NFP 51 Integration und Ausschluss - Bulletin Nr. 3, Mai 2006 - SNF
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NFP 51 Integration und Ausschluss Bulletin Nr. 3, Mai 2006 www.nfp51.ch Schwerpunkt Editorial Fragen an die Geschichte sind für das NFP 51 Die strukturelle Prägung der von besonderer Bedeutung. Im Dialog mit den Sozialpolitik durch die Geschichte anderen Sozial- und Humanwissenschaften tragen Historikerinnen und Historiker wesent- Prof. Dr. Brigitte Studer, Bern lich zu fundierterem und differenzierterem Wissen über moderne Gesellschaften und ihre Dynamik bei. Nationale Forschungsprogramme sind von ihren Themen- und Problemstellungen her gegenwartsbezogen und von Dies ist nicht nur für die Wissenschaft selbst, ihren Erkenntnisinteressen her weitgehend anwendungs- sondern auch für Gesellschaft und Politik von orientiert. Was können da historische Projekte beitragen? Nutzen. Drei Gründe seien hier genannt: Erstens sind sozialpoliti- Das NFP 51 «Integration und Ausschluss» war von Anfang sche Interventionen ihrer an stark historisch ausgerichtet. Seine Entstehungs- Natur nach langfristig geschichte ist verwoben mit der Forderung, die Aktion angelegt. Sozialstaaten «Kinder der Landstrasse» aufzuarbeiten, mit der die Stiftung sind schwere Tanker, die Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 versucht hatte, die ihre Richtung nur lang- Schweizer Jenischen sesshaft zu machen. Die 1996 vom sam und kaum merklich Bundesamt für Kultur (BAK) in Auftrag gegebene Vorstudie ändern. Ökonomen und der Historiker Walter Leimgruber, Thomas Meier und Roger Politikwissenschaftler Sablonier hat erstmals das Ausmass, die Dauer und die sprechen deshalb von Methoden der systematischen Kindswegnahmen gezeigt «Pfadabhängigkeit» – vom Schwergewicht (Leimgruber et al. 1998). Um jedoch die gesellschaftliche etablierter Institutionen und der Zählebigkeit und institutionelle Verankerung dieser Praxis offenzulegen, früherer Weichenstellungen. Wer den Födera- aber auch um die Schicksale der Betroffenen zu rekonstru- lismus modernisieren, die Altersversorgung ieren, schien ein Forschungsprogramm notwendig. Ein sol- reformieren oder die Bürokratie verschlanken ches wurde auch seitens der Betroffenen gefordert. Es kam will, weiss, wovon die Rede ist. schliesslich im Jahr 2000 dank des Engagements von Zweitens hat unbewältigte Geschichte – um- Bundesrätin Ruth Dreifuss zustande und wurde im Jahr gangssprachlich häufig als «Leiche(n) im Keller» 2002 ausgeschrieben. bezeichnet – die Eigenschaft, von Zeit zu Zeit zurückzukehren. Mit Hilfe historischer Analysen Die besondere Rolle der historischen Forschung im NFP 51 kann das komplexe Zusammenwirken von Ver- ist nicht nur durch die Genese, sondern auch durch die drängung und Mythenbildung, individueller Thematik des Forschungsprogramms begründet. Bei der Erfahrung und Erinnerungen sowie t Frage nach Integration und/oder Ausschluss von Einzelnen oder Gruppen geht es letztlich um die Grundlagen der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Art und Weise und der Grad der sozialen Eingliederung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wie auch der Aus- länderinnen und Ausländer – die zwar nie ganz ausgeschlos- sen, aber stets auch nur bedingt integriert waren – werden von historisch gewachsenen Denkmustern, Perzeptionen
Gegenwart gezogen werden. Die Historie befasst sich mit t gesellschaftlicher Bewusstwerdung der Hypo- dem konkreten Einzelfall. Ihre Aussagekraft bezieht sie aus theken der Vergangenheit besser verstanden der historisch genauen Kontextualisierung. Dieselben Aus- werden. Als Archäologen, Kritiker und Aufklärer gangsbedingungen können in einer anderen Situation auch der «Rückseite des Sozialstaats» (Brigitte andere Effekte zeitigen. Das hindert freilich nicht, struktu- Studer) sind die Geschichtswissenschaften relle Kontinuitäten in den Denk- und Handlungsmustern gefragt wie nie. herauszuarbeiten. Die historische Rekonstruktion kann «Historische Wissenschaft ist nicht Politikbera- zudem dank der empirischen und konzeptuellen Multi- tung», unterstreicht Jakob Tanner in seinem perspektivität Muster und Folgen sozialer Interaktionen Beitrag. Aber ebenso wie er betonen alle Autorin- aufzeigen, die den Zeitgenossen verdeckt geblieben sind nen und Autoren dieses Bulletins den Wert oder zumindest nicht in ihrem realen Ausmass bewusst historischen Wissens für heutige Entscheidungs- waren. Im Fall der Aktion «Kinder der Landstrasse» handelt prozesse. Und dies ist der dritte Grund, denn es sich um die Tragik der individuellen Schicksale: bei den die Geschichte gibt Einblick in ein gesellschaft- Kindern um die Fremdplatzierung und die Schutzlosigkeit liches Laboratorium, in dem politische Leitbilder, gegenüber physischer, psychischer und sexueller Gewalt, soziale Trends und individuelle Biographien bei den Eltern um den Verlust der Kinder und die Recht- von ihrem Ende her betrachtet werden können. losigkeit gegenüber den behördlich-institutionellen Mass- Sinn für langfristige Entwicklungen, Achtung nahmen. vor menschlichen Schicksalen und ein Bewusst- sein der Komplexität gesellschaftlicher Verhält- Die normativen Grundlagen der sozialen Fürsorge nisse: das kann man aus Geschichte lernen – Hinter dem Handeln der Stiftung Pro Juventute standen wenn man will. Normen wie die Sesshaftigkeit und die so genannte bürger- liche Familienordnung – Normen, die aus der zeitlichen Prof. Dr. Christoph Conrad, Distanz fragwürdig erscheinen, die aber damals sozial breit Mitglied der Leitungsgruppe des NFP 51 abgestützt gewesen sein dürften. Nun beruht jede Inter- vention von Behörden, von Stiftungen oder auch von priva- ten Organisationen im sozialen Bereich auf normativen Vorstellungen und Erwartungen, die stets sowohl integrativ als auch ausschliessend sind. Ausschliessend sind sie für diejenigen, die ihnen nicht oder vermeintlich nicht ent- sprechen können oder nicht entsprechen sollen, wie es im 20. Jahrhundert bei den angeblich zu wenig assimilierten Ausländern der Fall war. Es ist zwar keineswegs sicher, ob das Wissen um diesen Effekt in der Vergangenheit die Verantwortlichen vor zukünftigen Fehlern bewahren kann, eine Sensibilisierung für die möglichen Konsequenzen und Stereotypen, Handlungsmodellen und politischen ihres Handelns ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung Praxen bestimmt. Es ist daher auch für politische Entschei- dafür. dungsträger wichtig, sich der Logik eingespielter Prozesse bewusst zu werden. Nicht immer stand am Ende eines Ent- Die Geschichte zeigt, dass die Praktiken der Sozialpolitik scheidungsprozesses die beste Lösung, sei es, weil das poli- aufgrund ihres Normierungsanspruchs, d. h. ihre Ziel- tische Handeln bekanntlich nie ganz frei von Interferenzen setzung als Norm zu definieren, in vielen Fällen stigmati- durch Partikularinteressen ist, sei es, weil politische Be- sierten, diskriminierten und sogar kriminalisierten. Dieser schlüsse stets im Kontext zeittypischer Paradigmen und Aspekt der Geschichte des Sozialstaates – sozusagen seine ihrer jeweiligen blinden Flecken zustande kommen. Histo- Rückseite – ist für die Schweiz noch ungenügend erforscht. risches Wissen kann sich unter Umständen als nützlich Mehrere Projekte des NFP 51 leisten dazu nun einen wich- erweisen, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden, tigen Beitrag. Historische Studien zur sozialen Fürsorge um Verantwortlichkeiten zu bestimmen oder um zumindest sind in der Schweiz auch deshalb noch selten, weil die die jeweiligen Optionen zu kennen. Fürsorge vorwiegend in die Zuständigkeit der Gemeinden, manchmal auch der Kantone fiel und daher in eine Vielzahl Es soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass hier unterschiedlichster Politiken und Rationalitäten, Verwal- nicht gemeint ist, es könnten aus der Vergangenheit mittels tungsinstanzen und Agenturen zerfällt. Da zudem trotz der Geschichtsschreibung ohne weiteres Lehren für die föderaler Strukturen im Lauf des 20. Jahrhunderts zwischen 2 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
den diversen Fachgebieten immer dichtere institutionelle unterstellten Arbeitnehmer zuständig und versicherte bis Vernetzungen und kommunikative Verflechtungen auf re- in die 1980er Jahre nur etwa die Hälfte der Arbeiter. Für gionaler, eidgenössischer und internationaler Ebene ent- alle anderen waren private Versicherer oder kantonale standen sind, erhöht sich die Komplexität des Gegenstands Einrichtungen zuständig (vgl. Lengwiler 2002). noch zusätzlich. Eine weitere Besonderheit der Schweiz, die die historische Forschung auf diesem Gebiet erschwert, Das Schweizer Sozialversicherungsmodell weist auch hin- stellt der hohe Anteil privater Organisationen in der sichtlich seiner Finanzierung Besonderheiten auf, die his- Sozialpolitik dar. Ein Beispiel dafür ist die Stiftung Pro torisch entstanden sind. So beruht es nur zu vergleichsweise Juventute, die 1912 von der Schweizerischen Gemeinnützi- kleinen Teilen auf sozialen Umverteilungsmechanismen. gen Gesellschaft gegründet wurde und noch heute eine Dies ist besonders deutlich bei der Krankenversicherung regional diversifizierte, beeindruckende Angebotspalette mit den Pro-Kopf-Prämien wie bei den nach dem Kapital- aufweist, die von der sozialpädagogischen Familienbeglei- deckungsverfahren funktionierenden Pensionskassen. tung über die Organisation von Ferienlagern und Waisen- Auch bei Finanzierungsmodellen über Lohnprozente müs- unterstützung bis zur Stipendienvergabe reicht. sen die Versicherten in der Schweiz im Vergleich zu ande- ren Ländern einen höheren Anteil tragen, wohingegen der Die historischen Besonderheiten der Schweizer Anteil der Arbeitgeber eher niedrig ist (Zahlen siehe Flora Sozialversicherungen et al. 1983; Guex und Studer 2002). Der Public-Private-Mix der Finanzierung und der Aufga- benverteilung charakterisiert auch die zweite Dimension Schliesslich tragen fiskalische Einnahmen des Staates in des Schweizer Sozialstaats, die Sozialversicherung, in der der Schweiz nur in geringem Mass zur Finanzierung der die Beiträge (Prämien) der Versicherten – handle es sich Sozialversicherungen bei. Auch Ende der 1990er Jahre nun um die gesamte Bevölkerung (Obligatorium) oder um machen Steuern immer noch weniger als die Hälfte der die Gruppe der zu einem bestimmten Versicherungszweig Einnahmen (resp. des gesamten Finanzvolumens) aus (kri- Zugelassenen – und ihr Leistungsanspruch nach einem tisch zu diesen Finanzierungsmodi: Flückiger und Suarez bestimmten Schlüssel in ein Verhältnis gesetzt werden. 1996). In diesem Zusammenhang stellt sich im Übrigen die von der Geschichtswissenschaft noch kaum behandelte Dass die Schweizer Sozialausgaben ab den 1970er Jahren Frage der Wohlfahrtsleistungen über Steuervergünstigun- angestiegen sind und nun im europäischen Vergleich im gen. oberen Drittel liegen, wird von der Forschung nicht unbe- dingt der Entwicklung des Sozialversicherungswesens Die Zuordnung des Schweizer Sozialstaats zu einem zugeschrieben. Mathieu Leimgruber (2005) sieht den Grund Typus des «Wohlfahrtsregimes» viel eher in der Integration in die Soziale Wohlfahrt von Von allen zum internationalen Vergleich entwickelten Kranken- und Pensionskassen, die von privaten Anbietern Ansätzen ist der wohl einflussreichste derjenige von Gøsta dominiert sind und die über die Äufnung von Fonds und Esping-Andersen (1990). Er unterscheidet einen hohen direkten Kostenanteil der Versicherten statt – das Bismarcksche oder konservative Modell, das auf die über steuerliche Umverteilungen und Risikoausgleich Erwerbstätigkeit zentriert und wenig redistributiv ist: die finanziert sind. Die grosse Rolle von Privatversicherungs- Pensionsrenten wie die Arbeitslosengelder sind auf der anstalten in der Altersvorsorge hat in der Schweiz Tradition Basis der früheren Löhne berechnet; und setzte schon Ende des 19. Jahrhunderts ein. Ihre – das universalistische oder sozialdemokratische Modell, Funktion ging von Anfang an über das Angebot von Lebens- das stark umverteilend wirkt: das fundamentale Prinzip versicherungen oder kollektiven Altersvorsorgeeinrich- bildet nicht die Sozialversicherung, sondern die Offerte tungen für die Privatwirtschaft hinaus. Kleine Gemeinden, von universellen Dienstleistungen nach Mittelschicht- die oft nicht in der Lage waren, eine eigene Pensionskasse standard (Schweden, Dänemark, Norwegen gelten hier als zu führen, übertrugen diese Aufgabe in vielen Fällen einer repräsentativ); Privatversicherung. So spielen die privaten Anbieter auch – das Markt- oder liberale Modell, dessen Logik auf Markt- in den Vorsorgeeinrichtungen der öffentlichen Verwaltung mechanismen gründet; der Staat interveniert nur subsi- eine gewisse Rolle. diär, wenn die Marktmechanismen wie auch die familiären Solidaritäten nicht greifen. Die Rolle der privaten Anbieter hat auch in der Unfallver- sicherung Tradition. Lange vor Einführung der Schweizeri- Die Schweiz wird dem Markt- oder liberalen Modell zuge- schen Unfallversicherungsanstalt (suva) waren private rechnet. Diese Zuordnung trifft jedoch offensichtlich nicht Unfallversicherer im Geschäft und blieben es auch danach. ganz zu, denn ebenso lassen sich Elemente des universalis- Denn die suva war anfänglich nur für die dem Fabrikgesetz tischen und des konservativen Modells ausmachen. Das NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006 3
erklärt sich m.E. aus der langen Entstehungszeit des 1941 betrug die weibliche Sicherungsquote im Vergleich zu Schweizer Sozialstaats (von einem Wohlfahrtsstaat lässt derjenigen der Männer in den Pensionskassen im öffent- sich erst seit dem Aufholschub der letzten Jahrzehnte spre- lichen Bereich 58 % und in der Privatwirtschaft 49 %. 1970 chen), die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann lagen die entsprechenden Prozentsätze bei 56 und 37. und bis zur Einführung einer Mutterschaftsversicherung 2004 reicht, sowie den zahlreichen beteiligten Akteuren mit Wissensdefizite und Forschungsdesiderata ihren je eigenen Interessen und Konzepten. Es gibt noch viele Lücken in der Geschichte des Schweizer Sozialstaats. Wissensdefizite bestehen zum Beispiel im Einen vierten Typus von Wohlfahrtsregime hat kürzlich Hinblick auf die Stellung der Ausländerinnen und Aus- Michael Opielka vorgestellt. Für diesen Typus, den er länder. Das 1934 in Kraft getretene Bundesgesetz über Auf- «Garantismus» nennt, sei die Schweizer Sozialpolitik gera- enthalt und Niederlassung der Ausländer führte einen dezu paradigmatisch. Aus historischer Perspektive erscheint Schutz des nationalen Arbeitsmarktes ein und bedeutete de diese Zuordnung allerdings fragwürdig. Gerade was die von facto einen Teil-Ausschluss von gewissen Versicherungen Opielka angeführte Krankenversicherung angeht, hat sich (wie etwa von der Arbeitslosenversicherung, die an konti- die Schweiz bereits 1911 für eine «Volksversicherung» und nuierliche Erwerbsarbeitsverhältnisse gebunden war). gegen eine reine Erwerbstätigenversicherung entschieden Eine sozialrechtliche Gleichstellung ausländischer Arbeits- (allerdings ohne Obligatorium, was erst 1996 mit dem KVG kräfte mit Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nachgeholt wurde). Auch wenn es zweifellos stimmt, dass nehmern erfolgte erst nach 1977. es aus der Integrationsperspektive eine Rolle spielt, ob die gesamte erwachsene Bevölkerung Teilhaberechte an einer Die gesamte Sozialstaatskonfiguration der Schweiz ist noch Versicherung hat oder nicht, ist doch die Frage, auf welchen wenig erforscht. Was weiter oben für den Bereich der sozi- finanzierungspolitischen Grundlagen dies geschieht, nicht alen Fürsorge konstatiert wurde, gilt auch für die Sozial- ohne Bedeutung. Grundsätzlich mutet eine Zuordnung zu versicherungen: Das System war schon immer organisato- einem Wohlfahrtsregime, die sich nur auf die sozialpoliti- risch und konzeptuell fragmentiert oder, anders formuliert, schen Felder Alterssicherung und Gesundheit stützt, pro- charakterisiert durch hohe funktionale Ausdifferenzierung blematisch an. Die Geschichtsforschung hat hingegen und institutionelle Delegation. Die Versicherungen, Vor- schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Schweiz eine sorgeeinrichtungen, Hilfskassen usw. teilen sich nicht nur Mischung aus liberalem, sozialdemokratischem und in staatliche, nichtstaatliche und private Einrichtungen, sie konservativem Wohlfahrtsregime darstellt (Studer 1998; sind überdies auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen Magnin 2002). (Bund, Kantone, Gemeinden) angesiedelt und basieren auf diversen Rechtsformen. Daneben traten stets auch Gewerk- Dies zeigt sich deutlich aus der Geschlechterperspektive. schaften, Arbeitgeber, professionelle Gruppierungen usw. Konservativ geprägt ist jedenfalls die den Sozialversiche- als Versicherungsträger auf. Noch wenig ist in der dualen rungen zugrunde liegende Geschlechterordnung (trotz eini- Struktur des Wohlfahrtsstaates (Sozialversicherung – ger Korrekturen in den letzten Jahren), wenn man den Grad öffentliche/private Fürsorge) über die Rolle und die Ver- der weiblichen Abhängigkeit vom Familienernährer oder flechtung von intermediären Instanzen und Fürsorge- umgekehrt den Grad der «Individualisierung» bzw. der institutionen wie gemeinnützige Vereine, Hilfswerke, eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen als Krite- Verbände, Städte etc. bekannt. Last but not least stehen der rium nimmt (Lewis 1993). Die meisten Sozialversicherungs- internationale Vergleich des Sozialmodells Schweiz und die zweige der Schweiz sind auf das Ernährermodell zu- Erforschung seiner transkulturellen Interdependenzen geschnitten. Daraus ergibt sich ein «gender gap» in der noch weitgehend aus. Versicherungsdeckung. Frauen sind in verschiedenen Sozialversicherungen weniger gut abgesichert. Historisch Wenn man davon ausgeht, dass es eine Kovariaton von trifft das etwa für die Arbeitslosenversicherung (Studer Wissen und Sozialstruktur gibt, so ist es nicht unerheblich, 2004), für die AHV (Luchsinger 1995) und für die Zweite die früheren Denk- und Begriffskategorien, die Wahrneh- Säule zu. Wie Matthieu Leimgruber (2005) belegt, sind mungsschemata und Lösungsmuster, die sich im Schweizer Frauen hinsichtlich der Alterssicherung aber nicht nur in Sozialstaat verstetigt haben, wie auch die gescheiterten der Privatwirtschaft, sondern gleichfalls, wenn auch weni- Optionen zu rekonstruieren, um dieses komplexe Gebilde ger prononciert, im staatlichen Arbeitssektor benachteiligt. besser zu verstehen. Und bewusst und begründet handeln zu können. 4 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
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Berichte aus den Forschungsprojekten Von Akten und Menschen – und dem Umgang mit dem Anderssein Als Beispiel dafür, welche Rolle Akten bei Diskriminierung und Ausgrenzung spielen können, wählten wir das von der Stiftung Pro Juventute getragene «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das zum Ziel hatte, die so genannte «Vagantität» auszutilgen. Mit Behördenhilfe wurden zwi- schen 1926 und 1973 über 600 jenische Kinder ihren Eltern Roger Sablonier, weggenommen, unter Vormundschaft gestellt und in Pflege- Projektleiter familien, Heimen, Kliniken, Anstalten oder an Arbeitsstellen untergebracht. Analysiert werden die vom «Hilfswerk» angelegten umfang- reichen Akten. Wir interessieren uns nicht nur für die darin enthaltenen Stigmatisierungen, sondern auch dafür, wie die Betroffenen mit Stigmatisierungen und Diskriminierungen Gesellschaftspolitische Bedeutung umgingen (Stigma-Management). Dazu werden vorhande- Die gesellschaftspolitische Bedeutung des Projekts liegt auf ne biografische Aufzeichnungen sowie die Berichte von acht mehreren Ebenen. So besteht ein Anspruch auf eine Auf- Betroffenen, die zu ihrer Lebensgeschichte interviewt wur- arbeitung der Kampagne und ihrer Umstände seitens der den, in die Untersuchung einbezogen. Betroffenen wie seitens einer Gesellschaft, die sich ihrer Verantwortung als demokratisches und soziales Gemein- Wir verfolgen ferner Forschungsinteressen, die allgemei- wesen stellt. Bei der Aktion «Kinder der Landstrasse» han- ner Natur sind und auf eine Erweiterung der historischen delt es sich um einen einzigartigen, in mancherlei Hinsicht Interpretationsmöglichkeiten abzielen, indem danach ge- aber eben auch exemplarischen Fall schweizerischer Für- fragt wird, was mit einem Schriftstück nach dessen Erstel- sorge- und Minderheitenpolitik. Die Einmaligkeit besteht lung geschieht, d.h. wie es aufbewahrt und vor allem wie, in der systematischen Verfolgung einer Minderheit, das wann, von wem, unter welchen Umständen, zu welchem Beispielhafte in den dabei angewandten Mitteln. Genauere Zweck usw. es genutzt wird. Dieses «Schrifthandeln» ist im Kenntnisse sind deshalb gerade auch im Hinblick auf die Falle der Akten, mit denen wir es beim «Hilfswerk für die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme von grosser Kinder der Landstrasse» vorwiegend zu tun haben, ausge- Bedeutung. prägt und exzessiv. Aktenführung – in jeder Verwaltung omnipräsent – ist inte- Mit unserem Projekt verfolgen wir also zwei Forschungs- ressanterweise kaum erforscht. Dabei werden in staat- ziele: Indem wir die Aktenführung bzw. den Zusammenhang lichen Behörden, in Personalabteilungen von Unterneh- zwischen Aktenführung und Stigmatisierung untersuchen, men, in Kliniken, Fürsorge- und anderen Institutionen lau- möchten wir einen wissenschaftlichen Beitrag zur Aufklä- fend Informationen zu Personen gesammelt und ausge- rung institutioneller Ausschlussprozesse und allgemein zur tauscht. Solche Akten enthalten häufig Wertungen, die mit Bürokratieforschung leisten. Zum andern verstehen wir konkreten Auswirkungen für die betreffende Person ver- unser Projekt auch als Beitrag zu einer wissenschaftlichen bunden sein können. Indem solche Zusammenhänge auf- Aufarbeitung «eines der dunkelsten Kapitel in der jünge- gezeigt werden, soll auch für die Problematik der ren Schweizer Geschichte» (Ruth Dreifuss), die immer wie- Aktenführung sensibilisiert werden. der gefordert und von der Politik in Aussicht gestellt wor- den ist. Resultate Die Analyse des Aktenmaterials erlaubt erstmals quantita- tive Aussagen zum «Hilfswerk». Entgegen der immer wie- der genannten Zahl von 619 «Kindern der Landstrasse» ist von insgesamt rund 900 auszugehen. Auffallend ist die star- ke Vertretung einiger weniger jenischer Familien aus den Kantonen Graubünden, St. Gallen und Tessin, ein Umstand, 6 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Thomas Meier, Sara Galle, Projektleiter wissenschaftliche Mitarbeiterin der sich vor allem durch die Akquisitionspolitik des «Hilfs- Das Arsenal von negativ konnotierten Qualifizierungen werks» erklärt. Unter den «Kindern der Landstrasse» fin- bezieht sich auf physische wie psychische Merkmale oder den sich aber auch solche nichtjenischer Herkunft. Störungen, ja deckt sämtliche Facetten einer Person ab. Die Qualifizierungen betreffen die körperliche Erscheinung, Ferner wissen wir mehr über Umfang, Art und Struktur des den Gesundheitszustand, die Körperfunktionen, die Sexua- Aktenmaterials sowie über die interne Verwaltung und lität, das Genussverhalten, die Intelligenz, die schulische Funktionsweise des «Hilfswerks». Überraschenderweise oder Arbeitsleistung sowie den Geistes- und psychischen veränderte sich etwa die Aktenführung über den langen Zustand. Zeitraum nur geringfügig. Eine breite Palette von diskreditierenden Zuschreibungen Der Vergleich mit Akten der Zürcher Amtsvormundschaft bezieht sich auf die Persönlichkeitsmerkmale oder den so zeigt, zumindest hinsichtlich der formalen Behandlung der genannten Charakter sowie das entsprechende (soziale) «Fälle» signifikante Unterschiede. Was die reine Akten- Verhalten. mässigkeit der Tätigkeit der beiden Institutionen betrifft, sind hingegen nur erstaunlich geringe Differenzen auszu- In den Akten finden sich sodann Etikettierungen als machen. Ganz anders präsentieren sich die Verhältnisse in Angehörige einer bestimmten Familie, sozialen Gruppe oder einzelnen Heimen sowie in den aus Laien zusammenge- Minderheit. Sehr häufig sind schliesslich Kumulationen von setzten Vormundschaftsbehörden kleinerer Gemeinden. Stigmatisierungen, die in Pauschalurteile bzw. Kategori- sierungen münden. Eine Besonderheit in ihrer Quantität und Intentionalität stellen die vom «Hilfswerk» angelegten Dossiers über Oft bleibt es nicht bei aktenmässigen Stigmatisierungen ganze Familien dar. Sie sind für die Vorgeschichte der ein- von Mündeln. Es kommt darüber hinaus zu Diskriminie- zelnen «Fälle» bedeutsam und belegen, dass das «Hilfs- rungen, ja selbst zu eigentlichen Pathologisierungen sowie werk» eine eigentliche Akquisitionspolitik betrieb, also Kriminalisierungen mit weit reichenden Folgen für die nicht einfach nur Hilfe leistete, sondern gezielt bestimmte Betroffenen. Menschen als «Fälle» definierte und aktiv einer Betreuung zuführte. Folgerungen Die Analyse des historischen Aktenmaterials und die viel- Stigmatisierungen finden sich nicht nur in Dokumenten fältigen Einblicke in aktuelle, höchst unterschiedliche des «Hilfswerks», sondern auch in jenen beteiligter Institu- Praktiken im Umgang mit Akten machen deutlich, dass es tionen, namentlich in Behördenkorrespondenz, Heimbe- für öffentliche und im Auftrag der Öffentlichkeit handeln- richten, Gerichtsakten, psychologischen und medizinischen de Institutionen unbedingt verbindlicher Regelungen im Gutachten sowie Krankengeschichten. NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006 7
Umgang mit Personenakten bedarf, und zwar über den Datenschutz im engeren Sinn hinaus. Zu regeln sind die Zwischen Integration und Anlage und Führung von Personenakten, ferner die Stigmatisierung: Der Umgang der Einsichtnahme bzw. der Zugang zu solchen Akten und – im Interesse der Betroffenen wie der Forschung – die Aufbe- Fürsorge mit gesellschaftlicher wahrungsfristen. Die Festlegung entsprechender Normen Marginalität im 20. Jahrhundert und eine institutionalisierte Aufsicht sind dringende politi- sche Desiderate. Das System des Wohlfahrtsstaates, das nach 1945 auch in der Schweiz schrittweise eingeführt wurde, versucht, einen Teil der Armutsrisiken durch ein Netz von Sozialversiche- Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Konstruktionen von rungen abzufedern und auf diese Weise eine Stigma- Identität und Differenz»: Aktenführung und tisierung von Menschen in Not zu vermeiden. Seit dem Ende Stigmatisierung. Institutionelle Ausschlussprozesse am der Hochkonjunktur ist dieses System jedoch mit wachsen- Beispiel der Aktion «Kinder der Landstrasse» 1926–1973 den Problemen konfrontiert. Während Politiker das Ende Laufzeit: 01.07. 2003–31.12.2006 des Ausbaus des Sozialstaates proklamieren, entstehen an den Rändern der reichen Industriegesellschaften soziale Projektverantwortliche Problemzonen, mit denen sich unter anderem die öffentli- Prof. Dr. Roger Sablonier che Fürsorge auseinander setzen muss. Immer wieder wer- Historisches Seminar der Universität Zürich den Stimmen laut, die ein hartes Durchgreifen gegen Karl-Schmid-Strasse 4 Personen fordern, welche des Missbrauchs sozialstaatlicher CH-8006 Zürich Leistungen verdächtigt werden. Die Behörden, namentlich Tel. +41 (0)44 634 38 56 die Fürsorgestellen, sind dadurch mit widersprüchlichen sablon@hist.unizh.ch Anforderungen konfrontiert: Einerseits wird von ihnen eine effiziente, kostengünstige und missbrauchsresistente Dr. Thomas Meier Verwaltung der sozialen Probleme verlangt, andererseits Historisches Seminar der Universität Zürich müssen sie ihre Interventionen und deren Folgen vermehrt Culmannstrasse 1 auch ethisch rechtfertigen können. CH-8006 Zürich Tel. +41 (0)44 634 28 50 Hier setzt unser Forschungsprojekt an. Es untersucht die meiertho@hist.unizh.ch Veränderungen der Rolle von Fürsorge und professioneller und Sozialarbeit, den Wandel ihrer Leitbilder und ihrer Prakti- BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte AG ken und fragt nach Selbstdefinitionen und Handlungs- Im Rank 146 perspektiven der Betroffenen. Während das eine Teilprojekt CH-6300 Zug die Debatten und die Selbstreflexion der sich professiona- Tel.+41 (0)41 710 70 88 lisierenden Fürsorge in der Schweiz von der Jahrhundert- www.landesgeschichte.ch wende bis in die 1950er Jahre in den Blick nimmt, befasst sich das zweite Teilprojekt anhand von Akten der öffent- lichen Fürsorge der Stadt Bern mit der Praxis und, soweit Literatur die Akten darüber Aufschluss geben, mit der Problemsicht Meier T. Die Verfolgung der Jenischen in der Schweiz durch das «Hilfswerk und den Strategien der Betroffenen im Zeitraum zwischen für die Kinder der Landstrasse» (1926–1973). In: Sedlaczek D, Lutz T, 1920 und 1960. Zusätzlich werden die sich wandelnden Puvogel U, Tomkowiak I (Hg). «minderwertig» und «asozial». Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich, 2005; 157–178 institutionellen Rahmenbedingungen der Fürsorge in der Galle S, Meier T. Stigmatisieren, Diskriminieren, Kriminalisieren. Stadt Bern untersucht. Die parallele Analyse von Theorie- Zur Assimilation der jenischen Minderheit in der modernen Schweiz. bildung, Praxis und institutioneller Politik erlaubt interes- In: Opitz C, Studer B, Tanner J (Hg). Kriminalisieren – Entkriminalisieren – sante Einblicke in das Zusammenspiel und die Wechsel- Normalisieren. Zürich, 2006 [im Druck] wirkungen zwischen den drei Ebenen. Meier T. Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs in der Schweiz 1850–1970. In: Herbert U, Zimmermann M (Hg). Zwischen Erziehung und Vernichtung. Die in unserem Projekt aufgeworfenen Fragen sind für die Zigeunerforschung und Zigeunerpolitik im Europa des 20. Jahrhunderts. Schweiz noch kaum bearbeitet. Historische Untersuchun- Stuttgart, 2006 [im Druck] gen über die professionelle Sozialarbeit und ihre theoreti- schen Konzepte fehlen fast vollständig, und auch die Praxis der Sozialfürsorge wurde historisch erst punktuell aufgear- beitet. 8 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Unsere bisherige Arbeit hat gezeigt, dass es sich hier um tinnen und verwiesen auf die soziale Mütterlichkeit, kraft ein sehr lohnendes Feld historischer Forschung handelt, bei derer sie über eine genuine Eignung für die soziale Arbeit dem wir nicht nur auf aufschlussreiche Veränderungen von zu verfügen beanspruchten. Die Expertinnen und Experten Leitbildern, Problemsichten und Deutungsmustern, von debattierten – durchaus in Konkurrenz miteinander – sozi- Praktiken, Strategien und Politiken stossen, sondern auch alarbeiterisches und fürsorgerisches Handeln, verhandel- auf erstaunliche Persistenzen. Namentlich das Spannungs- ten Problemdiagnosen, entwickelten Handlungsstrategien feld zwischen Integration und Ausschluss erweist sich als und definierten Politiken. durchgehendes Element in der theoretischen Reflexion Brigitte Schnegg Gaby Sutter Sonja Matter und in der Praxis von Fürsorge und Sozialarbeit. Auch der Die Forderung, die «Armengenössigen» in die Gesellschaft Widerstand der Betroffenen gegen Stigmatisierung durch zu integrieren, spielte in diesen Debatten eine wichtige die Fürsorgeabhängigkeit durchzieht die Akten wie ein Rolle. Durch neue Formen der Unterstützung, die nicht roter Faden. mehr den Charakter von Almosen hatten, sollte eine kollek- tive Stigmatisierung vermieden werden. Eine detaillierte Die Erkenntnis, dass der Staat sich um die soziale Integra- Überprüfung jedes Einzelfalls sollte der individuellen tion seiner marginalisierten BürgerInnen bemühen muss, Problemlage gerecht werden und die Unterstützung sollte löste um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach und aus der Not helfen. Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte nach alte Vorstellungen ab, denen zufolge die Obrigkeit sich die «rationelle Einzelfallhilfe» als Methode in der lediglich für die Linderung der Not der Armen verantwort- Sozialhilfe. Praktiziert wurde sie, indem über jede zu unter- lich war. Die traditionellen Formen der Armutsbekämpfung stützende Person weitläufige Informationen beschafft und galten zunehmend als ungenügend. Die Kritik an den her- umfangreiche Dossiers anlegt wurden. Die Folgen davon kömmlichen Praktiken verband sich mit Forderungen nach waren indes zwiespältig: Da man Vermieter, Nachbarn oder mehr Professionalität und verdichtete sich gegen Ende des Arbeitgeber über die Klientinnen und Klienten befragte, 19. Jahrhunderts zu einem eigentlichen Expertendiskurs. wurde deren Notlage nicht nur publik, sondern auch Die jungen Wissenschaften Ökonomie und Soziologie Gegenstand von Klatsch und Gerüchten. Die daraus resul- begannen, sich mit den verarmten und verelendeten tierende Stigmatisierung wurde noch dadurch verstärkt, Gruppen und Individuen der Gesellschaft zu befassen, und dass nicht Bargeld gegeben, sondern Einkaufsgutscheine lieferten damit nicht zuletzt den politischen Behörden das ausgestellt oder Mietzuschüsse direkt an die Vermieter Expertenwissen, auf das sie bei der Lösung der brennen- gezahlt wurden. Immer wieder kämpften die Betroffenen den «sozialen Frage» angewiesen waren. deshalb für Barauszahlungen, um der Demütigung im Quartierladen oder gegenüber ihren Vermietern zu entge- Auf dem neuen Feld dieses Expertenwissens bewegten sich hen. verschiedene Gruppen. Neben den Wissenschaften positio- nierten sich auch die Vertreter der öffentlichen Armen- Eine Sensibilisierung für die negativen Implikationen der pflege als Experten. Die in der Wohltätigkeit ehrenamtlich auf Kontrolle und Überwachung basierenden Fürsorge ent- engagierten Frauen aus dem Bürgertum schufen Frauen- wickelte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die schulen für Soziale Arbeit. Auch sie sahen sich als Exper- UNO, die dabei eine entscheidende Rolle spielte. Im Zuge NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006 9
ihres Engagements für die Menschenrechte forderte die Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Soziale Arbeit und neu gegründete Weltorganisation einen menschenrechts- Sozialpolitik»: Staatliche Fürsorge und gesellschaftliche konformen Umgang mit den sozialen Rand- und Problem- Marginalität. Geschlechterordnung, Leitbilder und gruppen. Die Methode des «Social Case Work», die sich an Interventionspraktiken der Sozialarbeit in der Stadt Bern des der Interaktion von Arzt und Patient orientiert und auf eine ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts gemeinsame Erarbeitung von partnerschaftlich-konsen- Laufzeit: 01.09.2003 – 31.10.2006 suellen Lösungen für die Betroffenen setzt, schien diesen Ansprüchen zu entsprechen. Sie wurde in den 1950er Projektteam Jahren als «demokratische Sozialarbeit» breit propagiert. Projektverantwortliche Fachleute aus Europa erhielten an Weiterbildungskursen, Dr. Brigitte Schnegg die auch von zahllosen Sozialarbeiterinnen aus der Schweiz Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und in den USA besucht wurden, Gelegenheit, sich damit ver- Geschlechterforschung der Universität Bern traut zu machen. Der Siegeszug des «Social Case Work» in Hallerstrasse 12 den schweizerischen Expertenkreisen ist eindrucksvoll. Im CH-3012 Bern Laufe weniger Jahre entwickelte sich ein Konsens über Tel. +41 (0)31 631 40 25 Sinn und Notwendigkeit der neuen Methode. Wie diese brigitte.schnegg@izfg.unibe.ch Einigkeit im Detail zustande kam, warum das Interesse und die Akzeptanz so gross waren und wie die Methode Teilprojekt Fallakten schliesslich in die Praxis umgesetzt wurde, soll in den ver- Dr. Gaby Sutter bleibenden Monaten untersucht werden. Dammerkirchstrasse 47 CH-4056 Basel Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaft- Tel. +41 (0)61 321 58 85 lichen Transformationsprozesse, die mit der Marginalisie- gaby.sutter@izfg.unibe.ch rung breiter gesellschaftlicher Gruppen einhergeht, und angesichts der Debatten über einen Umbau des Sozial- Teilprojekt Diskurse staates scheint uns die Forderung nach einer demokrati- Sonja Matter, lic. phil. schen, auf Respekt und Anerkennung basierenden Form Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und der Sozialfürsorge von besonderem Interesse. Die Einsicht Geschlechterforschung der Universität Bern in die Notwendigkeit, Ausgrenzung und Demütigung der Hallerstrasse 12 sozial und wirtschaftlich Schwachen zu vermeiden, um eine CH-3012 Bern stabile Demokratie zu gewährleisten, ist nicht zuletzt vor Tel. +41 (0)31 631 52 68 dem Hintergrund der Katastrophe des Nationalsozialismus sonja.matter@izfg.unibe.ch gereift. Sie scheint uns für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen genauso bedeutsam wie die histori- Publikation aus dem Projekt schen Erfahrungen, die mit einem auf Kontrolle und Über- Matter Sonja. Wissenstransfer und Geschlecht. Die wachung basierenden Umgang mit Fürsorgeabhängigen Rezeption «amerikanischer» Methoden in der Schweizer gemacht worden sind. Sozialarbeit der 1950er Jahre. In: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte. Heft 49: Women in Welfare – Soziale Arbeit in internationaler Perspektive. Kassel, 2006 (im Druck) Ausgewählte Literatur Fraser N. Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt a. M., 1994 Gilomen HJ, Guex S, Studer B (Hg). Von der Barmherzigkeit zur Sozial- versicherung. Umbrüche und Kontinuitäten bis zum 20. Jahrhundert. Zürich. 2002 Ramsauer N. «Verwahrlost». Kindswegnahme und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900–1945. Zürich, 2000 Rudloff W. Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1919–1933. Göttingen, 1998 10 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Zwangmassnahmen und psychiatrische Ordnung 1979 publizierte der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel eine einflussreiche Studie mit dem Titel «Die psychiatrische Ordnung», in der er auf die Wechselwir- kungen zwischen Ausgrenzungs- und Integrationsmecha- nismen hinwies. Ordnung lässt sich nur stabilisieren, wenn sich Konformität nach innen und Abgrenzung nach aussen ergänzen; der Ordnungsgedanke fusst auf einer mentalen Disposition, in der sich Sicherheitsbedürfnisse und Gefühle der Bedrohung wechselseitig bedingen. Stellten kritische psychiatriegeschichtliche Untersuchungen zunächst die Jakob Tanner und Marietta Meier mit dem Aufkommen psychiatrischer Anstalten in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich verstärkende Exklu- sion durch Internierung ins Zentrum, so betont Castel dage- gen die integrierenden Aspekte und analysiert die Verwobenheit der modernen Psychiatrie mit der Organi- chiatriepatienten einschliesst, oder aber eine umfassend sation gesellschaftlicher und politischer Macht. Norm und normalisierte «Disziplinargesellschaft», für deren Funk- Normalisierung erweisen sich damit als zentrale Analyse- tionslogik das Anstaltsmodell paradigmatisch ist. kategorien. In einer «psychiatrisablen Gesellschaft» wird, so Castels These, der Wahnsinn in ein Verwaltungsobjekt Eine differenzierte Sichtweise, wie sie unser Projekt transformiert und zum Gegenstand therapeutischer anstrebt, wird möglich, wenn die «Ordnung des Selbst» – Eingriffe gemacht, die auf Heilung, d.h. auf Reintegration Subjektivierungsformen, Ichbildung, Persönlichkeitsent- ausgerichtet sind. In diesem Vorgang verschränken sich wicklung – auf die «gesellschaftliche Ordnung» bezogen Inklusions- und Exklusionstendenzen. wird. Die «psychiatrische Ordnung» lässt sich dann als intermediäres Phänomen begreifen: Sie ist mit Menschen Unser Projekt «Internieren und Integrieren. Zwang in der befasst, bei denen eine Selbststörung, d. h. eine Geistes- Psychiatrie: Der Fall Zürich, 1870 –1970», das von Marietta krankheit, diagnostiziert wurde und die mittels therapeuti- Meier und mir geleitet wird und an dem Brigitta Bernet, scher Massnahmen wieder in die gesellschaftliche Ordnung Roswitha Dubach und – in der Schlussphase – Urs zurückgeführt werden sollen. Dabei entfaltet die psychia- Germann mitarbeiten bzw. mitgearbeitet haben, greift sol- trische Ordnung, der diese Aufgabe zufällt, ihre eigenen, che Fragestellungen auf und fokussiert vor allem den organisationsspezifischen Zwänge; Gründe dafür sind etwa Aspekt des Zwangs. Anders als in der älteren Psychiatrie- in der chronischen Überfüllung von Anstalten und im geschichte, die davon ausging, im Zuge der Verwissen- Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal zu sehen. Die schaftlichung der Geisteskrankheiten seien die «Irren» Zwangsproblematik erfährt in der Psychiatrie gewisse Zu- endlich «von den Ketten befreit» worden, wird hier Zwang spitzungen, was sich an einer immer wieder aufflammen- als ein umfassenderes Phänomen betrachtet. Zwang ist in den Kritik ablesen lässt: Von der No-restraint-Bewegung einer rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft, die die der 1860er Jahre über die bürgerliche Psychiatriekritik um Menschenrechte achtet, negativ konnotiert; gleichzeitig ist 1900 bis zur Antipsychiatrie der 1960er Jahre spannt sich die Einsicht vorhanden, dass Recht, wenn es sich nicht auf ein grosser Bogen (selbst-)kritischer Thematisierung. einen wirksamen «Erzwingungsstab» (Max Weber) stützen kann, macht- und hilflos wird. Darüber hinaus würden Dass sich die historische Entwicklung der Psychiatrie nicht moderne, arbeitsteilig organisierte, komplex strukturierte ohne eine Geschichte der kritischen Auseinandersetzung Gesellschaften ohne einen umfassenden «Zwang zum mit ihr darstellen lässt, ist eines der evidenten, wenn auch Selbstzwang» (Norbert Elias) nicht funktionieren. Zwang in der Öffentlichkeit immer noch nicht generell akzeptier- weist somit eine fundamentale Ambivalenz auf: Er wird – ten Resultate des Forschungsprojekts. unter freiheitlichen Gesichtspunkten – abgelehnt, tritt aber – in funktionaler Hinsicht – massenhaft auf. Die Verabsolu- Das Projekt knüpfte an eine von der Gesundheitsdirektion tierung des einen oder des andern Aspekts führt zu einan- des Kantons Zürich finanzierte und Ende 2002 publizierte der ausschliessenden Beschreibungsformen: Man sieht Pilotstudie zum Thema an, an der ausser den bereits Ge- entweder eine «freiheitliche Gesellschaft», die auch Psy- nannten noch Gisela Hürlimann mitgewirkt hat. Neuartig NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006 11
an unserem Projekt ist auch der Zugang zu den Quellen. Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Konstruktionen von Dank einer Bewilligung der «Eidgenössischen Experten- Identität und Differenz»: Internieren und Integrieren. kommission für das Berufsgeheimnis in der medizinischen Zwang in der Psychiatrie: Der Fall Zürich, 1870 –1970 Forschung», welche umgekehrt das Forschungsteam zur Laufzeit: 01.09.2003–31.01.2006 Einhaltung strenger Datenschutzbestimmungen verpflich- tet, konnte erstmals der grosse Fundus der Kranken- Projektverantwortliche geschichten über den ganzen Untersuchungszeitraum hin- Prof. Jakob Tanner weg benutzt werden. Universität Zürich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Die Resultate des Projekts werden im Herbst 2006 veröf- Rämistrasse 64 fentlicht werden. Die geplante Studie wirft zunächst einen CH-8001 Zürich Blick auf die Entwicklung der psychiatrischen Kliniken im Tel. +41 (0)1 634 36 41 Kanton Zürich; neben der 1870 gegründeten Psychiatri- jtanner@hist.unizh.ch schen Universitätsklinik Burghölzli kommen die 1867 ein- gerichtete Pflegeanstalt Rheinau und die 1913 eröffnete Dr. Marietta Meier psychiatrische Poliklinik zur Sprache. Die empirische Aus- Universität Zürich wertung einer repräsentativen Stichprobe von Patienten- Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dossiers zeigt den Form- und Funktionswandel von Rämistrasse 64 Zwangsmassnahmen in den Zürcher Kliniken auf. Aufgrund CH-8001 Zürich des langen Untersuchungszeitraums ist es möglich, den Tel. +41 (0)1 634 36 43 Paradigmenwechsel von der Internierung, die von den marmeier@hist.unizh.ch 1870er Jahren bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte, zu einem allgemeinen Interventionismus im Zeichen von Prävention, Prophylaxe und Rehabilitation Literatur nachzuzeichnen. Dabei wird auch das Aufkommen der Tanner J. Auguste Forel als Ikone der Wissenschaft. Ein Plädoyer für historische Forschung. In: Leist A (Hg). Auguste Forel – Eugenik und Psychopharmaka thematisiert, die einschneidende Auswir- Erinnerungskultur. Zürich: vdf Hochschulverlag, 2006; 81–106 kungen auf die psychiatrische Praxis hatten. Weitere Tanner J. Der «fremde Blick». Möglichkeiten und Grenzen der historischen Kapitel widmen sich der «Irrenrechtsfrage» um 1900, den Beschreibung einer psychiatrischen Anstalt. In: Rössler W, Hoff P (Hg). Sterilisationen in den 1930er Jahren, den gehirnchirurgi- Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang. Heidelberg: Springer, schen Eingriffen (Leukotomien) nach dem Zweiten Welt- 2005; 46–66 krieg sowie der Arbeits- und Beschäftigungstherapie, die Tanner J. Schlusswort zur Studie: Zwangsmassnahmen in der Zürcher dem Leitgedanken einer «sozialen Heilung» verpflichtet Psychiatrie 1870 – 1970. Bericht im Auftrag der Gesundheitsdirektion war. des Kantons Zürich, verfasst von Marietta Meier, Brigitta Bernet, Gisela Hürlimann. Zürich, 2003; 203–211 Historische Wissenschaft ist nicht Politikberatung; gleich- Tanner J. «Keimgifte» und «Rassendegeneration». Zum Drogendiskurs und den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Eugenik. In: Itinera wohl können die Ergebnisse des Projekts den politischen (hg. von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz) Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess im 1999; 21: 249–258 Bereich der Sozial-, Gesundheits- und Wissenschaftspolitik in wichtigen Punkten unterstützen. Über eine allgemeine Sensibilisierung für Fragen der Integration und Ausgren- zung und die Zwangsprobleme in der Psychiatrie hinaus werden auch erstmals zuverlässige Informationen zur Rolle von Psychiatern und medizinischen Institutionen bei inva- siven und irreversiblen Eingriffen wie der Sterilisation und Kastration von Frauen und Männern geboten. Die «Frei- willigkeit» dieser Eingriffe wurde vielfach erzwungen. Nicht zuletzt deshalb hat diese Praxis in den vergangenen Jahren immer wieder Anlass zu politischen Diskussionen gegeben. 12 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
bundenen Ausschlussprozesse zu analysieren, aber auch die Historische Forschung schafft sehr unterschiedlichen Formen der Dynamik von Aus- politisches Orientierungswissen schluss- und Integrationsprozessen im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen zu erforschen. Es gibt kaum eine politische Analyse, kaum eine bundesrät- liche Botschaft oder eine nationalrätliche Debatte, in der Dabei war es zentral, dass die historische Forschung hier nicht zuerst die historische Entwicklung mehr oder weni- nicht nur als die Erforschung einer «Vorgeschichte» aufge- ger ausführlich dargestellt wird. Dennoch ist historische fasst wurde, die alles, was nicht unmittelbar zur aktuellen Forschung in den Nationalen Forschungsprogrammen, politischen oder gesellschaftlichen Lage beizutragen deren Ziel die Untersuchung gesellschaftspolitischer Zu- scheint, ausblendet. Vielmehr wurde es durch die Forschung sammenhänge ist, durchaus nicht die Regel, insbesondere ermöglicht, historische Entwicklungen auch in ihrer Eigen- dann nicht, wenn sie mehr als die «Vorgeschichte» einer logik zu erfassen, Differenzen und Parallelen herauszuar- Entwicklung darstellt. Beim NFP 51 war das anders. Hier beiten und gerade damit zur Analyse und Interpretation wurde die Frage nach der historischen Entwicklung expli- von gegenwärtigen Entwicklungen beizutragen. zit zum Ausgangspunkt des Forschungsprogramms. Bedeutung der Schweizer Forschung für die internationale Desiderat: Erforschung der Eugenik Debatte Am Anfang der konzeptionellen Arbeit für das NFP «Inte- In den internationalen wissenschaftstheoretischen Debat- gration und Ausschluss» Ende der 1990er Jahre stand die ten zeichnet sich eine neue Bewertung der historischen Forderung, die Entwicklung der Eugenik in der Schweiz Eugenik ab. Die Eugenik, die bisher überwiegend als Teil und in engem Zusammenhang damit auch die Geschichte nationalsozialistischer deutscher Politik analysiert wurde, und Kultur der Fahrenden in der Schweiz zu erforschen. wird nun vermehrt als Bestandteil der Entwicklung der Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Wunsch nach bürgerlichen Moderne bewertet, mit welchem die demokra- Perfektionierung der Menschheit in der Eugenik eine wis- tischen Staaten in Europa und den USA um 1900 die senschaftliche Grundlage gefunden. Wissenschaftler, Bevölkerung an den sozialen und nationalen Rändern zu Politiker und Ärzte beanspruchten zu entscheiden, was kontrollieren suchten. Die Radikalisierung der Eugenik im «lebenswertes» oder «lebensunwertes» Leben und «gutes» Nationalsozialismus stellt dabei eher eine Ausnahme dar. oder «schlechtes» Erbgut war. Eugenik, eigentlich «Lehre Die Erforschung «eugenischer Netzwerke» in demokrati- vom guten Erbe», wollte Theorien und Ergebnisse der schen Staaten erscheint besser geeignet, das «normale» Biologie dazu nutzen, das genetische Material sozialer Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik und Verwal- Gruppen und ganzer Nationen zu «optimieren». In der tung bei der Etablierung und Umsetzung eugenischer Schweiz erfolgten die ersten eugenisch begründeten Konzepte und Massnahmen zu belegen. Für diese Neu- Kastrationen um 1890, die ersten Sterilisationen um 1900, bewertung sind Schweizer Forschungsergebnisse von gros- meist aufgrund unscharfer Diagnosen wie «Psychopathie» ser Bedeutung. Die der Eugenik zugrunde liegende biologi- oder «Schwachsinn». Neben psychiatrischen Krankheiten sche Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie die dar- wie Epilepsie oder Schizophrenie wurde auch uner- aus abgeleiteten Lösungsansätze zur Bewältigung sozialer wünschtes soziales Verhalten – wie «Trunksucht», «Halt- Probleme schlugen sich in der Schweiz seit Beginn des 20. losigkeit», «sexuelle Zügellosigkeit», «Liederlichkeit» oder Jahrhunderts vor allem in behördlichen Verfahren, kanto- «Verschwendungssucht» – als Ausdruck einer erblichen nalen Gesetzen, Richtlinien und institutionellen Praktiken Belastung verstanden. nieder, fanden aber nur teilweise Eingang in die nationale Politik und Gesetzgebung. In diesem Zusammenhang ist Zwar war aus der historischen Forschung bekannt, dass die Situation im Kanton Basel-Stadt von besonderem In- auch in der Schweiz eugenisches Gedankengut sehr schnell teresse, weil es hier eine starke Ausprägung erbpsychiatri- Verbreitung gefunden hatte; die Finanzierung einer detail- scher und eugenischer Forschung gab und mit der Eugenik lierten Analyse der Entwicklung in verschiedenen Regio- Ende der 1930er Jahre spezifische Gesetze und Richtlinien nen der Deutschschweiz blieb allerdings lange ein Problem, legitimiert wurden. Ein Netzwerk verschiedener Institutio- auch dann noch, als das Bekanntwerden des Ausmasses nen und Behörden sorgte für deren Durchsetzung. eugenischer Massnahmen in den skandinavischen Ländern das öffentliche Interesse auch in der Schweiz erhöhte. Erst durch die Einrichtung des NFP 51 wurde es möglich, diese Entwicklung fundiert zu untersuchen und die damit ver- NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006 13
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