NFP 51 Integration und Ausschluss - Bulletin Nr. 3, Mai 2006 - SNF

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NFP 51                Integration und Ausschluss
                                        Bulletin Nr. 3, Mai 2006
                                        www.nfp51.ch

                                                       Schwerpunkt
Editorial

Fragen an die Geschichte sind für das NFP 51
                                                       Die strukturelle Prägung der
von besonderer Bedeutung. Im Dialog mit den            Sozialpolitik durch die Geschichte
anderen Sozial- und Humanwissenschaften
tragen Historikerinnen und Historiker wesent-             Prof. Dr. Brigitte Studer, Bern
lich zu fundierterem und differenzierterem
Wissen über moderne Gesellschaften und ihre
Dynamik bei.                                           Nationale Forschungsprogramme sind von ihren Themen-
                                                       und Problemstellungen her gegenwartsbezogen und von
Dies ist nicht nur für die Wissenschaft selbst,
                                                       ihren Erkenntnisinteressen her weitgehend anwendungs-
sondern auch für Gesellschaft und Politik von
                                                       orientiert. Was können da historische Projekte beitragen?
Nutzen. Drei Gründe seien hier genannt:
Erstens sind sozialpoliti-
                                                       Das NFP 51 «Integration und Ausschluss» war von Anfang
sche Interventionen ihrer
                                                       an stark historisch ausgerichtet. Seine Entstehungs-
Natur nach langfristig
                                                       geschichte ist verwoben mit der Forderung, die Aktion
angelegt. Sozialstaaten
                                                       «Kinder der Landstrasse» aufzuarbeiten, mit der die Stiftung
sind schwere Tanker, die
                                                       Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 versucht hatte, die
ihre Richtung nur lang-
                                                       Schweizer Jenischen sesshaft zu machen. Die 1996 vom
sam und kaum merklich
                                                       Bundesamt für Kultur (BAK) in Auftrag gegebene Vorstudie
ändern. Ökonomen und
                                                       der Historiker Walter Leimgruber, Thomas Meier und Roger
Politikwissenschaftler
                                                       Sablonier hat erstmals das Ausmass, die Dauer und die
sprechen deshalb von
                                                       Methoden der systematischen Kindswegnahmen gezeigt
«Pfadabhängigkeit» – vom Schwergewicht
                                                       (Leimgruber et al. 1998). Um jedoch die gesellschaftliche
etablierter Institutionen und der Zählebigkeit
                                                       und institutionelle Verankerung dieser Praxis offenzulegen,
früherer Weichenstellungen. Wer den Födera-
                                                       aber auch um die Schicksale der Betroffenen zu rekonstru-
lismus modernisieren, die Altersversorgung
                                                       ieren, schien ein Forschungsprogramm notwendig. Ein sol-
reformieren oder die Bürokratie verschlanken
                                                       ches wurde auch seitens der Betroffenen gefordert. Es kam
will, weiss, wovon die Rede ist.
                                                       schliesslich im Jahr 2000 dank des Engagements von
Zweitens hat unbewältigte Geschichte – um-             Bundesrätin Ruth Dreifuss zustande und wurde im Jahr
gangssprachlich häufig als «Leiche(n) im Keller»       2002 ausgeschrieben.
bezeichnet – die Eigenschaft, von Zeit zu Zeit
zurückzukehren. Mit Hilfe historischer Analysen        Die besondere Rolle der historischen Forschung im NFP 51
kann das komplexe Zusammenwirken von Ver-              ist nicht nur durch die Genese, sondern auch durch die
drängung und Mythenbildung, individueller              Thematik des Forschungsprogramms begründet. Bei der
Erfahrung und Erinnerungen sowie             t         Frage nach Integration und/oder Ausschluss von Einzelnen
                                                       oder Gruppen geht es letztlich um die Grundlagen der
                                                       Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
                                                       Die Art und Weise und der Grad der sozialen Eingliederung
                                                       der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wie auch der Aus-
                                                       länderinnen und Ausländer – die zwar nie ganz ausgeschlos-
                                                       sen, aber stets auch nur bedingt integriert waren – werden
                                                       von historisch gewachsenen Denkmustern, Perzeptionen
Gegenwart gezogen werden. Die Historie befasst sich mit
    t gesellschaftlicher Bewusstwerdung der Hypo-
                                                               dem konkreten Einzelfall. Ihre Aussagekraft bezieht sie aus
    theken der Vergangenheit besser verstanden
                                                               der historisch genauen Kontextualisierung. Dieselben Aus-
    werden. Als Archäologen, Kritiker und Aufklärer
                                                               gangsbedingungen können in einer anderen Situation
    auch der «Rückseite des Sozialstaats» (Brigitte
                                                               andere Effekte zeitigen. Das hindert freilich nicht, struktu-
    Studer) sind die Geschichtswissenschaften
                                                               relle Kontinuitäten in den Denk- und Handlungsmustern
    gefragt wie nie.
                                                               herauszuarbeiten. Die historische Rekonstruktion kann
    «Historische Wissenschaft ist nicht Politikbera-           zudem dank der empirischen und konzeptuellen Multi-
    tung», unterstreicht Jakob Tanner in seinem                perspektivität Muster und Folgen sozialer Interaktionen
    Beitrag. Aber ebenso wie er betonen alle Autorin-          aufzeigen, die den Zeitgenossen verdeckt geblieben sind
    nen und Autoren dieses Bulletins den Wert                  oder zumindest nicht in ihrem realen Ausmass bewusst
    historischen Wissens für heutige Entscheidungs-            waren. Im Fall der Aktion «Kinder der Landstrasse» handelt
    prozesse. Und dies ist der dritte Grund, denn              es sich um die Tragik der individuellen Schicksale: bei den
    die Geschichte gibt Einblick in ein gesellschaft-          Kindern um die Fremdplatzierung und die Schutzlosigkeit
    liches Laboratorium, in dem politische Leitbilder,         gegenüber physischer, psychischer und sexueller Gewalt,
    soziale Trends und individuelle Biographien                bei den Eltern um den Verlust der Kinder und die Recht-
    von ihrem Ende her betrachtet werden können.               losigkeit gegenüber den behördlich-institutionellen Mass-
    Sinn für langfristige Entwicklungen, Achtung               nahmen.
    vor menschlichen Schicksalen und ein Bewusst-
    sein der Komplexität gesellschaftlicher Verhält-           Die normativen Grundlagen der sozialen Fürsorge
    nisse: das kann man aus Geschichte lernen –                Hinter dem Handeln der Stiftung Pro Juventute standen
    wenn man will.                                             Normen wie die Sesshaftigkeit und die so genannte bürger-
                                                               liche Familienordnung – Normen, die aus der zeitlichen
    Prof. Dr. Christoph Conrad,
                                                               Distanz fragwürdig erscheinen, die aber damals sozial breit
    Mitglied der Leitungsgruppe des NFP 51
                                                               abgestützt gewesen sein dürften. Nun beruht jede Inter-
                                                               vention von Behörden, von Stiftungen oder auch von priva-
                                                               ten Organisationen im sozialen Bereich auf normativen
                                                               Vorstellungen und Erwartungen, die stets sowohl integrativ
                                                               als auch ausschliessend sind. Ausschliessend sind sie für
                                                               diejenigen, die ihnen nicht oder vermeintlich nicht ent-
                                                               sprechen können oder nicht entsprechen sollen, wie es im
                                                               20. Jahrhundert bei den angeblich zu wenig assimilierten
                                                               Ausländern der Fall war. Es ist zwar keineswegs sicher, ob
                                                               das Wissen um diesen Effekt in der Vergangenheit die
                                                               Verantwortlichen vor zukünftigen Fehlern bewahren kann,
                                                               eine Sensibilisierung für die möglichen Konsequenzen
und Stereotypen, Handlungsmodellen und politischen             ihres Handelns ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung
Praxen bestimmt. Es ist daher auch für politische Entschei-    dafür.
dungsträger wichtig, sich der Logik eingespielter Prozesse
bewusst zu werden. Nicht immer stand am Ende eines Ent-        Die Geschichte zeigt, dass die Praktiken der Sozialpolitik
scheidungsprozesses die beste Lösung, sei es, weil das poli-   aufgrund ihres Normierungsanspruchs, d. h. ihre Ziel-
tische Handeln bekanntlich nie ganz frei von Interferenzen     setzung als Norm zu definieren, in vielen Fällen stigmati-
durch Partikularinteressen ist, sei es, weil politische Be-    sierten, diskriminierten und sogar kriminalisierten. Dieser
schlüsse stets im Kontext zeittypischer Paradigmen und         Aspekt der Geschichte des Sozialstaates – sozusagen seine
ihrer jeweiligen blinden Flecken zustande kommen. Histo-       Rückseite – ist für die Schweiz noch ungenügend erforscht.
risches Wissen kann sich unter Umständen als nützlich          Mehrere Projekte des NFP 51 leisten dazu nun einen wich-
erweisen, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden,        tigen Beitrag. Historische Studien zur sozialen Fürsorge
um Verantwortlichkeiten zu bestimmen oder um zumindest         sind in der Schweiz auch deshalb noch selten, weil die
die jeweiligen Optionen zu kennen.                             Fürsorge vorwiegend in die Zuständigkeit der Gemeinden,
                                                               manchmal auch der Kantone fiel und daher in eine Vielzahl
Es soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass hier        unterschiedlichster Politiken und Rationalitäten, Verwal-
nicht gemeint ist, es könnten aus der Vergangenheit mittels    tungsinstanzen und Agenturen zerfällt. Da zudem trotz
der Geschichtsschreibung ohne weiteres Lehren für die          föderaler Strukturen im Lauf des 20. Jahrhunderts zwischen

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den diversen Fachgebieten immer dichtere institutionelle       unterstellten Arbeitnehmer zuständig und versicherte bis
Vernetzungen und kommunikative Verflechtungen auf re-          in die 1980er Jahre nur etwa die Hälfte der Arbeiter. Für
gionaler, eidgenössischer und internationaler Ebene ent-       alle anderen waren private Versicherer oder kantonale
standen sind, erhöht sich die Komplexität des Gegenstands      Einrichtungen zuständig (vgl. Lengwiler 2002).
noch zusätzlich. Eine weitere Besonderheit der Schweiz,
die die historische Forschung auf diesem Gebiet erschwert,     Das Schweizer Sozialversicherungsmodell weist auch hin-
stellt der hohe Anteil privater Organisationen in der          sichtlich seiner Finanzierung Besonderheiten auf, die his-
Sozialpolitik dar. Ein Beispiel dafür ist die Stiftung Pro     torisch entstanden sind. So beruht es nur zu vergleichsweise
Juventute, die 1912 von der Schweizerischen Gemeinnützi-       kleinen Teilen auf sozialen Umverteilungsmechanismen.
gen Gesellschaft gegründet wurde und noch heute eine           Dies ist besonders deutlich bei der Krankenversicherung
regional diversifizierte, beeindruckende Angebotspalette       mit den Pro-Kopf-Prämien wie bei den nach dem Kapital-
aufweist, die von der sozialpädagogischen Familienbeglei-      deckungsverfahren funktionierenden Pensionskassen.
tung über die Organisation von Ferienlagern und Waisen-        Auch bei Finanzierungsmodellen über Lohnprozente müs-
unterstützung bis zur Stipendienvergabe reicht.                sen die Versicherten in der Schweiz im Vergleich zu ande-
                                                               ren Ländern einen höheren Anteil tragen, wohingegen der
Die historischen Besonderheiten der Schweizer                  Anteil der Arbeitgeber eher niedrig ist (Zahlen siehe Flora
Sozialversicherungen                                           et al. 1983; Guex und Studer 2002).
Der Public-Private-Mix der Finanzierung und der Aufga-
benverteilung charakterisiert auch die zweite Dimension        Schliesslich tragen fiskalische Einnahmen des Staates in
des Schweizer Sozialstaats, die Sozialversicherung, in der     der Schweiz nur in geringem Mass zur Finanzierung der
die Beiträge (Prämien) der Versicherten – handle es sich       Sozialversicherungen bei. Auch Ende der 1990er Jahre
nun um die gesamte Bevölkerung (Obligatorium) oder um          machen Steuern immer noch weniger als die Hälfte der
die Gruppe der zu einem bestimmten Versicherungszweig          Einnahmen (resp. des gesamten Finanzvolumens) aus (kri-
Zugelassenen – und ihr Leistungsanspruch nach einem            tisch zu diesen Finanzierungsmodi: Flückiger und Suarez
bestimmten Schlüssel in ein Verhältnis gesetzt werden.         1996). In diesem Zusammenhang stellt sich im Übrigen die
                                                               von der Geschichtswissenschaft noch kaum behandelte
Dass die Schweizer Sozialausgaben ab den 1970er Jahren         Frage der Wohlfahrtsleistungen über Steuervergünstigun-
angestiegen sind und nun im europäischen Vergleich im          gen.
oberen Drittel liegen, wird von der Forschung nicht unbe-
dingt der Entwicklung des Sozialversicherungswesens            Die Zuordnung des Schweizer Sozialstaats zu einem
zugeschrieben. Mathieu Leimgruber (2005) sieht den Grund       Typus des «Wohlfahrtsregimes»
viel eher in der Integration in die Soziale Wohlfahrt von      Von allen zum internationalen Vergleich entwickelten
Kranken- und Pensionskassen, die von privaten Anbietern        Ansätzen ist der wohl einflussreichste derjenige von Gøsta
dominiert sind und die über die Äufnung von Fonds und          Esping-Andersen (1990). Er unterscheidet
einen hohen direkten Kostenanteil der Versicherten statt       – das Bismarcksche oder konservative Modell, das auf die
über steuerliche Umverteilungen und Risikoausgleich              Erwerbstätigkeit zentriert und wenig redistributiv ist: die
finanziert sind. Die grosse Rolle von Privatversicherungs-       Pensionsrenten wie die Arbeitslosengelder sind auf der
anstalten in der Altersvorsorge hat in der Schweiz Tradition     Basis der früheren Löhne berechnet;
und setzte schon Ende des 19. Jahrhunderts ein. Ihre           – das universalistische oder sozialdemokratische Modell,
Funktion ging von Anfang an über das Angebot von Lebens-         das stark umverteilend wirkt: das fundamentale Prinzip
versicherungen oder kollektiven Altersvorsorgeeinrich-           bildet nicht die Sozialversicherung, sondern die Offerte
tungen für die Privatwirtschaft hinaus. Kleine Gemeinden,        von universellen Dienstleistungen nach Mittelschicht-
die oft nicht in der Lage waren, eine eigene Pensionskasse       standard (Schweden, Dänemark, Norwegen gelten hier als
zu führen, übertrugen diese Aufgabe in vielen Fällen einer       repräsentativ);
Privatversicherung. So spielen die privaten Anbieter auch      – das Markt- oder liberale Modell, dessen Logik auf Markt-
in den Vorsorgeeinrichtungen der öffentlichen Verwaltung         mechanismen gründet; der Staat interveniert nur subsi-
eine gewisse Rolle.                                              diär, wenn die Marktmechanismen wie auch die familiären
                                                                 Solidaritäten nicht greifen.
Die Rolle der privaten Anbieter hat auch in der Unfallver-
sicherung Tradition. Lange vor Einführung der Schweizeri-      Die Schweiz wird dem Markt- oder liberalen Modell zuge-
schen Unfallversicherungsanstalt (suva) waren private          rechnet. Diese Zuordnung trifft jedoch offensichtlich nicht
Unfallversicherer im Geschäft und blieben es auch danach.      ganz zu, denn ebenso lassen sich Elemente des universalis-
Denn die suva war anfänglich nur für die dem Fabrikgesetz      tischen und des konservativen Modells ausmachen. Das

                                                                                           NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006   3
erklärt sich m.E. aus der langen Entstehungszeit des           1941 betrug die weibliche Sicherungsquote im Vergleich zu
Schweizer Sozialstaats (von einem Wohlfahrtsstaat lässt        derjenigen der Männer in den Pensionskassen im öffent-
sich erst seit dem Aufholschub der letzten Jahrzehnte spre-    lichen Bereich 58 % und in der Privatwirtschaft 49 %. 1970
chen), die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann      lagen die entsprechenden Prozentsätze bei 56 und 37.
und bis zur Einführung einer Mutterschaftsversicherung
2004 reicht, sowie den zahlreichen beteiligten Akteuren mit    Wissensdefizite und Forschungsdesiderata
ihren je eigenen Interessen und Konzepten.                     Es gibt noch viele Lücken in der Geschichte des Schweizer
                                                               Sozialstaats. Wissensdefizite bestehen zum Beispiel im
Einen vierten Typus von Wohlfahrtsregime hat kürzlich          Hinblick auf die Stellung der Ausländerinnen und Aus-
Michael Opielka vorgestellt. Für diesen Typus, den er          länder. Das 1934 in Kraft getretene Bundesgesetz über Auf-
«Garantismus» nennt, sei die Schweizer Sozialpolitik gera-     enthalt und Niederlassung der Ausländer führte einen
dezu paradigmatisch. Aus historischer Perspektive erscheint    Schutz des nationalen Arbeitsmarktes ein und bedeutete de
diese Zuordnung allerdings fragwürdig. Gerade was die von      facto einen Teil-Ausschluss von gewissen Versicherungen
Opielka angeführte Krankenversicherung angeht, hat sich        (wie etwa von der Arbeitslosenversicherung, die an konti-
die Schweiz bereits 1911 für eine «Volksversicherung» und      nuierliche Erwerbsarbeitsverhältnisse gebunden war).
gegen eine reine Erwerbstätigenversicherung entschieden        Eine sozialrechtliche Gleichstellung ausländischer Arbeits-
(allerdings ohne Obligatorium, was erst 1996 mit dem KVG       kräfte mit Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nachgeholt wurde). Auch wenn es zweifellos stimmt, dass        nehmern erfolgte erst nach 1977.
es aus der Integrationsperspektive eine Rolle spielt, ob die
gesamte erwachsene Bevölkerung Teilhaberechte an einer         Die gesamte Sozialstaatskonfiguration der Schweiz ist noch
Versicherung hat oder nicht, ist doch die Frage, auf welchen   wenig erforscht. Was weiter oben für den Bereich der sozi-
finanzierungspolitischen Grundlagen dies geschieht, nicht      alen Fürsorge konstatiert wurde, gilt auch für die Sozial-
ohne Bedeutung. Grundsätzlich mutet eine Zuordnung zu          versicherungen: Das System war schon immer organisato-
einem Wohlfahrtsregime, die sich nur auf die sozialpoliti-     risch und konzeptuell fragmentiert oder, anders formuliert,
schen Felder Alterssicherung und Gesundheit stützt, pro-       charakterisiert durch hohe funktionale Ausdifferenzierung
blematisch an. Die Geschichtsforschung hat hingegen            und institutionelle Delegation. Die Versicherungen, Vor-
schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Schweiz eine       sorgeeinrichtungen, Hilfskassen usw. teilen sich nicht nur
Mischung aus liberalem, sozialdemokratischem und               in staatliche, nichtstaatliche und private Einrichtungen, sie
konservativem Wohlfahrtsregime darstellt (Studer 1998;         sind überdies auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen
Magnin 2002).                                                  (Bund, Kantone, Gemeinden) angesiedelt und basieren auf
                                                               diversen Rechtsformen. Daneben traten stets auch Gewerk-
Dies zeigt sich deutlich aus der Geschlechterperspektive.      schaften, Arbeitgeber, professionelle Gruppierungen usw.
Konservativ geprägt ist jedenfalls die den Sozialversiche-     als Versicherungsträger auf. Noch wenig ist in der dualen
rungen zugrunde liegende Geschlechterordnung (trotz eini-      Struktur des Wohlfahrtsstaates (Sozialversicherung –
ger Korrekturen in den letzten Jahren), wenn man den Grad      öffentliche/private Fürsorge) über die Rolle und die Ver-
der weiblichen Abhängigkeit vom Familienernährer oder          flechtung von intermediären Instanzen und Fürsorge-
umgekehrt den Grad der «Individualisierung» bzw. der           institutionen wie gemeinnützige Vereine, Hilfswerke,
eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen als Krite-        Verbände, Städte etc. bekannt. Last but not least stehen der
rium nimmt (Lewis 1993). Die meisten Sozialversicherungs-      internationale Vergleich des Sozialmodells Schweiz und die
zweige der Schweiz sind auf das Ernährermodell zu-             Erforschung seiner transkulturellen Interdependenzen
geschnitten. Daraus ergibt sich ein «gender gap» in der        noch weitgehend aus.
Versicherungsdeckung. Frauen sind in verschiedenen
Sozialversicherungen weniger gut abgesichert. Historisch       Wenn man davon ausgeht, dass es eine Kovariaton von
trifft das etwa für die Arbeitslosenversicherung (Studer       Wissen und Sozialstruktur gibt, so ist es nicht unerheblich,
2004), für die AHV (Luchsinger 1995) und für die Zweite        die früheren Denk- und Begriffskategorien, die Wahrneh-
Säule zu. Wie Matthieu Leimgruber (2005) belegt, sind          mungsschemata und Lösungsmuster, die sich im Schweizer
Frauen hinsichtlich der Alterssicherung aber nicht nur in      Sozialstaat verstetigt haben, wie auch die gescheiterten
der Privatwirtschaft, sondern gleichfalls, wenn auch weni-     Optionen zu rekonstruieren, um dieses komplexe Gebilde
ger prononciert, im staatlichen Arbeitssektor benachteiligt.   besser zu verstehen. Und bewusst und begründet handeln
                                                               zu können.

4      NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Literatur
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Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und
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Thèse de doctorat, Université de Lausanne, 2005 (unpubl. Ms.)
Leimgruber W, Meier T, Sablonier R. Das Hilfswerk für die Kinder der           Prof. Dr. Brigitte Studer, geboren 1955, Studium
Landstrasse. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro            der Geschichte, Anglistik und Pädagogik an den
Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv, erstellt durch die Beratungs-       Universitäten Freiburg und Lausanne und an der
stelle für Landesgeschichte (BLG) im Auftrag des Eidgenössischen
                                                                               Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales
Departements des Inneren (EDI), hg. vom Schweizerischen Bundesarchiv.
                                                                               in Paris. 1995 – 1997 Lehrbeauftragte an den
Bern, 1998 (Bundesarchiv Dossier 9)
                                                                               Universitäten Zürich und Genf, 1995 ein
Lengwiler M. Kalkulierte Solidarität. Risikoforschung im Sozialstaat
(1870–1970). Habil.-Schr., Universität Zürich, 2002 (unpubl. Ms.)
                                                                               Semester Visiting Professor an der Washington
                                                                               University, St. Louis (USA), WS 2001/2002 –
Lewis J (Hg). Women and social policies in Europe. Work, family and the
state. Aldershot, 1993                                                         WS 2003/2004 Visiting Professor an der
Luchsinger C. Solidarität, Selbständigkeit, Bedürftigkeit: Der schwierige
                                                                               Strathclyde University, Glasgow (GB). Seit 1997
Weg zu einer Gleichberechtigung der Geschlechter in der AHV, 1939–1980.        Ordinaria für Schweizer und Neueste Allgemeine
Zürich, 1995                                                                   Geschichte an der Universität Bern.
Magnin C. Der Alleinernährer. Eine Rekonstruktion der Ordnung der              Sie leitet im Rahmen des NFP 51 mit Dr. Gérald
Geschlechter im Kontext der sozialpolitischen Diskussion von 1945 bis          Arlettaz, Bundesarchiv Bern, ein Forschungs-
1960 in der Schweiz. In: Gilomen HJ, Guex S, Studer B (Hg). Von der            projekt zur Geschichte der Einbürgerung und
Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom
                                                                               Ausbürgerung in der Schweiz: «Die Staatsbürger-
Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Zürich, 2002; 387–400
                                                                               schaft zwischen Konzepten des Nationalen und
Opielka M. Der «weiche Garantismus» der Schweiz. Teilhaberechte in der
                                                                               Ordnung des Sozialen: Aufnahme- und Aus-
Sozialpolitik. In: Bulletin NFP 51, Nr. 2, Dezember 2005; S. 1–6
                                                                               schlusskriterien des ‹Schweizerbürgerrechts›
Studer B. Soziale Sicherheit für alle? Das Projekt Sozialstaat. In: Studer B
(Hg). Etappen des Bundestaates. Die Staats- und Nationsbildung in der
                                                                               von 1874 bis zur Gegenwart».
Schweiz, 1848–1998. Zürich, 1998; 159–186
Studer B. Social policy as gender technology. The construction of the
category of the unemployed in Switzerland in the 1930s. Paper presented        Kontakt
at the Fifth ESSHC in Berlin, March 2004 (unpubl. Ms.)                         Prof. Dr. Brigitte Studer
                                                                               Universität Bern
                                                                               Historisches Institut
                                                                               Länggassstrasse 49
                                                                               CH-3000 Bern 9
                                                                               Tel. +41 (0)31 631 39 45 (Sekretariat)
                                                                               Fax +41 (0)31 631 44 10
                                                                               brigitte.studer@hist.unibe.ch

                                                                                                 NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006   5
Berichte aus den Forschungsprojekten

Von Akten und Menschen – und
dem Umgang mit dem Anderssein
Als Beispiel dafür, welche Rolle Akten bei Diskriminierung
und Ausgrenzung spielen können, wählten wir das von der
Stiftung Pro Juventute getragene «Hilfswerk für die Kinder
der Landstrasse», das zum Ziel hatte, die so genannte
«Vagantität» auszutilgen. Mit Behördenhilfe wurden zwi-
schen 1926 und 1973 über 600 jenische Kinder ihren Eltern                                            Roger Sablonier,
weggenommen, unter Vormundschaft gestellt und in Pflege-                                             Projektleiter

familien, Heimen, Kliniken, Anstalten oder an Arbeitsstellen
untergebracht.

Analysiert werden die vom «Hilfswerk» angelegten umfang-
reichen Akten. Wir interessieren uns nicht nur für die darin
enthaltenen Stigmatisierungen, sondern auch dafür, wie die
Betroffenen mit Stigmatisierungen und Diskriminierungen        Gesellschaftspolitische Bedeutung
umgingen (Stigma-Management). Dazu werden vorhande-            Die gesellschaftspolitische Bedeutung des Projekts liegt auf
ne biografische Aufzeichnungen sowie die Berichte von acht     mehreren Ebenen. So besteht ein Anspruch auf eine Auf-
Betroffenen, die zu ihrer Lebensgeschichte interviewt wur-     arbeitung der Kampagne und ihrer Umstände seitens der
den, in die Untersuchung einbezogen.                           Betroffenen wie seitens einer Gesellschaft, die sich ihrer
                                                               Verantwortung als demokratisches und soziales Gemein-
Wir verfolgen ferner Forschungsinteressen, die allgemei-       wesen stellt. Bei der Aktion «Kinder der Landstrasse» han-
ner Natur sind und auf eine Erweiterung der historischen       delt es sich um einen einzigartigen, in mancherlei Hinsicht
Interpretationsmöglichkeiten abzielen, indem danach ge-        aber eben auch exemplarischen Fall schweizerischer Für-
fragt wird, was mit einem Schriftstück nach dessen Erstel-     sorge- und Minderheitenpolitik. Die Einmaligkeit besteht
lung geschieht, d.h. wie es aufbewahrt und vor allem wie,      in der systematischen Verfolgung einer Minderheit, das
wann, von wem, unter welchen Umständen, zu welchem             Beispielhafte in den dabei angewandten Mitteln. Genauere
Zweck usw. es genutzt wird. Dieses «Schrifthandeln» ist im     Kenntnisse sind deshalb gerade auch im Hinblick auf die
Falle der Akten, mit denen wir es beim «Hilfswerk für die      Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme von grosser
Kinder der Landstrasse» vorwiegend zu tun haben, ausge-        Bedeutung.
prägt und exzessiv.
                                                               Aktenführung – in jeder Verwaltung omnipräsent – ist inte-
Mit unserem Projekt verfolgen wir also zwei Forschungs-        ressanterweise kaum erforscht. Dabei werden in staat-
ziele: Indem wir die Aktenführung bzw. den Zusammenhang        lichen Behörden, in Personalabteilungen von Unterneh-
zwischen Aktenführung und Stigmatisierung untersuchen,         men, in Kliniken, Fürsorge- und anderen Institutionen lau-
möchten wir einen wissenschaftlichen Beitrag zur Aufklä-       fend Informationen zu Personen gesammelt und ausge-
rung institutioneller Ausschlussprozesse und allgemein zur     tauscht. Solche Akten enthalten häufig Wertungen, die mit
Bürokratieforschung leisten. Zum andern verstehen wir          konkreten Auswirkungen für die betreffende Person ver-
unser Projekt auch als Beitrag zu einer wissenschaftlichen     bunden sein können. Indem solche Zusammenhänge auf-
Aufarbeitung «eines der dunkelsten Kapitel in der jünge-       gezeigt werden, soll auch für die Problematik der
ren Schweizer Geschichte» (Ruth Dreifuss), die immer wie-      Aktenführung sensibilisiert werden.
der gefordert und von der Politik in Aussicht gestellt wor-
den ist.                                                       Resultate
                                                               Die Analyse des Aktenmaterials erlaubt erstmals quantita-
                                                               tive Aussagen zum «Hilfswerk». Entgegen der immer wie-
                                                               der genannten Zahl von 619 «Kindern der Landstrasse» ist
                                                               von insgesamt rund 900 auszugehen. Auffallend ist die star-
                                                               ke Vertretung einiger weniger jenischer Familien aus den
                                                               Kantonen Graubünden, St. Gallen und Tessin, ein Umstand,

6      NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Thomas Meier,                     Sara Galle,
Projektleiter                     wissenschaftliche Mitarbeiterin

   der sich vor allem durch die Akquisitionspolitik des «Hilfs-     Das Arsenal von negativ konnotierten Qualifizierungen
   werks» erklärt. Unter den «Kindern der Landstrasse» fin-         bezieht sich auf physische wie psychische Merkmale oder
   den sich aber auch solche nichtjenischer Herkunft.               Störungen, ja deckt sämtliche Facetten einer Person ab. Die
                                                                    Qualifizierungen betreffen die körperliche Erscheinung,
   Ferner wissen wir mehr über Umfang, Art und Struktur des         den Gesundheitszustand, die Körperfunktionen, die Sexua-
   Aktenmaterials sowie über die interne Verwaltung und             lität, das Genussverhalten, die Intelligenz, die schulische
   Funktionsweise des «Hilfswerks». Überraschenderweise             oder Arbeitsleistung sowie den Geistes- und psychischen
   veränderte sich etwa die Aktenführung über den langen            Zustand.
   Zeitraum nur geringfügig.
                                                                    Eine breite Palette von diskreditierenden Zuschreibungen
   Der Vergleich mit Akten der Zürcher Amtsvormundschaft            bezieht sich auf die Persönlichkeitsmerkmale oder den so
   zeigt, zumindest hinsichtlich der formalen Behandlung der        genannten Charakter sowie das entsprechende (soziale)
   «Fälle» signifikante Unterschiede. Was die reine Akten-          Verhalten.
   mässigkeit der Tätigkeit der beiden Institutionen betrifft,
   sind hingegen nur erstaunlich geringe Differenzen auszu-         In den Akten finden sich sodann Etikettierungen als
   machen. Ganz anders präsentieren sich die Verhältnisse in        Angehörige einer bestimmten Familie, sozialen Gruppe oder
   einzelnen Heimen sowie in den aus Laien zusammenge-              Minderheit. Sehr häufig sind schliesslich Kumulationen von
   setzten Vormundschaftsbehörden kleinerer Gemeinden.              Stigmatisierungen, die in Pauschalurteile bzw. Kategori-
                                                                    sierungen münden.
   Eine Besonderheit in ihrer Quantität und Intentionalität
   stellen die vom «Hilfswerk» angelegten Dossiers über             Oft bleibt es nicht bei aktenmässigen Stigmatisierungen
   ganze Familien dar. Sie sind für die Vorgeschichte der ein-      von Mündeln. Es kommt darüber hinaus zu Diskriminie-
   zelnen «Fälle» bedeutsam und belegen, dass das «Hilfs-           rungen, ja selbst zu eigentlichen Pathologisierungen sowie
   werk» eine eigentliche Akquisitionspolitik betrieb, also         Kriminalisierungen mit weit reichenden Folgen für die
   nicht einfach nur Hilfe leistete, sondern gezielt bestimmte      Betroffenen.
   Menschen als «Fälle» definierte und aktiv einer Betreuung
   zuführte.                                                        Folgerungen
                                                                    Die Analyse des historischen Aktenmaterials und die viel-
   Stigmatisierungen finden sich nicht nur in Dokumenten            fältigen Einblicke in aktuelle, höchst unterschiedliche
   des «Hilfswerks», sondern auch in jenen beteiligter Institu-     Praktiken im Umgang mit Akten machen deutlich, dass es
   tionen, namentlich in Behördenkorrespondenz, Heimbe-             für öffentliche und im Auftrag der Öffentlichkeit handeln-
   richten, Gerichtsakten, psychologischen und medizinischen        de Institutionen unbedingt verbindlicher Regelungen im
   Gutachten sowie Krankengeschichten.

                                                                                               NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006   7
Umgang mit Personenakten bedarf, und zwar über den
Datenschutz im engeren Sinn hinaus. Zu regeln sind die
                                                                                   Zwischen Integration und
Anlage und Führung von Personenakten, ferner die                                   Stigmatisierung: Der Umgang der
Einsichtnahme bzw. der Zugang zu solchen Akten und – im
Interesse der Betroffenen wie der Forschung – die Aufbe-
                                                                                   Fürsorge mit gesellschaftlicher
wahrungsfristen. Die Festlegung entsprechender Normen                              Marginalität im 20. Jahrhundert
und eine institutionalisierte Aufsicht sind dringende politi-
sche Desiderate.                                                                   Das System des Wohlfahrtsstaates, das nach 1945 auch in
                                                                                   der Schweiz schrittweise eingeführt wurde, versucht, einen
                                                                                   Teil der Armutsrisiken durch ein Netz von Sozialversiche-
    Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Konstruktionen von                          rungen abzufedern und auf diese Weise eine Stigma-
    Identität und Differenz»: Aktenführung und                                     tisierung von Menschen in Not zu vermeiden. Seit dem Ende
    Stigmatisierung. Institutionelle Ausschlussprozesse am                         der Hochkonjunktur ist dieses System jedoch mit wachsen-
    Beispiel der Aktion «Kinder der Landstrasse» 1926–1973                         den Problemen konfrontiert. Während Politiker das Ende
    Laufzeit: 01.07. 2003–31.12.2006                                               des Ausbaus des Sozialstaates proklamieren, entstehen an
                                                                                   den Rändern der reichen Industriegesellschaften soziale
    Projektverantwortliche                                                         Problemzonen, mit denen sich unter anderem die öffentli-
    Prof. Dr. Roger Sablonier                                                      che Fürsorge auseinander setzen muss. Immer wieder wer-
    Historisches Seminar der Universität Zürich                                    den Stimmen laut, die ein hartes Durchgreifen gegen
    Karl-Schmid-Strasse 4                                                          Personen fordern, welche des Missbrauchs sozialstaatlicher
    CH-8006 Zürich                                                                 Leistungen verdächtigt werden. Die Behörden, namentlich
    Tel. +41 (0)44 634 38 56                                                       die Fürsorgestellen, sind dadurch mit widersprüchlichen
    sablon@hist.unizh.ch                                                           Anforderungen konfrontiert: Einerseits wird von ihnen
                                                                                   eine effiziente, kostengünstige und missbrauchsresistente
    Dr. Thomas Meier                                                               Verwaltung der sozialen Probleme verlangt, andererseits
    Historisches Seminar der Universität Zürich                                    müssen sie ihre Interventionen und deren Folgen vermehrt
    Culmannstrasse 1                                                               auch ethisch rechtfertigen können.
    CH-8006 Zürich
    Tel. +41 (0)44 634 28 50                                                       Hier setzt unser Forschungsprojekt an. Es untersucht die
    meiertho@hist.unizh.ch                                                         Veränderungen der Rolle von Fürsorge und professioneller
    und                                                                            Sozialarbeit, den Wandel ihrer Leitbilder und ihrer Prakti-
    BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte AG                                    ken und fragt nach Selbstdefinitionen und Handlungs-
    Im Rank 146                                                                    perspektiven der Betroffenen. Während das eine Teilprojekt
    CH-6300 Zug                                                                    die Debatten und die Selbstreflexion der sich professiona-
    Tel.+41 (0)41 710 70 88                                                        lisierenden Fürsorge in der Schweiz von der Jahrhundert-
    www.landesgeschichte.ch                                                        wende bis in die 1950er Jahre in den Blick nimmt, befasst
                                                                                   sich das zweite Teilprojekt anhand von Akten der öffent-
                                                                                   lichen Fürsorge der Stadt Bern mit der Praxis und, soweit
    Literatur                                                                      die Akten darüber Aufschluss geben, mit der Problemsicht
    Meier T. Die Verfolgung der Jenischen in der Schweiz durch das «Hilfswerk
                                                                                   und den Strategien der Betroffenen im Zeitraum zwischen
    für die Kinder der Landstrasse» (1926–1973). In: Sedlaczek D, Lutz T,
                                                                                   1920 und 1960. Zusätzlich werden die sich wandelnden
    Puvogel U, Tomkowiak I (Hg). «minderwertig» und «asozial». Stationen der
    Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich, 2005; 157–178               institutionellen Rahmenbedingungen der Fürsorge in der
    Galle S, Meier T. Stigmatisieren, Diskriminieren, Kriminalisieren.
                                                                                   Stadt Bern untersucht. Die parallele Analyse von Theorie-
    Zur Assimilation der jenischen Minderheit in der modernen Schweiz.             bildung, Praxis und institutioneller Politik erlaubt interes-
    In: Opitz C, Studer B, Tanner J (Hg). Kriminalisieren – Entkriminalisieren –   sante Einblicke in das Zusammenspiel und die Wechsel-
    Normalisieren. Zürich, 2006 [im Druck]                                         wirkungen zwischen den drei Ebenen.
    Meier T. Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs in der Schweiz 1850–1970.
    In: Herbert U, Zimmermann M (Hg). Zwischen Erziehung und Vernichtung.          Die in unserem Projekt aufgeworfenen Fragen sind für die
    Zigeunerforschung und Zigeunerpolitik im Europa des 20. Jahrhunderts.
                                                                                   Schweiz noch kaum bearbeitet. Historische Untersuchun-
    Stuttgart, 2006 [im Druck]
                                                                                   gen über die professionelle Sozialarbeit und ihre theoreti-
                                                                                   schen Konzepte fehlen fast vollständig, und auch die Praxis
                                                                                   der Sozialfürsorge wurde historisch erst punktuell aufgear-
                                                                                   beitet.

8        NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Unsere bisherige Arbeit hat gezeigt, dass es sich hier um     tinnen und verwiesen auf die soziale Mütterlichkeit, kraft
ein sehr lohnendes Feld historischer Forschung handelt, bei   derer sie über eine genuine Eignung für die soziale Arbeit
dem wir nicht nur auf aufschlussreiche Veränderungen von      zu verfügen beanspruchten. Die Expertinnen und Experten
Leitbildern, Problemsichten und Deutungsmustern, von          debattierten – durchaus in Konkurrenz miteinander – sozi-
Praktiken, Strategien und Politiken stossen, sondern auch     alarbeiterisches und fürsorgerisches Handeln, verhandel-
auf erstaunliche Persistenzen. Namentlich das Spannungs-      ten Problemdiagnosen, entwickelten Handlungsstrategien
feld zwischen Integration und Ausschluss erweist sich als     und definierten Politiken.
durchgehendes Element in der theoretischen Reflexion

                           Brigitte Schnegg                   Gaby Sutter                          Sonja Matter

und in der Praxis von Fürsorge und Sozialarbeit. Auch der     Die Forderung, die «Armengenössigen» in die Gesellschaft
Widerstand der Betroffenen gegen Stigmatisierung durch        zu integrieren, spielte in diesen Debatten eine wichtige
die Fürsorgeabhängigkeit durchzieht die Akten wie ein         Rolle. Durch neue Formen der Unterstützung, die nicht
roter Faden.                                                  mehr den Charakter von Almosen hatten, sollte eine kollek-
                                                              tive Stigmatisierung vermieden werden. Eine detaillierte
Die Erkenntnis, dass der Staat sich um die soziale Integra-   Überprüfung jedes Einzelfalls sollte der individuellen
tion seiner marginalisierten BürgerInnen bemühen muss,        Problemlage gerecht werden und die Unterstützung sollte
löste um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach und       aus der Not helfen. Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte
nach alte Vorstellungen ab, denen zufolge die Obrigkeit       sich die «rationelle Einzelfallhilfe» als Methode in der
lediglich für die Linderung der Not der Armen verantwort-     Sozialhilfe. Praktiziert wurde sie, indem über jede zu unter-
lich war. Die traditionellen Formen der Armutsbekämpfung      stützende Person weitläufige Informationen beschafft und
galten zunehmend als ungenügend. Die Kritik an den her-       umfangreiche Dossiers anlegt wurden. Die Folgen davon
kömmlichen Praktiken verband sich mit Forderungen nach        waren indes zwiespältig: Da man Vermieter, Nachbarn oder
mehr Professionalität und verdichtete sich gegen Ende des     Arbeitgeber über die Klientinnen und Klienten befragte,
19. Jahrhunderts zu einem eigentlichen Expertendiskurs.       wurde deren Notlage nicht nur publik, sondern auch
Die jungen Wissenschaften Ökonomie und Soziologie             Gegenstand von Klatsch und Gerüchten. Die daraus resul-
begannen, sich mit den verarmten und verelendeten             tierende Stigmatisierung wurde noch dadurch verstärkt,
Gruppen und Individuen der Gesellschaft zu befassen, und      dass nicht Bargeld gegeben, sondern Einkaufsgutscheine
lieferten damit nicht zuletzt den politischen Behörden das    ausgestellt oder Mietzuschüsse direkt an die Vermieter
Expertenwissen, auf das sie bei der Lösung der brennen-       gezahlt wurden. Immer wieder kämpften die Betroffenen
den «sozialen Frage» angewiesen waren.                        deshalb für Barauszahlungen, um der Demütigung im
                                                              Quartierladen oder gegenüber ihren Vermietern zu entge-
Auf dem neuen Feld dieses Expertenwissens bewegten sich       hen.
verschiedene Gruppen. Neben den Wissenschaften positio-
nierten sich auch die Vertreter der öffentlichen Armen-       Eine Sensibilisierung für die negativen Implikationen der
pflege als Experten. Die in der Wohltätigkeit ehrenamtlich    auf Kontrolle und Überwachung basierenden Fürsorge ent-
engagierten Frauen aus dem Bürgertum schufen Frauen-          wickelte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die
schulen für Soziale Arbeit. Auch sie sahen sich als Exper-    UNO, die dabei eine entscheidende Rolle spielte. Im Zuge

                                                                                          NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006   9
ihres Engagements für die Menschenrechte forderte die          Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Soziale Arbeit und
neu gegründete Weltorganisation einen menschenrechts-          Sozialpolitik»: Staatliche Fürsorge und gesellschaftliche
konformen Umgang mit den sozialen Rand- und Problem-           Marginalität. Geschlechterordnung, Leitbilder und
gruppen. Die Methode des «Social Case Work», die sich an       Interventionspraktiken der Sozialarbeit in der Stadt Bern des
der Interaktion von Arzt und Patient orientiert und auf eine   ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts
gemeinsame Erarbeitung von partnerschaftlich-konsen-           Laufzeit: 01.09.2003 – 31.10.2006
suellen Lösungen für die Betroffenen setzt, schien diesen
Ansprüchen zu entsprechen. Sie wurde in den 1950er             Projektteam
Jahren als «demokratische Sozialarbeit» breit propagiert.      Projektverantwortliche
Fachleute aus Europa erhielten an Weiterbildungskursen,        Dr. Brigitte Schnegg
die auch von zahllosen Sozialarbeiterinnen aus der Schweiz     Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und
in den USA besucht wurden, Gelegenheit, sich damit ver-        Geschlechterforschung der Universität Bern
traut zu machen. Der Siegeszug des «Social Case Work» in       Hallerstrasse 12
den schweizerischen Expertenkreisen ist eindrucksvoll. Im      CH-3012 Bern
Laufe weniger Jahre entwickelte sich ein Konsens über          Tel. +41 (0)31 631 40 25
Sinn und Notwendigkeit der neuen Methode. Wie diese            brigitte.schnegg@izfg.unibe.ch
Einigkeit im Detail zustande kam, warum das Interesse und
die Akzeptanz so gross waren und wie die Methode               Teilprojekt Fallakten
schliesslich in die Praxis umgesetzt wurde, soll in den ver-   Dr. Gaby Sutter
bleibenden Monaten untersucht werden.                          Dammerkirchstrasse 47
                                                               CH-4056 Basel
Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaft-    Tel. +41 (0)61 321 58 85
lichen Transformationsprozesse, die mit der Marginalisie-      gaby.sutter@izfg.unibe.ch
rung breiter gesellschaftlicher Gruppen einhergeht, und
angesichts der Debatten über einen Umbau des Sozial-           Teilprojekt Diskurse
staates scheint uns die Forderung nach einer demokrati-        Sonja Matter, lic. phil.
schen, auf Respekt und Anerkennung basierenden Form            Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und
der Sozialfürsorge von besonderem Interesse. Die Einsicht      Geschlechterforschung der Universität Bern
in die Notwendigkeit, Ausgrenzung und Demütigung der           Hallerstrasse 12
sozial und wirtschaftlich Schwachen zu vermeiden, um eine      CH-3012 Bern
stabile Demokratie zu gewährleisten, ist nicht zuletzt vor     Tel. +41 (0)31 631 52 68
dem Hintergrund der Katastrophe des Nationalsozialismus        sonja.matter@izfg.unibe.ch
gereift. Sie scheint uns für die Bewältigung der aktuellen
Herausforderungen genauso bedeutsam wie die histori-           Publikation aus dem Projekt
schen Erfahrungen, die mit einem auf Kontrolle und Über-       Matter Sonja. Wissenstransfer und Geschlecht. Die
wachung basierenden Umgang mit Fürsorgeabhängigen              Rezeption «amerikanischer» Methoden in der Schweizer
gemacht worden sind.                                           Sozialarbeit der 1950er Jahre. In: Ariadne. Forum für
                                                               Frauen- und Geschlechtergeschichte. Heft 49: Women in
                                                               Welfare – Soziale Arbeit in internationaler Perspektive.
                                                               Kassel, 2006 (im Druck)

                                                               Ausgewählte Literatur
                                                               Fraser N. Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt
                                                               a. M., 1994
                                                               Gilomen HJ, Guex S, Studer B (Hg). Von der Barmherzigkeit zur Sozial-
                                                               versicherung. Umbrüche und Kontinuitäten bis zum 20. Jahrhundert.
                                                               Zürich. 2002
                                                               Ramsauer N. «Verwahrlost». Kindswegnahme und die Entstehung der
                                                               Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900–1945. Zürich, 2000
                                                               Rudloff W. Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und
                                                               Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1919–1933. Göttingen, 1998

10     NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
Zwangmassnahmen und
psychiatrische Ordnung
1979 publizierte der französische Sozialwissenschaftler
Robert Castel eine einflussreiche Studie mit dem Titel «Die
psychiatrische Ordnung», in der er auf die Wechselwir-
kungen zwischen Ausgrenzungs- und Integrationsmecha-
nismen hinwies. Ordnung lässt sich nur stabilisieren, wenn
sich Konformität nach innen und Abgrenzung nach aussen
ergänzen; der Ordnungsgedanke fusst auf einer mentalen
Disposition, in der sich Sicherheitsbedürfnisse und Gefühle
der Bedrohung wechselseitig bedingen. Stellten kritische
psychiatriegeschichtliche Untersuchungen zunächst die
                                                                         Jakob Tanner und Marietta Meier
mit dem Aufkommen psychiatrischer Anstalten in der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich verstärkende Exklu-
sion durch Internierung ins Zentrum, so betont Castel dage-
gen die integrierenden Aspekte und analysiert die
Verwobenheit der modernen Psychiatrie mit der Organi-          chiatriepatienten einschliesst, oder aber eine umfassend
sation gesellschaftlicher und politischer Macht. Norm und      normalisierte «Disziplinargesellschaft», für deren Funk-
Normalisierung erweisen sich damit als zentrale Analyse-       tionslogik das Anstaltsmodell paradigmatisch ist.
kategorien. In einer «psychiatrisablen Gesellschaft» wird,
so Castels These, der Wahnsinn in ein Verwaltungsobjekt        Eine differenzierte Sichtweise, wie sie unser Projekt
transformiert und zum Gegenstand therapeutischer               anstrebt, wird möglich, wenn die «Ordnung des Selbst» –
Eingriffe gemacht, die auf Heilung, d.h. auf Reintegration     Subjektivierungsformen, Ichbildung, Persönlichkeitsent-
ausgerichtet sind. In diesem Vorgang verschränken sich         wicklung – auf die «gesellschaftliche Ordnung» bezogen
Inklusions- und Exklusionstendenzen.                           wird. Die «psychiatrische Ordnung» lässt sich dann als
                                                               intermediäres Phänomen begreifen: Sie ist mit Menschen
Unser Projekt «Internieren und Integrieren. Zwang in der       befasst, bei denen eine Selbststörung, d. h. eine Geistes-
Psychiatrie: Der Fall Zürich, 1870 –1970», das von Marietta    krankheit, diagnostiziert wurde und die mittels therapeuti-
Meier und mir geleitet wird und an dem Brigitta Bernet,        scher Massnahmen wieder in die gesellschaftliche Ordnung
Roswitha Dubach und – in der Schlussphase – Urs                zurückgeführt werden sollen. Dabei entfaltet die psychia-
Germann mitarbeiten bzw. mitgearbeitet haben, greift sol-      trische Ordnung, der diese Aufgabe zufällt, ihre eigenen,
che Fragestellungen auf und fokussiert vor allem den           organisationsspezifischen Zwänge; Gründe dafür sind etwa
Aspekt des Zwangs. Anders als in der älteren Psychiatrie-      in der chronischen Überfüllung von Anstalten und im
geschichte, die davon ausging, im Zuge der Verwissen-          Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal zu sehen. Die
schaftlichung der Geisteskrankheiten seien die «Irren»         Zwangsproblematik erfährt in der Psychiatrie gewisse Zu-
endlich «von den Ketten befreit» worden, wird hier Zwang       spitzungen, was sich an einer immer wieder aufflammen-
als ein umfassenderes Phänomen betrachtet. Zwang ist in        den Kritik ablesen lässt: Von der No-restraint-Bewegung
einer rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft, die die         der 1860er Jahre über die bürgerliche Psychiatriekritik um
Menschenrechte achtet, negativ konnotiert; gleichzeitig ist    1900 bis zur Antipsychiatrie der 1960er Jahre spannt sich
die Einsicht vorhanden, dass Recht, wenn es sich nicht auf     ein grosser Bogen (selbst-)kritischer Thematisierung.
einen wirksamen «Erzwingungsstab» (Max Weber) stützen
kann, macht- und hilflos wird. Darüber hinaus würden           Dass sich die historische Entwicklung der Psychiatrie nicht
moderne, arbeitsteilig organisierte, komplex strukturierte     ohne eine Geschichte der kritischen Auseinandersetzung
Gesellschaften ohne einen umfassenden «Zwang zum               mit ihr darstellen lässt, ist eines der evidenten, wenn auch
Selbstzwang» (Norbert Elias) nicht funktionieren. Zwang        in der Öffentlichkeit immer noch nicht generell akzeptier-
weist somit eine fundamentale Ambivalenz auf: Er wird –        ten Resultate des Forschungsprojekts.
unter freiheitlichen Gesichtspunkten – abgelehnt, tritt aber
– in funktionaler Hinsicht – massenhaft auf. Die Verabsolu-    Das Projekt knüpfte an eine von der Gesundheitsdirektion
tierung des einen oder des andern Aspekts führt zu einan-      des Kantons Zürich finanzierte und Ende 2002 publizierte
der ausschliessenden Beschreibungsformen: Man sieht            Pilotstudie zum Thema an, an der ausser den bereits Ge-
entweder eine «freiheitliche Gesellschaft», die auch Psy-      nannten noch Gisela Hürlimann mitgewirkt hat. Neuartig

                                                                                              NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006   11
an unserem Projekt ist auch der Zugang zu den Quellen.         Forschungsprojekt im NFP-51-Modul «Konstruktionen von
Dank einer Bewilligung der «Eidgenössischen Experten-          Identität und Differenz»: Internieren und Integrieren.
kommission für das Berufsgeheimnis in der medizinischen        Zwang in der Psychiatrie: Der Fall Zürich, 1870 –1970
Forschung», welche umgekehrt das Forschungsteam zur            Laufzeit: 01.09.2003–31.01.2006
Einhaltung strenger Datenschutzbestimmungen verpflich-
tet, konnte erstmals der grosse Fundus der Kranken-            Projektverantwortliche
geschichten über den ganzen Untersuchungszeitraum hin-         Prof. Jakob Tanner
weg benutzt werden.                                            Universität Zürich
                                                               Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Die Resultate des Projekts werden im Herbst 2006 veröf-        Rämistrasse 64
fentlicht werden. Die geplante Studie wirft zunächst einen     CH-8001 Zürich
Blick auf die Entwicklung der psychiatrischen Kliniken im      Tel. +41 (0)1 634 36 41
Kanton Zürich; neben der 1870 gegründeten Psychiatri-          jtanner@hist.unizh.ch
schen Universitätsklinik Burghölzli kommen die 1867 ein-
gerichtete Pflegeanstalt Rheinau und die 1913 eröffnete        Dr. Marietta Meier
psychiatrische Poliklinik zur Sprache. Die empirische Aus-     Universität Zürich
wertung einer repräsentativen Stichprobe von Patienten-        Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
dossiers zeigt den Form- und Funktionswandel von               Rämistrasse 64
Zwangsmassnahmen in den Zürcher Kliniken auf. Aufgrund         CH-8001 Zürich
des langen Untersuchungszeitraums ist es möglich, den          Tel. +41 (0)1 634 36 43
Paradigmenwechsel von der Internierung, die von den            marmeier@hist.unizh.ch
1870er Jahren bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
dominierte, zu einem allgemeinen Interventionismus im
Zeichen von Prävention, Prophylaxe und Rehabilitation          Literatur
nachzuzeichnen. Dabei wird auch das Aufkommen der              Tanner J. Auguste Forel als Ikone der Wissenschaft. Ein Plädoyer für
                                                               historische Forschung. In: Leist A (Hg). Auguste Forel – Eugenik und
Psychopharmaka thematisiert, die einschneidende Auswir-
                                                               Erinnerungskultur. Zürich: vdf Hochschulverlag, 2006; 81–106
kungen auf die psychiatrische Praxis hatten. Weitere
                                                               Tanner J. Der «fremde Blick». Möglichkeiten und Grenzen der historischen
Kapitel widmen sich der «Irrenrechtsfrage» um 1900, den        Beschreibung einer psychiatrischen Anstalt. In: Rössler W, Hoff P (Hg).
Sterilisationen in den 1930er Jahren, den gehirnchirurgi-      Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang. Heidelberg: Springer,
schen Eingriffen (Leukotomien) nach dem Zweiten Welt-          2005; 46–66
krieg sowie der Arbeits- und Beschäftigungstherapie, die       Tanner J. Schlusswort zur Studie: Zwangsmassnahmen in der Zürcher
dem Leitgedanken einer «sozialen Heilung» verpflichtet         Psychiatrie 1870 – 1970. Bericht im Auftrag der Gesundheitsdirektion
war.                                                           des Kantons Zürich, verfasst von Marietta Meier, Brigitta Bernet, Gisela
                                                               Hürlimann. Zürich, 2003; 203–211

Historische Wissenschaft ist nicht Politikberatung; gleich-    Tanner J. «Keimgifte» und «Rassendegeneration». Zum Drogendiskurs und
                                                               den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Eugenik. In: Itinera
wohl können die Ergebnisse des Projekts den politischen
                                                               (hg. von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz)
Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess im          1999; 21: 249–258
Bereich der Sozial-, Gesundheits- und Wissenschaftspolitik
in wichtigen Punkten unterstützen. Über eine allgemeine
Sensibilisierung für Fragen der Integration und Ausgren-
zung und die Zwangsprobleme in der Psychiatrie hinaus
werden auch erstmals zuverlässige Informationen zur Rolle
von Psychiatern und medizinischen Institutionen bei inva-
siven und irreversiblen Eingriffen wie der Sterilisation und
Kastration von Frauen und Männern geboten. Die «Frei-
willigkeit» dieser Eingriffe wurde vielfach erzwungen.
Nicht zuletzt deshalb hat diese Praxis in den vergangenen
Jahren immer wieder Anlass zu politischen Diskussionen
gegeben.

12     NFP 51 Bulletin Nr. 3 | Mai 2006
bundenen Ausschlussprozesse zu analysieren, aber auch die
Historische Forschung schafft                                  sehr unterschiedlichen Formen der Dynamik von Aus-
politisches Orientierungswissen                                schluss- und Integrationsprozessen im Zusammenhang mit
                                                               anderen gesellschaftlichen Entwicklungen zu erforschen.
Es gibt kaum eine politische Analyse, kaum eine bundesrät-
liche Botschaft oder eine nationalrätliche Debatte, in der     Dabei war es zentral, dass die historische Forschung hier
nicht zuerst die historische Entwicklung mehr oder weni-       nicht nur als die Erforschung einer «Vorgeschichte» aufge-
ger ausführlich dargestellt wird. Dennoch ist historische      fasst wurde, die alles, was nicht unmittelbar zur aktuellen
Forschung in den Nationalen Forschungsprogrammen,              politischen oder gesellschaftlichen Lage beizutragen
deren Ziel die Untersuchung gesellschaftspolitischer Zu-       scheint, ausblendet. Vielmehr wurde es durch die Forschung
sammenhänge ist, durchaus nicht die Regel, insbesondere        ermöglicht, historische Entwicklungen auch in ihrer Eigen-
dann nicht, wenn sie mehr als die «Vorgeschichte» einer        logik zu erfassen, Differenzen und Parallelen herauszuar-
Entwicklung darstellt. Beim NFP 51 war das anders. Hier        beiten und gerade damit zur Analyse und Interpretation
wurde die Frage nach der historischen Entwicklung expli-       von gegenwärtigen Entwicklungen beizutragen.
zit zum Ausgangspunkt des Forschungsprogramms.
                                                               Bedeutung der Schweizer Forschung für die internationale
Desiderat: Erforschung der Eugenik                             Debatte
Am Anfang der konzeptionellen Arbeit für das NFP «Inte-        In den internationalen wissenschaftstheoretischen Debat-
gration und Ausschluss» Ende der 1990er Jahre stand die        ten zeichnet sich eine neue Bewertung der historischen
Forderung, die Entwicklung der Eugenik in der Schweiz          Eugenik ab. Die Eugenik, die bisher überwiegend als Teil
und in engem Zusammenhang damit auch die Geschichte            nationalsozialistischer deutscher Politik analysiert wurde,
und Kultur der Fahrenden in der Schweiz zu erforschen.         wird nun vermehrt als Bestandteil der Entwicklung der
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Wunsch nach          bürgerlichen Moderne bewertet, mit welchem die demokra-
Perfektionierung der Menschheit in der Eugenik eine wis-       tischen Staaten in Europa und den USA um 1900 die
senschaftliche Grundlage gefunden. Wissenschaftler,            Bevölkerung an den sozialen und nationalen Rändern zu
Politiker und Ärzte beanspruchten zu entscheiden, was          kontrollieren suchten. Die Radikalisierung der Eugenik im
«lebenswertes» oder «lebensunwertes» Leben und «gutes»         Nationalsozialismus stellt dabei eher eine Ausnahme dar.
oder «schlechtes» Erbgut war. Eugenik, eigentlich «Lehre       Die Erforschung «eugenischer Netzwerke» in demokrati-
vom guten Erbe», wollte Theorien und Ergebnisse der            schen Staaten erscheint besser geeignet, das «normale»
Biologie dazu nutzen, das genetische Material sozialer         Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik und Verwal-
Gruppen und ganzer Nationen zu «optimieren». In der            tung bei der Etablierung und Umsetzung eugenischer
Schweiz erfolgten die ersten eugenisch begründeten             Konzepte und Massnahmen zu belegen. Für diese Neu-
Kastrationen um 1890, die ersten Sterilisationen um 1900,      bewertung sind Schweizer Forschungsergebnisse von gros-
meist aufgrund unscharfer Diagnosen wie «Psychopathie»         ser Bedeutung. Die der Eugenik zugrunde liegende biologi-
oder «Schwachsinn». Neben psychiatrischen Krankheiten          sche Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie die dar-
wie Epilepsie oder Schizophrenie wurde auch uner-              aus abgeleiteten Lösungsansätze zur Bewältigung sozialer
wünschtes soziales Verhalten – wie «Trunksucht», «Halt-        Probleme schlugen sich in der Schweiz seit Beginn des 20.
losigkeit», «sexuelle Zügellosigkeit», «Liederlichkeit» oder   Jahrhunderts vor allem in behördlichen Verfahren, kanto-
«Verschwendungssucht» – als Ausdruck einer erblichen           nalen Gesetzen, Richtlinien und institutionellen Praktiken
Belastung verstanden.                                          nieder, fanden aber nur teilweise Eingang in die nationale
                                                               Politik und Gesetzgebung. In diesem Zusammenhang ist
Zwar war aus der historischen Forschung bekannt, dass          die Situation im Kanton Basel-Stadt von besonderem In-
auch in der Schweiz eugenisches Gedankengut sehr schnell       teresse, weil es hier eine starke Ausprägung erbpsychiatri-
Verbreitung gefunden hatte; die Finanzierung einer detail-     scher und eugenischer Forschung gab und mit der Eugenik
lierten Analyse der Entwicklung in verschiedenen Regio-        Ende der 1930er Jahre spezifische Gesetze und Richtlinien
nen der Deutschschweiz blieb allerdings lange ein Problem,     legitimiert wurden. Ein Netzwerk verschiedener Institutio-
auch dann noch, als das Bekanntwerden des Ausmasses            nen und Behörden sorgte für deren Durchsetzung.
eugenischer Massnahmen in den skandinavischen Ländern
das öffentliche Interesse auch in der Schweiz erhöhte. Erst
durch die Einrichtung des NFP 51 wurde es möglich, diese
Entwicklung fundiert zu untersuchen und die damit ver-

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