LAG - MAGAZIN ROM_NJA IN BERLIN - SINT_EZZE UND - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
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LaG - Magazin Sint_ezze und Rom_nja in Berlin
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Präventionsarbeit gegen Antiziganismus und Empowermentangebote – Das Bildungsforum gegen Antiziganismus...............................................................................................................4 Bildungs- und Empowermentaspekte in der Arbeit von Amaro Drom e.V.............................8 Berliner Politik und die Lage von zugewanderten Rom_nja..................................................13 Empfehlung Fachbuch Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn.......................................................16 Katalog „45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma“.......................................20 Empfehlung Unterrichtsmaterial Sinti und Roma in Berlin – 28 Fragen und Antworten...........................................................23 Empfehlung Film Bei uns ist das so – Roma in Berlin-Friedrichshain...............................................................25 Empfehlung Web RomArchive – das digitale Archiv der Sinti und Roma.........................................................27 Projektvorstellung Bildungsangebote für Sinte_zze und Rom_nja.....................................................................29 Neu eingetroffen »Wir wollten unsere Zukunft nicht versäumen.« Geschichten von Romnja aus Rumänien...31 Magazin vom 24.04.2019 2
Einleitung Liebe Leser_innen, Das nächste LaG-Magazin erscheint am 29. wir begrüßen Sie zur April-Ausgabe des LaG- Mai in Zusammenarbeit mit dem Demokra- Magazins. Es befasst sich schwerpunktmä- tieprojekt Thüringen 19_19. ßig mit der Lebenssituation und mit Projek- ten von oder für Sinte_zze und Rom_nja in Ihre LaG-Redaktion Berlin. Die ursprüngliche Planung sah vor, die externen Beiträge ausschließlich von An- gehörigen der Minderheit oder ihrer Selbst- organisationen schreiben zu lassen. Dass diese Idee nicht aufgegangen ist, verweist auf ein Ressourcenproblem. Die verhält- nismäßig wenigen Aktiven sind anhalten- den Mehrfachbelastungen ausgesetzt. Wir hoffen eine interessante Ausgabe gestaltet zu haben, auch wenn wir uns über die Pro- blematik des Schreiben über Sinte_zze und Rom_nja bewusst sind. Tobias von Borcke stellt die Geschichte und Arbeit der Berliner Dependance des Doku- mentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg vor. Aus dem Berliner Büro wurde jüngst das Bildungsfo- rum gegen Antiziganismus. Anna Friedrich schreibt über die Jugend- selbstorganisation von Rom_nja und Sin- ti_zze, Amaro Drom, die ihren Sitz in Berlin hat, und deren Empowermentarbeit. Einen Blick auf Versuche und Schwierigkei- ten der Berliner Senatspolitik die Situation von zugewanderten und eingesessenen Sin- te_zze und Rom_nja in der Stadt zu verän- dern, wirft Ingolf Seidel. Ein herzlicher Dank geht an die beiden ex- ternen Autor_innen dieser Ausgabe. Magazin vom 24.04.2019 3
Zur Diskussion Präventionsarbeit gegen Anti- Zusammen mit einer wissenschaftlichen ziganismus und Empowermen- Bibliothek und Mediensammlung hat sich tangebote – Das Bildungsforum das Dokumentationszentrum als zentraler gegen Antiziganismus Anlaufpunkt für Recherchen zur Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und da- „Bauen wir gemeinsam ein Europa und in rüber hinaus etabliert. Seit dem Jahr 2019 der ganzen Welt eine Gesellschaft auf, in kuratiert und verwaltet das Zentrum zudem der Sinti und Roma und alle anderen Min- das RomArchive: ein internationales digita- derheiten nicht länger diskriminiert wer- les Archiv für die Künste und Kulturen der den. Schweigen wir nicht, wenn wir Zeugen Sinti und Roma als stetig wachsende Samm- eines Unrechts werden! Erheben wir unsere lung von Kunst aller Gattungen, erweitert Stimme gegen die Gleichgültigkeit!“ um historische Dokumente und wissen- Die Zeitzeugin Rita Prigmore in ihrer schaftliche Texte. Ansprache anlässlich der Eröffnung des Das Dokumentations- und Kulturzentrum Bildungsforums gegen Antiziganismus bietet zahlreiche pädagogische Formate für verschiedene Zielgruppen an. Durch Das 1997 in Heidelberg eröffnete Dokumen- Workshops, Diskussionen, Projekttage und tations- und Kulturzentrum Deutscher Sin- die Begleitung und Beratung universitärer ti und Roma hat sich als erste Einrichtung und schulischer Arbeiten – um nur einige überhaupt die Erforschung, Dokumentation Beispiele zu nennen – wird die Geschichte und Vermittlung der über 600-jährigen Ge- des nationalsozialistischen Völkermords an schichte der Sinti und Roma in Deutschland den Sinti und Roma mit ihren Bezügen zu zur Aufgabe gemacht. Besonders im Fokus aktuellem Antiziganismus vermittelt. 2015 steht dabei der NS-Völkermord an Sinti und eröffnete das Berliner Projektbüro, welches Roma, der jahrzehntelang aus dem öffentli- Bildungsarbeit anbietet und für Fachveran- chen Bewusstsein verdrängt worden ist. In staltungen und Ausstellungen genutzt wird. der weltweit einzigartigen Dauerausstellung Im April 2019 ging aus dem Berliner Pro- stehen u.a. Familienfotos und Berichte der jektbüro das Bildungsforum gegen Antizi- Überlebenden im Mittelpunkt. ganismus hervor, welches den Bezug zur Das Dokumentations- und Kulturzentrum Gegenwart ins Zentrum seiner Arbeit stellt. verfügt über eine weltweit singuläre Samm- Das Bildungsforum ist ein Ort des offenen lung mit Zeugnissen der Verfolgten und und demokratischen Dialogs, an dem Min- Überlebenden in Form von Fotografien, In- derheit und Mehrheit zusammenkommen. terviews und Schriftstücken. Darüber hinaus Ziel ist es, die Mehrheitsgesellschaft zu sen- sammelt es Quellen wie auch Forschungser- sibilisieren und damit antiziganistischen gebnisse zur Geschichte der Sinti und Roma. Denkstrukturen entgegenzuwirken. Außer- dem können Angehörige der Minderheit Magazin vom 24.04.2019 4
Zur Diskussion hier eigene Ideen und Projekte umsetzen. – in Form kurzer Porträts – individuelle Das Bildungsforum gegen Antiziganismus Perspektiven auf die Frage, was die Zuge- hat seinen Sitz in Berlin, bietet die Bildungs- hörigkeit zur Minderheit heute bedeutet. formate jedoch bundesweit an. In Work- Die Panels sind als Dauerausstellung im Bil- shops und Fachveranstaltungen werden dungsforum in Berlin zu sehen und werden Stereotype, Mechanismen und Auswirkun- außerdem in einer transportablen Version gen des Antiziganismus thematisiert, um zu bundesweit an Interessierte verliehen. Er- einem fundierten Verständnis dieser spezi- gänzend zu den Panels wurden ein Katalog fischen Form des Rassismus und zu seiner in Einfacher Sprache und eine pädagogische gesellschaftlichen Ächtung beizutragen. Handreichung erstellt. Spezielle thematische Angebote greifen zu- Speziell an Angehörige der Minderheit rich- dem Antiziganismus im Netz sowie in Film ten sich Empowerment-Studienfahrten, und Fernsehen auf. Der Stärkung der Zivil- für die das Bildungsforum einen Rahmen gesellschaft dient ein Argumentationstrai- bietet. 2017 kam eine Gruppe Sinteze aus ning, das der verbreiteten Sprachlosigkeit Nordrhein-Westfalen und Bayern nach Ber- bei rechten Parolen allgemein und antiziga- lin, 2018 folgte eine Fahrt für junge Roma nistischen Vorurteilen speziell entgegenwir- aus Sachsen, die das Bildungsforum in Ko- ken soll. operation mit dem Verein Romano Sum- Die Beschäftigung mit Antiziganismus geht nal aus Leipzig organsierte. Thematisch in der Arbeit des Bildungsforums mit der ging es bei diesen Fahrten um Fragen der Vermittlung grundlegenden Wissens über Erinnerungskultur(en), um Selbstorganisa- Geschichte, Gegenwart und Lebensreali- tionen und politische Teilhabe. Die intensi- täten von Sinti und Roma einher. Einen ve Beschäftigung mit diesen Themen soll zur besonderen Schwerpunkt stellt dabei die (Weiter-)Entwicklung und Durchführung Bürger- und Menschenrechtsarbeit von An- eigener Projekte anregen und Perspektiven gehörigen der Minderheit seit 1945 dar. für neue Kooperationen eröffnen. Die Fahr- ten haben einen festen Platz im Angebot des Die thematische Breite der entwickelten Bildungsforums und finden in Zusammen- Bildungsangebote findet sich auch in den arbeit mit verschiedenen Partner_innen re- Info-Panels „HinterFragen. Sinti und Roma gelmäßig statt. – eine Minderheit zwischen Verfolgung und Selbstbestimmung“ wieder. Nach diversen Der nationalsozialistische Völkermord an Begriffsklärungen geben die Panels einen Sinti und Roma steht nicht im Fokus der historischen Überblick, der im 15. Jahrhun- Arbeit des Bildungsforums. Aber natürlich dert beginnt und bis in die Gegenwart reicht. spielt dieses Thema für jede fundierte Aus- Vorgestellt werden auch verschiedene Selb- einandersetzung mit Antiziganismus eine storganisationen von Sinti und Roma sowie bedeutende Rolle. Nicht nur hat der Völ- kermord gezeigt, welche Konsequenzen der Magazin vom 24.04.2019 5
Zur Diskussion Antiziganismus haben kann. Auch die Ge- jeweiligen Kooperationspartner_innen ken- genwart von Angehörigen der Minderheit nenzulernen. Bisher waren dies das Max- in Deutschland und Europa ist bis heute Mannheimer-Studienzentrum in Dachau, nachhaltig geprägt von der Ausgrenzung, die Stiftung Denkmal für die ermordeten der Verfolgung und dem Massenmord im Juden Europas in Berlin, der Lernort Ge- Nationalsozialismus. schichte in Stuttgart und die Mahn- und Aus diesem Grund bietet das Bildungs- Gedenkstätte Düsseldorf. Das nächste Tref- forum zur Geschichte des Völkermordes fen ist für Oktober 2019 in der Mahn- und Workshops, Veranstaltungen zu Gedenkta- Gedenkstätte Ravensbrück in Kooperation gen und Begleitungen von Gruppen, die das mit den dortigen Pädagogischen Diensten Denkmal für die im Nationalsozialismus er- geplant. mordeten Sinti und Roma Europas in Ber- Auf politischer Ebene sind in den letzten lin besuchen. In diesem Kontext ist auch die Monaten wichtige Schritte hin zur Äch- Frage wichtig, wie und von wem die Erinne- tung und Bekämpfung des Antiziganismus rung an die Verbrechen der NS-Zeit getra- zu verzeichnen. So fand im März 2019 zum gen und gestaltet wird. An die Verfolgten ersten Mal eine Bundestagsdebatte zu die- der NS-Zeit nicht ausschließlich als Opfer, sem Thema statt. Im selben Monat nahm sondern auch als aktive Handelnde zu erin- auch die von der Bundesregierung berufene nern, die sich der Verfolgung in vielen Fäl- unabhängige Expertenkommission Antizi- len nach Kräften widersetzt haben, war etwa ganismus ihre Arbeit auf. Um dem Antizi- ein wichtiger Impuls für eine Zusammenar- ganismus gesellschaftlich entgegenwirken beit mit der Gedenkstätte Deutscher Wider- zu können, ist neben den politischen Bemü- stand. Aus dieser ging eine umfangreiche hungen auch eine Stärkung der Initiativen biografisch orientierte Publikation mit dem im Bildungsbereich notwendig. Hierzu soll Titel „‘Wir geben uns nicht in ihre Hände‘ das Bildungsforum einen Beitrag leisten. – Bildungsmaterialien zum Widerstand von Sinti und Roma gegen den Nationalsozia- lismus“ hervor. Das jährlich stattfindende Netzwerktreffen zur historisch-politischen Bildungsarbeit ermöglicht bereits seit 2015 interessierten Mitarbeiter_innen von Ge- denkstätten aus dem ganzen Bundesgebiet einen Austausch über die Vermittlung der Geschichte des Völkermordes an Sinti und Roma . Neben unterschiedlichen thema- tischen Schwerpunkten bieten diese Tref- fen Gelegenheit, die Bildungsarbeit der Magazin vom 24.04.2019 6
Zur Diskussion Weitere Informationen und Kontakt BILDUNGSFORUM GEGEN ANTIZIGANISMUS Dokumentations- und Kulturzentrum Deut- scher Sinti und Roma Prinzenstraße 84.2 10969 Berlin Telefon +49 30 690042290 E-Mail: berlin@sintiundroma.de www.gegen-antiziganismus.de Dokumentations- und Kulturzentrum Deut- scher Sinti und Roma Bremeneckgasse 2 69117 Heidelberg Telefon +49 6221 98 11 02 E-Mail: info@sintiundroma.de www.sintiundroma.de Über den Autor Tobias von Borcke ist Mitarbeiter des Bildungsforums gegen Antiziganismus in Berlin. Magazin vom 24.04.2019 7
Zur Diskussion Bildungs- und einzustehen. Aber die Stärkung der Min- Empowermentaspekte in der derheit alleine reicht nicht aus. Insbe- Arbeit von Amaro Drom e.V. sondere mit Blick auf den anhaltenden Rechtsruck in Deutschland braucht es Von Anna Friedrich vor allem auch Aufklärungs- und Sen- Amaro Drom e.V. ist die wichtigste bundes- sibilisierungsarbeit, um die Realität der weite Jugendselbstorganisation von Rom_ Minderheit bekannter zu machen, Vor- nja1 und Sinti_zze. Unsere Arbeitsschwer- urteile zu bekämpfen und um perspekti- punkte sind Jugendverbandsarbeit, die visch zu einem positiven Klima des Mit- Vertretung der Interessen von Jugendlichen einanders zu gelangen. Das funktioniert sowie Antidiskriminierungsarbeit. Hier hat nur, indem man im Austausch miteinan- der Verein bereits wertvolle Kompetenzen der steht, indem man nicht übereinan- aufgebaut. der, sondern miteinander spricht“. Eine unserer Stärken liegt in der transkul- Amaro Drom setzt sich aktiv für Respekt turellen Ausrichtung – Rom_nja, Sinti_zze und gesellschaftliche Teilhabe von Rom_ und Menschen, die weder Rom_nja noch nja und Sinti_zze ein. Wir kritisieren den Sinti_zze sind, arbeiten bei uns auf allen Alltagsrassismus, die ausgrenzenden gesell- Ebenen zusammen. Dabei hat der gegen- schaftlichen Mechanismen und politischen seitige Austausch einen großen Stellenwert. Entscheidungen, welche die physische und Diesen Anspruch setzt Amaro Drom e.V. auf psychische Unversehrtheit von Rom_nja vielfältige Weise um. Die Ziele und Schwer- bzw. Sinti_zze gefährden. Wir stärken jun- punkte der Vereinsarbeit fasst der zweite ge Rom_nja und Sinti_zze, damit sie sich Vorstandsvorsitzende, Silas Kropf, folgen- selbstbewusst für ihre Interessen einsetzen dermaßen zusammen: können. Und wir sensibilisieren Angehöri- „Immer mehr jugendliche Sinti und ge der Mehrheitsbevölkerung für die viel- Roma schließen sich in Selbstorganisa- schichtige Diskriminierung von Rom_nja tionen zusammen und erheben gemein- und Sinti_zze. Wir verstehen unsere Ver- sam ihre Stimme, um für ihre Rechte einsarbeit daher als einen wichtigen Beitrag zu rassismuskritischer Bildung. Ein Beispiel 1 Wir verwenden in unseren Veröffentlichungen die hierfür ist das Projekt „Dikhen amen!“. genderinklusive Schreibweise Rom_nja und Sin- ti_zze, um nicht-männliche Positionen und Positio- Als junge Rom_nja und Sinti_zze nen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit sichtbar zu selbstbewusst nach außen treten machen. Das Wort Rom_nja geht auf die Romanes- Das Projekt „Dikhen amen!“ besteht seit Worte Roma (Plural männlich) und Romnja (Plural 2015. Sein Hauptziel ist das Empowerment weiblich) zurück. Das Wort Sinti_zze geht auf die junger Rom_nja und Sinti_zze. Darunter Worte Sinti (Plural männlich) und Sintizze (Plural verstehen wir Raum für Selbstbewusstsein, weiblich) zurück. Magazin vom 24.04.2019 8
Zur Diskussion Selbstbehauptung und den Kampf um Aner- Rom_nja und Sinti_zze. Ein wichtiger An- kennung als gleichberechtigter Teil der Ge- satz ist, dass die Jugendlichen sich mit ih- sellschaft zu schaffen. Die Aktivistin Fatima rer eigenen Geschichte beschäftigen. Einen Hartmann sagt hierzu: Schwerpunkt setzen wir hier auf die Ausein- „Empowerment heißt für mich, sich sel- andersetzung mit dem Genozid an Rom_nja ber entwickeln, in seinem Denken wei- und Sinti_zze im Nationalsozialismus. Denn terkommen und neue Projekte angehen. fast alle Jugendlichen stammen aus Famili- Es bedeutet sich zu fragen: ‚Was können en von Überlebenden des Genozids. In den wir, was kann jeder Einzelne von uns, Schulen, aber auch sonst, erfahren sie nur verändern, damit es uns als Menschen sehr wenig über diesen Teil ihrer Geschich- besser geht?‘“ te. Wir verstehen Empowerment-Arbeit als ei- Welche Effekte der Blick in die Vergangen- nen wichtigen Ansatz in unserer Vereins- heit für das heutige Leben der Jugendlichen arbeit. Denn rassistische Vorurteile gegen hat, fasst Joschla Weiß, ehemalige päda- Rom_nja und Sinti_zze sind noch immer gogische Leiterin von „Dikhen amen!“, wie weit verbreitet. In der Schule, im Ausbil- folgt zusammen: dungsbetrieb, an der Universität oder unter „Aus dem Blick in die Vergangenheit Kolleg_innen sind diskriminierende Ein- können wir lernen, wie mit dem Genozid stellungen gegen Rom_nja oder Sinti_zze umgegangen wurde, wie er verarbeitet sehr präsent. Dadurch haben die Jugend- wurde und welche Stärken daraus ent- lichen erschwerte Voraussetzungen, ein stehen mussten. Es ist wichtig, sich zu selbstbewusstes Verhältnis zu ihren diver- erinnern und gleichzeitig den Blick nach sen Identitäten zu entwickeln. Dies kann zur vorne zu richten.“ Folge haben, dass sie sich weniger für ihre Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass das Interessen und Belange einsetzen. Lernen über die eigene Geschichte beson- Aus unserer Vereinsarbeit wissen wir, dass ders erfolgreich ist, wenn die Jugendlichen viele Jugendliche vermeiden, sich in der Öf- im Austausch mit älteren Aktivist_innen fentlichkeit als Rom_ni oder Sinte_zza zu aus den eigenen Communities sind. Diese erkennen zu geben. Dadurch schützen sie können auf besonders empathische Wei- sich vor Rassismuserfahrungen. Durch un- se und aus eigener Erfahrung berichten. ser Projekt tragen wir dazu bei, diesen Fol- Außerdem waren viele der Aktivist_innen gen von Rassismus gegen Rom_nja und Sin- maßgeblich an den Kämpfen der deutschen ti_zze etwas entgegen zu setzen. Sint_zze und Rom_nja für die Anerkennung Durch die inhaltliche Arbeit und unser des Genozids in der deutschen Gesellschaft methodisches Vorgehen öffnen wir den beteiligt. Die Jugendlichen lernen so auch Raum für das Empowerment jugendlicher Geschichten von Widerstand kennen. Dies Magazin vom 24.04.2019 9
Zur Diskussion ist ein wichtiges Vorbild für den Umgang Rom_nja und Sinti_zze ist das Ziel von mit den heutigen Lebenssituationen, in de- „Dikhen amen!“. Das Projekt hat auch die nen sich die jungen Rom_nja und Sinti_zze Sensibilisierung für Rassismus bei denje- befinden. nigen zum Ziel, die weder Rom_nja noch Wir erleben auch in den anderen Themen- Sinti_zze sind. Auch hier unterstützen wir bereichen des Projektes, dass die Jugend- junge Rom_nja und Sinti_zze dabei, selbst lichen besonders viel und gern von aktivis- aktiv zu werden. Zentraler Bestandteil hier- tischen Rom_nja und Sinti_zze lernen. Sei für ist die Teamer_innen-Ausbildung. Diese es bei Fragen von Einwanderung und Blei- startete im November 2018. Im Rahmen der berecht, Geschlechtergerechtigkeit, Men- Ausbildung qualifizieren wir 16 junge Rom_ schenrechten oder Bildung. nja und Sinti_zze aus ganz Deutschland für die politische Bildungsarbeit. Zentraler Bestandteil unserer methodischen Arbeit ist, dass wir das Selbstbewusstsein der Im Rahmen der Ausbildung lernen die Teil- Jugendlichen fördern. Wir vermitteln ihnen nehmenden in sechs Modulen, wie man auch ein gesteigertes Bewusstsein über die Workshops für andere Jugendliche plant Stärken der Communities. Dazu zählen As- und durchführt. Sie erfahren, wie sie an- pekte wie Mehrsprachigkeit, starke soziale dere junge Rom_nja und Sinti_zze zusam- Netzwerke oder Strategien im Umgang mit menbringen und stärken können. Sie lernen Rassismus. außerdem, Jugendliche für den Rassismus gegen Rom_nja und Sinti_zze zu sensibili- Unsere bisherige Projekterfahrung zeigt, sieren. dass sich nicht nur kognitive, sondern auch künstlerische Ansätze für die Vermittlung Durch die Teamer_innen-Ausbildung ler- von Wissen eignen. Dabei sind besonders nen die Teilnehmenden, souverän in der theaterpädagogische Arbeitsweisen hervor- Öffentlichkeit aufzutreten. Daraus resultiert zuheben. Indem die Jugendlichen ihre per- nicht nur ein gesteigertes Selbstbewusst- sönlichen Erfahrungen mit Diskriminierun- sein. Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Ju- gen auf kreative Weise erforschen, können gendlichen auch zu positiven Vorbildern für mehrdimensionale Diskriminierungserfah- andere junge Menschen werden. Außerdem rungen aufgedeckt und gemeinsam reflek- lernen die Jugendlichen, sich für ihre per- tiert werden. Auch können die damit zusam- sönlichen und politischen Belange aktiv in menhängenden Gefühle besser erkannt und die Gesellschaft einzubringen. aufgefangen werden. „Romane Krla – die Andere Jugendliche für die The- Rom_nja Stimmen“ men von Rom_nja und Sinti_zze für ein sichtbares Gedenken sensibilisieren „Dikhen amen!“ ist nicht das einzige Projekt Aber nicht nur das Empowerment junger von Amaro Drom, welches die Ausbildung Magazin vom 24.04.2019 10
Zur Diskussion von Multiplikator_innen im Fokus hat. Un- vor allem die gegenseitige Vernetzung der ser Projekt „Romane Krla – die Rom_nja Jugendlichen und der Austausch mit Rom_ Stimmen“ widmete sich diesem Vorhaben nja und Sinti_zze aus älteren Generationen mit Schwerpunkt auf den Genozid an den nicht unterschätzt werden. So können sich Rom_nja und Sinti_zze im Nationalsozia- alle Teilnehmenden gegenseitig auch in lismus. schwierigen Situationen unterstützen und Das Projekt, das im Juni 2017 begann und sich motivieren, im Leben nicht aufzugeben, im Dezember 2018 endete, bot eine einzig- auch wenn der Rassismus gegen Rom_nja artige Gelegenheit für junge Rom_nja-Ak- und Sinti_zze viele Hürden bereitstellt. tivist_innen. Sie erlernten, Wissen über die Genauso wichtig, wie es ist, innerhalb der Ermordung von Rom_nja, Jüd_innen und Communities zu wirken, ist es, die Perspek- anderen Minderheiten während des Zweiten tiven vom Rom_nja und Sinti_zze nach au- Weltkrieges, sowie vergangene und aktuel- ßen zu tragen und Menschen für den spezifi- le Mechanismen von Rassismus an andere schen Rassismus zu sensibilisieren. Hierfür Menschen weiterzugeben. bilden wir jugendliche Rom_nja und Sinti_ Ähnlich wie „Dikhen amen!“ bot das Pro- zze zu Multiplikator_innen aus. Diese sind jekt „Romane Krla!“ eine Plattform für das nach der Ausbildung in der Lage, vor allem Zusammenkommen junger Rom_nja und Jugendliche, die weder Rom_nja noch Sin- Sinti_zze. Durch diese Zusammenkünfte ti_zze sind, Themen aus den Communities konnten die Teilnehmenden über die eige- näher zu bringen und den allgegenwärtigen ne Geschichte diskutieren und die eigenen Rassismus zu hinterfragen. Gerade in Zei- Erzählungen an Orte bringen, in denen sie ten, in denen rassistische, menschenverach- normalerweise nicht gehört werden (z.B. tende und rechtsextreme Einstellungen in Schulen, politische Institutionen, Universi- Deutschland und Europa erstarken, ist es täten etc.). „Romane Krla!“ trug außerdem uns wichtig, dass wir uns für die Überwin- dazu bei, falsche Darstellungen zu überwin- dung rassistischer Einstellungen, der Aner- den, die in Workshops und anderen Aktivi- kennung von Diversität und gleichen Ent- täten über Rom_nja und Sinti_zze reprodu- faltungsmöglichkeiten für alle Menschen ziert werden. einsetzen. Durch Bildungs- und Rassismus gegen Rom_nja und Sinti_zze Empowermentarbeit werden ist ein sehr verbreitetes, aber immer noch gesellschaftliche Erfolge erzielt wenig beachtetes Phänomen. Durch unse- re praktische Arbeit bei Amaro Drom e.V. In unserem Text haben wir gezeigt, dass und seinen Untergliederungen bemerken Empowerment von jugendlichen Rom_nja wir aber, dass erste Erfolge der Sensibilisie- und Sinti_zze ein wichtiger Beitrag zur ras- rungsarbeit zum Thema zu verzeichnen sind sismuskritischen Bildung ist. Dabei sollte und die Nachfrage für unsere Arbeit und die Magazin vom 24.04.2019 11
Zur Diskussion ähnlicher Initiativen steigt. Wir freuen uns über gegenseitigen Austausch. Über die Autorin Anna Friedrich studierte Europäische Ethnologie und Westslawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie leitet das Projekt „Dikhen amen!“ bei Amaro Drom e.V. in Berlin. Sie ist außerdem als politische Bildnerin in den Bereichen Rassis- mussensibilisierung, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sowie Intersektionalität tätig. Magazin vom 24.04.2019 12
Zur Diskussion Berliner Politik und die Lage Gründe der ökonomisch desolaten Situation von zugewanderten Rom_nja in den Herkunftsländern zu entfliehen. Und auch Rom_nja sind keine homogene Grup- Von Ingolf Seidel pe. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, Rom_nja in der Großstadt Berlin, wie neh- das selbst aus unterschiedlichen Dialekten men Gadjes, also Nicht-Rom_nja, sie wahr? bestehende Romanes ist nicht für alle Rom_ Vermutlich mehrheitlich in etwa so, wie es nja verbindendend, sie sind Muslime oder ein Artikel aus dem Tagesspiegel vom Mai Christ_innen. Und, es gibt in jedem Land 2017 nahelegt: „Meist geht es eigentlich nur vielfältige Aufstiegsbiografien von Angehö- um bestimmte Roma. Um jene Familien, die rigen der Minderheit. Es ist im Wesentlichen in Parks, auf Treppen oder in Obdachlosen- die Wahrnehmung der Nicht-Rom_nja, die heimen schlafen. Auch um die Mädchen, homogenisierend wirkt. die am Strich an der Kurfürstenstraße ste- Mit dem Zusammenbruch der sich sozia- hen. Um bettelnde Kinder und solche, die listisch nennenden Staaten des ehemaligen an Ampeln ungefragt Autoscheiben putzen. Warschauer Pakts wurden auch die Groß- Es geht um die Verfahren gegen Diebesban- industrien und die Agrarindustrie geschlos- den – um gestohlene Handtaschen, Kup- sen und privatisiert. Bereiche in denen viele ferkabel, Schmuck. Sozialarbeiter, Beamte, Rom_nja häufig als ungelernte Arbeiter_in- Lehrer, sogar EU-Diplomaten und selbst nen ihr Auskommen hatten. Die universa- Drina und ihr Freund sagen: Ja, oft sind’s listische Politik gegenüber Rom_nja in den Roma vom Balkan.“ Einmal davon abgese- staatssozialistischen Ländern ist zumindest hen, dass mit „Drina“ eine Romnja quasi zwiespältig zu nennen. Im Kern lief sie auf als Kronzeugin dafür herangezogen wird, eine Assimilation hinaus und war zudem dass „die“ so sind – ein Muster, dass auch häufig von Ressentiments und Diskriminie- aus dem Antisemitismus bekannt ist –, reiht rungen durchzogen. Da es meist an Mög- das Zitat wohl die Mehrzahl der aktuell be- lichkeiten der Bildungsteilhabe mangelte, stehenden Klischees über Angehörige der waren die Aufstiegschancen gering. Die Minderheit aus den Ländern Mittel- und Mehrzahl der Rom_nja verblieb im Status Südosteuropas aneinander. Hinterfragt von ungelernten Arbeitskräften und daher wird im Tagesspiegel nicht, ob es sich bei waren sie die ersten, die beim Übergang in den als „Roma“ Bezeichneten auch wirk- die kapitalistische Wirtschaftsordnung ihre lich um Angehörige der Minderheit handelt. Arbeitsplätze verloren. Es ist sicher nicht Gerne werden Menschen, die aus Rumänien übertrieben festzustellen, dass Rom_nja oder Bulgarien nach Deutschland kommen zu den großen Verlierer_innen des Nieder- pauschal als Rom_nja bezeichnet. Dabei gangs des Ostblocks und der EU-Osterwei- haben verarmte Menschen, auch wenn sie terung gehörten. nicht der Minderheit angehören, genügend Unbestritten ist, dass die Zahl von Magazin vom 24.04.2019 13
Zur Diskussion Migrant_innen aus den Ländern Bulga- Berliner Wohnungsmarkt kaum eine Chan- rien und Rumänien in den vergangenen ce angemessenen Wohnraum zu bekom- Jahren zugenommen hat: „Die Zahl der men. Die Folge sind unter anderem Über- bulgarischen Staatsangehörigen stieg von belegungen in Wohnungen und Projekten, 21.393 in 2014 auf 26.910 in 2016, die der nicht selten bereits heruntergekommene rumänischen von 13.695 in 2014 auf 18.814 Immobilien, deren Zustand in der öffentli- in 2016. Insgesamt waren am 31. Dezember chen Wahrnehmung den Rom_nja angelas- 2016 45.724 Bulgaren und Rumänen in Ber- tet werden. lin gemeldet.“ (Senatsverwaltung 2017: 7) Nicht ohne Konflikte entwickelte sich das Der Senat von Berlin reagierte auf die EU- Projekt eines Rahmenvertrages zwischen Forderung von 2011, Maßnahmen für die dem Land Berlin und der Minderheit, der im Einbeziehung von Roma zu entwickeln, im Koalitionsvertrag des rot-rot-grünen Senats Jahr 2012 mit der „Berliner Strategie zur vorgesehen ist. Als Vorlage dient ein bereits Einbeziehung ausländischer Roma“. Ein bestehender Vertrag in Baden-Württem- Jahr später folgte der „Aktionsplan zur Ein- berg, der überarbeitet und auch die Situa- beziehung ausländischer Roma“. Der Akti- tion von zugewanderten Rom_nja berück- onsplan setzte sich zum Ziel die Zugänge für sichtigen soll. Ein wesentlicher Punkt des Rom_nja zu „Arbeit, Bildung, Gesundheit Berliner Vertrages ist die Einrichtung eines und Wohnen zu verbessern, die Regelinsti- „Rates für die Angelegenheiten der Sinti und tutionen der Daseinsfürsorge interkulturell Roma“, dem jeweils sechs Vertreter_innen für Roma zu öffnen, die Teilhabe von Roma der Minderheit sowie der Landespolitik und durch die Förderung ihrer Selbstorganisa- Senatsverwaltung angehören sollen. Der Rat tionen zu unterstützen und den Antiziga- soll die Position von Sinte_zze und Rom_ nismus zu bekämpfen.“ (Senatsverwaltung nja stärken, indem er etwa Empfehlungen 2015:7) Kritiker_innen des Rromano Bünd- zur Minderheitenpolitik an die Landesre- nisses Berlin, dem die IniRromnja, die Ini- gierung ausspricht oder auf Transparenz bei tiative – Jugendtheater So keres?, das Rro- der Verteilung von Fördermitteln an Selbst- ma Informations Centrum und der Verein organisationen der Minderheit achtet. Aller- Roma Akathe angehören, sprachen davon, dings war vorgesehen, den Rahmenvertrag dass der Aktionsplan die Einbeziehung von nur mit einer Minderheitenorganisation Rom_nja im Titel enthalte, dabei aber sozi- abzuschließen. Die Wahl fiel dabei auf den ale Probleme wie Wohnungslosigkeit, Pros- Landesrat der Roma und Sinti, RomnoKher titution oder häusliche Gewalt zu Lasten der Berlin-Brandenburg. RomnoKher wurde im Minderheit ethnisieren würde (Vgl. Romano Mai 2016 gegründet. Seine Vorsitzende ist Bündnis 2018). In der Tat haben zugewan- die Sintezza Dotschy Reinhardt. Verschie- derte Rom_nja allein aus ökonomischen dene Selbstorganisationen von Sinte_zze Gründen auf dem höchst angespannten und Rom_nja reagierten düpiert, darunter Magazin vom 24.04.2019 14
Zur Diskussion auch der von Petra Rosenberg geleitete Lan- Selbstorganisationen Eckpunkt erarbeitet. desverband Deutscher Sinti und Roma. Der Prozess gestaltet sich nahezu zwangs- Die Irritationen des Landesverbandes im läufig langwierig. Hoffnungsvoll stimmt, Vorfeld nicht über das Vertragsvorhaben dass die Gleichberechtigung und Teilhabe informiert worden zu sein, sind allein schon der zugewanderten Rom_nja in das Ver- aufgrund dessen langjährigen Engagements tragswerk mit aufgenommen werden sol- nachvollziehbar. Er war infolge der Bürger- len. Es bleibt zu hoffen, dass ein Vertrags- rechtsbewegung von Sinte_zze und Rom_ abschluss noch in dieser Legislaturperiode nja 1978 erst unter dem Namen Cinti Union zustande kommt. Berlin gegründet worden. Die Umbenen- Quellen nung in den heutigen Namen erfolgt 1994. Hannes Heine: Roma in Berlin. Die Dienst- Der Auschwitz-Überlebende Otto Rosen- reisenden vom Balkan, 18.05.2017, https:// berg war Gründungsmitglied und zugleich www.tagesspiegel.de/themen/reportage/ langjähriger Vorsitzender. Seit 1989 unter- roma-in-berlin-die-dienstreisenden-vom- hält der Landesverband die senatsgeför- balkan/19818192.html. derte Sozialpädagogische Beratungsstelle, Romano Bündnis: Kommentar zum zweiten die sich für die soziale und gesellschaftliche Bericht zur Umsetzung des Berliner Akti- Gleichstellung für Sinte_zze und Rom_nja onsplans zur Einbeziehung ausländischer einsetzt. Roma. Berlin 2018, http://rromano-buend- Doch auch andere Selbstorganisationen nis.de/wp-content/uploads/2018/09/er- wie etwa die IniRromnja oder der Verband klaerung_aktionsplan_2018.pdf. Amaro Foro und weitere fühlten sich hin- Senatsverwaltung für Integration, Arbeit tergangen. Zudem bestehen Befürchtungen und Soziales: Erster Bericht zur Umsetzung der einzurichtende Rat könne ein reines des Berliner Aktionsplans zur Einbezie- Diskussionsforum ohne Einfluss werden. hung ausländischer Roma. Berlin 2015, ht- Zusammenfassend lässt sich feststellen, tps://minor-wissenschaft.de/wp-content/ dass in Koalitionskreisen wohl nicht nur uploads/2018/09/Erster_Bericht_Umset- die Komplexität der Situation unterschätzt zung_2015.pdf. wurde, sondern dass die Beteiligten eige- nen stereotypen homogenisierenden Sicht- Senatsverwaltung für Integration, Arbeit weisen sowie einer vor allem instrumentell und Soziales: Zweiter Bericht zur Umset- ausgerichteten Politik gefolgt sein dürften. zung des Berliner Aktionsplans zur Einbe- Eine Konkurrenzsituation über Repräsen- ziehung ausländischer Roma. Berlin 2017, tationsfragen der Minderheit wurde so zu- https://minor-wissenschaft.de/wp-con- mindest befeuert. Zur Ausgestaltung des tent/uploads/2018/09/Zweiter_Bericht_ Vertrages gab es Runde Tische und in ei- Umsetzung_2017.pdf. ner Arbeitsgruppe werden gemeinsam mit Magazin vom 24.04.2019 15
Empfehlung Fachbuch Das Zwangslager für Sinti und unterschieden habe. Roma in Berlin-Marzahn. Die Überlieferungen zum Lager sind lücken- Von Lucas Frings haft, Unterlagen und Akten zur Belegung sind nur teilweise erhalten. Die Autorin Die Geschichte der Zwangslager, in denen folgt der Einschätzung von Reimar Gilsen- explizit Sinte_zze und Rom_nja konzent- bach, der bereits in den 1960ern Interviews riert und später eingesperrt wurden, ist in mit Überlebenden des Zwangslagers führte, der Aufarbeitung des Nationalsozialismus dass insgesamt etwa 1200 Menschen dort noch immer verhältnismäßig spärlich be- interniert waren. Pientka ist es durch Re- trachtet. Insbesondere lokale Studien stehen cherchen weiter gelungen, immerhin 340 zur Verfügung, wobei Patricia Pientkas Buch Häftlinge benennen zu können. wertvolle Informationen über das ab 1936 bestehende Zwangslager in Berlin-Marzahn Dem Narrativ, das Zwangslager in Berlin- liefert. Unter anderem an der ungewöhnli- Marzahn sei 1936 vor allem errichtet wor- chen Organisationsstruktur – oft durch lo- den, um für die Olympischen Spielen Sin- kale Behörden initiiert - stellen diese Lager te_zze und Rom_nja aus dem Stadtbild zu „einen im Kontext des NS-Lagersystems in verbannen, stellt sie Schriftverkehr zwi- vielfacher Hinsicht schwer fassbaren Lager- schen Behörden entgegen, der diese Absicht typ dar (...)“ (S.9). bereits auf 1934 datiert. Spannend ist dar- an auch, dass sich in Berlin Wohlfahrtsamt, Pientka geht chronologisch vor, über die NSDAP-Gauleitung, Rassenpolitisches Amt Gründungsphase des Lagers, zu Lebensbe- und die Polizei einig waren, dass „Zigeuner“ dingungen, zur Organisation und Radikali- zur Überwachung in ein Lager gesperrt wer- sierung der Verfolgung, zu den Deportati- den sollten, während in anderen Städten onen und zum Umgang mit dem Ort nach Wohlfahrtsämter Abschiebungen vorzogen 1945. und sich gegen die polizeilich gewünschte Zuvor skizziert sie die Situation von Sinte_ Kasernierung wandten. zze und Rom_nja in Berlin Anfang des 20. Eine weitere Besonderheit ist das Interesse Jahrhunderts und spricht unter anderem von nichtkommunalen Behörden wie der die christliche Missionierung von Sinte_zze Staatspolizeileitstelle und dem Innenminis- und Rom_nja und Diskriminierungsprakti- terium, die per Anweisung und Autorisie- ken der preußischen Polizei an. Die Autorin rung zur Einrichtung des Lagers durch die geht – bei gleichzeitiger Benennung einer Berliner Polizei führte. schwierigen Forschungslage – davon aus, dass sich das Leben des Großteil der Berli- Dennoch kann das Berliner Hauptwohl- ner Sinte_zze und Rom_nja vor 1933 hin- fahrtsamt als „die treibende Kraft hinter der sichtlich der Wohnorte und Betätigungen Lagergründung gelten“ (S.38), wie Pientka kaum von denen der Mehrheitsbevölkerung in ihrem Buch ausführlich darlegt. Es kann Magazin vom 24.04.2019 16
Empfehlung Fachbuch als Beispiel dafür dienen, wie eine Radikali- Reichsgesundheitsamtes, war unmittelbar sierung und Verfolgungspraxis selbstinitia- nach Einrichtung des Lagers bereits als Me- tiv von unten erfolgte. dizinstudent in Marzahn um Untersuchun- Die Rolle der konfessionellen Betreuung gen an den Inhaftierten vorzunehmen. Dort ist eine weitere Besonderheit des Berliner stieß er allerdings auf großen Widerstand Lagers. Die „Zigeunermission“ von protes- der Inhaftierten, die sich, als bereits seit Ge- tantischen und katholischen Einrichtungen nerationen in Deutschland lebend, auf ihre hatte, wie eingangs erwähnt, bereits lange „arische Abstammung“ beriefen. Pientka vor der Machtübertragung an die National- stellt fest, „dass Mitte 1936 bei der Berliner sozialisten begonnen, ließ sich aber bis circa Polizeibehörde noch Skrupel gegenüber der 1938 auch im Zwangslager noch fortsetzen. Gewaltanwendung bei rassenbiologischen Dabei waren die Kommentare über die zu Untersuchungen bestanden“ (S.54). Das missionierenden durchaus paternalistisch Aufzeigen einer solchen akteurszentrierten und rassistisch, gleichzeitig fanden Sinte_ Perspektive und die Darstellung der Häft- zze und Rom_nja in den Missionar_innen linge als handelnde Subjekte ist ein erklär- auch Unterstützer_innen, etwa beim Wi- tes Anliegen von Pientka. derstand gegen „rassenbiologische Untersu- Über den Umgang und Weiterverbleib der chungen“. Häftlinge nach 1937 gab es verschiedene Bis 1939 war es noch möglich, das Lager Vorhaben. Immer wieder waren vereinzelt tagsüber zu verlassen. Teilweise konnten In- Sinte_zze und Rom_nja aus dem Marzahner haftierte einer Arbeit nachgehen, wobei die Lager in Konzentrationslager verschleppt meisten bereits kurz nach ihrer Internierung worden, 1939 gab es nicht umgesetzte Pläne entlassen wurden oder durch die räumliche Sinte_zze und Rom_nja nach Polen zu de- Entfernung nicht mehr zur Arbeitsstelle ge- portieren. Ab 1939 nahm die Zwangsarbeit langen konnten. Vor allem aber mussten sie in Fabriken aber auch als Statist_innen in sich selbst durch Marken mit Lebensmitteln Spielfilmen zu. versorgen. Dabei erhielten sie aber oftmals Den größten Einschnitt stellten jedoch die nur die Restbestände der umliegenden Ge- Deportationen in das Konzentrations- und schäfte am Ende des Tages. Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau dar. Pientka liefert mit ihrer Forschung auch Die aus Marzahn im März 1943 deportierten Informationen zu Täterbiographien, die gehörten zu den ersten Häftlingen des „Zi- zur Verfolgung der europäischen Sinte_zze geunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau. und Rom_nja bisher nur spärlich vorhan- Das Zwangslager in Marzahn bestand mit den sind. Gerhart Stein, später „Rassen- wenigen Inhaftierten bis zur Befreiung theoretiker“ unter anderem an der Berliner durch die sowjetische Armee. Durch Trau- Rassenhygienischen Forschungsstelle des matisierung und fehlende Unterstützung im Magazin vom 24.04.2019 17
Empfehlung Fachbuch Nachkriegsdeutschland lebten einige sogar antiziganistischen Gewalt kombiniert. So weiterhin auf dem Gelände. bezieht sie in die Beschreibung der Le- Nur manchen gelang die Anerkennung als bensbedingungen, neben Fotografien und „Opfer des Faschismus“, da die Behörden Schreiben nationalsozialistischer Autoren, in den meisten Fällen keine Verfolgung maßgeblich die Berichte von Zeitzeug_in- aus „rassischen Gründen“ annahmen, die nen mit ein. Dabei setzt sie sich auch mit der Bedingung für eine Unterstützung war. Pi- spezifischen Bedeutung der Inhaftierung für entka ist es gelungen, einige Kämpfe um Kinder und Jugendliche auseinander, die Anerkennung und Entschädigung in beiden nach Pientka die Gewalt vermutlich anders deutschen Staaten nachzuvollziehen. wahrnahmen. Zudem erhielten sie ¬– ab 13 Jahren waren sie zur Zwangsarbeit ver- Das Gelände und die Geschichte des pflichtet – nach ihrer Inhaftierung zunächst Zwangslagers blieb bis in die 1980er hinein nur sehr schlechte Schulbildung und ab weitestgehend unbeachtet, erst 1986 fand 1941/1942 gab es keinen Unterricht mehr. eine Gedenkfeier und die Enthüllung eines Darunter litten später viele der Überleben- Gedenksteines statt. den, weil sie dadurch Schwierigkeiten auf In einem weiteren Kapitel widmet sich Patri- dem Arbeitsmarkt erfuhren. cia Pientka auch der Organisationsgeschich- Ein weiterer spannender Aspekt ihrer Unter- te der Verfolgungsbehörden. So befand sich suchung ist Pientkas Analyse und Kommen- die bereits 1899 gegründete „Zigeunerpo- tierung des Manuskripts von Leo Karsten. lizeistelle“ ab 1937 als „Reichszentrale zur Der Leiter der Berliner „Dienststelle für Zi- Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ beim geunerfragen“ hatte 1958 als Kriminalober- Reichskriminalpolizeiamt. Die dortige Zen- meister einen Bericht zu den Umständen im tralisierung der Verfolgung von Sinte_zze Zwangslager geschrieben, den Pientka unter und Rom_nja wurde durch die Einrichtung anderem wie folgt kommentiert: „Karstens lokaler „Dienststellen für Zigeunerfragen“ Schilderungen des Lagers sind deutlich als umgesetzt, die oftmals auf die Erfahrungen Repräsentation einer nachhaltig wirken- und Akten vorheriger, kommunal zugeord- den verzerrten Wahrnehmung zu lesen, die neter, Stellen zurückgriffen. Die „Dienst- sich in der Nachkriegszeit offensichtlich mit stellen“ waren beauftragt eine vollständige Strategien der Selbstverteidigung verband.“ erkennungsdienstliche Erfassung samt Fin- (S.109) gerabdrücken vorzunehmen. Pientka gelang es auch mehrere Berichte, Eine große Stärke von Pientkas Studie ist die auf den Erinnerungen Internierter be- ihr Ansatz der integrierten Geschichte nach ruhen, einzubinden. Weiter konnte Pientka Saul Friedländer, bei dem sie ihre gründliche Personenakten der Berliner „Dienststelle Quellenauswertung mit den Perspektiven für Zigeunerfragen“ einsehen und so eini- von Betroffenen der nationalsozialistischen, ge Täterbiographien erarbeiten, wie die des Magazin vom 24.04.2019 18
Empfehlung Fachbuch ausgebildeten Maskenbildners Helmut Los- sagk, der spätestens ab 1943 bei der Berliner „Dienststelle für Zigeunerfragen“ tätig war. Durchgehend bemüht sich die Autorin um einen reflektierten Umgang mit ihren Quellen, die zu einem großen Teil vorur- teilsbeladen sind, sei es in Behördenakten oder zwischen 1920 und 1970 erschienenen Schriften. Einige Lücken kann Pientka – wie schon Da- vid Zolldan in seinem LaG-Beitrag anführt – nicht schließen, was jedoch nicht ihr, son- dern der Quellenlage anzulasten ist. Über Todesfälle im Zwangslager wissen wir nur wenig. Auch zur Befreiung und dem Leben auf dem Lagergelände nach 1945 ist kaum etwas bekannt. Dennoch bleibt „Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn“ eine elementar wichtige Erweiterung für das Wissen um die Geschichte des Lagers und der Berlin- wie reichsweiten Verfolgung von Sinte_zze und Rom_nja. Insbesondere die umfassende Einbindung der Berichte von Verfolgten als Korrektiv der nationalsozialistisch gepräg- ten Quellen macht dieses Buch lesenswert und perspektiverweiternd. Pientka, Patricia: Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Ver- folgung und Deportation, (=Reihe Zeitge- schichteN, Band 11). Metropol Verlag, Ber- lin 2013. Magazin vom 24.04.2019 19
Empfehlung Fachbuch Katalog „45 Jahre Entschädigung warten. Sinte_zze und Bürgerrechtsarbeit deutscher Rom_nja waren jedoch 1956 durch ein Ur- Sinti und Roma“ teil des Bundesgerichtshofs (BGH) weitge- hend von Entschädigungen ausgeschlossen Von Lucas Frings worden. Die Richter behaupteten, die Ver- Seit 2016 tourt die Ausstellung „45 Jah- folgung vor 1943 sei nicht „rassisch begrün- re Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und det“ gewesen, eine Erklärung, die sich trotz Roma“ des Zentralrats Deutscher Sinti und Revidierung des Gesetzes 1963 noch lange Roma durch Deutschland. Die Inhalte der in Entschädigungsfragen wiederfand und 20 Tafeln erschienen kurz darauf zusätzlich dafür sorgte, dass sich der Kampf um An- als Katalog auf deutsch und englisch. erkennung und Entschädigung noch über Entlang einschneidender Momente von mehrere Jahrzehnte hinzog. Die Rechtspre- Bürgerrechtskämpfen zeigt der Katalog die chung beeinflusste auch Verfahren gegen fortlaufende Diskriminierung von Sinte_zze NS-Verbrecher. So wurde Paul Werner, SS- und Rom_nja in der BRD sowie die Protes- Oberführer im Reichssicherheitshauptamt te und Erfolge der Aktivist_innen. Dabei und einer der Haupttäter des Völkermords sahen sich die Aktiven mit einem großen an Sinte_zze und Rom_nja, mit Verweis auf staatlichen und gesellschaftlichen Unwillen das BGH-Urteil später nicht verurteilt. Dass bei Aufarbeitung und Erinnern von NS-Ver- der Bundesgerichtshof das Urteil 60 Jahre brechen sowie gleichermaßen mit aktuellem später öffentlich aufarbeitete ist ebenfalls Rassismus und Diskriminierungspraxen ein Teil von Ausstellung und Katalog. konfrontiert. Eine lange Kontinuität von Rassismus aus Die Berechnung von 45 Jahren Bürger- der Kaiserzeit bis heute weist auch die Son- rechtsarbeit sieht als Ursprung einen Auf- dererfassung von Sinte_zze und Rom_nja ruf des Zentral-Komitee der Sinti West- durch staatliche Stellen auf. Sie wandelte Deutschlands, der sich „an alle deutschen sich zwar sprachlich stets entlang politi- Sinti“ richtete. Der Titel von Ausstellung scher Debatten, blieb im Kern jedoch wei- und Katalog läuft dabei allerdings Gefahr, testgehend unverändert. Auf die offene die etwa auf S. 17 erwähnten Bemühungen Verfolgung im Nationalsozialismus folgten um juristische Aufarbeitung von NS-Ver- „Landfahrerstellen“ der Landeskrimina- brechen und Selbstorganisation in der un- lämter, die bis in die 1970er hinein gezielt mittelbaren Nachkriegszeit aus dem Blick Sinte_zze und Rom_nja kontrollierten und zu drängen. erfassten. Selbst nach deren Auflösung setz- te sich eine Markierung in Polizeiakten fort, Bekannterweise mussten viele Opfer der die 1982 von der Innenministerkonferenz nationalsozialistischen Verbrechen lan- gegen Proteste verteidigt wurde. Unter an- ge auf ihre Anerkennung und finanzielle derem mit dem Druck einer Demonstration Magazin vom 24.04.2019 20
Empfehlung Fachbuch zum 50. Jahrestag der Machtübertragung In den 1990ern etablierte sich die Bürger- an die Nationalsozialisten konnte der Zent- rechtsarbeit in der deutschen Politik. Die ralrat Deutscher Sinti und Roma erreichen, Anerkennung als nationale Minderheit, die dass das Kürzel „ZN“ für „Zigeunername“ Eröffnung des Dokumentations- und Kul- nicht weiterverwandt wurde. Allerdings turzentrums Deutscher Sinti und Roma in wurde der Vermerk lediglich zu „Häufig Heidelberg 1997 und der Beschluss zur Er- Wechselnder Aufenthaltsort“ umbenannt. richtung eines Denkmals für die im Natio- Laut den Verfasser_innen des Katalogs wer- nalsozialismus ermordeten Sinti und Roma den aber bis heute „immer wieder Fälle von in Berlin geschahen zwar nicht ohne Wider- derartiger Sondererfassung durch die Poli- stand in der Politik, führten aber zu einer zeibehörden bekannt“ (S.37). gesteigerten öffentlichen Sichtbarkeit der Es wird deutlich, dass oftmals erst eine öf- Gruppen und ihrer Interessen. fentliche Wahrnehmung der Anliegen und Abschließend erfahren die Leser_innen Forderungen geschaffen werden musste, mehr über die internationale Arbeit des Zen- teilweise mit drastischen Maßnahmen, wie tralrats und des Dokumentationszentrum, dem Hungerstreik auf dem Gelände der KZ- etwa über die Gründung des „International Gedenkstätte Dachau. Am Karfreitag 1980 Movement Against Discrimination and Ra- hatten zwölf Sinti dort einen Hungerstreik cism“ oder den Europäischen Bürgerrechts- begonnen, um eine Aufklärung über die Ak- preis der Sinti und Roma. ten der ehemaligen „Landfahrerzentrale“ Der Katalog ist verhältnismäßig überschau- der bayerischen Kriminalpolizei zu fordern. bar. Für eine tiefergehende Beschäftigung Der einwöchige Streik erreichte große me- wäre es interessant gewesen, wer genau die diale und gesellschaftliche Beachtung. Das verschiedenen Akteur_innen und Organisa- bayerische Innenministerium sowie Bun- tionen, noch vor der Entstehung des Zent- desjustizminister Hans-Jochen Vogel sag- ralrats Deutscher Sinti und Roma, waren. ten zu, die Vorurteile gegen Sinte_zze und Andererseits können die Ausstellungsma- Rom_nja abbauen zu wollen. cher_innen vermutlich nicht davon ausge- Die Anerkennung des NS-Völkermordes hen, dass Besucher_innen und Leser_innen durch Bundeskanzler Schmidt, unmittelbar über großes Hintergrundwissen über die nach der Gründung des Zentralrats Deut- Geschichte der Bürgerrechtsbewegung von scher Sinti und Roma 1982 als Gesprächs- Sinte_zze und Rom_nja verfügen. Genau partner für die Bundesregierung, war ein dafür liefern Ausstellung und Katalog einen Meilenstein für die Bewegung. Dieser Pro- wichtigen Beitrag. zess und die Erinnerung an den Völkermord Dem Katalog der Ausstellung gelingt es vor in Parlamenten wie in Gedenkstätten neh- allem, Sinte_zze und Rom_nja nicht nur als men einen weiteren Teil des Kataloges ein. Opfer von Rassismus und Verfolgung im NS Magazin vom 24.04.2019 21
Empfehlung Fachbuch und in der BRD darzustellen, sondern zeigt Ländern des Westbalkans wurde in Deutsch- sie als handelnde Akteur_innen mit politi- land auf eine Art und Weise geführt, bei der schem Willen und Widerstandskraft gegen die sogenannte Einwanderung in unsere anhaltende Diskriminierung. So erfahren Sozialsysteme zum Synonym wurde für Mi- Leser_innen die Namen von Überlebenden gration von Roma aus diesen Ländern. Dies wie Franz Wirbel und Aktivist_innen wie wiederum ist Ursache dafür, dass viele Sinti Ranco Brantner. Im Mittelpunkt steht ins- und Roma in Deutschland, gerade wenn sie besondere die Familie Rose. Oskar Rose und in qualifizierte Berufe streben, ihre Zugehö- Vinzenz Rose, die bereits in den 1950ern rigkeit zur Minderheit verbergen (...).“ (S.8) die nationalsozialistischen Verbrechen auf- Aktuelle Debatten, andauernde Stigmatisie- arbeiten wollten und insbesondere dessen rungen und Engagement von kürzlich nach Sohn bzw. Neffe Romani Rose sind in Text Deutschland migrierten Roma, wie die Be- und Bild sehr präsent. Auch werden Un- setzung des Denkmals im Berliner Tiergar- terstützer_innen der Bürgerrechtsgruppen ten 2016 wären Themen, die im Anschluss und Anliegen, wie Uta Horstmann und Si- an die breit gefächerte geschichtliche Ausei- mon Wiesenthal erwähnt. nandersetzung in Ausstellung bzw. im Kata- Jedes Ereignis ist bebildert und teilweise log in der Bildungsarbeit Platz finden könn- mit Zeitungsartikeln und Aufrufen verse- ten. hen, deren Lektüre spannende Einblicke in Debatten und Sprache der jeweiligen Zeit Der Katalog kann online heruntergeladen bietet. oder über den Zentralrat Deutscher Sinti Die Ausstellung ist eine Arbeit des Zentral- und Roma bestellt werden. rats Deutscher Sinti und Roma. Dement- sprechend finden insbesondere Aktionen des Zentralrats und deren Akteur_innen Platz. Für einen breiteren Blick wäre es spannend, wenn auch andere Organisationen von Sin- te_zze und Rom_nja in Deutschland ihren Raum im Erinnerungsdiskurs finden wür- den. Im Vorwort des Katalogs schlägt Roma- ni Rose den Bogen vom Antiziganismus im Nachkriegsdeutschland zu aktueller Ausgrenzung und Stigmatisierung im All- tag und auf politischer Ebene: „Die politi- sche Debatte über Zuwanderung aus den Magazin vom 24.04.2019 22
Empfehlung Unterrichtsmaterial Sinti und Roma in Berlin – 28 die Broschüre eine komplette Frage der Fragen und Antworten Entstehungsthematik. Zum anderen werden sie mittels Fakten und historischen Hin- Von Tanja Kleeh tergrundwissen widerlegt. An dieser Stelle Die von der Berliner Landeszentrale für po- könnte die Broschüre an Stärke gewinnen, litische Bildung herausgegebene Broschüre wenn direkt bei den Antworten auf weiter- „Sinti und Roma in Berlin – 28 Fragen und führende Quellen verwiesen würde. Das dies Antworten“ beinhaltet, wie der Titel ver- nicht geschieht, schmälert jedoch nicht den spricht, Fragen und Antworten über Sinti Informationsgehalt der Antworten. und Roma und deren Leben in Berlin. The- Fragen zur Diskriminierung im Allgemeinen matisch geht es von allgemeineren Fragen und Verfolgung der Sinti und Roma im Na- über historische Fragen hin zu konkreten tionalsozialismus im Speziellen werden ab Beispiel in Berlin. Frage 17 behandelt. Große Stärke zieht die Der Einstieg erfolgt über eher grundlegende Publikation dabei aus der vorgenommenen Fragen, d.h. wer Sinti und Roma sind und Definition von Antiziganismus. Dabei ist es worin der Unterschied zwischen Sinti und nicht allein die Definition an sich, sondern Roma besteht. Auch die Fragen nach Her- der Versuch, einen Definitionsrahmen zu kunftsländern, der Sprache und wie viele bieten und mit diesem zu arbeiten. Beson- Sinti und Roma denn tatsächlich in Berlin ders wichtig erscheint gerade im histori- leben werden beantwortet. Jede einzelne der schen Zusammenhang die Frage nach der Fragen nimmt in der Broschüre eine Seite offiziellen Anerkennung des Völkermordes ein, die entsprechend dem Thema illustriert an den Sinti und Roma. Auch hier kann auf- wurde. So ist etwa Frage sechs, die nach der grund des begrenzten Platzes nur eine sehr Religion der Sinti und Roma fragt, mit den kurze Antwort gegeben werden, die jedoch Symbolen der Weltreligionen gestaltet. nicht an Informationsgehalt verliert. Der di- Ab Frage elf geht es um Vorurteile und Kli- rekte Hinweis auf weiterführende Informa- schees, auf denen in den Antworten entspre- tionen wäre dennoch hilfreich, etwa um an chend eingegangen wird. Dabei sind gängi- dieser Stelle die Debatte weiterverfolgen zu ge, weitbekannte Klischees wie die Frage können. „Leben Sinti und Roma wirklich im Wohn- Abschließend (ab Frage 24) wird das Augen- wagen?“ oder die Frage, ob alle Roma arm merk auf die Bürgerrechtsbewegung sowie seien. In den Antworten wird zum einen he- auf heutige Selbstorganisationen gerichtet. rausgearbeitet, auf welcher Grundlage diese Dabei ist der Schwerpunkt Berlin, jedoch Annahmen entstanden, d.h. es kann nach- können manche Informationen bzw. Fragen vollzogen werden, wie sich das jeweilige Kli- - beispielsweise wie sich für die Rechte von schee entwickelt hat. Mit Frage 16 – „Woher Sinti und Roma eingesetzt werden kann - kommen die vielen Klischees?“ – widmet auch auf weitere Städte, Bundesländer oder Magazin vom 24.04.2019 23
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