Zwischenraum 02 | 2021 - Katholische Akademie Schwerte
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Zwischenraum Das Magazin der Katholischen Akademie Schwerte 02 | 2021
Inhalt 4 27 Sakralraumtransformationen Den anderen bei – Gottfried Böhm zum sich aufnehmen – mit 100. Geburtstag unabsehbaren Folgen Text: Stefanie Lieb Text: Hans Stapel 12 33 Gestaltwandel des Online-Vorlesungen Priesterlichen zu Kunst und Architektur Text: Peter Klasvogt Text: Stefanie Lieb 15 35 34. Tagung des Ausstellungen Schwerter Arbeitskreises und Konzerte Text: Florian Bock und Daniel Gerster 36 20 Veranstaltungen Mit den Psalmen Juli – Dezember 2021 auf Ostern zu Text: Ulrich Dickmann 25 Der Blick des Lammes Text: Markus Leniger Akademie im Film Lernen Sie uns aus neuem Blickwinkel kennen und besuchen Sie unseren YouTube-Kanal
Editorial DIGITAL – das neue REAL? Nicht, dass die Katholische Akademie Die neuen Formate ermöglichen es, dass »Da hätte ich erwartet«, wundert sich der Resonanz sind, ein Problem sind. Wir sehen demnächst ihre Pforten schließt und sich Teilnehmende nicht nur in virtuellen Soziologe Hartmut Rosa, der sein tradi uns zwar, aber wir können uns nicht in die zur Digital-Akademie wandelt. Je länger der Gruppenräumen in Wortkshops miteinan- tionelles Klassentreffen coronabedingt Augen schauen. Dieses Austauschen des wellenförmig über unser Haus hereinbre- der im Gespräch sind, sondern über die erstmals ins Netz verlegen musste, »dass es Blickes ist für eine menschliche Begegnung chende Lockdown anhält, desto sehnsüchti- Kommentarfunktion parallel zu den Talks mühsam und auch nicht besonders intensiv ein ganz fundamentales Moment. Und einen ger warten wir, dass in der Akademie und Panels auch im Chat miteinander wird, aber es ist zu einer sehr intensiven Blick austauschen kann man tatsächlich im wieder Präsenzveranstaltungen stattfinden kommunizieren, ihre Anregungen und Erfahrung für alle geworden – so dass ich Internet nicht.« können, irgendwann sogar maskenfrei und Meinungen, kritische Fragen und neue das Gefühl hatte, das ist eine fast ideale Auch das lernen wir möglicherweise auf Tuchfühlung. Perspektiven unmittelbar einbringen, die Zeit, auch experimentell an sich selbst und gerade in Zeiten des räumlichen und sozialen Auf Augenhöhe allerdings bewegen wir etwa von »einer Anwältin oder einem in der Erfahrung anderer zu erproben und Abstandsgebots: eine neue Wahrnehmung uns auch jetzt, wenngleich im Kachel-For- Anwalt des Publikums« live aufgegriffen zu überprüfen, was trotzdem bleibt.« und Wertschätzung der physischen Gegen- mat, wenn die vormals analog, dann hybrid und in die laufende Podiumsdiskussion Doch bei aller Euphorie über neue wart, der menschlichen Begegnung, die mehr Ed ito rial geplanten Konferenzen, Tagungen und eingebracht werden. Und da sich alles Dimensionen der Bildungsarbeit und den ist als konzentrierte Interaktion zwischen Seminare nun doch digital durchgeführt »im Netz« abspielt, sind die Vorträge und durchaus wechselhaften Erfahrungen mit Sender und Empfänger – so konstruktiv und werden. Und angesichts der Kontaktverbo- Medienberichte auf einer eigens einge digitalen Geräten und neuen Kommuni positiv die Effekte digitaler Kommunikation te und Reisebeschränkungen ist es doch richteten Website eingestellt und können kationsformen stellen sich natürlich auch in Zeiten des Social Distancing auch sind. Es auch ein Segen der modernen Technik, sich auch nach Veranstaltungsende nach Fragen. Denn die Kommunikation im braucht, so lernen wir, Zwischenräume der über die Distanzen hinweg zusammenschal- Belieben heruntergeladen und weiter digitalen Raum wirkt wie ein »Brandbe- Menschlichkeit: Begegnung auf Augenhöhe, ten zu können. So sehr der Small Talk in verbreitet werden. So wurden etwa die schleuniger«. Das Digitale rast derzeit. Der aber auch im Augen-Blick. Genau darum den Pausen, an der Kaffeetheke oder im Videoclips der internationalen Tagung Impuls, irgendwie am Ball bleiben zu braucht es solche Orte wie die Akademien, Foyer fehlt: mit dem neuen Medium zum »Gestaltwandel des Priesterlichen«, wollen, führt zu einer Hamsterradlogik, die und wir sind froh, genau für solche Momente erzielen wir Reichweiten, die uns bislang einer Kooperationsveranstaltung zum vor allem über digitale Kanäle befeuert des Verstehens unsere Tore weit öffnen zu verwehrt waren. Da erreichen uns beispiels- Synodalen Weg zusammen mit den Katho wird. Es fehlen die Pausen, die resonanten dürfen. weise für den »Juristentag« oder Online- lischen Akademien in Wien und Zürich, Zwischenräume, das resiliente Aus- und Vorlesungen über »Künstler*innen der innerhalb weniger Wochen an die 300 Mal Durchatmen der Seele. Jenes Umschalten Fühlen Sie sich eingeladen und willkommen! Moderne« Anmeldungen aus dem ganzen downgeloaded (von den rd. 50.000 Klicks von angespannter Hochleistungsphase und Ihr Peter Klasvogt Bundesgebiet; da loggen sich Interessierte auf die Website ganz zu schweigen). entspannten Erholungszeiten entfällt in der aus Österreich, Luxemburg oder der Doch digitale Formate ermöglichen unmittelbaren digitalen Kommunikation. Schweiz ein, um an dem Forum »Film und nicht nur mehr Reichweite und eine höhere Doch wir Menschen sind von Natur aus, so Theologie« oder an der Tagung Kirche Taktung der Interaktion, sondern auch eine beschreibt es Hartmut Rosa, Resonanzwesen: weitergebaut teilzunehmen, die nie zu einer größere Intensität. Auch wenn man sich »Menschen achten jetzt intensiver auf Prälat Dr. Peter Klasvogt unserer analogen Akademieveranstaltungen dies vormals nicht vorstellen konnte: auch die Augen. Das ist übrigens auch einer der Akademiedirektor angereist wären und vermutlich noch nicht Beratungsgespräche und Bibelteilen Gründe, warum digitale Begegnungen, einmal wissen, wo Schwerte liegt. »funktionieren«, wo man im persönlichen obwohl sie nicht grundsätzlich ohne Gespräch unmittelbar auf das Gegenüber fokussiert ist. Zur ück z um I n h a l t 2 3
kuns t + Kul tur Die elfte Folge der Tagungsreihe Kirche Nach einer Begrüßung durch Tagungsleiterin weitergebaut der Katholischen Akademie Prof. Dr. Stefanie Lieb, stellten Prof. Dr. Schwerte fand diesmal coronabedingt Albert Gerhards und Dr. Kim de Wildt die online am 30. November 2020 statt. Sie Forschungsgruppe TRANSARA mit ihren hatte das Thema »Sakralraumtransforma sieben Teilprojekten aus unterschiedlichen tionen« und widmete sich hierbei aus Fachdisziplinen der Theologie, Liturgie- aktuellem Anlass dem 100. Geburtstag von und Religionswissenschaft, Architektur, Gottfried Böhm, dem großen Kirchbauar- Kunstgeschichte und Immobilienwirtschaft chitekten der Moderne. Es wurden drei und von den beteiligten Universitäten in Kirchen von ihm vorgestellt und diskutiert, Bonn, Köln, Wuppertal, Leipzig und Regens- die alle Transformationsprozesse durch burg vor. Es wurde verdeutlicht, dass die laufen haben bzw. noch werden. Neben Forschungsgruppe mit ihrem fächerüber- dem langjährigen Kooperationspartner der greifenden Ansatz nicht nur die Probleme Tagung, dem Bauamt im Erzbischöflichen und Defizite, die häufig mit Kirchenum Sakralra umtrans formationen – Generalvikariat Paderborn, kam diesmal nutzungen einhergehen, aufzeigen und federführend die neue interdisziplinäre analysieren möchte, sondern vielmehr durch Forschungsgruppe der Deutschen Forschungs- die Beobachtung und Auswertung von Trans- gemeinschaft TRANSARA 1 hinzu, die sich formationsprozessen Chancen und Wege seit dem Frühjahr 2020 wissenschaftlich für diverse und kreativere Modelle von mit der Thematik der »Sakralraumtransfor- zukünftigen Sakralbau-Nutzungen in Deut- mation in Deutschland« auseinandersetzt schland bis hin zu einer neu konfigurierten und ihr Konzept in einem vorgeschalteten Theorie des Sakralraums erarbeiten will. Workshop zur Böhm-Chapel in Hürth (Abb. 1) und zur Kirche St. Hubertus in Aachen Workshop-Teil: Böhm-Chapel und (Abb. 2) präsentierte. Im Tagungsteil stand St. Hubertus in Aachen Go ttfried die jüngst umgebaute Kirche »Zur Heiligen Der Workshop begann dann mit der Vor- Familie« (die sogenannte »Waisenhauskirche«) stellung der Böhm-Chapel in Hürth (bei Köln), von Gottfried Böhm in Köln-Sülz im Fokus der ehemaligen katholischen Kirche St. Ur B ö hm (Abb. 3–7). Das Kölner Architekturbüro sula, die Gottfried Böhm 1956 als runden nebelpössl architekten, das den Transforma- Zentralbau mit Kapellenkranz und abschlie- zum tionsprozess von der »Waisenhauskirche« ßendem Betonschalengewölbe sowie hohem zum »Kulturzentrum« eines neuen Wohn- Betoncampanile im damaligen Neubauge- 100. Geburtsta Sakralraumtransformationen quartiers baulich umgesetzt hatte, wurde vom Architekten Dipl.-Ing. Bork Schiffer vertreten, der für den kurz vor der Tagung biet von Hürth errichtet hatte (Abb. 1). 1993 erfolgte die Unterschutzstellung durch die staatliche Denkmalpflege, 2006 wurde die – Gottfried Böhm zum tragischerweise tödlich verunglückten Büroleiter Dipl.-Ing. Thomas Nebel einsprang. Kirche profaniert und verkauft und ab 2010 vom Galeristen Jablonka zu einer Galerie Ihm wurde die Veranstaltung kurzfristig für zeitgenössische Kunst umgebaut und 100. Geburtstag gewidmet und einleitend seiner mit einem Gebet und einer Andachtsminute gedacht. genutzt. Prof. Dr. Stefanie Lieb vom Kölner TRANSARA-Teilprojekt 3 wertete diese Begleitend zur Vorstellung des Umbaus der kulturelle Transformation kunsthistorisch Tagungsbericht von »Kirche weitergebaut XI« »Waisenhauskirche« gaben Erzdiözesan als gelungen, da trotz der Profanierung des baumeister Dipl.-Ing. Martin Struck sowie Kirchenraums der heutige Galerieraum am 30.11.2020 (Online) der Kölner Stadtkonservator Dr. Thomas immer noch die Raumbezüge der umlie Werner ihre Statements aus Sicht der genden Sakramentskapellen erkennen ließe Text: Stefanie Lieb Denkmalpflege ab. und der präsentierten zeitgenössischen Zur ück z um I n h a l t 4 5
Kunst die Möglichkeit des Transzendenz (Abb. 2). Prof. Dr. Albert Gerhards analy bezuges eröffne. Prof. Dr. Albert Gerhards sierte das Raumprogramm dieser Kirche vom Teilprojekt 1 aus Bonn referierte unter den drei Parametern »Versammlung«, nachfolgend aus eigener Erfahrung die »Annexräume« und »öffentlicher Raum« und Schwierigkeiten, die mit dem nach der Pro- resümierte, dass es hier für die Liturgie fanierung der Kirche einsetzenden lang wissenschaft Raumpotenziale zu entdecken wierigen Transformationsprozess verbunden gäbe, die auch für ein Umnutzungskonzept waren; dokumentiert ist dieser Verlauf in fruchtbar gemacht werden könnten. einer eigenen Publikation. 2 In ihrem Beitrag Gerhards verwies auch auf das Seminarpro- »Mehr als ein Patrozinium? Von St. Ursula zur jekt der FH Aachen von 2018, bei dem Böhm-Chapel« brachte Dr. Kim de Wildt Architekturstudierende im Seminar von vom Teilprojekt 6, ausgehend von Marc Prof. Dr.-Ing. Anke Fissabre Entwürfe für Augés Begriff der »Nicht-Orte«,3 die These eine Umnutzung von St. Hubertus entwi- in die Diskussion, dass es sich bei der ckelt haben. 4 100. Geburtsta Hürth-Kalscheuren, Böhm-Chapel (ehem. Kirche St. Ursula), Aachen-Hanbruch, St. Hubertus, Gottfried Böhm (1966), Böhm-Chapel ähnlich wie bei der berühmten Nachfolgend referierte Dr. Robert Plum Gottfried Böhm (1956), seit 2010 Kunstgalerie Jablonka, Außenansicht (Abb. 2) Rothko-Chapel um einen auratischen Kunst- vom Bonner Teilprojekt 7 aus Sicht von Außenansicht (Abb. 1) raum handle, der durch die Kunstinsze Philosophie und Pastoraltheologie mit dem nierung in einer prominenten Architekten- Titel »Ich glaube, was ich baue – philoso Kirche eine starke »Religionisierung« phische Reflexionen über Sakralraumtrans zum erfahren habe. Dr.Kerstin Menzel und Prof. formation« über das Architekturverständnis B ö hm Dr. Alexander Deeg vom Leipziger Teilpro- Gottfried Böhms und den Zusammenhang jekt 2 führten daraufhin unter dem Titel zwischen Glauben und Bauen: Für den Go ttfried »Offene Mitte und freigelegte Tendenz« ihre Architekten Böhm war der konstruierte und Überlegungen zur Böhm-Chapel und zur gestaltete Kirchenraum selbst der Inhalt, Hybridität von Kunst und Kirchenraum an sozusagen »Beton gewordene Liturgie«. 5 und stellten die Frage in den Raum, ob Prof. Dipl.-Ing. Ulrich Königs vom Wupper- S akralrau mtra ns formationen – vielleicht durch die Freiräumung der Profa- taler Teilprojekt 4 zu »Architektonischen nierung der ursprüngliche intendierte Perspektiven der Sakralraumtransformation« Zentralraumcharakter der Böhm-Chapel erläuterte zu Beginn seiner Darlegung über sogar noch klarer zur Geltung gekommen »Architektonische Machbarkeiten bei der sei. In der anschließenden Diskussion zur Sakralraumtransformation von St. Hubertus«, Böhm-Chapel wurde die aktuelle städte dass Architekten generell Ideen von zu bauliche Situation mit der Randbebauung bauender Architektur mit sich herum eng um das Kirchengebäude herum bemän- tragen. Das Angebot zur Planung einer gelt, da sie nicht der freistehenden Ur- Kirchenumnutzung sei also nicht der Anlass sprungslage entspricht. Grund dafür sei der für einen Architekten zum Entwurf und zur unabhängig von der Kirche erfolgte Verkauf Realisierung, sondern eher ein Mittel zum der umliegenden Grundstücke gewesen. Zweck. 6 Für mögliche Transformationsper Als weiteres Beispiel einer in Transfor- spektiven legte Königs drei Diagramme vor mation befindlichen Böhm-Kirche wurde zu einer 1. Nutzungserweiterung mit im Workshop der 1966 entstandene Bau verbleibendem Gottesdienstraum, 2. Teil- St. Hubertus in Aachen-Hanbruch vorgestellt, umnutzung mit Haus im Haus-Prinzip und eine als monolithischer »Betonfels« geformte 3. Neunutzung mit Variante »Kletterkirche«. Kirche, die als Vorstufe und Experimentier- In der abschließenden Betrachtung beschrieb phase für den kurz danach entstandenen Prof. Dr. Sven Bienert vom Regensburger berühmten »Mariendom« in Neviges von Teilprojekt 5 zu »Immobilienwirtschaftlichen Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche (ehem. Zur Heiligen Familie) von Gottfried Böhm (1959), Luftbild, Gottfried Böhm verstanden werden kann Implikationen der Sakralraumtransformation«, nebelpössl architekten, Köln, 2020 (Abb. 3) Zur ück z um I n h a l t 6 7
dass es bei Kirchenimmobilien eben nicht Umbaus dieser Kirche zum »Kulturraum in um eine rein monetäre Einschätzung gehe, einem neuen Wohnquartier«, die in engem sondern dass auch der immaterielle Wert Austausch mit dem Architekturbüro Böhm eines Kirchengebäudes beurteilt werde, der sowie der kirchlichen und staatlichen sich u. a. auch nach der religiösen Identifi- Denkmalpflege erfolgte. Von Vorteil für das zierung und der Außenwirkung bemesse. Gelingen dieses Transformationsprozesses Erfahrungsgemäß sind bei einer Kosten- war sicherlich auch der Tatbestand, dass Nutzen-Rechnung für Sakralraumtransfor- eine Wohnungsbaugenossenschaft, die die mationen Konzepte mit einer alleinigen Sanierung und den Teilneubau des umlie- Nutzung schwieriger umsetzbar, hybride genden Wohnquartiers regelte und f örderte, Nutzungen sind hier vorzuziehen. Für den ebenfalls beim Umbau der Kirche als Träger Fall von St. Hubertus in Aachen kann man auftrat. Nach Auflösung des großen für eine erste Abwägung ein gutes Einzugs- Kinderheims im Stadtteil Köln-Sülz 2010 gebiet konstatieren, für das sich eine stand die Kirche leer und verwahrloste Sakralra umtrans formationen – öffentliche Nutzung anbieten würde. zusammen mit den umgebenden ehemaligen In der darauffolgenden Diskussion im Gebäuden des Kinderheims. Im nachfol- Plenum wurden die Nutzungsvorschläge gend ausgeschriebenen Wettbewerb sollte für St. Hubertus in Aachen kontrovers im Stadtviertel mit der Sanierung und dem diskutiert, u. a. da es zunächst Unstimmig- Umbau zu Wohnungen und öffentlichen keiten über den originären Zustand der Einrichtungen eine neue »Dorfstruktur« Fassadenverschieferung gab. Diese muss entstehen, für die die ehemalige Kirche als man aber laut Entwurfsplanvorlage anneh- Zentrum und Landmarke fungieren sollte. men, so dass St. Hubertus in dieser Fassung Bei den Überlegungen zur neuen Nutzung als Denkmal anzuerkennen ist. der Kirche einigte man sich schnell auf eine kulturelle und multifunktionale Version, Go ttfried Tagungs-Teil: Ehem. Kirche mit zunächst der Planung eines Restaurants Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche (ehem. Zur Heiligen Familie) von Gottfried Böhm (1959), Außenansicht, »Zur Heiligen Familie« oder einer Kita für das gläserne Erdge- nebelpössl architekten, Köln, 2020 (Abb. 4) (Waisenhauskirche) in Köln-Sülz schoss, die dann später zur Einrichtung der B ö hm Der Tagungsteil von »Kirche weitergebaut Geschäftsstelle der Wohnungsbaugenos- XI« am Nachmittag widmete sich dann senschaft mit Büros umdisponiert wurde. zum ausschließlich dem jüngst fertig gestellten Auch in den wiederhergestellten seitlichen Umbau der ehemaligen Kirche Zur Heiligen Brücken wurden Räumlichkeiten für die 100. Geburtsta Familie in Köln-Sülz, die Gottfried Böhm Genossenschaft eingerichtet. Im Oberge- von 1955 bis 1959 auf dem Gelände des schoss, dem ehemaligen Kirchenraum, Kinderheims in Köln-Sülz als Waisenhaus wurde die besondere Raumatmosphäre kirche unter Einbeziehung des neubarocken durch den punktuellen Lichteinfall der über Turms vom Vorgängerbau errichtet hat. Sie 120 kleinen achteckigen Fensteröffnungen ist als zweigeschossiger Betonkubus mit erhalten. Als gravierendster Eingriff in die zwei seitlichen Brückenbauten zu den ursprüngliche Raumstruktur erfolgte die angrenzenden Gebäuden angelegt und Entfernung der Altarzone inklusive Altar erhält aufgrund des verglasten Erdgeschos- und Ziborium und der Einbau einer hölzer- ses sowie der dekorierten Außenwände mit nen Treppenanlage, die nun vom Erdge- einem Hirte-Schäfchen-Relief eine leicht schoss in den oberen Multifunktionssaal schwebende und spielerische Anmutung. führt. Dieser kann zu diversen feierlichen Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche, Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche, Modell, nebelpössl architekten, Köln, 2020 Detail des Brückenbaus, nebelpössl architekten, Dipl.-Ing. Bork Schiffer vom Kölner Archi- und kulturellen Anlässen gemietet und (Abb. 5) Köln, 2020 (Abb. 6) tekturbüro nebelpössl referierte ausführlich entsprechend flexibel ausgestattet werden. die Planungen und die Umsetzung des Architekt Bork Schiffer erläuterte dann Zur ück z um I n h a l t 8 9
die sakralen Utensilien in ihrer ehemaligen Funktion gewürdigt würden. Kirche weitergebaut XII Stadtkonservator Dr. Dipl.-Ing. Thomas 29. November 2021 Werner referierte am Schluss aus Sicht der städtischen Denkmalpflege über einzelne Die nächste Tagung »Kirche weitergebaut XII« wird am 29.11.2021 stattfinden, dann hoffentlich besondere Aspekte bei der Sanierung der wieder in Präsenz in der Katholischen Akademie Waisenhauskirche. So wies er vor allem auf Schwerte! die Rekonstruktion und Neugestaltung der seitlichen Brücken hin, die zur Sichtbarma- chung des historischen Ensemblecharakters der Kinderheimanlage mit Kirche bedeu- tend seien, gleichzeitig aber auch als neu 1. Siehe online: www.transara.de 2. Albert Gerhards (Hg.) unter Mitarbeit von erstellte Baukörper durch eine modische Julia Niemann: St. Ursula in Hürth-Kalscheuren. Verkleidung mit perforierten Metallpanelen Sakralra umtrans formationen – Pfarrkirche – P rofanierung – Umnutzung. gekennzeichnet sind. Thomas Werner wer- Fakten und Fragen. Berlin 2009. 3. Vgl. Marc Augé: Nicht-Orte, 1992. tete aus seiner Perspektive den gesamten 2. Auflage München 2011. Transformationsprozess der Waisenhauskir- 4. Berg aus Beton. St. Hubertus in Aachen. che in Zusammenarbeit mit der kirchlichen Dokumentation studentischer Abschlussarbeiten am Fachbereich Architektur (www.fh-aachen.de/ Denkmalpflege sowie dem verantwortlichen menschen/fissabre/projekte) Architekturbüro und dem genossenschaft 5. Vgl. Gottfried Böhm, Peter Böhm: Das Sakrale lichen Träger als überaus gelungen. in der Architektur. In: Mario Botta, Gottfried Böhm-Peter Böhm, Rafael Moneo: Sakralität In der aus Zeitgründen sehr kurzen und Aura in der Architektur. Hrsg. v. D epartment Abschlussdiskussion wurde der gerade Architektur der ETH Zürich. Zürich 2010, fertiggestellte Umbau der Kölner Waisen- S. 52 – 83. 6. Vgl. Stefan Netsch: Strategie und Praxis hauskirche aufgrund der Sensibilität im Go ttfried Köln-Sülz, Umbau der Waisenhauskirche, Innenansicht, nebelpössl architekten, Köln, 2020 (Abb. 7) der Umnutzung von Kirchengebäuden in den Umgang mit der originalen Substanz und Niederlanden. Karlsruhe 2018. Raumwirkung gewürdigt und der Anlage bereits jetzt das Zertifikat eines sozialen B ö hm noch ausführlich die aufwendige Betonsa- dass in diesem besonderen Fall die Stadt Mittelpunkts im neuen Stadtviertel nierung am Außenbau sowie im Inneren des Köln der Besitzer der Kirche war, da das verliehen! zum Gebäudes, die für einen langfristigen Erhalt Kinderheim als städtische Einrichtung im Sinne der denkmalpflegerischen Auf fungierte und Ordensschwestern von der 100. Geburtsta lagen notwendig war. Summa summarum Erzdiözese Köln die Betreuung der Kinder ist das Büro nebelpössl mit dem Ergebnis übernommen hatten. Als Folge der Aufgabe der umgebauten Waisenhauskirche zu und Entwidmung der Kirche nach 2010 einem neuen Kulturraum im wiederbeleb- mussten auch Altar und Ziborium gemäß ten Stadtteilwohnviertel Köln-Sülz sehr Kirchenrecht leider zerstört und entfernt zufrieden, so Bork Schiffer. Er hofft, dass werden. Ebenso mussten das Taufbecken, der konzipierte neu entstandene öffentli- der Tabernakel, die Orgel, das Gabelkreuz che Raum in und um die ehemalige Kirche und die massiven Ahorn-Holzbänke im entsprechend von den Bewohnern auch Kirchenraum entfernt bzw. an andere angenommen werde. Gemeinden, Museen sowie Depots weiter- Im Anschluss an die Ausführungen des gegeben werden, von der sakralen Aus Architekturbüros äußerte sich der Kölner stattung konnten jedoch die Beichtstühle Erzdiözesanbaumeister Dipl.-Ing. Martin (da im Bauverband) sowie der Kreuzweg Struck zum Transformationsprozess der im Raum verbleiben. Hier wäre es wichtig, Waisenhauskirche und betonte einleitend, dass bei der neuen Nutzung des Raumes Zur ück z um I n h a l t 10 11
kir che + gesellschaft s ondern auch Verletzungen durch die kle- Art. Und es gibt auch keinen Zusammen- rikale Arroganz von ›Wahrheitsbesitzern‹.« hang zwischen Eucharistie, Stundengebet Gestaltwandel des In diesem Sinn trifft sich seine prophetische Kirchenvision mit der Zuschreibung der Erfurter Dogmatikerin Julia Knop, wenn sie und Beichte mit Dankbarkeit und ehr fürchtigem Staunen. Frömmigkeitspraxis ist dissoziiert von der Sorge für die Armen Priesterlichen darauf verweist, »dass Gestalt und Funk tion ineinandergreifen, im Amt der Dienst und Bedrängten aller Art und ähnlich von Gefühlen der Dankbarkeit und des Staunens.« glaubhaft wird und das Amt tatsächlich Was Halík als das Kennzeichen der Kirche seinen Dienst tut und weder ins Leere greift im 21. Jahrhundert ausmacht, findet in der Verortung des Leitungsdienstes in einer noch in frommen Gefilden versandet«. Lebensgestalt der Priester offensichtlich sich wandelnden Kirche nur geringen Widerhall. Auch wenn das Kleriker – Riskierte Berufung. Zweite Vatikanische Konzil vom »Dienst- Digitale inernationale Tagung zum Synodalen Weg (Un-)Gebrochenes Ideal priestertum« spricht, muss der Umgang mit Fragt man, wie es »dem Priester« geht pastoraler geistlicher Macht von den Text: Peter Klasvogt angesichts jener massiven Erschütterungen, kirchlichen »Amtsträgern« nicht nur gelernt, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der sondern als geistlicher Dienst auch verin- Missbrauchskrise, orchestriert von dem nerlicht werden. Denn »die Versuchung zur lauten Protest oder dem stillen Auszug so Macht«, so die Psychotherapeutin Schwes- vieler aus der Kirche, kommt die aktuelle ter Bernadette Steinmetz RSM, »schlum- Gestaltwand el d es P ries terlichen Kirche im Prozess, nicht nur in Corona- Im Rahmen der digital durchgeführten Seelsorgestudie (2012 bis 2014) zu einem mert in jedem Menschen. Sie lässt sich nur Zeiten. Das gilt auch für das geistliche Amt Veranstaltung ist es gelungen, unterschied- »frappierenden« Befund, so der Freiburger mit Hilfe von Selbsterkenntnis und Liebe in der Kirche. Es gab eine Zeit, da wusste liche Ideen, Konzepte und Perspektiven Caritaswissenschaftler Klaus Baumann: überwinden, denn je unsicherer, unreifer man, was die Kirche und in ihr der Priester miteinander ins Gespräch zu bringen – in »Es gibt keinen Zusammenhang zwischen und egozentrischer ein Mensch ist, desto ist. Dagegen verlangt der gegenwärtige Panels und Workshops ebenso wie in dem der Häufigkeit der Feier der Eucharistie, des mehr erlebt er äußere Macht als eine Gestaltwandel der Kirche – unter dem Ein- tagungsbegleitenden Chat, der von den Stundengebets, Beichte oder persönlichem lustvolle Kompensation seiner inneren druck eines wachsenden Relevanz- und Teilnehmenden intensiv zu Kommentaren Gebet mit prosozialem Verhalten, also prak- Ohnmacht oder seiner fehlenden Selbst Akzeptanzverlusts – auch nach einer Neu- und Meinungsbeiträgen genutzt wurde. tizierter Sorge für Notleidende jeglicher entwicklung.« konfiguration des Priesterlichen, erst recht Der Erkenntnisgewinn im Tagungsverlauf nach dem weltweiten Missbrauch Schutz- lässt sich an vier Stichworten festmachen: befohlener durch katholische Geistliche. Wie wird Kirche morgen sein – und in ihr Kirche – Synodaler Aufbruch. der Leitungsdienst? Dies ist eines der Umkämpfte Glaubwürdigkeit Themen des Synodalen Wegs, auf den sich Wer heute Priester werden will, hat ein die katholische Kirche in Deutschland berechtigtes Interesse zu erfahren, wie begibt. Kirche morgen sein wird. »Ich bin überzeugt, Die Katholische Akademie Schwerte dass die Kirche nicht nur eine Gemeinschaft hat diesen Weg mit einer Dreiländer-Tagung der Erinnerung und des Erzählens sein zum Gestaltwandel des Priesterlichen in sollte«, so der tschechische Theologe und einer sich wandelnden Kirche begleitet, in Philosoph Tomáš Halík, »sondern auch ein Kooperation mit den Akademien in Zürich Ort der ›Solidarität der Erschütterten‹.« und Wien, der Kommende Dortmund sowie Und er fügt mit Blick auf den Dienst des dem Klaus-Hemmerle-Forum. Ausgehend Priesters hinzu: »Unser Platz ist auch mit von der grundlegenden Frage nach der denen, die arm an Glauben, arm an Sicher- Kirchenreform stellt sich die Frage nach der heit aller Arten sind, unser Platz ist bei künftigen Gestalt des Leitungsdienstes und den Erschütterten und auch bei den von seiner kollegial-synodalen Verortung in der Kirche verwundeten. Ich meine nicht einer geistlich erneuerten Kirche. nur die Fälle von sexuellem Missbrauch, Thomas Jessen: Fußwaschung. Öl auf Leinwand, 2003 Zur ück z um I n h a l t 12 13
G ESCHICHTE + P OLITIK Kultur – Dienende Führung. hat bereits im Blick, wo auch jenseits be- Kollegiale Verantwortung währter Praxis und sakrosankter Ordnung – Priesterlicher Leitungsdienst muss nach Überzeugung des Bochumer Theologen Benedikt Jürgens daher stärker als profes extra muros – Neues wächst, unkonven tionell vielleicht, aber nicht uninspiriert. Der Hildesheimer Pastoraltheologe Christian 34. Tagung des sionelle »Dienstleistung« verstanden werden, der die Kernaufgabe von Priestern Hennecke spricht von »Ekklesiogenesis«, Kirche im Werden, und es geht ihm »nicht Schwerter Arbeitskreises gerade darin sieht, »den Kontakt zum um den Erhalt einer bestimmten Kirchen- Heiligen herzustellen, zu ermöglichen konstellation. Nein, hier geht es auch nicht und zu bewahren«. Aber Führung braucht um Pastoralpläne der Weiterentwicklung. Premiere als Online-Konferenz Fähigkeiten – auch in der Kirche, wo Nein, es geht auch nicht darum, die Kirche Text: Florian Bock und Daniel Gerster es darum geht, »die Paradoxie zwischen fit zu reformieren – denn das wäre letztlich profaner und sakraler Dimension in Balance« Systemerhalt.« Stattdessen nimmt Hennecke zu halten. Dazu der Essener Generalvikar die Tagungsteilnehmer mit auf eine Exposure- Klaus Pfeffer: »Die bereits erwähnte Tour, um den Blick darauf zu lenken, wo Paradoxie einer kirchlichen Organisation, der Geist Gottes bereits am Werk ist – ohne einerseits eine geistliche Größe zu sein, jede Bewertung, aber auch ohne Vergan- andererseits aber als menschliche Organi genheitsfixierung; eine Ermutigung, Kirche Rund 45 Wissenschaftlerinnen und Wissen- Andreas Oberdorf (Münster) berichtete aus sation ganz profanen Regeln und Mustern vom Ursprung neu und vielfältig zu denken schaftler aus Kirchengeschichte und seinem laufenden Forschungsprojekt über Gestaltwand el d es P riesterlichen zu unterliegen, verlangt eine hohe spiritu – »fresh expressions of church«. – Und wie Geschichtswissenschaft nahmen vom 21. bis das Collegium Americanum zu St. Mauritz elle Kompetenz, um in einer kirchlichen von einem anderen Ufer schildert Bischof 22. November 2020 an der 34. Jahrestagung bei Münster, das 1867 eröffnet und im Organisation Führung wahrzunehmen.« Johannes Bahlmann OFM, zugeschaltet von des Schwerter Arbeitskreises Katholizismus- Zuge des Kulturkampfes 1875 geschlossen Genau hier lauern auch Gefahren. Denn Obidos, seiner Diözese im Amazonasgebiet, forschung (SAK) teil, die in digitaler Form wurde. Es handelte sich um eine Einrichtung, »das Weihesakrament verführt mit seinem wie die Christinnen und Christen dort stattfand. Im Mittelpunkt der Veranstaltung in der junge Theologen und Priester für die überhöhten Anspruch zu der Annahme, in Armut und Einfachheit mit den »Erschüt- standen auch in diesem Jahr die Vorstellung deutschsprachigen Gemeinden in den USA theologisches Wissen, spirituelle Kompe- terten« der Covid-19-Pandemie leben: und Diskussion laufender Forschungs ausgebildet werden sollten. Oberdorf stellte tenz sowie theologische und lehramtliche Sterbende begleiten, Trauernde trösten, Ver- arbeiten zur Katholizismusforschung. Eine dar, dass die Bildungseinrichtung nicht nur Zuschreibungen reichten aus, um in armten beistehen. »Arbeitslose gibt es Generaldebatte widmete sich dem Thema auf eine pastorale Professionalisierung der kompetenter Weise Führung wahrzuneh- ohnehin schon zu viele hier bei uns. Viele »Religion übersetzen. Katholizismus und kultu- Seminaristen abzielte, sondern zugleich men«. Umso wichtiger ist, dass zu einer arbeiten als Tagelöhner, und die stehen relle Vermittlungsprozesse im 19. und 20. Jahr- auch den Interessen ultramontaner Kreise »ekklesial vermittelten Zuständigkeits momentan auf der Straße. Wir versuchen hundert«. gerecht zu werden versuchte. kompetenz«, die dem kirchlichen Leitungs- durch Lebensmittel und Hygienematerial Zum Auftakt stellte Maren Baumann Über Julius Angerhausen (1911–1990), dienst qua Amt zukommt, unbedingt eine die Not ein wenig zu lindern und richten (Trier) ihr Dissertationsvorhaben vor und erster Weihbischof des Ruhr-Bistums Essen, je »individuell zu erwerbende Fähigkeits- mit vielen Freiwilligen eine Telefonseelsorge erörterte Möglichkeiten und Grenzen von und die Fraternität der Kleinen Bischöfe sprach kompetenz« hinzukommen muss. Darauf ein.« Dienende Kirche – im Geist und im Raumeinnahme, -gestaltung und -nutzung Miriam Niekämper (Bochum). Die Frater muss auch in der Priesterausbildung Gestus der Fußwaschung. Arm, aber im religiösen Kontext der Heilig-Rock-Wall- nität war eine international vernetzte und verstärkt geachtet werden. lebendig. fahrten in Trier für die Jahre zwischen 1891 agierende Gruppe katholischer Bischöfe, und 1996. Dem Vortrag lag das Konzept die die von ihnen auf dem Zweiten Vati Kairos – Spirituelle Grundierung. des »Sakrotops« (Thorsten Cress) zugrunde, kanischen Konzil erfahrene weltweite Inspirierte Gemeinschaft das eine praktikenorientierte Betrachtung Gemeinschaft und gemeinsame Spiritualität Wenn Priester ihre geistliche und dienende des religiös konnotierten Raumes ermög- in den postkonziliaren Alltag übertragen (Führungs)Kompetenz zum Wohl der Men- licht. Mit Blick auf die Heilig-Rock-Wallfahr- wollte. Die Mitglieder der Gruppe folgten schen einsetzen, kommt auch die prophe ten legte Baumann Kontinuitäten und hierbei einem Kirchenbild, das die Sorge tische und visionäre Dimension zum Tragen. Unterschiede in der vielfältigen Raumaneig- um die Armen und Benachteiligten in den Dann ist der Priester nicht der »Mann des nung durch die Pilgerinnen und Pilger über Mittelpunkt stellte und Demut von den Systems«, der das Bestehende konserviert einen Zeitraum von über hundert Jahren katholischen Amtsträgern selbst einforderte. und gegen Neuerungen verteidigt, sondern offen. Die Vernetzung erfolgte in erster Linie Zur ück z um I n h a l t 14 15
Tagungsbericht online durch gemeinsame Treffen und Rundbriefe, Michael Neumann (Münster) skizzierte Natalie Powroznik und David Rüschen- Der Tagungsbericht von Florian Bock und wobei dem Essener Weihbischof Anger grundsätzliche Überlegungen zu seinem schmidt (beide Münster) erörterten Aspekte Daniel Gerster ist auf H-Soz-Kult erschienen. hausen als Sekretär eine entscheidende Promotionsvorhaben über den politischen und Möglichkeitsbedingungen von Sprach Der Abdruck erfolgt mit f reundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion. Rolle zukam. Einfluss des Katholischen Büros in Bonn lichkeit im Kontext sexuellen Missbrauchs in Tagungsbericht: 34. Tagung des Schwerter Klaus Unterburger (Regensburg) und zwischen 1958 bis 1977. Im Zentrum seiner der katholischen Kirche. Während Betroffene Arbeitskreises Katholizismusforschung, Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen) stellten Studie wird die politische Interessenvertre- von Missbrauch durch die machtvolle 21.11.2020 – 22.11.2020 digital, die Arbeit des Historischen Vereins für Ermland tung dieses Büros als eine Schnittstelle Position des Priesters, durch die Erwartung, in: H-Soz-Kult, 12.01.2021 www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungs- vor und schlugen künftige Kooperationen zwischen den katholischen Bischöfen und kein Gehör oder keinen Glauben zu finden, berichte-8848 mit dem SAK wie auch einzelnen Katholizis- der Bundespolitik vor dem Hintergrund und durch die eigene religiös-kulturell musforscherinnen und -forschern vor. der Pluralisierung der Gesellschaft stehen. formierte Scham in ihrer Sprachfähigkeit Julie Adamik (Paderborn) sprach anhand Neumann stellte sowohl die Verortung und gehemmt waren, agierten Bischöfe und Gene- der drei Leitbegriffe »Gemeinschaft«, »Neuer die Abstimmungsprozesse des Kommissa ralvikare bis in die 2000er Jahre mit der Mensch« und »Liturgie« über den jugend riats innerhalb des deutschen Katholizismus Vertuschung von Vorwürfen und der diskre- bewegten Strang der Liturgischen Bewegung als auch die Entwicklung der politischen ten Versetzung von beschuldigten Priestern. 34. Tagung d es Schwerter A rbe itsk reises Katho lizismusfo rschung 34. Tagung d es Schwerter A rbe itsk reises Katho lizismusfor sc hung unter der Leitung von Romano Guardini Netzwerke des Büros vor. Exemplarisch ging Betroffene waren und sind häufig erst nach (1885–1968). In Anbetracht der politischen er auf die Arbeit des Kommissariats bei der langer Zeit in der Lage, über ihre Erfahrun- Themengestaltung in der von der Gruppe Reform des § 218 ein. gen zu sprechen. Erleben, Deutungen und Quickborn herausgegebenen Zeitschrift Verortungen von Betroffenen fallen dabei »Die Schildgenossen« und Parallelen, die oft heterogen aus, und das »Sprechen Guardini zwischen Liturgie und Politik zog, mit einer Stimme« ist voraussetzungsreich gab sie einen Einblick in die politische und nicht immer möglich. Komponente der Liturgischen Bewegung. Anhand der Schriften von Guardini wies JProf. Dr. Florian Bock, Ruhr-Universität Bochum (Sprecher des Schwerter Arbeitskreises Adamik auf Inhalte hin, die das Wirken der Katholizismusforschung 2014 –2020) Liturgischen Bewegung über den liturgischen Tellerrand hinaus zum Vorschein bringen können. Nils Hoffmann (Erfurt) stellte sein Dis- sertationsprojekt zum katholischen Sakral- bau für die sozialistischen Großwohnsiedlungen in der DDR vor. Er verortete dabei konkrete Bauprojekte wie die Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Neu-Hohenschönhausen in den Rahmenbedingungen der kirchlichen Situation in der DDR seit dem Ende der 1960er Jahre und konnte dadurch deutlich machen, wie sich die Einstellung von Politik Dr. Daniel Gerster, Forschungsstelle für und Verwaltung zu Kirchenbauprojekten Zeitgeschichte in Hamburg über die Jahre wandelte. Gerade bei den (Sprecher des S chwerter Arbeitskreises Neubauprojekten, die seit den 1970er Jahren Katholizismusforschung 2014 –2020) als Soziotope innerhalb der sozialistischen Gesellschaft entstanden, fanden sich zunehmend Möglichkeiten und Wege für den kirchlichen Sakralbau. Diese wurden, so Hoffmann, zentrale Orte für die Selbst- vergewisserung der katholischen Kirche in der DDR. Z ur ück z um I n h a l t 16 17
Die Generaldebatte des Schwerter Arbeits- In der anschließenden Diskussion zeigte Neu gewähltes Sprecher*innenteam des kreises widmete sich kulturellen Über- sich die große Mehrheit der Teilnehmerinnen Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung setzungs- und Vermittlungsprozessen in den und Teilnehmer beeindruckt von den Katholizismen des 19. und 20 Jahrhunderts. Das Gemeinsamkeiten, die sich trotz der unter- Der Schwerter Arbeitskreis Katholizismus- Dr. Markus Leniger von der Katholischen Thema ließ bewusst verschiedene Heran schiedlichen Fragestellungen in den beiden forschung hat auf seiner 34. Jahrestagung Akademie Schwerte, die die Jahrestagungen gehensweisen zu. Christoph Nebgen Referaten ausmachen ließen. Zugleich wurde am Sonntag, 22. November 2020, ein neues gemeinsam mit dem Arbeitskreis ausrichtet, (Saarbrücken) gab Einblicke in transnatio- deutlich, dass die aufgezeigten Forschungs- Sprecher*innenteam gewählt. Dr. Sarah gratulierte der neuen Sprecherin und dem nale und -kulturelle Verflechtungsprozesse, perspektiven und -fragen eine ganze Thieme, wissenschaftliche Projektleiterin neuen Sprecher und freut sich auf die die sich anhand der Quellengattung Missions- Bandbreite an weiteren Studien erfordern. am Exzellenzcluster »Religion und Politik« zukünftige Zusammenarbeit. zeitschriften identifizieren und rekonst Die Vorstellung solcher aktuellen For- der Westfälischen Wilhelms-Universität Der Schwerter Arbeitskreis bildet seit ruieren lassen. Beispielhaft stellte er die seit schungsarbeiten wird auch im nächsten Jahr Münster, und Dr. Martin Belz, wissenschaft- 1987 ein offenes Forum für Forscherinnen 1873 im Verlag Herder erschienene Zeit- wieder möglich sein, wenn sich der Schwer- licher Mitarbeiter am Institut für Mainzer und Forscher verschiedener Fachdisziplinen. schrift »Die Katholischen Missionen« vor. ter Arbeitskreis Katholizismusforschung vom Kirchengeschichte (IMKG), treten damit die Der Kreis verfolgt dabei eine sozial- und Nebgen mahnte eine intensivere Auseinan- 19. bis 21. November 2021 in der Katholischen Nachfolge von Juniorprof. Dr. Florian Bock mentalitätsgeschichtliche Erweiterung der 34. Tagung d es Schwerter A rbe itsk reises Katho lizismusfo rschung 34. Tagung d es Schwerter A rbe itsk reises Katho lizismusfor sc hung dersetzung gerade der katholischen Kirchen- Akademie Schwerte – hoffentlich wieder in aus Bochum und Dr. Daniel Gerster aus Katholizismusforschung sowie eine geschichte mit diesen Quellen an und riet, Präsenz – treffen wird. Hamburg an, die den Arbeitskreis für sechs Aufnahme neuer Fragestellungen und die insbesondere in Ordensniederlassungen Die Tagung wird dann von den neuen Jahre geleitet haben. Methoden, beispielsweise der Kulturwis- vorliegenden Bestände rechtzeitig zu Sprecherinnen Sarah Thieme (Münster) und Die Neugewählten sprachen ihren Vor- senschaften oder der Globalgeschichte. sichern. Martin Belz (Mainz) geleitet, die am Ende gängern ihren Dank für die äußerst erfolg- Wim Damberg (Bochum) analysierte im des diesjährigen Treffens das Amt von Florian reiche Leitung in den vergangenen sechs Martin Belz Anschluss und Bezug darauf zunächst exemp- Bock und Daniel Gerster übernahmen. Jahren aus und freuen sich auf die vor ihnen larische, empirisch nachweisbare religiöse liegende Amtszeit und die anstehenden Dynamiken am Ende des 20. Jahrhunderts Aufgaben. Als Ziele haben sich Dr. Thieme wie den Niedergang von Organisation, sich und Dr. Belz die Weiterführung des kolle verschiebende Zukunftsdiskurse, Genera gialen und konstruktiven Austauschs im tionswechsel, Ästhetisierung und Politisie- Arbeitskreis sowie eine verstärkte interna rung, um in einem zweiten Schritt nach den tionale Vernetzung vorgenommen. Als erste zugrundeliegenden Prozessen zu fragen. Er Aufgabe steht die Konzeption der nächsten hob hervor, dass die Produktion und der Jahrestagung an, die vom 19. bis 21. Novem- Austausch religiösen Wissens den Verände- ber 2021 in Schwerte stattfinden wird. rungen anderer Wissensbestände folgten, und unterstrich, wie Elementarisierung (oder aus traditioneller Sicht: Fragmentie- rung) und potentielle Ubiquität im Rahmen einer »religiösen Glokalisierung« in sehr unterschiedlicher Weise zusammengehen können. Offenkundig ist in diesem Kontext eine Art Sprachensterben der überlieferten religiösen Semantiken. Daraus folge, so Damberg in einer Linie mit den Schlussfol gerungen von Nebgen, dass die Archivierung und Erhaltung der Lesbarkeit der Diversität Nähere Informationen zum dieser religiösen Sprachen als Teil des Schwerter Arbeitskreis immateriellen Kulturerbes eine wichtige Katholizismusforschung auf: Aufgabe der Forschung sei. www.katholizismusforschung.de Dr. Sarah Thieme Dr. Martin Belz Zur ück z um I n h a l t 18 19
THEOLOGIE + PHILOSOPHIE Im NT werden Psalmen nicht als Gebete verlassenheit – danach: Verstummen, das zitiert, sondern als prophetische Offen keine tröstende Stimme auflöst. Diese Mit den Psalmen barung, was den Psalter nach 200 n. Chr. zu dem Gebet- und Gesangbuch der Kirche machte: David, dem die Hälfte der Psalmen bewusst eingetragene Leerstelle überwin- den wir durch das gläubige »Wissen« um die Auferweckung, wissen damit aber mehr auf Ostern zu zugeschrieben wurde, redet und weist, gemäß einem messianischen Schema von als Jesus am Kreuz. Die sog. Anzitierungs hypothese, für die es Beispiele im früh Verheißung und Erfüllung, auf Jesus jüdischen Kontext gibt, mildert die Beob- Christus hin. Im NT wird das Ich aus den achtung, dass Mk Jesus in Gottverlassenheit »Bibeltheologische Tage« – geht das online? Davidspsalmen dann zum Ich des David- sterben lässt: Zitiert werde zwar der Text: Ulrich Dickmann Erben, des »Gesalbten«. Die Davidisierung Psalmanfang, der Schrei der Gottverlassen- und Messianisierung der Psalmen hat ihrer heit, gemeint sei aber der ganze Psalm. Christologisierung den Weg bereitet. Man müsse dieser Hypothese aber nicht Besondere Beachtung verdiente der folgen, so Michel, und könne im Gegenteil Ps 22, dessen im AT nur hier so intensiv die Aufforderung an uns heraushören, sich ausgedrückte Gottklage »Mein Gott, mein dieser Spannung zu stellen. Ist Ps 22 das Seit über dreißig Jahren sind die Bibeltheo Köln, die Brücke von ausgewählten Gott, warum hast Du mich verlassen?« der letzte Wort des historischen Jesus? Lk und logischen Tage in der Karwoche fester Psalmen zu ihrer Rezeption im Neuen sterbende Jesus im Markusevangelium Joh mildern hier bereits ab. Nur Mk hat Bestandteil unseres Programms. Sie bieten Testament (NT). Das Psalmenbuch gehört betet. Der Klagepsalm fasst den Gebets das Potential, historisches Jesuswort zu die Gelegenheit, sich in der Akademie von dort zu den meistzitierten Schriften des prozess des klagenden Ich, das ganz auf sein – wenn er nicht überhaupt wortlos Mit d en Psalmen auf Os tern zu Montag bis Gründonnerstagmittag persön- Alten Testaments (AT) und wirkt bis heute seine Angst angesichts körperlicher und gestorben ist. lich auf die Heiligen Tage vorzubereiten: auch in Liturgie und Stundengebet nach. psychischer Gewalt reduziert ist. Hinein Darüber entspann sich eine lebhafte, über die Auseinandersetzung mit biblischen Die christliche Psalmenrezeption prägt mischt sich das Vertrauen auf den Schöpfer nicht nur akademische Diskussion: Welcher Texten im Wechsel von Impulsreferaten, die Rede von Jesus von Nazaret als Sohn und die eigene Geburtlichkeit. Doch als Jesus am Kreuz liegt mir näher, der verlas Diskussion und gemeinsamen Gebetszeiten. Gottes, Gesalbter (Messias), König, leiden- sei diese Vergewisserung nicht geschehen, sene oder der vertrauende? Michel zufolge 2020 wurde die Veranstaltung wegen der der Gerechter. Die Evangelisten legen konstatiert das Ich auf dem Höhepunkt spreche das auf Aramäisch wiedergegebene Pandemie-Situation abgesagt. Auch in Jesus selbst Psalmzitate in den Mund, und seiner Not, von Gott selbst »in den Staub Psalm-Zitat (»Eloï, Eloï, lema sabachtani?«) diesem Jahr war eine Präsenzveranstaltung insbesondere für die Passionserzählungen des Todes« gelegt zu werden. Das Gebets- für ein historisches Jesuswort, wohingegen unmöglich. Doch ein weiteres Mal einfach stellten sie entscheidende Deutungshilfen formular geht jedoch weiter, leitet an, sich Jesu letzte Worte bei Lk und Joh sich absagen und womöglich einen Abriss dieser bereit. Daher der Tagungstitel: »Psalmen »dadurchzubeten« und endet im Lob des deuten lassen als bewusste Verdrängung beliebten Reihe riskieren? Wie aber Tiefe passen zur Passion«. rettenden Gottes – freilich »ohne Vorstel- der eher schwierigen und peinlichen Erin- und Intensität des Formats digital überset- Michel betonte, dass die Psalmen, lung eines produktiven Jenseits«. Dass dem nerung bei Mk, die man nicht erfinde oder zen? Einen Versuch war es allemal wert: gespeist aus den Glaubenserfahrungen des Klagepsalm die gattungsspezifische Bitte Jesus in den Mund lege. Ob Jesus wortlos Mit längeren Pausen und modifiziertem Volkes Israel, von »Bet-Profis« als kunst um Bestrafung der Feinde fehlt, machte oder mit Ps 22 auf den Lippen gestorben Themenangebot (weil die Teilnahme am volle Gebetsformulare erstellt wurden für ihn anschlussfähig an die Passion. Er konnte ist: kein Deutungswort passt besser in den Computer-Bildschirm anstrengend ist) Beter*innen in ihren konkreten Lebens als Psalm eines leidenden Gerechten Mund des sterbenden Jesus. Wir wissen gingen die Bibeltheologischen Tage digital situationen. Anspruchsvoll sind sie für uns gelesen werden, dessen Einzelschicksal als Historiker nicht, ob Jesus in Vertrauen live an den Start. Zwar ließen sich signifi- heute auch, weil sie in ihrem jeweiligen universale Bedeutung erlangt durch die am oder Gottverlassenheit starb, und das sei, kant weniger Teilnehmende auf dieses (kultur )historischen Entstehungs- und Ende formulierte Zuwendung Gottes zu so Michel, heute vielleicht anschlussfähiger Format ein als gewohnt, dafür kamen aber Verwendungskontext verstanden werden allen Leidenden. als der triumphierende Christus. auch einzelne hinzu, die nicht Hunderte müssen und eine Vielfalt unterschiedlicher In der (vor-)markinischen Passionserzäh- Das Thema Gewalt und Gewaltverar Kilometer nach Schwerte gereist wären. Gottesbilder transportieren. Ohne hier im lung klingen zentrale Aussagen von Ps 22 beitungkam mit Ps 137 in den Blick, und In dichter, zu gemeinsamem Weiter Einzelnen die Themenfülle dieser Tage nach: Gott selbst gibt Jesus in den Tod, zwar im Zusammenhang mit der zentralen denken anregender Gesprächsatmosphäre wiedergeben zu können, sollen exempla- ferner: Teilung der Kleider, Kopfschütteln Bedeutung der Stadt Jerusalem. Der Psalm schlug Prof. Dr. Andreas Michel, Professor risch einige Früchte genannt werden, die und Spott der Passanten und der beiden knüpft nachexilisch an die Gattung der für Biblische Theologie am Institut für die Teilnehmenden für ihr Osterfest Mitgekreuzigten angesichts tiefster Men- Zionslieder an, die Jerusalem (»Stadt des Katholische Theologie der Universität zu mitnehmen konnten. schenverlassenheit, der Schrei der Gott Friedens«) und ihren Gott auf dem Zions- Zur ück z um I n h a l t 20 21
berg preisen, der seine Stadt schützt. Nach der verhängnisvollen Wirkungsgeschichte der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, des Klagepsalms 79 deutlich machte, den so klagt das betende Wir, sollen mitten in Papst Urban II. in seiner Predigt 1095 n. Chr. Babylon die Exilierten auf Veranlassung ihrer als biblische Legitimation der für Muslime Peiniger die Unerschütterlichkeit Zions und Juden letztlich blutigen Kreuzzugs besingen – eine Verhöhnung. Im Hinter- bewegung benutzte. grund des fiktionalen Textes stehen keine Als prägnantestes Beispiel für Königs- einmaligen historischen Situationen, psalmen und mit einer »riesigen Wirkungs- sondern nachexilische Alltagserfahrungen geschichte« bis in die Passionserzählungen ökonomischer und physischer Gewalt stellte Michel Ps 2 vor, in dem sich die drei während der Seleukiden- und Ptolomäer- wirkmächtigen Titel König, Gesalbter und kriege. Sie gipfeln im Wunsch nach Vergel- Sohn Gottes finden. Die nachgezeichneten tung. Michel betonte, dass solche Texte Wandlungen der Königstheologie von die Gewaltphantasien von Menschen ohne Assur, Ägypten über das davidische König- eigenen Staat, mit der geschichtlichen tum, die nachexilische Messianisierung bis Erfahrung der eigenen Ohnmacht ausdrü- zur christlichen Jesuanisierung vermittelten cken. Es mache einen Unterschied, ob den Eindruck von Emergenzen. Realisiert Opfer oder Täter sie sprechen. Der Schrei man, dass die kirchlichen Dogmen, die für nach Vergeltung – bis hin zum Ruf am uns heute selbstverständlich sind, erst das Psalmende: »Selig, wer … zerschlägt am Felsen Ergebnis jahrhundertelanger Reflexion sind, Mit d en Psalmen auf Os tern zu deine Kleinkinder« (nicht: »Nachkommen« begreift man, wieviel Mut hinter den [EÜ]) – bezieht sich auf das vorausgehende biblischen Aussagen steckt. Zerschmettern der Kleinkinder der Opfer Ps 139, spät entstanden und noch später durch die Eroberer. »Vergeltung« klingt im zum Osterpsalm geworden, öffnete den Hebräischen etymologisch mit in »Frieden«, Blick für die Auferstehungshoffnung. Hier der nur durch Ausgleich von wechselseiti- kämpft der Beter in zerrissenem Hin und gen Ansprüchen hergestellt werden kann. Her mit seiner Beziehung zu Gott, von Innerlich begrenzt ist sie durchdas Talions- dessen allwissender Nähe er sich ganz durch- prinzip (V. 8b): Eindämmung statt Eskalati- schaut und in die Enge getrieben erfährt. on der Gewalt. Der Text verleiht den Wohin immer er flieht, Gott ist schon da. Opfern eine Stimme gegen das sonst ewig Doch der Bet-Prozess schlägt um: Was den geltende Unrecht und erinnert Gott an Beter gerade noch erschreckte, wird zu seine Verantwortung, der eine solche Welt seiner Würde und Anlass zum Dank: Gott der Gewalt nicht gleichgültig sein kann. ist ihm als Geschöpf von Geburt an im Die Texte des AT, die in Auseinander Innersten nahe und unterfängt seine Sterb- setzungen mit Vorstellungen machtvoll lichkeit (er ist auch schon in der »Unterwelt«). dreinschlagender Götter entstanden, tragen Mit Gott, der ihn erforscht, weiß er sich in deren Züge in sich, suchen diese aber sicherer Gemeinschaft und erforscht nun zugleich zu korrigieren durch Bilder der ihn. Widersprüchliche Gotteserfahrungen Gewaltlosigkeit (z. B. Sach 9,9: Er »reitet auf bleiben hier nebeneinander bestehen. Der einem Esel«). Gottes berechtigter Zorn und Psalm drückt die nachexilische Verinner sein Erbarmen werden in einer Spannung lichung des Gottesverhältnisses aus, die gehalten, die auch von uns zu füllen ist. Subjektwerdung des Menschen geschieht Die Rache bleibt ihm vorbehalten. Wo der als Verhältnis zur überwältigenden Transzen- Mensch sich selbst zur Vergeltung ermäch- denz Gottes und als verantwortliches tigt, wird eine Grenze der Textinterpre Verwiesensein auf die Mitmenschen. Die tation überschritten, wie Michel anhand am Ende genannte »Ewigkeit« meint hier Zur ück z um I n h a l t 22 23
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