie in dem         der Häufigkeit der Feier der Eucharistie, des          mehr erlebt er äußere Macht als eine
         Gestaltwandel der Kirche – unter dem Ein-           tagungsbegleitenden Chat, der von den          Stundengebets, Beichte oder persönlichem               lustvolle Kompensation seiner inneren
         druck eines wachsenden Relevanz- und                Teilnehmenden intensiv zu Kommentaren          Gebet mit prosozialem Verhalten, also prak-            Ohnmacht oder seiner fehlenden Selbst­
         Akzeptanzverlusts – auch nach einer Neu-            und Meinungsbeiträgen genutzt wurde.           tizierter Sorge für Notleidende jeglicher              entwicklung.«
         konfiguration des Priesterlichen, erst recht        Der Erkenntnisgewinn im Tagungsverlauf
         nach dem weltweiten Missbrauch Schutz-              lässt sich an vier Stichworten festmachen:
         befohlener durch katholische Geistliche.
         Wie wird Kirche morgen sein – und in ihr             Kirche – Synodaler Aufbruch.
         der Leitungsdienst? Dies ist eines der              ­Umkämpfte Glaubwürdigkeit
         Themen des Synodalen Wegs, auf den sich             Wer heute Priester werden will, hat ein
         die katholische Kirche in Deutschland               berechtigtes Interesse zu erfahren, wie
         begibt.                                             Kirche morgen sein wird. »Ich bin überzeugt,
              Die Katholische Akademie Schwerte              dass die Kirche nicht nur eine Gemeinschaft
         hat diesen Weg mit einer Dreiländer-­Tagung         der Erinnerung und des Erzählens sein
         zum Gestaltwandel des Priesterlichen in             sollte«, so der tschechische Theologe und
         einer sich wandelnden Kirche begleitet, in          Philosoph Tomáš Halík, »sondern auch ein
         Kooperation mit den Akademien in Zürich             Ort der ›Solidarität der Erschütterten‹.«
         und Wien, der Kommende Dortmund sowie               Und er fügt mit Blick auf den Dienst des
         dem Klaus-Hemmerle-Forum. Ausgehend                 Priesters hinzu: »Unser Platz ist auch mit
         von der grundlegenden Frage nach der                denen, die arm an Glauben, arm an Sicher-
         Kirchenreform stellt sich die Frage nach der        heit aller Arten sind, unser Platz ist bei
         künftigen Gestalt des Leitungsdienstes und          den Erschütterten und auch bei den von
         seiner kollegial-synodalen Verortung in             der Kirche verwundeten. Ich meine nicht
         einer geistlich erneuerten Kirche.                  nur die Fälle von sexuellem Missbrauch,
                                                                                                                                       Thomas Jessen: Fußwaschung. Öl auf Leinwand, 2003

Zur ück z um I n h a l t                                12                                                                                                    13
G ESCHICHTE + P OLITIK
                                       Kultur – Dienende Führung.                         hat bereits im Blick, wo auch jenseits be-
                                       Kollegiale Verantwortung                           währter Praxis und sakrosankter Ordnung –
                                       Priesterlicher Leitungsdienst muss nach
                                       Überzeugung des Bochumer Theologen
                                       Benedikt Jürgens daher stärker als profes­
                                                                                          extra muros – Neues wächst, unkonven­
                                                                                          tionell vielleicht, aber nicht uninspiriert.
                                                                                          Der Hildesheimer Pastoraltheologe Christian
                                                                                                                                                       34. Tagung des
                                       sionelle »Dienstleistung« verstanden
                                       werden, der die Kernaufgabe von Priestern
                                                                                          Hennecke spricht von »Ekklesiogenesis«,
                                                                                          Kirche im Werden, und es geht ihm »nicht                 Schwerter ­Arbeitskreises
                                       gerade darin sieht, »den Kontakt zum               um den Erhalt einer bestimmten Kirchen-
                                       Heiligen herzustellen, zu ermöglichen              konstellation. Nein, hier geht es auch nicht
                                       und zu bewahren«. Aber Führung braucht             um Pastoralpläne der Weiterentwicklung.
                                                                                                                                                                  Premiere als Online-Konferenz
                                       Fähig­keiten – auch in der Kirche, wo              Nein, es geht auch nicht darum, die Kirche                                    Text: Florian Bock und Daniel Gerster
                                       es darum geht, »die Paradoxie zwischen             fit zu reformieren – denn das wäre letztlich
                                       profaner und sakraler Dimension in Balance«        Systemerhalt.« Stattdessen nimmt Hennecke
                                       zu halten. Dazu der Essener Generalvikar           die Tagungs­teilnehmer mit auf eine Exposure-
                                       Klaus Pfeffer: »Die bereits erwähnte               Tour, um den Blick darauf zu lenken, wo
                                       Paradoxie einer kirchlichen Organisation,          der Geist Gottes bereits am Werk ist – ohne
                                       einerseits eine geistliche Größe zu sein,          jede Bewertung, aber auch ohne Vergan-
                                       andererseits aber als menschliche Organi­          genheitsfixierung; eine Ermutigung, Kirche      Rund 45 Wissenschaftlerinnen und Wissen-               Andreas Oberdorf (Münster) berichtete aus
                                       sation ganz profanen Regeln und Mustern            vom Ursprung neu und vielfältig zu denken       schaftler aus Kirchengeschichte und                    seinem laufenden Forschungsprojekt über
Gestaltwand el d es ­P riesterlichen

                                       zu unterliegen, verlangt eine hohe spiritu­         – »fresh expressions of church«. – Und wie     Geschichtswissenschaft nahmen vom 21. bis              das Collegium Americanum zu St. Mauritz
                                       elle Kompetenz, um in einer kirchlichen            von einem anderen Ufer schildert Bischof        22. November 2020 an der 34. Jahrestagung              bei Münster, das 1867 eröffnet und im
                                       Organisation Führung wahrzunehmen.«                Johannes Bahlmann OFM, zugeschaltet von         des Schwerter Arbeitskreises Katholizismus­-           Zuge des Kulturkampfes 1875 geschlossen
                                       Genau hier lauern auch Gefahren. Denn              Obidos, seiner Diözese im Amazonasgebiet,       forschung (SAK) teil, die in digitaler Form            wurde. Es handelte sich um eine Einrichtung,
                                       »das Weihesakrament verführt mit seinem            wie die Christinnen und Christen dort           stattfand. Im Mittelpunkt der Veranstaltung            in der junge Theologen und Priester für die
                                       überhöhten Anspruch zu der Annahme,                in Armut und Einfachheit mit den »Erschüt-      standen auch in diesem Jahr die Vorstellung            deutschsprachigen Gemeinden in den USA
                                       theologisches Wissen, spirituelle Kompe-           terten« der Covid-19-Pandemie leben:            und Diskussion laufender Forschungs­                   ausgebildet werden sollten. Oberdorf stellte
                                       tenz sowie theologische und lehramtliche           Sterbende begleiten, Trauernde trösten, Ver-    arbeiten zur Katholizismusforschung. Eine              dar, dass die Bildungseinrichtung nicht nur
                                       Zuschreibungen reichten aus, um in                 armten beistehen. »Arbeitslose gibt es          Generaldebatte widmete sich dem Thema                  auf eine pastorale Professionalisierung der
                                       kompetenter Weise Führung wahrzuneh-               ohnehin schon zu viele hier bei uns. Viele      »Religion übersetzen. Katholizismus und kultu-         Seminaristen abzielte, sondern zugleich
                                       men«. Umso wichtiger ist, dass zu einer            arbeiten als Tagelöhner, und die stehen         relle Vermittlungsprozesse im 19. und 20. Jahr-        auch den Interessen ultramontaner Kreise
                                       »ekklesial vermittelten Zuständigkeits­            momentan auf der Straße. Wir versuchen          hundert«.                                              gerecht zu werden versuchte.
                                       kompetenz«, die dem kirchlichen Leitungs-          durch Lebensmittel und Hygienematerial              Zum Auftakt stellte Maren Baumann                      Über Julius Angerhausen (1911–1990),
                                       dienst qua Amt zukommt, unbedingt eine             die Not ein wenig zu lindern und richten        (Trier) ihr Dissertationsvorhaben vor und              erster Weihbischof des Ruhr-Bistums Essen,
                                       je »individuell zu erwerbende Fähigkeits-          mit vielen Freiwilligen eine Telefonseelsorge   erörterte Möglichkeiten und Grenzen von                und die Fraternität der Kleinen Bischöfe sprach
                                       kompetenz« hinzukommen muss. Darauf                ein.« Dienende Kirche – im Geist und im         Raumeinnahme, -gestaltung und -nutzung                 Miriam Niekämper (Bochum). Die Frater­
                                       muss auch in der Priesterausbildung                Gestus der Fußwaschung. Arm, aber               im religiösen Kontext der Heilig-Rock-Wall-            nität war eine international vernetzte und
                                       verstärkt geachtet werden.                         lebendig.                                       fahrten in Trier für die Jahre zwischen 1891           agierende Gruppe katholischer Bischöfe,
                                                                                                                                          und 1996. Dem Vortrag lag das Konzept                  die die von ihnen auf dem Zweiten Vati­
                                       Kairos – Spirituelle Grundierung.                                                                  des »Sakrotops« (Thorsten Cress) zugrunde,             kanischen Konzil erfahrene weltweite
                                       ­Inspirierte Gemeinschaft                                                                          das eine praktikenorientierte Betrachtung              Gemeinschaft und gemeinsame Spiritualität
                                       Wenn Priester ihre geistliche und dienende                                                         des religiös konnotierten Raumes ermög-                in den postkonziliaren Alltag übertragen
                                       (Führungs)Kompetenz zum Wohl der Men-                                                              licht. Mit Blick auf die Heilig-Rock-Wallfahr-         wollte. Die Mitglieder der Gruppe folgten
                                       schen einsetzen, kommt auch die prophe­                                                            ten legte Baumann Kontinuitäten und                    hierbei einem Kirchenbild, das die Sorge
                                       tische und visionäre Dimension zum Tragen.                                                         Unterschiede in der vielfältigen Raumaneig-            um die Armen und Benachteiligten in den
                                       Dann ist der Priester nicht der »Mann des                                                          nung durch die Pilgerinnen und Pilger über             Mittelpunkt stellte und Demut von den
                                       Systems«, der das Bestehende konserviert                                                           einen Zeitraum von über hundert Jahren                 katholischen Amtsträgern selbst einforderte.
                                       und gegen Neuerungen verteidigt, sondern                                                           offen.                                                 Die Vernetzung erfolgte in erster Linie

   Zur ück z um I n h a l t                                                          14                                                                                                     15
Tagungsbericht online                                    durch gemeinsame Treffen und Rundbriefe,          Michael Neumann (Münster) skizzierte                Natalie Powroznik und David Rüschen-
                                                                         Der Tagungsbericht von Florian Bock und                  wobei dem Essener Weihbischof Anger­              grundsätzliche Überlegungen zu seinem               schmidt (beide Münster) erörterten Aspekte
                                                                         Daniel ­Gerster ist auf H-Soz-Kult erschienen.           hausen als Sekretär eine entscheidende            Promotionsvorhaben über den politischen             und Möglichkeitsbedingungen von Sprach­
                                                                         Der Abdruck erfolgt mit f­ reundlicher
                                                                         Genehmigung der Autoren und der Redaktion.
                                                                                                                                  Rolle zukam.                                      Einfluss des Katholischen Büros in Bonn             lichkeit im Kontext sexuellen Missbrauchs in
                                                                         Tagungsbericht: 34. Tagung des Schwerter
                                                                                                                                      Klaus Unterburger (Regensburg) und            zwischen 1958 bis 1977. Im Zentrum seiner           der katholischen Kirche. Während Betroffene
                                                                         ­Arbeitskreises ­Katholizismusforschung,                 Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen) stellten           Studie wird die politische Interessenvertre-        von Missbrauch durch die machtvolle
                                                                         21.11.2020 – 22.11.2020 digital,                         die Arbeit des Historischen Vereins für Ermland   tung dieses Büros als eine Schnittstelle            Position des Priesters, durch die Erwartung,
                                                                          in: H-Soz-Kult, 12.01.2021
                                                                          www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungs-
                                                                                                                                  vor und schlugen künftige Kooperationen           zwischen den katholischen Bischöfen und             kein Gehör oder keinen Glauben zu finden,
                                                                          berichte-8848                                           mit dem SAK wie auch einzelnen Katholizis-        der Bundespolitik vor dem Hintergrund               und durch die eigene religiös-kulturell
                                                                                                                                  musforscherinnen und -forschern vor.              der Pluralisierung der Gesellschaft stehen.         formierte Scham in ihrer Sprachfähigkeit
                                                                                                                                      Julie Adamik (Paderborn) sprach anhand        Neumann stellte sowohl die Verortung und            gehemmt waren, agierten Bischöfe und Gene-
                                                                                                                                  der drei Leitbegriffe »Gemeinschaft«, »Neuer      die Abstimmungsprozesse des Kommis­sa­              ralvikare bis in die 2000er Jahre mit der
                                                                                                                                  Mensch« und »Liturgie« über den jugend­           riats innerhalb des deutschen Katholizismus         Vertuschung von Vorwürfen und der diskre-
                                                                                                                                  bewegten Strang der Liturgischen Bewegung         als auch die Entwicklung der politischen            ten Versetzung von beschuldigten Priestern.
34.  Tagung d es Schwerter ­A rbe itsk reises Katho lizismusfo rschung

                                                                                                                                                                                                                                                                                       34.  Tagung d es Schwerter ­A rbe itsk reises Katho lizismusfor sc hung
                                                                                                                                  unter der Leitung von Romano Guardini             Netzwerke des Büros vor. Exemplarisch ging          Betroffene waren und sind häufig erst nach
                                                                                                                                  (1885–1968). In Anbetracht der politischen        er auf die Arbeit des Kommissariats bei der         langer Zeit in der Lage, über ihre Erfahrun-
                                                                                                                                  Themengestaltung in der von der Gruppe            Reform des § 218 ein.                               gen zu sprechen. Erleben, Deutungen und
                                                                                                                                  Quickborn herausgegebenen Zeitschrift                                                                 Verortungen von Betroffenen fallen dabei
                                                                                                                                  »Die Schildgenossen« und Parallelen, die                                                              oft heterogen aus, und das »Sprechen
                                                                                                                                  Guardini zwischen Liturgie und Politik zog,                                                           mit einer Stimme« ist voraussetzungsreich
                                                                                                                                  gab sie einen Einblick in die politische                                                              und nicht immer möglich.
                                                                                                                                  Komponente der Liturgischen Bewegung.
                                                                                                                                  Anhand der Schriften von Guardini wies
                                                                         JProf. Dr. Florian Bock, Ruhr-Universität ­Bochum
                                                                                (Sprecher des Schwerter Arbeitskreises            Adamik auf Inhalte hin, die das Wirken der
                                                                                 ­Katholizismusforschung 2014 –2020)              Liturgischen Bewegung über den liturgischen
                                                                                                                                  Tellerrand hinaus zum Vorschein bringen
                                                                                                                                  können.
                                                                                                                                      Nils Hoffmann (Erfurt) stellte sein Dis-
                                                                                                                                  sertationsprojekt zum katholischen Sakral-
                                                                                                                                  bau für die sozialistischen Großwohnsiedlungen
                                                                                                                                  in der DDR vor. Er verortete dabei konkrete
                                                                                                                                  Bauprojekte wie die Heilig-Kreuz-Kirche
                                                                                                                                  in Berlin-Neu-Hohenschönhausen in den
                                                                                                                                  Rahmenbedingungen der kirchlichen
                                                                                                                                  Situation in der DDR seit dem Ende der
                                                                                                                                  1960er Jahre und konnte dadurch deutlich
                                                                                                                                  machen, wie sich die Einstellung von Politik
                                                                              Dr. Daniel Gerster, Forschungsstelle für
                                                                                                                                  und Verwaltung zu Kirchenbauprojekten
                                                                                    ­Zeitgeschichte in Hamburg                    über die Jahre wandelte. Gerade bei den
                                                                               (Sprecher des S
                                                                                             ­ chwerter Arbeitskreises            Neubauprojekten, die seit den 1970er Jahren
                                                                                ­Katholizismusforschung 2014 –2020)
                                                                                                                                  als Soziotope innerhalb der sozialistischen
                                                                                                                                  Gesellschaft entstanden, fanden sich
                                                                                                                                  zunehmend Möglichkeiten und Wege für
                                                                                                                                  den kirchlichen Sakralbau. Diese wurden,
                                                                                                                                  so Hoffmann, zentrale Orte für die Selbst-
                                                                                                                                  vergewisserung der katholischen Kirche in
                                                                                                                                  der DDR.

       Z ur ück z um I n h a l t                                                                                             16                                                                                                    17
Die Generaldebatte des Schwerter Arbeits-               In der anschließenden Diskussion zeigte         Neu gewähltes Sprecher*innen­team des ­
                                                                         kreises widmete sich kulturellen Über-                  sich die große Mehrheit der Teilnehmerinnen     Schwerter ­Arbeitskreises ­Katholizismus­forschung
                                                                         setzungs- und Vermittlungsprozessen in den              und Teilnehmer beeindruckt von den
                                                                         Katholizismen des 19. und 20 Jahrhunderts. Das          Gemeinsamkeiten, die sich trotz der unter-      Der Schwerter Arbeitskreis Katholizismus-           Dr. Markus Leniger von der Katholischen
                                                                         Thema ließ bewusst verschiedene Heran­                  schiedlichen Fragestellungen in den beiden      forschung hat auf seiner 34. Jahrestagung           Akademie Schwerte, die die Jahrestagungen
                                                                         gehensweisen zu. Christoph Nebgen                       Referaten ausmachen ließen. Zugleich wurde      am Sonntag, 22. November 2020, ein neues            gemeinsam mit dem Arbeitskreis ausrichtet,
                                                                         (Saarbrücken) gab Einblicke in transnatio-              deutlich, dass die aufgezeigten Forschungs-     Sprecher*innenteam gewählt. Dr. Sarah               gratulierte der neuen Sprecherin und dem
                                                                         nale und -kulturelle Verflechtungsprozesse,             perspektiven und -fragen eine ganze             Thieme, wissenschaftliche Projektleiterin           neuen Sprecher und freut sich auf die
                                                                         die sich anhand der Quellengattung Missions-            Bandbreite an weiteren Studien erfordern.       am Exzellenzcluster »Religion und Politik«          zukünftige Zusammenarbeit.
                                                                         zeitschriften identifizieren und rekonst­               Die Vorstellung solcher aktuellen For-          der Westfälischen Wilhelms-Universität                  Der Schwerter Arbeitskreis bildet seit
                                                                         ruieren lassen. Beispielhaft stellte er die seit        schungsarbeiten wird auch im nächsten Jahr      Münster, und Dr. Martin Belz, wissenschaft-         1987 ein offenes Forum für Forscherinnen
                                                                         1873 im Verlag Herder erschienene Zeit-                 wieder möglich sein, wenn sich der Schwer-      licher Mitarbeiter am Institut für Mainzer          und Forscher verschiedener Fachdisziplinen.
                                                                         schrift »Die Katholischen Missionen« vor.               ter Arbeitskreis Katholizismusforschung vom     Kirchengeschichte (IMKG), treten damit die          Der Kreis verfolgt dabei eine sozial- und
                                                                         Nebgen mahnte eine intensivere Auseinan-                19. bis 21. November 2021 in der Katholischen   Nachfolge von Juniorprof. Dr. Florian Bock          mentalitätsgeschichtliche Erweiterung der
34.  Tagung d es Schwerter ­A rbe itsk reises Katho lizismusfo rschung

                                                                                                                                                                                                                                                                                     34.  Tagung d es Schwerter ­A rbe itsk reises Katho lizismusfor sc hung
                                                                         dersetzung gerade der katholischen Kirchen-             Akademie Schwerte – hoffentlich wieder in       aus Bochum und Dr. Daniel Gerster aus               Katholizismusforschung sowie eine
                                                                         geschichte mit diesen Quellen an und riet,              Präsenz – treffen wird.                         Hamburg an, die den Arbeitskreis für sechs          Aufnahme neuer Fragestellungen und
                                                                         die insbesondere in Ordensniederlassungen                    Die Tagung wird dann von den neuen         Jahre geleitet haben.                               Methoden, beispielsweise der Kulturwis-
                                                                         vorliegenden Bestände rechtzeitig zu                    Sprecherinnen Sarah Thieme (Münster) und            Die Neugewählten sprachen ihren Vor-            senschaften oder der Globalgeschichte.
                                                                         sichern.                                                Martin Belz (Mainz) geleitet, die am Ende       gängern ihren Dank für die äußerst erfolg-
                                                                             Wim Damberg (Bochum) analysierte im                 des diesjährigen Treffens das Amt von Florian   reiche Leitung in den vergangenen sechs             			                             Martin Belz
                                                                         Anschluss und Bezug darauf zunächst exemp-              Bock und Daniel Gerster übernahmen.             Jahren aus und freuen sich auf die vor ihnen
                                                                         larische, empirisch nachweisbare religiöse                                                              liegende Amtszeit und die anstehenden
                                                                         Dynamiken am Ende des 20. Jahrhunderts                                                                  Aufgaben. Als Ziele haben sich Dr. Thieme
                                                                         wie den Niedergang von Organisation, sich                                                               und Dr. Belz die Weiterführung des kolle­
                                                                         verschiebende Zukunftsdiskurse, Genera­                                                                 gialen und konstruktiven Austauschs im
                                                                         tionswechsel, Ästhetisierung und Politisie-                                                             Arbeitskreis sowie eine verstärkte interna­
                                                                         rung, um in einem zweiten Schritt nach den                                                              tionale Vernetzung vorgenommen. Als erste
                                                                         zugrundeliegenden Prozessen zu fragen. Er                                                               Aufgabe steht die Konzeption der nächsten
                                                                         hob hervor, dass die Produktion und der                                                                 Jahrestagung an, die vom 19. bis 21. Novem-
                                                                         Austausch religiösen Wissens den Verände-                                                               ber 2021 in Schwerte stattfinden wird.
                                                                         rungen anderer Wissensbestände folgten,
                                                                         und unterstrich, wie Elementarisierung
                                                                         (oder aus traditioneller Sicht: Fragmentie-
                                                                         rung) und potentielle Ubiquität im Rahmen
                                                                         einer »religiösen Glokalisierung« in sehr
                                                                         unterschiedlicher Weise zusammengehen
                                                                         können. Offenkundig ist in diesem Kontext
                                                                         eine Art Sprachensterben der überlieferten
                                                                         religiösen Semantiken. Daraus folge, so
                                                                         Damberg in einer Linie mit den Schluss­fol­
                                                                         gerungen von Nebgen, dass die Archivierung
                                                                         und Erhaltung der Lesbarkeit der Diversität
                                                                                                                                                                                                                                                     Nähere Informationen zum
                                                                         dieser religiösen Sprachen als Teil des
                                                                                                                                                                                                                                                     Schwerter ­Arbeitskreis
                                                                         immateriellen Kulturerbes eine wichtige                                                                                                                                    ­Katholizismusforschung auf:
                                                                         Aufgabe der Forschung sei.                                                                                                                                                  www.katholizismusforschung.de

                                                                                                                                                                                 Dr. Sarah Thieme           Dr. Martin Belz

       Zur ück z um I n h a l t                                                                                             18                                                                                                  19
THEOLOGIE + PHILOSOPHIE
                                                                                                           Im NT werden Psalmen nicht als Gebete                verlassenheit – danach: Verstummen, das
                                                                                                           zitiert, sondern als prophetische Offen­             keine tröstende Stimme auflöst. Diese

                               Mit den Psalmen                                                             barung, was den Psalter nach 200 n. Chr. zu
                                                                                                           dem Gebet- und Gesangbuch der Kirche
                                                                                                           machte: David, dem die Hälfte der Psalmen
                                                                                                                                                                bewusst eingetragene Leerstelle überwin-
                                                                                                                                                                den wir durch das gläubige »Wissen« um
                                                                                                                                                                die Auferweckung, wissen damit aber mehr

                                auf Ostern zu                                                              zugeschrieben wurde, redet und weist,
                                                                                                           gemäß einem messianischen Schema von
                                                                                                                                                                als Jesus am Kreuz. Die sog. Anzitierungs­
                                                                                                                                                                hypothese, für die es Beispiele im früh­
                                                                                                           Verheißung und Erfüllung, auf Jesus                  jüdischen Kontext gibt, mildert die Beob-
                                                                                                           Christus hin. Im NT wird das Ich aus den             achtung, dass Mk Jesus in Gottverlassenheit
                           »Bibeltheologische Tage« – geht das online?                                     Davidspsalmen dann zum Ich des David-­               sterben lässt: Zitiert werde zwar der
                                            Text: Ulrich Dickmann                                          Erben, des »Gesalbten«. Die Davidisierung            Psalmanfang, der Schrei der Gottverlassen-
                                                                                                           und Messianisierung der Psalmen hat ihrer            heit, gemeint sei aber der ganze Psalm.
                                                                                                           Christologisierung den Weg bereitet.                 Man müsse dieser Hypothese aber nicht
                                                                                                               Besondere Beachtung verdiente der                folgen, so Michel, und könne im Gegenteil
                                                                                                           Ps 22, dessen im AT nur hier so intensiv             die Aufforderung an uns heraushören, sich
                                                                                                           ausgedrückte Gottklage »Mein Gott, mein              dieser Spannung zu stellen. Ist Ps 22 das
         Seit über dreißig Jahren sind die Bibeltheo­        Köln, die Brücke von ausgewählten             Gott, warum hast Du mich verlassen?« der             letzte Wort des historischen Jesus? Lk und
         logischen Tage in der Karwoche fester               Psalmen zu ihrer Rezeption im Neuen           sterbende Jesus im Markusevangelium                  Joh mildern hier bereits ab. Nur Mk hat
         Bestandteil unseres Programms. Sie bieten           Testament (NT). Das Psalmenbuch gehört        betet. Der Klagepsalm fasst den Gebets­              das Potential, historisches Jesuswort zu
         die Gelegenheit, sich in der Akademie von           dort zu den meistzitierten Schriften des      prozess des klagenden Ich, das ganz auf              sein – wenn er nicht überhaupt wortlos

                                                                                                                                                                                                               Mit d en Psalmen auf Os tern zu
         Montag bis Gründonnerstagmittag persön-             Alten Testaments (AT) und wirkt bis heute     seine Angst angesichts körperlicher und              gestorben ist.
         lich auf die Heiligen Tage vorzubereiten:           auch in Liturgie und Stundengebet nach.       psychischer Gewalt reduziert ist. Hinein                  Darüber entspann sich eine lebhafte,
         über die Auseinandersetzung mit biblischen          Die christliche Psalmenrezeption prägt        mischt sich das Vertrauen auf den Schöpfer           nicht nur akademische Diskussion: Welcher
         Texten im Wechsel von Impulsreferaten,              die Rede von Jesus von Nazaret als Sohn       und die eigene Geburtlichkeit. Doch als              Jesus am Kreuz liegt mir näher, der verlas­
         Diskussion und gemeinsamen Gebetszeiten.            Gottes, Gesalbter (Messias), König, leiden-   sei diese Vergewisserung nicht geschehen,            sene oder der vertrauende? Michel zufolge
         2020 wurde die Veranstaltung wegen der              der Gerechter. Die Evangelisten legen         ­konstatiert das Ich auf dem Höhepunkt               spreche das auf Aramäisch wiedergegebene
         Pandemie-Situation abgesagt. Auch in                Jesus selbst Psalmzitate in den Mund, und     seiner Not, von Gott selbst »in den Staub            Psalm-Zitat (»Eloï, Eloï, lema sabachtani?«)
         diesem Jahr war eine Präsenzveranstaltung           insbesondere für die Passionserzählungen      des Todes« gelegt zu werden. Das Gebets-             für ein historisches Jesuswort, wohingegen
         unmöglich. Doch ein weiteres Mal einfach            stellten sie entscheidende Deutungshilfen      formular geht jedoch weiter, leitet an, sich        Jesu letzte Worte bei Lk und Joh sich
         absagen und womöglich einen Abriss dieser           bereit. Daher der Tagungstitel: »Psalmen      »dadurchzubeten« und endet im Lob des                deuten lassen als bewusste Verdrängung
         beliebten Reihe riskieren? Wie aber Tiefe           passen zur Passion«.                          rettenden Gottes – freilich »ohne Vorstel-           der eher schwierigen und peinlichen Erin-
         und Intensität des Formats digital überset-             Michel betonte, dass die Psalmen,          lung eines produktiven Jenseits«. Dass dem          nerung bei Mk, die man nicht erfinde oder
         zen? Einen Versuch war es allemal wert:             gespeist aus den Glaubenserfahrungen des      Klagepsalm die gattungsspezifische Bitte             Jesus in den Mund lege. Ob Jesus wortlos
         Mit längeren Pausen und modifiziertem               Volkes Israel, von »Bet-Profis« als kunst­    um Bestrafung der Feinde fehlt, machte               oder mit Ps 22 auf den Lippen gestorben
         Themenangebot (weil die Teilnahme am                volle Gebetsformulare erstellt wurden für      ihn anschlussfähig an die Passion. Er konnte        ist: kein Deutungswort passt besser in den
         Computer-Bildschirm anstrengend ist)                Beter*innen in ihren konkreten Lebens­        als Psalm eines leidenden Gerechten                  Mund des sterbenden Jesus. Wir wissen
         gingen die Bibeltheologischen Tage digital          situationen. Anspruchsvoll sind sie für uns   gelesen werden, dessen Einzelschicksal               als Historiker nicht, ob Jesus in Vertrauen
         live an den Start. Zwar ließen sich signifi-        heute auch, weil sie in ihrem jeweiligen      universale Bedeutung erlangt durch die am            oder Gottverlassenheit starb, und das sei,
         kant weniger Teilnehmende auf dieses                (kultur )historischen Entstehungs- und        Ende formulierte Zuwendung Gottes zu                 so Michel, heute vielleicht anschlussfähiger
         Format ein als gewohnt, dafür kamen aber            Verwendungskontext verstanden werden          allen Leidenden.                                     als der triumphierende Christus.
         auch einzelne hinzu, die nicht Hunderte             müssen und eine Vielfalt unterschiedlicher        In der (vor-)markinischen Passionserzäh-              Das Thema Gewalt und Gewaltverar­
         Kilometer nach Schwerte gereist wären.              Gottesbilder transportieren. Ohne hier im      lung klingen zentrale Aussagen von Ps 22            beitungkam mit Ps 137 in den Blick, und
             In dichter, zu gemeinsamem Weiter­              Einzelnen die Themenfülle dieser Tage         nach: Gott selbst gibt Jesus in den Tod,             zwar im Zusammenhang mit der zentralen
         denken anregender Gesprächsatmosphäre               wiedergeben zu können, sollen exempla-        ferner: Teilung der Kleider, Kopfschütteln           Bedeutung der Stadt Jerusalem. Der Psalm
         schlug Prof. Dr. Andreas Michel, Professor          risch einige Früchte genannt werden, die      und Spott der Passanten und der beiden               knüpft nachexilisch an die Gattung der
         für Biblische Theologie am Institut für             die Teilnehmenden für ihr Osterfest           Mitgekreuzigten angesichts tiefster Men-             Zionslieder an, die Jerusalem (»Stadt des
         Katholische Theologie der Universität zu            mitnehmen konnten.                            schenverlassenheit, der Schrei der Gott­             Friedens«) und ihren Gott auf dem Zions-

Zur ück z um I n h a l t                                20                                                                                                 21
berg preisen, der seine Stadt schützt. Nach            der verhängnisvollen Wirkungsgeschichte
                                der Zerstörung Jerusalems und des Tempels,             des Klagepsalms 79 deutlich machte, den
                                so klagt das betende Wir, sollen mitten in             Papst Urban II. in seiner Predigt 1095 n. Chr.
                                Babylon die Exilierten auf Veranlassung ihrer          als biblische Legitimation der für Muslime
                                Peiniger die Unerschütterlichkeit Zions                und Juden letztlich blutigen Kreuzzugs­
                                besingen – eine Verhöhnung. Im Hinter-                 bewegung benutzte.
                                grund des fiktionalen Textes stehen keine                  Als prägnantestes Beispiel für Königs-
                                einmaligen historischen Situationen,                   psalmen und mit einer »riesigen Wirkungs-
                                sondern nach­exilische Alltagserfahrungen              geschichte« bis in die Passionserzählungen
                                ökonomischer und physischer Gewalt                     stellte Michel Ps 2 vor, in dem sich die drei
                                während der Seleukiden- und Ptolomäer-                 wirkmächtigen Titel König, Gesalbter und
                                kriege. Sie gipfeln im Wunsch nach Vergel-             Sohn Gottes finden. Die nachgezeichneten
                                tung. Michel betonte, dass solche Texte                Wandlungen der Königstheologie von
                                die Gewaltphantasien von Menschen ohne                 Assur, Ägypten über das davidische König-
                                eigenen Staat, mit der geschichtlichen                 tum, die nachexilische Messianisierung bis
                                Erfahrung der eigenen Ohnmacht ausdrü-                 zur christlichen Jesuanisierung vermittelten
                                cken. Es mache einen Unterschied, ob                   den Eindruck von Emergenzen. Realisiert
                                Opfer oder Täter sie sprechen. Der Schrei              man, dass die kirchlichen Dogmen, die für
                                nach Vergeltung – bis hin zum Ruf am                   uns heute selbstverständlich sind, erst das
                                Psalmende: »Selig, wer … zerschlägt am Felsen          Ergebnis jahrhundertelanger Reflexion sind,

                                                                                                                                          Mit d en Psalmen auf Os tern zu
                                deine Kleinkinder« (nicht: »Nachkommen«                begreift man, wieviel Mut hinter den
                                [EÜ]) – bezieht sich auf das vorausgehende             biblischen Aussagen steckt.
                                Zerschmettern der Kleinkinder der Opfer                    Ps 139, spät entstanden und noch später
                                durch die Eroberer. »Vergeltung« klingt im             zum Osterpsalm geworden, öffnete den
                                Hebräischen etymologisch mit in »Frieden«,             Blick für die Auferstehungshoffnung. Hier
                                der nur durch Ausgleich von wechselseiti-              kämpft der Beter in zerrissenem Hin und
                                gen Ansprüchen hergestellt werden kann.                Her mit seiner Beziehung zu Gott, von
                                Innerlich begrenzt ist sie durchdas Talions-           dessen allwissender Nähe er sich ganz durch-
                                prinzip (V. 8b): Eindämmung statt Eskalati-            schaut und in die Enge getrieben erfährt.
                                on der Gewalt. Der Text verleiht den                   Wohin immer er flieht, Gott ist schon da.
                                Opfern eine Stimme gegen das sonst ewig                Doch der Bet-Prozess schlägt um: Was den
                                geltende Unrecht und erinnert Gott an                  Beter gerade noch erschreckte, wird zu
                                seine Verantwortung, der eine solche Welt              seiner Würde und Anlass zum Dank: Gott
                                der Gewalt nicht gleichgültig sein kann.               ist ihm als Geschöpf von Geburt an im
                                    Die Texte des AT, die in Auseinander­              Innersten nahe und unterfängt seine Sterb-
                                setzungen mit Vorstellungen machtvoll                  lichkeit (er ist auch schon in der »Unterwelt«).
                                dreinschlagender Götter entstanden, tragen             Mit Gott, der ihn erforscht, weiß er sich in
                                deren Züge in sich, suchen diese aber                  sicherer Gemeinschaft und erforscht nun
                                zugleich zu korrigieren durch Bilder der               ihn. Widersprüchliche Gotteserfahrungen
                                Gewaltlosigkeit (z. B. Sach 9,9: Er »reitet auf        bleiben hier nebeneinander bestehen. Der
                                einem Esel«). Gottes berechtigter Zorn und             Psalm drückt die nachexilische Verinner­
                                sein Erbarmen werden in einer Spannung                 lichung des Gottesverhältnisses aus, die
                                gehalten, die auch von uns zu füllen ist.              Subjektwerdung des Menschen geschieht
                                Die Rache bleibt ihm vorbehalten. Wo der               als Verhältnis zur überwältigenden Transzen-
                                Mensch sich selbst zur Vergeltung ermäch-              denz Gottes und als verantwortliches
                                tigt, wird eine Grenze der Textinterpre­               Verwiesensein auf die Mitmenschen. Die
                                tation überschritten, wie Michel anhand                am Ende genannte »Ewigkeit« meint hier

Zur ück z um I n h a l t   22                                                     23
Sie können auch lesen