LAG - MAGAZIN ROM_NJA IN BERLIN - SINT_EZZE UND - LERNEN AUS DER GESCHICHTE

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LaG - Magazin

   Sint_ezze
     und
   Rom_nja
   in Berlin
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Präventionsarbeit gegen Antiziganismus und Empowermentangebote – Das Bildungsforum
gegen Antiziganismus...............................................................................................................4
Bildungs- und Empowermentaspekte in der Arbeit von Amaro Drom e.V.............................8
Berliner Politik und die Lage von zugewanderten Rom_nja..................................................13

Empfehlung Fachbuch
Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn.......................................................16
Katalog „45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma“.......................................20

Empfehlung Unterrichtsmaterial
Sinti und Roma in Berlin – 28 Fragen und Antworten...........................................................23

Empfehlung Film
Bei uns ist das so – Roma in Berlin-Friedrichshain...............................................................25

Empfehlung Web
RomArchive – das digitale Archiv der Sinti und Roma.........................................................27

Projektvorstellung
Bildungsangebote für Sinte_zze und Rom_nja.....................................................................29

Neu eingetroffen
»Wir wollten unsere Zukunft nicht versäumen.« Geschichten von Romnja aus Rumänien...31

                                                                                  Magazin vom 24.04.2019 2
Einleitung

Liebe Leser_innen,                             Das nächste LaG-Magazin erscheint am 29.
wir begrüßen Sie zur April-Ausgabe des LaG-    Mai in Zusammenarbeit mit dem Demokra-
Magazins. Es befasst sich schwerpunktmä-       tieprojekt Thüringen 19_19.
ßig mit der Lebenssituation und mit Projek-
ten von oder für Sinte_zze und Rom_nja in      Ihre LaG-Redaktion
Berlin. Die ursprüngliche Planung sah vor,
die externen Beiträge ausschließlich von An-
gehörigen der Minderheit oder ihrer Selbst-
organisationen schreiben zu lassen. Dass
diese Idee nicht aufgegangen ist, verweist
auf ein Ressourcenproblem. Die verhält-
nismäßig wenigen Aktiven sind anhalten-
den Mehrfachbelastungen ausgesetzt. Wir
hoffen eine interessante Ausgabe gestaltet
zu haben, auch wenn wir uns über die Pro-
blematik des Schreiben über Sinte_zze und
Rom_nja bewusst sind.
Tobias von Borcke stellt die Geschichte und
Arbeit der Berliner Dependance des Doku-
mentations- und Kulturzentrum Deutscher
Sinti und Roma in Heidelberg vor. Aus dem
Berliner Büro wurde jüngst das Bildungsfo-
rum gegen Antiziganismus.
Anna Friedrich schreibt über die Jugend-
selbstorganisation von Rom_nja und Sin-
ti_zze, Amaro Drom, die ihren Sitz in Berlin
hat, und deren Empowermentarbeit.
Einen Blick auf Versuche und Schwierigkei-
ten der Berliner Senatspolitik die Situation
von zugewanderten und eingesessenen Sin-
te_zze und Rom_nja in der Stadt zu verän-
dern, wirft Ingolf Seidel.
Ein herzlicher Dank geht an die beiden ex-
ternen Autor_innen dieser Ausgabe.

                                                       Magazin vom 24.04.2019 3
Zur Diskussion

Präventionsarbeit gegen Anti-                 Zusammen mit einer wissenschaftlichen
ziganismus und Empowermen-                    Bibliothek und Mediensammlung hat sich
tangebote – Das Bildungsforum                 das Dokumentationszentrum als zentraler
gegen Antiziganismus                          Anlaufpunkt für Recherchen zur Geschichte
                                              der Sinti und Roma in Deutschland und da-
„Bauen wir gemeinsam ein Europa und in
                                              rüber hinaus etabliert. Seit dem Jahr 2019
der ganzen Welt eine Gesellschaft auf, in
                                              kuratiert und verwaltet das Zentrum zudem
der Sinti und Roma und alle anderen Min-
                                              das RomArchive: ein internationales digita-
derheiten nicht länger diskriminiert wer-
                                              les Archiv für die Künste und Kulturen der
den. Schweigen wir nicht, wenn wir Zeugen
                                              Sinti und Roma als stetig wachsende Samm-
eines Unrechts werden! Erheben wir unsere
                                              lung von Kunst aller Gattungen, erweitert
Stimme gegen die Gleichgültigkeit!“
                                              um historische Dokumente und wissen-
      Die Zeitzeugin Rita Prigmore in ihrer   schaftliche Texte.
    Ansprache anlässlich der Eröffnung des    Das Dokumentations- und Kulturzentrum
     Bildungsforums gegen Antiziganismus      bietet zahlreiche pädagogische Formate
                                              für verschiedene Zielgruppen an. Durch
Das 1997 in Heidelberg eröffnete Dokumen-     Workshops, Diskussionen, Projekttage und
tations- und Kulturzentrum Deutscher Sin-     die Begleitung und Beratung universitärer
ti und Roma hat sich als erste Einrichtung    und schulischer Arbeiten – um nur einige
überhaupt die Erforschung, Dokumentation      Beispiele zu nennen – wird die Geschichte
und Vermittlung der über 600-jährigen Ge-     des nationalsozialistischen Völkermords an
schichte der Sinti und Roma in Deutschland    den Sinti und Roma mit ihren Bezügen zu
zur Aufgabe gemacht. Besonders im Fokus       aktuellem Antiziganismus vermittelt. 2015
steht dabei der NS-Völkermord an Sinti und    eröffnete das Berliner Projektbüro, welches
Roma, der jahrzehntelang aus dem öffentli-    Bildungsarbeit anbietet und für Fachveran-
chen Bewusstsein verdrängt worden ist. In     staltungen und Ausstellungen genutzt wird.
der weltweit einzigartigen Dauerausstellung   Im April 2019 ging aus dem Berliner Pro-
stehen u.a. Familienfotos und Berichte der    jektbüro das Bildungsforum gegen Antizi-
Überlebenden im Mittelpunkt.                  ganismus hervor, welches den Bezug zur
Das Dokumentations- und Kulturzentrum         Gegenwart ins Zentrum seiner Arbeit stellt.
verfügt über eine weltweit singuläre Samm-    Das Bildungsforum ist ein Ort des offenen
lung mit Zeugnissen der Verfolgten und        und demokratischen Dialogs, an dem Min-
Überlebenden in Form von Fotografien, In-     derheit und Mehrheit zusammenkommen.
terviews und Schriftstücken. Darüber hinaus   Ziel ist es, die Mehrheitsgesellschaft zu sen-
sammelt es Quellen wie auch Forschungser-     sibilisieren und damit antiziganistischen
gebnisse zur Geschichte der Sinti und Roma.   Denkstrukturen entgegenzuwirken. Außer-
                                              dem können Angehörige der Minderheit

                                                        Magazin vom 24.04.2019 4
Zur Diskussion

hier eigene Ideen und Projekte umsetzen.          – in Form kurzer Porträts – individuelle
Das Bildungsforum gegen Antiziganismus            Perspektiven auf die Frage, was die Zuge-
hat seinen Sitz in Berlin, bietet die Bildungs-   hörigkeit zur Minderheit heute bedeutet.
formate jedoch bundesweit an. In Work-            Die Panels sind als Dauerausstellung im Bil-
shops und Fachveranstaltungen werden              dungsforum in Berlin zu sehen und werden
Stereotype, Mechanismen und Auswirkun-            außerdem in einer transportablen Version
gen des Antiziganismus thematisiert, um zu        bundesweit an Interessierte verliehen. Er-
einem fundierten Verständnis dieser spezi-        gänzend zu den Panels wurden ein Katalog
fischen Form des Rassismus und zu seiner          in Einfacher Sprache und eine pädagogische
gesellschaftlichen Ächtung beizutragen.           Handreichung erstellt.
Spezielle thematische Angebote greifen zu-        Speziell an Angehörige der Minderheit rich-
dem Antiziganismus im Netz sowie in Film          ten sich Empowerment-Studienfahrten,
und Fernsehen auf. Der Stärkung der Zivil-        für die das Bildungsforum einen Rahmen
gesellschaft dient ein Argumentationstrai-        bietet. 2017 kam eine Gruppe Sinteze aus
ning, das der verbreiteten Sprachlosigkeit        Nordrhein-Westfalen und Bayern nach Ber-
bei rechten Parolen allgemein und antiziga-       lin, 2018 folgte eine Fahrt für junge Roma
nistischen Vorurteilen speziell entgegenwir-      aus Sachsen, die das Bildungsforum in Ko-
ken soll.                                         operation mit dem Verein Romano Sum-
Die Beschäftigung mit Antiziganismus geht         nal aus Leipzig organsierte. Thematisch
in der Arbeit des Bildungsforums mit der          ging es bei diesen Fahrten um Fragen der
Vermittlung grundlegenden Wissens über            Erinnerungskultur(en), um Selbstorganisa-
Geschichte, Gegenwart und Lebensreali-            tionen und politische Teilhabe. Die intensi-
täten von Sinti und Roma einher. Einen            ve Beschäftigung mit diesen Themen soll zur
besonderen Schwerpunkt stellt dabei die           (Weiter-)Entwicklung und Durchführung
Bürger- und Menschenrechtsarbeit von An-          eigener Projekte anregen und Perspektiven
gehörigen der Minderheit seit 1945 dar.           für neue Kooperationen eröffnen. Die Fahr-
                                                  ten haben einen festen Platz im Angebot des
Die thematische Breite der entwickelten
                                                  Bildungsforums und finden in Zusammen-
Bildungsangebote findet sich auch in den
                                                  arbeit mit verschiedenen Partner_innen re-
Info-Panels „HinterFragen. Sinti und Roma
                                                  gelmäßig statt.
– eine Minderheit zwischen Verfolgung und
Selbstbestimmung“ wieder. Nach diversen           Der nationalsozialistische Völkermord an
Begriffsklärungen geben die Panels einen          Sinti und Roma steht nicht im Fokus der
historischen Überblick, der im 15. Jahrhun-       Arbeit des Bildungsforums. Aber natürlich
dert beginnt und bis in die Gegenwart reicht.     spielt dieses Thema für jede fundierte Aus-
Vorgestellt werden auch verschiedene Selb-        einandersetzung mit Antiziganismus eine
storganisationen von Sinti und Roma sowie         bedeutende Rolle. Nicht nur hat der Völ-
                                                  kermord gezeigt, welche Konsequenzen der

                                                           Magazin vom 24.04.2019 5
Zur Diskussion

Antiziganismus haben kann. Auch die Ge-        jeweiligen Kooperationspartner_innen ken-
genwart von Angehörigen der Minderheit         nenzulernen. Bisher waren dies das Max-
in Deutschland und Europa ist bis heute        Mannheimer-Studienzentrum in Dachau,
nachhaltig geprägt von der Ausgrenzung,        die Stiftung Denkmal für die ermordeten
der Verfolgung und dem Massenmord im           Juden Europas in Berlin, der Lernort Ge-
Nationalsozialismus.                           schichte in Stuttgart und die Mahn- und
Aus diesem Grund bietet das Bildungs-          Gedenkstätte Düsseldorf. Das nächste Tref-
forum zur Geschichte des Völkermordes          fen ist für Oktober 2019 in der Mahn- und
Workshops, Veranstaltungen zu Gedenkta-        Gedenkstätte Ravensbrück in Kooperation
gen und Begleitungen von Gruppen, die das      mit den dortigen Pädagogischen Diensten
Denkmal für die im Nationalsozialismus er-     geplant.
mordeten Sinti und Roma Europas in Ber-        Auf politischer Ebene sind in den letzten
lin besuchen. In diesem Kontext ist auch die   Monaten wichtige Schritte hin zur Äch-
Frage wichtig, wie und von wem die Erinne-     tung und Bekämpfung des Antiziganismus
rung an die Verbrechen der NS-Zeit getra-      zu verzeichnen. So fand im März 2019 zum
gen und gestaltet wird. An die Verfolgten      ersten Mal eine Bundestagsdebatte zu die-
der NS-Zeit nicht ausschließlich als Opfer,    sem Thema statt. Im selben Monat nahm
sondern auch als aktive Handelnde zu erin-     auch die von der Bundesregierung berufene
nern, die sich der Verfolgung in vielen Fäl-   unabhängige Expertenkommission Antizi-
len nach Kräften widersetzt haben, war etwa    ganismus ihre Arbeit auf. Um dem Antizi-
ein wichtiger Impuls für eine Zusammenar-      ganismus gesellschaftlich entgegenwirken
beit mit der Gedenkstätte Deutscher Wider-     zu können, ist neben den politischen Bemü-
stand. Aus dieser ging eine umfangreiche       hungen auch eine Stärkung der Initiativen
biografisch orientierte Publikation mit dem    im Bildungsbereich notwendig. Hierzu soll
Titel „‘Wir geben uns nicht in ihre Hände‘     das Bildungsforum einen Beitrag leisten.
– Bildungsmaterialien zum Widerstand von
Sinti und Roma gegen den Nationalsozia-
lismus“ hervor. Das jährlich stattfindende
Netzwerktreffen zur historisch-politischen
Bildungsarbeit ermöglicht bereits seit 2015
interessierten Mitarbeiter_innen von Ge-
denkstätten aus dem ganzen Bundesgebiet
einen Austausch über die Vermittlung der
Geschichte des Völkermordes an Sinti und
Roma . Neben unterschiedlichen thema-
tischen Schwerpunkten bieten diese Tref-
fen Gelegenheit, die Bildungsarbeit der

                                                        Magazin vom 24.04.2019 6
Zur Diskussion

 Weitere Informationen und Kontakt
BILDUNGSFORUM GEGEN
ANTIZIGANISMUS
Dokumentations- und Kulturzentrum Deut-
scher Sinti und Roma
Prinzenstraße 84.2
10969 Berlin
Telefon +49 30 690042290
E-Mail: berlin@sintiundroma.de
www.gegen-antiziganismus.de

Dokumentations- und Kulturzentrum Deut-
scher Sinti und Roma
Bremeneckgasse 2
69117 Heidelberg Telefon +49 6221 98 11 02
E-Mail: info@sintiundroma.de
www.sintiundroma.de

                                 Über den Autor
            Tobias von Borcke ist Mitarbeiter des
  Bildungsforums gegen Antiziganismus in Berlin.

                                                    Magazin vom 24.04.2019 7
Zur Diskussion

Bildungs- und                                            einzustehen. Aber die Stärkung der Min-
Empowermentaspekte in der                                derheit alleine reicht nicht aus. Insbe-
Arbeit von Amaro Drom e.V.                               sondere mit Blick auf den anhaltenden
                                                         Rechtsruck in Deutschland braucht es
Von Anna Friedrich
                                                         vor allem auch Aufklärungs- und Sen-
Amaro Drom e.V. ist die wichtigste bundes-               sibilisierungsarbeit, um die Realität der
weite Jugendselbstorganisation von Rom_                  Minderheit bekannter zu machen, Vor-
nja1 und Sinti_zze. Unsere Arbeitsschwer-                urteile zu bekämpfen und um perspekti-
punkte sind Jugendverbandsarbeit, die                    visch zu einem positiven Klima des Mit-
Vertretung der Interessen von Jugendlichen               einanders zu gelangen. Das funktioniert
sowie Antidiskriminierungsarbeit. Hier hat               nur, indem man im Austausch miteinan-
der Verein bereits wertvolle Kompetenzen                 der steht, indem man nicht übereinan-
aufgebaut.                                               der, sondern miteinander spricht“.
Eine unserer Stärken liegt in der transkul-           Amaro Drom setzt sich aktiv für Respekt
turellen Ausrichtung – Rom_nja, Sinti_zze             und gesellschaftliche Teilhabe von Rom_
und Menschen, die weder Rom_nja noch                  nja und Sinti_zze ein. Wir kritisieren den
Sinti_zze sind, arbeiten bei uns auf allen            Alltagsrassismus, die ausgrenzenden gesell-
Ebenen zusammen. Dabei hat der gegen-                 schaftlichen Mechanismen und politischen
seitige Austausch einen großen Stellenwert.           Entscheidungen, welche die physische und
Diesen Anspruch setzt Amaro Drom e.V. auf             psychische Unversehrtheit von Rom_nja
vielfältige Weise um. Die Ziele und Schwer-           bzw. Sinti_zze gefährden. Wir stärken jun-
punkte der Vereinsarbeit fasst der zweite             ge Rom_nja und Sinti_zze, damit sie sich
Vorstandsvorsitzende, Silas Kropf, folgen-            selbstbewusst für ihre Interessen einsetzen
dermaßen zusammen:                                    können. Und wir sensibilisieren Angehöri-
   „Immer mehr jugendliche Sinti und                  ge der Mehrheitsbevölkerung für die viel-
   Roma schließen sich in Selbstorganisa-             schichtige Diskriminierung von Rom_nja
   tionen zusammen und erheben gemein-                und Sinti_zze. Wir verstehen unsere Ver-
   sam ihre Stimme, um für ihre Rechte                einsarbeit daher als einen wichtigen Beitrag
                                                      zu rassismuskritischer Bildung. Ein Beispiel
1 Wir verwenden in unseren Veröffentlichungen die
                                                      hierfür ist das Projekt „Dikhen amen!“.
genderinklusive Schreibweise Rom_nja und Sin-
ti_zze, um nicht-männliche Positionen und Positio-         Als junge Rom_nja und Sinti_zze
nen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit sichtbar zu        selbstbewusst nach außen treten
machen. Das Wort Rom_nja geht auf die Romanes-        Das Projekt „Dikhen amen!“ besteht seit
Worte Roma (Plural männlich) und Romnja (Plural       2015. Sein Hauptziel ist das Empowerment
weiblich) zurück. Das Wort Sinti_zze geht auf die     junger Rom_nja und Sinti_zze. Darunter
Worte Sinti (Plural männlich) und Sintizze (Plural    verstehen wir Raum für Selbstbewusstsein,
weiblich) zurück.

                                                               Magazin vom 24.04.2019 8
Zur Diskussion

Selbstbehauptung und den Kampf um Aner-         Rom_nja und Sinti_zze. Ein wichtiger An-
kennung als gleichberechtigter Teil der Ge-     satz ist, dass die Jugendlichen sich mit ih-
sellschaft zu schaffen. Die Aktivistin Fatima   rer eigenen Geschichte beschäftigen. Einen
Hartmann sagt hierzu:                           Schwerpunkt setzen wir hier auf die Ausein-
   „Empowerment heißt für mich, sich sel-       andersetzung mit dem Genozid an Rom_nja
   ber entwickeln, in seinem Denken wei-        und Sinti_zze im Nationalsozialismus. Denn
   terkommen und neue Projekte angehen.         fast alle Jugendlichen stammen aus Famili-
   Es bedeutet sich zu fragen: ‚Was können      en von Überlebenden des Genozids. In den
   wir, was kann jeder Einzelne von uns,        Schulen, aber auch sonst, erfahren sie nur
   verändern, damit es uns als Menschen         sehr wenig über diesen Teil ihrer Geschich-
   besser geht?‘“                               te.

Wir verstehen Empowerment-Arbeit als ei-        Welche Effekte der Blick in die Vergangen-
nen wichtigen Ansatz in unserer Vereins-        heit für das heutige Leben der Jugendlichen
arbeit. Denn rassistische Vorurteile gegen      hat, fasst Joschla Weiß, ehemalige päda-
Rom_nja und Sinti_zze sind noch immer           gogische Leiterin von „Dikhen amen!“, wie
weit verbreitet. In der Schule, im Ausbil-      folgt zusammen:
dungsbetrieb, an der Universität oder unter        „Aus dem Blick in die Vergangenheit
Kolleg_innen sind diskriminierende Ein-            können wir lernen, wie mit dem Genozid
stellungen gegen Rom_nja oder Sinti_zze            umgegangen wurde, wie er verarbeitet
sehr präsent. Dadurch haben die Jugend-            wurde und welche Stärken daraus ent-
lichen erschwerte Voraussetzungen, ein             stehen mussten. Es ist wichtig, sich zu
selbstbewusstes Verhältnis zu ihren diver-         erinnern und gleichzeitig den Blick nach
sen Identitäten zu entwickeln. Dies kann zur       vorne zu richten.“
Folge haben, dass sie sich weniger für ihre     Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass das
Interessen und Belange einsetzen.               Lernen über die eigene Geschichte beson-
Aus unserer Vereinsarbeit wissen wir, dass      ders erfolgreich ist, wenn die Jugendlichen
viele Jugendliche vermeiden, sich in der Öf-    im Austausch mit älteren Aktivist_innen
fentlichkeit als Rom_ni oder Sinte_zza zu       aus den eigenen Communities sind. Diese
erkennen zu geben. Dadurch schützen sie         können auf besonders empathische Wei-
sich vor Rassismuserfahrungen. Durch un-        se und aus eigener Erfahrung berichten.
ser Projekt tragen wir dazu bei, diesen Fol-    Außerdem waren viele der Aktivist_innen
gen von Rassismus gegen Rom_nja und Sin-        maßgeblich an den Kämpfen der deutschen
ti_zze etwas entgegen zu setzen.                Sint_zze und Rom_nja für die Anerkennung
Durch die inhaltliche Arbeit und unser          des Genozids in der deutschen Gesellschaft
methodisches Vorgehen öffnen wir den            beteiligt. Die Jugendlichen lernen so auch
Raum für das Empowerment jugendlicher           Geschichten von Widerstand kennen. Dies

                                                         Magazin vom 24.04.2019 9
Zur Diskussion

ist ein wichtiges Vorbild für den Umgang         Rom_nja und Sinti_zze ist das Ziel von
mit den heutigen Lebenssituationen, in de-       „Dikhen amen!“. Das Projekt hat auch die
nen sich die jungen Rom_nja und Sinti_zze        Sensibilisierung für Rassismus bei denje-
befinden.                                        nigen zum Ziel, die weder Rom_nja noch
Wir erleben auch in den anderen Themen-          Sinti_zze sind. Auch hier unterstützen wir
bereichen des Projektes, dass die Jugend-        junge Rom_nja und Sinti_zze dabei, selbst
lichen besonders viel und gern von aktivis-      aktiv zu werden. Zentraler Bestandteil hier-
tischen Rom_nja und Sinti_zze lernen. Sei        für ist die Teamer_innen-Ausbildung. Diese
es bei Fragen von Einwanderung und Blei-         startete im November 2018. Im Rahmen der
berecht, Geschlechtergerechtigkeit, Men-         Ausbildung qualifizieren wir 16 junge Rom_
schenrechten oder Bildung.                       nja und Sinti_zze aus ganz Deutschland für
                                                 die politische Bildungsarbeit.
Zentraler Bestandteil unserer methodischen
Arbeit ist, dass wir das Selbstbewusstsein der   Im Rahmen der Ausbildung lernen die Teil-
Jugendlichen fördern. Wir vermitteln ihnen       nehmenden in sechs Modulen, wie man
auch ein gesteigertes Bewusstsein über die       Workshops für andere Jugendliche plant
Stärken der Communities. Dazu zählen As-         und durchführt. Sie erfahren, wie sie an-
pekte wie Mehrsprachigkeit, starke soziale       dere junge Rom_nja und Sinti_zze zusam-
Netzwerke oder Strategien im Umgang mit          menbringen und stärken können. Sie lernen
Rassismus.                                       außerdem, Jugendliche für den Rassismus
                                                 gegen Rom_nja und Sinti_zze zu sensibili-
Unsere bisherige Projekterfahrung zeigt,
                                                 sieren.
dass sich nicht nur kognitive, sondern auch
künstlerische Ansätze für die Vermittlung        Durch die Teamer_innen-Ausbildung ler-
von Wissen eignen. Dabei sind besonders          nen die Teilnehmenden, souverän in der
theaterpädagogische Arbeitsweisen hervor-        Öffentlichkeit aufzutreten. Daraus resultiert
zuheben. Indem die Jugendlichen ihre per-        nicht nur ein gesteigertes Selbstbewusst-
sönlichen Erfahrungen mit Diskriminierun-        sein. Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Ju-
gen auf kreative Weise erforschen, können        gendlichen auch zu positiven Vorbildern für
mehrdimensionale Diskriminierungserfah-          andere junge Menschen werden. Außerdem
rungen aufgedeckt und gemeinsam reflek-          lernen die Jugendlichen, sich für ihre per-
tiert werden. Auch können die damit zusam-       sönlichen und politischen Belange aktiv in
menhängenden Gefühle besser erkannt und          die Gesellschaft einzubringen.
aufgefangen werden.                                                  „Romane Krla – die
      Andere Jugendliche für die The-                                Rom_nja Stimmen“
      men von Rom_nja und Sinti_zze                         für ein sichtbares Gedenken
                      sensibilisieren            „Dikhen amen!“ ist nicht das einzige Projekt
Aber nicht nur das Empowerment junger            von Amaro Drom, welches die Ausbildung

                                                          Magazin vom 24.04.2019 10
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von Multiplikator_innen im Fokus hat. Un-      vor allem die gegenseitige Vernetzung der
ser Projekt „Romane Krla – die Rom_nja         Jugendlichen und der Austausch mit Rom_
Stimmen“ widmete sich diesem Vorhaben          nja und Sinti_zze aus älteren Generationen
mit Schwerpunkt auf den Genozid an den         nicht unterschätzt werden. So können sich
Rom_nja und Sinti_zze im Nationalsozia-        alle Teilnehmenden gegenseitig auch in
lismus.                                        schwierigen Situationen unterstützen und
Das Projekt, das im Juni 2017 begann und       sich motivieren, im Leben nicht aufzugeben,
im Dezember 2018 endete, bot eine einzig-      auch wenn der Rassismus gegen Rom_nja
artige Gelegenheit für junge Rom_nja-Ak-       und Sinti_zze viele Hürden bereitstellt.
tivist_innen. Sie erlernten, Wissen über die   Genauso wichtig, wie es ist, innerhalb der
Ermordung von Rom_nja, Jüd_innen und           Communities zu wirken, ist es, die Perspek-
anderen Minderheiten während des Zweiten       tiven vom Rom_nja und Sinti_zze nach au-
Weltkrieges, sowie vergangene und aktuel-      ßen zu tragen und Menschen für den spezifi-
le Mechanismen von Rassismus an andere         schen Rassismus zu sensibilisieren. Hierfür
Menschen weiterzugeben.                        bilden wir jugendliche Rom_nja und Sinti_
Ähnlich wie „Dikhen amen!“ bot das Pro-        zze zu Multiplikator_innen aus. Diese sind
jekt „Romane Krla!“ eine Plattform für das     nach der Ausbildung in der Lage, vor allem
Zusammenkommen junger Rom_nja und              Jugendliche, die weder Rom_nja noch Sin-
Sinti_zze. Durch diese Zusammenkünfte          ti_zze sind, Themen aus den Communities
konnten die Teilnehmenden über die eige-       näher zu bringen und den allgegenwärtigen
ne Geschichte diskutieren und die eigenen      Rassismus zu hinterfragen. Gerade in Zei-
Erzählungen an Orte bringen, in denen sie      ten, in denen rassistische, menschenverach-
normalerweise nicht gehört werden (z.B.        tende und rechtsextreme Einstellungen in
Schulen, politische Institutionen, Universi-   Deutschland und Europa erstarken, ist es
täten etc.). „Romane Krla!“ trug außerdem      uns wichtig, dass wir uns für die Überwin-
dazu bei, falsche Darstellungen zu überwin-    dung rassistischer Einstellungen, der Aner-
den, die in Workshops und anderen Aktivi-      kennung von Diversität und gleichen Ent-
täten über Rom_nja und Sinti_zze reprodu-      faltungsmöglichkeiten für alle Menschen
ziert werden.                                  einsetzen.

                 Durch Bildungs- und           Rassismus gegen Rom_nja und Sinti_zze
         Empowermentarbeit werden              ist ein sehr verbreitetes, aber immer noch
       gesellschaftliche Erfolge erzielt       wenig beachtetes Phänomen. Durch unse-
                                               re praktische Arbeit bei Amaro Drom e.V.
In unserem Text haben wir gezeigt, dass
                                               und seinen Untergliederungen bemerken
Empowerment von jugendlichen Rom_nja
                                               wir aber, dass erste Erfolge der Sensibilisie-
und Sinti_zze ein wichtiger Beitrag zur ras-
                                               rungsarbeit zum Thema zu verzeichnen sind
sismuskritischen Bildung ist. Dabei sollte
                                               und die Nachfrage für unsere Arbeit und die

                                                         Magazin vom 24.04.2019 11
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ähnlicher Initiativen steigt. Wir freuen uns
über gegenseitigen Austausch.

                                   Über die Autorin
 Anna Friedrich studierte Europäische Ethnologie
  und Westslawistik an der Humboldt-Universität
   zu Berlin. Sie leitet das Projekt „Dikhen amen!“
  bei Amaro Drom e.V. in Berlin. Sie ist außerdem
  als politische Bildnerin in den Bereichen Rassis-
 mussensibilisierung, geschlechtliche und sexuelle
              Vielfalt sowie Intersektionalität tätig.

                                                         Magazin vom 24.04.2019 12
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Berliner Politik und die Lage                  Gründe der ökonomisch desolaten Situation
von zugewanderten Rom_nja                      in den Herkunftsländern zu entfliehen. Und
                                               auch Rom_nja sind keine homogene Grup-
Von Ingolf Seidel                              pe. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen,
Rom_nja in der Großstadt Berlin, wie neh-      das selbst aus unterschiedlichen Dialekten
men Gadjes, also Nicht-Rom_nja, sie wahr?      bestehende Romanes ist nicht für alle Rom_
Vermutlich mehrheitlich in etwa so, wie es     nja verbindendend, sie sind Muslime oder
ein Artikel aus dem Tagesspiegel vom Mai       Christ_innen. Und, es gibt in jedem Land
2017 nahelegt: „Meist geht es eigentlich nur   vielfältige Aufstiegsbiografien von Angehö-
um bestimmte Roma. Um jene Familien, die       rigen der Minderheit. Es ist im Wesentlichen
in Parks, auf Treppen oder in Obdachlosen-     die Wahrnehmung der Nicht-Rom_nja, die
heimen schlafen. Auch um die Mädchen,          homogenisierend wirkt.
die am Strich an der Kurfürstenstraße ste-     Mit dem Zusammenbruch der sich sozia-
hen. Um bettelnde Kinder und solche, die       listisch nennenden Staaten des ehemaligen
an Ampeln ungefragt Autoscheiben putzen.       Warschauer Pakts wurden auch die Groß-
Es geht um die Verfahren gegen Diebesban-      industrien und die Agrarindustrie geschlos-
den – um gestohlene Handtaschen, Kup-          sen und privatisiert. Bereiche in denen viele
ferkabel, Schmuck. Sozialarbeiter, Beamte,     Rom_nja häufig als ungelernte Arbeiter_in-
Lehrer, sogar EU-Diplomaten und selbst         nen ihr Auskommen hatten. Die universa-
Drina und ihr Freund sagen: Ja, oft sind’s     listische Politik gegenüber Rom_nja in den
Roma vom Balkan.“ Einmal davon abgese-         staatssozialistischen Ländern ist zumindest
hen, dass mit „Drina“ eine Romnja quasi        zwiespältig zu nennen. Im Kern lief sie auf
als Kronzeugin dafür herangezogen wird,        eine Assimilation hinaus und war zudem
dass „die“ so sind – ein Muster, dass auch     häufig von Ressentiments und Diskriminie-
aus dem Antisemitismus bekannt ist –, reiht    rungen durchzogen. Da es meist an Mög-
das Zitat wohl die Mehrzahl der aktuell be-    lichkeiten der Bildungsteilhabe mangelte,
stehenden Klischees über Angehörige der        waren die Aufstiegschancen gering. Die
Minderheit aus den Ländern Mittel- und         Mehrzahl der Rom_nja verblieb im Status
Südosteuropas aneinander. Hinterfragt          von ungelernten Arbeitskräften und daher
wird im Tagesspiegel nicht, ob es sich bei     waren sie die ersten, die beim Übergang in
den als „Roma“ Bezeichneten auch wirk-         die kapitalistische Wirtschaftsordnung ihre
lich um Angehörige der Minderheit handelt.     Arbeitsplätze verloren. Es ist sicher nicht
Gerne werden Menschen, die aus Rumänien        übertrieben festzustellen, dass Rom_nja
oder Bulgarien nach Deutschland kommen         zu den großen Verlierer_innen des Nieder-
pauschal als Rom_nja bezeichnet. Dabei         gangs des Ostblocks und der EU-Osterwei-
haben verarmte Menschen, auch wenn sie         terung gehörten.
nicht der Minderheit angehören, genügend
                                               Unbestritten   ist,   dass    die   Zahl   von

                                                        Magazin vom 24.04.2019 13
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Migrant_innen aus den Ländern Bulga-           Berliner Wohnungsmarkt kaum eine Chan-
rien und Rumänien in den vergangenen           ce angemessenen Wohnraum zu bekom-
Jahren zugenommen hat: „Die Zahl der           men. Die Folge sind unter anderem Über-
bulgarischen Staatsangehörigen stieg von      belegungen in Wohnungen und Projekten,
21.393 in 2014 auf 26.910 in 2016, die der     nicht selten bereits heruntergekommene
rumänischen von 13.695 in 2014 auf 18.814     Immobilien, deren Zustand in der öffentli-
in 2016. Insgesamt waren am 31. Dezember       chen Wahrnehmung den Rom_nja angelas-
2016 45.724 Bulgaren und Rumänen in Ber-      tet werden.
lin gemeldet.“ (Senatsverwaltung 2017: 7)      Nicht ohne Konflikte entwickelte sich das
Der Senat von Berlin reagierte auf die EU-     Projekt eines Rahmenvertrages zwischen
Forderung von 2011, Maßnahmen für die          dem Land Berlin und der Minderheit, der im
Einbeziehung von Roma zu entwickeln, im        Koalitionsvertrag des rot-rot-grünen Senats
Jahr 2012 mit der „Berliner Strategie zur      vorgesehen ist. Als Vorlage dient ein bereits
Einbeziehung ausländischer Roma“. Ein         bestehender Vertrag in Baden-Württem-
Jahr später folgte der „Aktionsplan zur Ein-   berg, der überarbeitet und auch die Situa-
beziehung ausländischer Roma“. Der Akti-      tion von zugewanderten Rom_nja berück-
onsplan setzte sich zum Ziel die Zugänge für   sichtigen soll. Ein wesentlicher Punkt des
Rom_nja zu „Arbeit, Bildung, Gesundheit        Berliner Vertrages ist die Einrichtung eines
und Wohnen zu verbessern, die Regelinsti-      „Rates für die Angelegenheiten der Sinti und
tutionen der Daseinsfürsorge interkulturell   Roma“, dem jeweils sechs Vertreter_innen
für Roma zu öffnen, die Teilhabe von Roma    der Minderheit sowie der Landespolitik und
durch die Förderung ihrer Selbstorganisa-     Senatsverwaltung angehören sollen. Der Rat
tionen zu unterstützen und den Antiziga-      soll die Position von Sinte_zze und Rom_
nismus zu bekämpfen.“ (Senatsverwaltung       nja stärken, indem er etwa Empfehlungen
2015:7) Kritiker_innen des Rromano Bünd-       zur Minderheitenpolitik an die Landesre-
nisses Berlin, dem die IniRromnja, die Ini-    gierung ausspricht oder auf Transparenz bei
tiative – Jugendtheater So keres?, das Rro-    der Verteilung von Fördermitteln an Selbst-
ma Informations Centrum und der Verein         organisationen der Minderheit achtet. Aller-
Roma Akathe angehören, sprachen davon,         dings war vorgesehen, den Rahmenvertrag
dass der Aktionsplan die Einbeziehung von      nur mit einer Minderheitenorganisation
Rom_nja im Titel enthalte, dabei aber sozi-    abzuschließen. Die Wahl fiel dabei auf den
ale Probleme wie Wohnungslosigkeit, Pros-      Landesrat der Roma und Sinti, RomnoKher
titution oder häusliche Gewalt zu Lasten der   Berlin-Brandenburg. RomnoKher wurde im
Minderheit ethnisieren würde (Vgl. Romano      Mai 2016 gegründet. Seine Vorsitzende ist
Bündnis 2018). In der Tat haben zugewan-       die Sintezza Dotschy Reinhardt. Verschie-
derte Rom_nja allein aus ökonomischen          dene Selbstorganisationen von Sinte_zze
Gründen auf dem höchst angespannten            und Rom_nja reagierten düpiert, darunter

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auch der von Petra Rosenberg geleitete Lan-      Selbstorganisationen Eckpunkt erarbeitet.
desverband Deutscher Sinti und Roma.             Der Prozess gestaltet sich nahezu zwangs-
Die Irritationen des Landesverbandes im          läufig langwierig. Hoffnungsvoll stimmt,
Vorfeld nicht über das Vertragsvorhaben          dass die Gleichberechtigung und Teilhabe
informiert worden zu sein, sind allein schon     der zugewanderten Rom_nja in das Ver-
aufgrund dessen langjährigen Engagements         tragswerk mit aufgenommen werden sol-
nachvollziehbar. Er war infolge der Bürger-      len. Es bleibt zu hoffen, dass ein Vertrags-
rechtsbewegung von Sinte_zze und Rom_            abschluss noch in dieser Legislaturperiode
nja 1978 erst unter dem Namen Cinti Union        zustande kommt.
Berlin gegründet worden. Die Umbenen-                                              Quellen
nung in den heutigen Namen erfolgt 1994.         Hannes Heine: Roma in Berlin. Die Dienst-
Der Auschwitz-Überlebende Otto Rosen-            reisenden vom Balkan, 18.05.2017, https://
berg war Gründungsmitglied und zugleich          www.tagesspiegel.de/themen/reportage/
langjähriger Vorsitzender. Seit 1989 unter-      roma-in-berlin-die-dienstreisenden-vom-
hält der Landesverband die senatsgeför-          balkan/19818192.html.
derte Sozialpädagogische Beratungsstelle,
                                                 Romano Bündnis: Kommentar zum zweiten
die sich für die soziale und gesellschaftliche
                                                 Bericht zur Umsetzung des Berliner Akti-
Gleichstellung für Sinte_zze und Rom_nja
                                                 onsplans zur Einbeziehung ausländischer
einsetzt.
                                                 Roma. Berlin 2018, http://rromano-buend-
Doch auch andere Selbstorganisationen            nis.de/wp-content/uploads/2018/09/er-
wie etwa die IniRromnja oder der Verband         klaerung_aktionsplan_2018.pdf.
Amaro Foro und weitere fühlten sich hin-
                                                 Senatsverwaltung für Integration, Arbeit
tergangen. Zudem bestehen Befürchtungen
                                                 und Soziales: Erster Bericht zur Umsetzung
der einzurichtende Rat könne ein reines
                                                 des Berliner Aktionsplans zur Einbezie-
Diskussionsforum ohne Einfluss werden.
                                                 hung ausländischer Roma. Berlin 2015, ht-
Zusammenfassend lässt sich feststellen,
                                                 tps://minor-wissenschaft.de/wp-content/
dass in Koalitionskreisen wohl nicht nur
                                                 uploads/2018/09/Erster_Bericht_Umset-
die Komplexität der Situation unterschätzt
                                                 zung_2015.pdf.
wurde, sondern dass die Beteiligten eige-
nen stereotypen homogenisierenden Sicht-         Senatsverwaltung für Integration, Arbeit
weisen sowie einer vor allem instrumentell       und Soziales: Zweiter Bericht zur Umset-
ausgerichteten Politik gefolgt sein dürften.     zung des Berliner Aktionsplans zur Einbe-
Eine Konkurrenzsituation über Repräsen-          ziehung ausländischer Roma. Berlin 2017,
tationsfragen der Minderheit wurde so zu-        https://minor-wissenschaft.de/wp-con-
mindest befeuert. Zur Ausgestaltung des          tent/uploads/2018/09/Zweiter_Bericht_
Vertrages gab es Runde Tische und in ei-         Umsetzung_2017.pdf.
ner Arbeitsgruppe werden gemeinsam mit

                                                          Magazin vom 24.04.2019 15
Empfehlung Fachbuch

Das Zwangslager für Sinti und                   unterschieden habe.
Roma in Berlin-Marzahn.                         Die Überlieferungen zum Lager sind lücken-
Von Lucas Frings                                haft, Unterlagen und Akten zur Belegung
                                                sind nur teilweise erhalten. Die Autorin
Die Geschichte der Zwangslager, in denen
                                                folgt der Einschätzung von Reimar Gilsen-
explizit Sinte_zze und Rom_nja konzent-
                                                bach, der bereits in den 1960ern Interviews
riert und später eingesperrt wurden, ist in
                                                mit Überlebenden des Zwangslagers führte,
der Aufarbeitung des Nationalsozialismus
                                                dass insgesamt etwa 1200 Menschen dort
noch immer verhältnismäßig spärlich be-
                                                interniert waren. Pientka ist es durch Re-
trachtet. Insbesondere lokale Studien stehen
                                                cherchen weiter gelungen, immerhin 340
zur Verfügung, wobei Patricia Pientkas Buch
                                                Häftlinge benennen zu können.
wertvolle Informationen über das ab 1936
bestehende Zwangslager in Berlin-Marzahn        Dem Narrativ, das Zwangslager in Berlin-
liefert. Unter anderem an der ungewöhnli-       Marzahn sei 1936 vor allem errichtet wor-
chen Organisationsstruktur – oft durch lo-      den, um für die Olympischen Spielen Sin-
kale Behörden initiiert - stellen diese Lager   te_zze und Rom_nja aus dem Stadtbild zu
„einen im Kontext des NS-Lagersystems in        verbannen, stellt sie Schriftverkehr zwi-
vielfacher Hinsicht schwer fassbaren Lager-     schen Behörden entgegen, der diese Absicht
typ dar (...)“ (S.9).                           bereits auf 1934 datiert. Spannend ist dar-
                                                an auch, dass sich in Berlin Wohlfahrtsamt,
Pientka geht chronologisch vor, über die
                                                NSDAP-Gauleitung, Rassenpolitisches Amt
Gründungsphase des Lagers, zu Lebensbe-
                                                und die Polizei einig waren, dass „Zigeuner“
dingungen, zur Organisation und Radikali-
                                                zur Überwachung in ein Lager gesperrt wer-
sierung der Verfolgung, zu den Deportati-
                                                den sollten, während in anderen Städten
onen und zum Umgang mit dem Ort nach
                                                Wohlfahrtsämter Abschiebungen vorzogen
1945.
                                                und sich gegen die polizeilich gewünschte
Zuvor skizziert sie die Situation von Sinte_    Kasernierung wandten.
zze und Rom_nja in Berlin Anfang des 20.
                                                Eine weitere Besonderheit ist das Interesse
Jahrhunderts und spricht unter anderem
                                                von nichtkommunalen Behörden wie der
die christliche Missionierung von Sinte_zze
                                                Staatspolizeileitstelle und dem Innenminis-
und Rom_nja und Diskriminierungsprakti-
                                                terium, die per Anweisung und Autorisie-
ken der preußischen Polizei an. Die Autorin
                                                rung zur Einrichtung des Lagers durch die
geht – bei gleichzeitiger Benennung einer
                                                Berliner Polizei führte.
schwierigen Forschungslage – davon aus,
dass sich das Leben des Großteil der Berli-     Dennoch kann das Berliner Hauptwohl-
ner Sinte_zze und Rom_nja vor 1933 hin-         fahrtsamt als „die treibende Kraft hinter der
sichtlich der Wohnorte und Betätigungen         Lagergründung gelten“ (S.38), wie Pientka
kaum von denen der Mehrheitsbevölkerung         in ihrem Buch ausführlich darlegt. Es kann

                                                         Magazin vom 24.04.2019 16
Empfehlung Fachbuch

als Beispiel dafür dienen, wie eine Radikali-    Reichsgesundheitsamtes, war unmittelbar
sierung und Verfolgungspraxis selbstinitia-      nach Einrichtung des Lagers bereits als Me-
tiv von unten erfolgte.                          dizinstudent in Marzahn um Untersuchun-
Die Rolle der konfessionellen Betreuung          gen an den Inhaftierten vorzunehmen. Dort
ist eine weitere Besonderheit des Berliner       stieß er allerdings auf großen Widerstand
Lagers. Die „Zigeunermission“ von protes-        der Inhaftierten, die sich, als bereits seit Ge-
tantischen und katholischen Einrichtungen        nerationen in Deutschland lebend, auf ihre
hatte, wie eingangs erwähnt, bereits lange       „arische Abstammung“ beriefen. Pientka
vor der Machtübertragung an die National-        stellt fest, „dass Mitte 1936 bei der Berliner
sozialisten begonnen, ließ sich aber bis circa   Polizeibehörde noch Skrupel gegenüber der
1938 auch im Zwangslager noch fortsetzen.        Gewaltanwendung bei rassenbiologischen
Dabei waren die Kommentare über die zu           Untersuchungen bestanden“ (S.54). Das
missionierenden durchaus paternalistisch         Aufzeigen einer solchen akteurszentrierten
und rassistisch, gleichzeitig fanden Sinte_      Perspektive und die Darstellung der Häft-
zze und Rom_nja in den Missionar_innen           linge als handelnde Subjekte ist ein erklär-
auch Unterstützer_innen, etwa beim Wi-           tes Anliegen von Pientka.
derstand gegen „rassenbiologische Untersu-       Über den Umgang und Weiterverbleib der
chungen“.                                        Häftlinge nach 1937 gab es verschiedene
Bis 1939 war es noch möglich, das Lager          Vorhaben. Immer wieder waren vereinzelt
tagsüber zu verlassen. Teilweise konnten In-     Sinte_zze und Rom_nja aus dem Marzahner
haftierte einer Arbeit nachgehen, wobei die      Lager in Konzentrationslager verschleppt
meisten bereits kurz nach ihrer Internierung     worden, 1939 gab es nicht umgesetzte Pläne
entlassen wurden oder durch die räumliche        Sinte_zze und Rom_nja nach Polen zu de-
Entfernung nicht mehr zur Arbeitsstelle ge-      portieren. Ab 1939 nahm die Zwangsarbeit
langen konnten. Vor allem aber mussten sie       in Fabriken aber auch als Statist_innen in
sich selbst durch Marken mit Lebensmitteln       Spielfilmen zu.
versorgen. Dabei erhielten sie aber oftmals      Den größten Einschnitt stellten jedoch die
nur die Restbestände der umliegenden Ge-         Deportationen in das Konzentrations- und
schäfte am Ende des Tages.                       Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau dar.
Pientka liefert mit ihrer Forschung auch         Die aus Marzahn im März 1943 deportierten
Informationen zu Täterbiographien, die           gehörten zu den ersten Häftlingen des „Zi-
zur Verfolgung der europäischen Sinte_zze        geunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau.
und Rom_nja bisher nur spärlich vorhan-          Das Zwangslager in Marzahn bestand mit
den sind. Gerhart Stein, später „Rassen-         wenigen Inhaftierten bis zur Befreiung
theoretiker“ unter anderem an der Berliner       durch die sowjetische Armee. Durch Trau-
Rassenhygienischen Forschungsstelle des          matisierung und fehlende Unterstützung im

                                                           Magazin vom 24.04.2019 17
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Nachkriegsdeutschland lebten einige sogar       antiziganistischen Gewalt kombiniert. So
weiterhin auf dem Gelände.                      bezieht sie in die Beschreibung der Le-
Nur manchen gelang die Anerkennung als          bensbedingungen, neben Fotografien und
„Opfer des Faschismus“, da die Behörden         Schreiben nationalsozialistischer Autoren,
in den meisten Fällen keine Verfolgung          maßgeblich die Berichte von Zeitzeug_in-
aus „rassischen Gründen“ annahmen, die          nen mit ein. Dabei setzt sie sich auch mit der
Bedingung für eine Unterstützung war. Pi-       spezifischen Bedeutung der Inhaftierung für
entka ist es gelungen, einige Kämpfe um         Kinder und Jugendliche auseinander, die
Anerkennung und Entschädigung in beiden         nach Pientka die Gewalt vermutlich anders
deutschen Staaten nachzuvollziehen.             wahrnahmen. Zudem erhielten sie ¬– ab
                                                13 Jahren waren sie zur Zwangsarbeit ver-
Das Gelände und die Geschichte des
                                                pflichtet – nach ihrer Inhaftierung zunächst
Zwangslagers blieb bis in die 1980er hinein
                                                nur sehr schlechte Schulbildung und ab
weitestgehend unbeachtet, erst 1986 fand
                                                1941/1942 gab es keinen Unterricht mehr.
eine Gedenkfeier und die Enthüllung eines
                                                Darunter litten später viele der Überleben-
Gedenksteines statt.
                                                den, weil sie dadurch Schwierigkeiten auf
In einem weiteren Kapitel widmet sich Patri-    dem Arbeitsmarkt erfuhren.
cia Pientka auch der Organisationsgeschich-
                                                Ein weiterer spannender Aspekt ihrer Unter-
te der Verfolgungsbehörden. So befand sich
                                                suchung ist Pientkas Analyse und Kommen-
die bereits 1899 gegründete „Zigeunerpo-
                                                tierung des Manuskripts von Leo Karsten.
lizeistelle“ ab 1937 als „Reichszentrale zur
                                                Der Leiter der Berliner „Dienststelle für Zi-
Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ beim
                                                geunerfragen“ hatte 1958 als Kriminalober-
Reichskriminalpolizeiamt. Die dortige Zen-
                                                meister einen Bericht zu den Umständen im
tralisierung der Verfolgung von Sinte_zze
                                                Zwangslager geschrieben, den Pientka unter
und Rom_nja wurde durch die Einrichtung
                                                anderem wie folgt kommentiert: „Karstens
lokaler „Dienststellen für Zigeunerfragen“
                                                Schilderungen des Lagers sind deutlich als
umgesetzt, die oftmals auf die Erfahrungen
                                                Repräsentation einer nachhaltig wirken-
und Akten vorheriger, kommunal zugeord-
                                                den verzerrten Wahrnehmung zu lesen, die
neter, Stellen zurückgriffen. Die „Dienst-
                                                sich in der Nachkriegszeit offensichtlich mit
stellen“ waren beauftragt eine vollständige
                                                Strategien der Selbstverteidigung verband.“
erkennungsdienstliche Erfassung samt Fin-
                                                (S.109)
gerabdrücken vorzunehmen.
                                                Pientka gelang es auch mehrere Berichte,
Eine große Stärke von Pientkas Studie ist
                                                die auf den Erinnerungen Internierter be-
ihr Ansatz der integrierten Geschichte nach
                                                ruhen, einzubinden. Weiter konnte Pientka
Saul Friedländer, bei dem sie ihre gründliche
                                                Personenakten der Berliner „Dienststelle
Quellenauswertung mit den Perspektiven
                                                für Zigeunerfragen“ einsehen und so eini-
von Betroffenen der nationalsozialistischen,
                                                ge Täterbiographien erarbeiten, wie die des

                                                          Magazin vom 24.04.2019 18
Empfehlung Fachbuch

ausgebildeten Maskenbildners Helmut Los-
sagk, der spätestens ab 1943 bei der Berliner
„Dienststelle für Zigeunerfragen“ tätig war.
Durchgehend bemüht sich die Autorin
um einen reflektierten Umgang mit ihren
Quellen, die zu einem großen Teil vorur-
teilsbeladen sind, sei es in Behördenakten
oder zwischen 1920 und 1970 erschienenen
Schriften.
Einige Lücken kann Pientka – wie schon Da-
vid Zolldan in seinem LaG-Beitrag anführt
– nicht schließen, was jedoch nicht ihr, son-
dern der Quellenlage anzulasten ist. Über
Todesfälle im Zwangslager wissen wir nur
wenig. Auch zur Befreiung und dem Leben
auf dem Lagergelände nach 1945 ist kaum
etwas bekannt.
Dennoch bleibt „Zwangslager für Sinti und
Roma in Berlin-Marzahn“ eine elementar
wichtige Erweiterung für das Wissen um die
Geschichte des Lagers und der Berlin- wie
reichsweiten Verfolgung von Sinte_zze und
Rom_nja. Insbesondere die umfassende
Einbindung der Berichte von Verfolgten als
Korrektiv der nationalsozialistisch gepräg-
ten Quellen macht dieses Buch lesenswert
und perspektiverweiternd.

Pientka, Patricia: Das Zwangslager für Sinti
und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Ver-
folgung und Deportation, (=Reihe Zeitge-
schichteN, Band 11). Metropol Verlag, Ber-
lin 2013.

                                                Magazin vom 24.04.2019 19
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Katalog „45 Jahre                             Entschädigung warten. Sinte_zze und
Bürgerrechtsarbeit deutscher                  Rom_nja waren jedoch 1956 durch ein Ur-
Sinti und Roma“                               teil des Bundesgerichtshofs (BGH) weitge-
                                              hend von Entschädigungen ausgeschlossen
Von Lucas Frings
                                              worden. Die Richter behaupteten, die Ver-
Seit 2016 tourt die Ausstellung „45 Jah-      folgung vor 1943 sei nicht „rassisch begrün-
re Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und     det“ gewesen, eine Erklärung, die sich trotz
Roma“ des Zentralrats Deutscher Sinti und     Revidierung des Gesetzes 1963 noch lange
Roma durch Deutschland. Die Inhalte der       in Entschädigungsfragen wiederfand und
20 Tafeln erschienen kurz darauf zusätzlich   dafür sorgte, dass sich der Kampf um An-
als Katalog auf deutsch und englisch.         erkennung und Entschädigung noch über
Entlang einschneidender Momente von           mehrere Jahrzehnte hinzog. Die Rechtspre-
Bürgerrechtskämpfen zeigt der Katalog die     chung beeinflusste auch Verfahren gegen
fortlaufende Diskriminierung von Sinte_zze    NS-Verbrecher. So wurde Paul Werner, SS-
und Rom_nja in der BRD sowie die Protes-      Oberführer im Reichssicherheitshauptamt
te und Erfolge der Aktivist_innen. Dabei      und einer der Haupttäter des Völkermords
sahen sich die Aktiven mit einem großen       an Sinte_zze und Rom_nja, mit Verweis auf
staatlichen und gesellschaftlichen Unwillen   das BGH-Urteil später nicht verurteilt. Dass
bei Aufarbeitung und Erinnern von NS-Ver-     der Bundesgerichtshof das Urteil 60 Jahre
brechen sowie gleichermaßen mit aktuellem     später öffentlich aufarbeitete ist ebenfalls
Rassismus und Diskriminierungspraxen          ein Teil von Ausstellung und Katalog.
konfrontiert.                                 Eine lange Kontinuität von Rassismus aus
Die Berechnung von 45 Jahren Bürger-          der Kaiserzeit bis heute weist auch die Son-
rechtsarbeit sieht als Ursprung einen Auf-    dererfassung von Sinte_zze und Rom_nja
ruf des Zentral-Komitee der Sinti West-       durch staatliche Stellen auf. Sie wandelte
Deutschlands, der sich „an alle deutschen     sich zwar sprachlich stets entlang politi-
Sinti“ richtete. Der Titel von Ausstellung    scher Debatten, blieb im Kern jedoch wei-
und Katalog läuft dabei allerdings Gefahr,    testgehend unverändert. Auf die offene
die etwa auf S. 17 erwähnten Bemühungen       Verfolgung im Nationalsozialismus folgten
um juristische Aufarbeitung von NS-Ver-       „Landfahrerstellen“ der Landeskrimina-
brechen und Selbstorganisation in der un-     lämter, die bis in die 1970er hinein gezielt
mittelbaren Nachkriegszeit aus dem Blick      Sinte_zze und Rom_nja kontrollierten und
zu drängen.                                   erfassten. Selbst nach deren Auflösung setz-
                                              te sich eine Markierung in Polizeiakten fort,
Bekannterweise mussten viele Opfer der
                                              die 1982 von der Innenministerkonferenz
nationalsozialistischen Verbrechen lan-
                                              gegen Proteste verteidigt wurde. Unter an-
ge auf ihre Anerkennung und finanzielle
                                              derem mit dem Druck einer Demonstration

                                                       Magazin vom 24.04.2019 20
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zum 50. Jahrestag der Machtübertragung         In den 1990ern etablierte sich die Bürger-
an die Nationalsozialisten konnte der Zent-    rechtsarbeit in der deutschen Politik. Die
ralrat Deutscher Sinti und Roma erreichen,     Anerkennung als nationale Minderheit, die
dass das Kürzel „ZN“ für „Zigeunername“        Eröffnung des Dokumentations- und Kul-
nicht weiterverwandt wurde. Allerdings         turzentrums Deutscher Sinti und Roma in
wurde der Vermerk lediglich zu „Häufig         Heidelberg 1997 und der Beschluss zur Er-
Wechselnder Aufenthaltsort“ umbenannt.         richtung eines Denkmals für die im Natio-
Laut den Verfasser_innen des Katalogs wer-     nalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
den aber bis heute „immer wieder Fälle von     in Berlin geschahen zwar nicht ohne Wider-
derartiger Sondererfassung durch die Poli-     stand in der Politik, führten aber zu einer
zeibehörden bekannt“ (S.37).                   gesteigerten öffentlichen Sichtbarkeit der
Es wird deutlich, dass oftmals erst eine öf-   Gruppen und ihrer Interessen.
fentliche Wahrnehmung der Anliegen und         Abschließend erfahren die Leser_innen
Forderungen geschaffen werden musste,          mehr über die internationale Arbeit des Zen-
teilweise mit drastischen Maßnahmen, wie       tralrats und des Dokumentationszentrum,
dem Hungerstreik auf dem Gelände der KZ-       etwa über die Gründung des „International
Gedenkstätte Dachau. Am Karfreitag 1980        Movement Against Discrimination and Ra-
hatten zwölf Sinti dort einen Hungerstreik     cism“ oder den Europäischen Bürgerrechts-
begonnen, um eine Aufklärung über die Ak-      preis der Sinti und Roma.
ten der ehemaligen „Landfahrerzentrale“        Der Katalog ist verhältnismäßig überschau-
der bayerischen Kriminalpolizei zu fordern.    bar. Für eine tiefergehende Beschäftigung
Der einwöchige Streik erreichte große me-      wäre es interessant gewesen, wer genau die
diale und gesellschaftliche Beachtung. Das     verschiedenen Akteur_innen und Organisa-
bayerische Innenministerium sowie Bun-         tionen, noch vor der Entstehung des Zent-
desjustizminister Hans-Jochen Vogel sag-       ralrats Deutscher Sinti und Roma, waren.
ten zu, die Vorurteile gegen Sinte_zze und     Andererseits können die Ausstellungsma-
Rom_nja abbauen zu wollen.                     cher_innen vermutlich nicht davon ausge-
Die Anerkennung des NS-Völkermordes            hen, dass Besucher_innen und Leser_innen
durch Bundeskanzler Schmidt, unmittelbar       über großes Hintergrundwissen über die
nach der Gründung des Zentralrats Deut-        Geschichte der Bürgerrechtsbewegung von
scher Sinti und Roma 1982 als Gesprächs-       Sinte_zze und Rom_nja verfügen. Genau
partner für die Bundesregierung, war ein       dafür liefern Ausstellung und Katalog einen
Meilenstein für die Bewegung. Dieser Pro-      wichtigen Beitrag.
zess und die Erinnerung an den Völkermord      Dem Katalog der Ausstellung gelingt es vor
in Parlamenten wie in Gedenkstätten neh-       allem, Sinte_zze und Rom_nja nicht nur als
men einen weiteren Teil des Kataloges ein.     Opfer von Rassismus und Verfolgung im NS

                                                        Magazin vom 24.04.2019 21
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und in der BRD darzustellen, sondern zeigt     Ländern des Westbalkans wurde in Deutsch-
sie als handelnde Akteur_innen mit politi-     land auf eine Art und Weise geführt, bei der
schem Willen und Widerstandskraft gegen        die sogenannte Einwanderung in unsere
anhaltende Diskriminierung. So erfahren        Sozialsysteme zum Synonym wurde für Mi-
Leser_innen die Namen von Überlebenden         gration von Roma aus diesen Ländern. Dies
wie Franz Wirbel und Aktivist_innen wie        wiederum ist Ursache dafür, dass viele Sinti
Ranco Brantner. Im Mittelpunkt steht ins-      und Roma in Deutschland, gerade wenn sie
besondere die Familie Rose. Oskar Rose und     in qualifizierte Berufe streben, ihre Zugehö-
Vinzenz Rose, die bereits in den 1950ern       rigkeit zur Minderheit verbergen (...).“ (S.8)
die nationalsozialistischen Verbrechen auf-    Aktuelle Debatten, andauernde Stigmatisie-
arbeiten wollten und insbesondere dessen       rungen und Engagement von kürzlich nach
Sohn bzw. Neffe Romani Rose sind in Text       Deutschland migrierten Roma, wie die Be-
und Bild sehr präsent. Auch werden Un-         setzung des Denkmals im Berliner Tiergar-
terstützer_innen der Bürgerrechtsgruppen       ten 2016 wären Themen, die im Anschluss
und Anliegen, wie Uta Horstmann und Si-        an die breit gefächerte geschichtliche Ausei-
mon Wiesenthal erwähnt.                        nandersetzung in Ausstellung bzw. im Kata-
Jedes Ereignis ist bebildert und teilweise     log in der Bildungsarbeit Platz finden könn-
mit Zeitungsartikeln und Aufrufen verse-       ten.
hen, deren Lektüre spannende Einblicke in
Debatten und Sprache der jeweiligen Zeit       Der Katalog kann online heruntergeladen
bietet.                                        oder über den Zentralrat Deutscher Sinti
Die Ausstellung ist eine Arbeit des Zentral-   und Roma bestellt werden.
rats Deutscher Sinti und Roma. Dement-
sprechend finden insbesondere Aktionen des
Zentralrats und deren Akteur_innen Platz.
Für einen breiteren Blick wäre es spannend,
wenn auch andere Organisationen von Sin-
te_zze und Rom_nja in Deutschland ihren
Raum im Erinnerungsdiskurs finden wür-
den.
Im Vorwort des Katalogs schlägt Roma-
ni Rose den Bogen vom Antiziganismus
im Nachkriegsdeutschland zu aktueller
Ausgrenzung und Stigmatisierung im All-
tag und auf politischer Ebene: „Die politi-
sche Debatte über Zuwanderung aus den

                                                         Magazin vom 24.04.2019 22
Empfehlung Unterrichtsmaterial

Sinti und Roma in Berlin – 28                   die Broschüre eine komplette Frage der
Fragen und Antworten                            Entstehungsthematik. Zum anderen werden
                                                sie mittels Fakten und historischen Hin-
Von Tanja Kleeh
                                                tergrundwissen widerlegt. An dieser Stelle
Die von der Berliner Landeszentrale für po-     könnte die Broschüre an Stärke gewinnen,
litische Bildung herausgegebene Broschüre       wenn direkt bei den Antworten auf weiter-
„Sinti und Roma in Berlin – 28 Fragen und       führende Quellen verwiesen würde. Das dies
Antworten“ beinhaltet, wie der Titel ver-       nicht geschieht, schmälert jedoch nicht den
spricht, Fragen und Antworten über Sinti        Informationsgehalt der Antworten.
und Roma und deren Leben in Berlin. The-
                                                Fragen zur Diskriminierung im Allgemeinen
matisch geht es von allgemeineren Fragen
                                                und Verfolgung der Sinti und Roma im Na-
über historische Fragen hin zu konkreten
                                                tionalsozialismus im Speziellen werden ab
Beispiel in Berlin.
                                                Frage 17 behandelt. Große Stärke zieht die
Der Einstieg erfolgt über eher grundlegende     Publikation dabei aus der vorgenommenen
Fragen, d.h. wer Sinti und Roma sind und        Definition von Antiziganismus. Dabei ist es
worin der Unterschied zwischen Sinti und        nicht allein die Definition an sich, sondern
Roma besteht. Auch die Fragen nach Her-         der Versuch, einen Definitionsrahmen zu
kunftsländern, der Sprache und wie viele        bieten und mit diesem zu arbeiten. Beson-
Sinti und Roma denn tatsächlich in Berlin       ders wichtig erscheint gerade im histori-
leben werden beantwortet. Jede einzelne der     schen Zusammenhang die Frage nach der
Fragen nimmt in der Broschüre eine Seite        offiziellen Anerkennung des Völkermordes
ein, die entsprechend dem Thema illustriert     an den Sinti und Roma. Auch hier kann auf-
wurde. So ist etwa Frage sechs, die nach der    grund des begrenzten Platzes nur eine sehr
Religion der Sinti und Roma fragt, mit den      kurze Antwort gegeben werden, die jedoch
Symbolen der Weltreligionen gestaltet.          nicht an Informationsgehalt verliert. Der di-
Ab Frage elf geht es um Vorurteile und Kli-     rekte Hinweis auf weiterführende Informa-
schees, auf denen in den Antworten entspre-     tionen wäre dennoch hilfreich, etwa um an
chend eingegangen wird. Dabei sind gängi-       dieser Stelle die Debatte weiterverfolgen zu
ge, weitbekannte Klischees wie die Frage        können.
„Leben Sinti und Roma wirklich im Wohn-         Abschließend (ab Frage 24) wird das Augen-
wagen?“ oder die Frage, ob alle Roma arm        merk auf die Bürgerrechtsbewegung sowie
seien. In den Antworten wird zum einen he-      auf heutige Selbstorganisationen gerichtet.
rausgearbeitet, auf welcher Grundlage diese     Dabei ist der Schwerpunkt Berlin, jedoch
Annahmen entstanden, d.h. es kann nach-         können manche Informationen bzw. Fragen
vollzogen werden, wie sich das jeweilige Kli-   - beispielsweise wie sich für die Rechte von
schee entwickelt hat. Mit Frage 16 – „Woher     Sinti und Roma eingesetzt werden kann -
kommen die vielen Klischees?“ – widmet          auch auf weitere Städte, Bundesländer oder

                                                          Magazin vom 24.04.2019 23
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