3.2 Bisexualität im Kontext von Hetero- und Homosexualität - Sexuelle Vielfalt und Gesundheit
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
3.2 Bisexualität im Kontext von Hetero- und Homosexualität – Sexuelle Vielfalt und Gesundheit Harald Stumpe Zusammenfassung werden Schlussfolgerungen und Empfehlun- Traditionelle auf Kategorisierung bezogene gen zur Verbesserung der sexuellen Gesund- Denkweisen bestimmen auch die individuel- heit aus den vorangegangenen Überlegungen le Identitätsentwicklung. Besondere Bedeu- abgeleitet. tung hat das Zuordnungsbedürfnis zu hete- rosexueller Orientierung. Der Begriff »sexu- Summary: Bisexuality in the context of elle Vielfalt« versucht die strenge Kategori- hetero- and homosexuality – sierung von sexuellen Orientierungen aufzu- sexual diversity and health heben und damit auch Diskriminierung von Traditional ways of thinking related to catego- Menschen mit von der Heterosexualität ab- rization also determine the individual devel- weichenden sexuellen Bedürfnissen zu besei- opment of identity. The need of assignment tigen. Bisexualität hatte aufgrund der mono- to heterosexual orientation is particularly im- sexuellen Ordnung in unseren westlichen Ge- portant. The term »sexual diversity« tries to sellschaften bisher nur eine untergeordnete overcome the existing classification of sexual öffentliche Bedeutung. Bisexuell orientierte orientation and thus, to eliminate the discrim- Menschen beginnen sich zu emanzipieren. Se- ination of people with sexual needs deviating xuelle Bedürfnisse, die mit der heteronorma- from heterosexuality. Due to the mono-sex- tiven Einstellung der Mehrheitsbevölkerung ual orientation in our Western societies, Bi- kollidieren und von den betroffenen Indivi- sexuality used to have a subordinate public duen nicht selbstbestimmt ausgelebt werden significance. Henceforth Bi-oriented people dürfen, können deren körperliche, psychische begin to emancipate themselves. Sexual needs und soziale Gesundheit in hohem Maße be- in conflict with the heteronormative attitude einträchtigen. Wie kann diese Gesundheits- of the majority population, and not admit- beeinträchtigung verhindert werden? Präven- ted to be autonomously lived out by the in- tion ist eine von der Gesellschaft anerkann- dividuals concerned, may affect the physical, te Methode. Übersehen wird jedoch dabei mental and social health to a great extent. die einseitige pathogenetische Ausrichtung How could this deterioration of health be pre- von Prävention: Es geht immer um die Ver- vented? Prevention is an established method hinderung von Krankheiten bzw. krankma- recognized by society. However the unilateral chenden Risiken. Salutogenetisches Denken pathogenetic orientation of prevention is here- nach Antonovsky schließt dagegen Krank- by ignored; it is always about the prevention heiten und Risiken als »normale Phänome- of diseases or of pathogenic risks. In contrast ne« menschlichen Lebens ein. Die Konse- to this, salutogenetic approach by Antonovsky quenzen eines derartigen Denkens werden includes diseases and risks as »normal phe- mit den Überlegungen und Erkenntnissen der nomena« of human life. The consequences of Resilienzforschung verglichen. Abschließend such thinking are compared to the consider- 221 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:48 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Harald Stumpe ations and perceptions of resilience research. che nutzen wir oft den Begriff der »Schubla- Finally, conclusions and recommendations for den«.BesondersambivalentsindalleKategori- the improvement of the sexual health are de- sierungsbemühungen im Zusammenhang mit rived from the previous considerations. moralisch bewerteten Erscheinungen wie dem menschlichen Sexualverhalten. In moralisch bewerteten Kategorien gibt es in der Regel kein »und«, sondern nur ein »entweder/oder«, Prolog das heißt ein »gut oder schlecht«, »ja oder nein«, »krankhaft oder gesund«, »rechtens »Hallo Community ich bin frisch 18 gewor- oder unrechtens« usw. Dichotomes Denken den. Trotzdem schwanke ich noch oft genug ist uns sehr vertraut und bestimmt häufig die zwischen der Hingabe von Geschlechtern. Ge- Kommunikation im Alltag. Das »Schubladen- nerell stehe ich auf Frauen, doch ich habe auch denken«, so notwendig es auf der einen Seite oft genug das Verlangen mit einem Mann zu zum Beispiel für die Identitätsentwicklung und schlafen. Einmal war ich kurz davor es mit ei- das Gefühl sozialer Zugehörigkeit auch sein nem zu tun, hab aber dann doch kurz bevor mag, behindert uns auf der anderen Seite dabei, es so weit war, die Lust und das Verlangen ver- ganzheitliche Sichtweisen zu entwickeln und loren, es auszuprobieren. Manchmal fühle ich führt häufig zu Vorurteilen und Abgrenzung. mich stark, manchmal gar nicht zu Männern Heranwachsende orientieren sich stark an Mo- hingezogen. Zu Frauen aber immer. Was meint dellen (Vorbildern). Bei der Entwicklung ihrer ihr, kann man mit 18 noch Schwankungen, geschlechtlichen und sexuellen Identität do- was die Sexualität angeht, haben?« (Beitrag miniert auch heute noch das heteronormative aus www.gutefrage.net). Modell. Jede spürbare Abweichung führt zu Ir- ritationen und Unsicherheiten. Die Möglich- keit sich eindeutig zuordnen zu können, sta- Sexuelle Vielfalt und Gesundheit bilisiert das soziale Zugehörigkeitsgefühl und erleichtert zunächst die Identitätsentwicklung. Das Bedürfnis nach Kategorisierung Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass die aktuellen Debatten um Gender und sexuel- Menschliches Denken ist immer mit dem Be- le und geschlechtliche Vielfalt Verunsicherung dürfnis nach Zuordnung und Kategorisierung und Widerstand hervorrufen. Die jahrhun- verbunden. Wissenschaft wäre ohne Katego- dertalte Ordnung von Zweigeschlechtlichkeit rienbildung nicht denkbar. Kategorien dienen und Heterosexualität droht zu zerbrechen. Die als Denkwerkzeuge, um Modelle zu entwi- gewachsene gesellschaftliche Akzeptanz ver- ckeln und die Gesamtheit des Realen besser schiedener sexueller Orientierungen scheint verstehen und abbilden zu können, der Wahr- erst heute im sozialen Nahraum der Individuen heit ein Stück näher zu kommen. Wissen- angekommen und wahrgenommen zu werden. schaftsdisziplinen betrachten das Reale aber Der Autor weiß aus eigenen Erfahrungen in aus ihrer spezifischen Sicht und müssen daher Aus-, Fort- und Weiterbildung, dass Homose- auch immer reduktionistisch bleiben. Ganz- xualität von vielen Menschen als normal disku- heitliches Denken dürfte nur in gemeinsamer tiert wird, so lange nicht Personen der eigenen und gleichberechtigter Kooperation der Diszi- Familie betroffen sind. In diesen Diskussionen plinen (Interdisziplinarität) möglich werden. wird dann sehr schnell deutlich, dass ein mögli- Auch unser Alltagsdenken ist von dem Be- ches Anderssein von Familienmitgliedern eher dürfnis nach Ein- und Zuordnung der Dinge als etwas Unerwünschtes oder Bedrohliches und Erscheinungen geprägt. In der Alltagspra- bewertet wird. 222 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:48 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
3.2 Bisexualität im Kontext von Hetero- und Homosexualität – Sexuelle Vielfalt und Gesundheit »Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt« auf bzw. vereint alle Kategorien zu einer neuen als neue und ganzheitliche Kategorie Qualität der Betrachtung. Die neue Katego- rie schränkt das Denken nicht ein, sie stellt Im Alltagsdiskurs zum Begriff der »sexuel- ein ideales Denkwerkzeug dar, um den vor- len Orientierung«, der durchaus heute unter- herrschenden Heterozentrismus zu überwin- schiedlich definiert und interpretiert wird [1], den. Ergänzend soll auch die im Folgenden finden sich meist nur Hetero- und Homose- mehrfach genutzte Abkürzung LGBTI* kurz xualität. Gunter Schmidt [2] spricht von einer erklärt werden. LGBTI* ist die Abkürzung monosexuellen Ordnung in unserer Gesell- für die englischen Wörter Lesbian, Gay, Bise- schaft, also von einer Festlegung auf eine »ein- xual, Transexuell/Transgender und Intersexual geschlechtliche« Ausrichtung, bei der dem he- (deutsch: Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transse- terosexuellen Begehren das Primat zukommt. xuell/Transgender und Intersexuell). Die Ab- Andere sexuelle Orientierungen außerhalb von kürzung stammt ursprünglich aus den USA Hetero- und Homosexualität hatten daher bis- und soll Menschen bezeichnen, die von der her im öffentlichen Bewusstsein nur unterge- heterosexuellen Norm abweichen. ordnete Bedeutung. Die Frage nach den Ur- sachen der Homosexualität bestimmt immer noch die öffentliche Diskussion. Es gibt eine Bisexualität als Kategorie und Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, die Emanzipationsbewegung sich dieser Frage widmen und zu den verschie- densten Hypothesen und Theorien führen [3]. Der Begriff »Bisexualität« wurde zu Beginn Auf diese soll hier nicht weiter eingegangen des 20. Jahrhunderts geprägt und bezeich- werden. Dagegen steht die Frage nach der Ur- nete ursprünglich Individuen, die männliche sache für Heterosexualität gänzlich außerhalb und weibliche Geschlechtsmerkmale aufwie- des Denkhorizontes. Unser heteronormatives sen. Der Begriff der konstitutionellen Bise- Denken lässt eine solche Frage praktisch gar xualität wurde in Bezug auf das sexuelle Be- nicht zu. Dennoch muss darauf hingewiesen gehren von Sigmund Freud eingeführt [5]. werden, dass schon die Pioniere der Sexual- Freud wird gern zugeschrieben, dass er als ers- wissenschaft ein anderes Verständnis hatten ter die Auffassung vertrat, dass jeder Mensch [1]. Sexuelle Orientierungen wurden nicht als bisexuell sei, jedoch seine homosexuellen An- starre Konstrukte verstanden. Das bekanntes- teile aufgrund gesellschaftlicher Tabus un- te Denkmodell dürfte die Kinsey-Skala zur terdrücken müsse. Bei der Bisexualität han- Klassifizierung der menschlichen Bisexualität delt es sich auch um ein kulturübergreifendes sein [4]. Sexuelle Orientierungen sind fließend Phänomen, welches sich historisch bis in die und können sich im Laufe des Lebens auch Antike zurückverfolgen lässt. Kinsey konn- verändern. te in seinen repräsentativen Untersuchungen Erst in den letzten Jahren haben Bise- nachweisen, dass 37 Prozent der männlichen xualität, Pansexualität (Geschlechtergrenzen US-Bevölkerung nach Beginn der Pubertät übergreifende partnerschaftliche und sexuel- »zumindest einige physische homosexuelle le Beziehungen), Asexualität usw. als sexuel- Erlebnisse bis zum Orgasmus« erlebt hat- le Kategorien/Orientierungen an Bedeutung ten [4]. Dieses Ergebnis spricht sehr deutlich gewonnen und gelangen stärker ins Alltags- für die These, dass jeder Mensch über bi- bewusstsein. Der sich in den letzten Jahren sexuelle Potenzen in unterschiedlicher Aus- etablierte Begriff der »geschlechtlichen und prägung verfügt. Leider fehlen gute Studien, sexuellen Vielfalt« umfasst in idealer Weise welche ein zunehmendes Interesse von hete- all diese Kategorien und löst sie gleichzeitig rosexuell identifizierten Menschen an gleich- 223 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:49 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Harald Stumpe geschlechtlichen sexuellen Aktivitäten bele- Sexuelle Orientierung/Identität und gen können. Gesundheit Bisexuell empfindende Menschen standen niemals so im Mittelpunkt des gesellschaft- Immer wieder bestätigt die Literatur bei schwu- lichen Interesses wie Homosexuelle und wur- len Männern eine erhöhte Prävalenz von psy- den daher auch weniger offen diskriminiert. chischen Störungen einschließlich Suizidversu- Das dichotome Denken der Bevölkerung im chen, sexuellem Risikoverhalten und verstärkter Sinne der »monosexuellen Ordnung« führte Neigung zum Drogenmissbrauch. Nach wie vor zu einer eher subtilen, aber sicher nicht weni- sind schwule Männer von Gewalt und Diskri- ger schlimmen Diskriminierung von bisexuell minierungbedroht.AuchdieneuesteStudiedes Orientierten. So wird Bisexuellen häufig nach- Deutschen Jugendinstitutes München (DJI) gesagt, dass sie in Wirklichkeit homosexuell zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, orientiert seien, sich aber ihre Homosexuali- bisexuellen und Trans*-Jugendlichen und jun- tät nicht eingestehen wollen oder sich ein- gen Erwachsenen belegt, wie kompliziert sich fach nicht entscheiden können. Das geflügelte das innere und äußere Coming-out auch un- Wort »etwas bi schadet nie« charakterisiert ter den heutigen gesellschaftlichen Bedingun- die Kategorie Bisexualität recht deutlich: eine gen gestaltet. So berichten zum Beispiel 63,5% Neigung, die man nicht so ernst nehmen muss, der Befragten über Diskriminierungserfahrun- die aber auch nicht von großem Nachteil ist. gen in der engeren Familie (Eltern, Geschwis- In der gerade von der Deutschen AIDS-Hil- ter) [7]. Diese ernüchternde Zahl demonstriert fe (DAH) herausgebenden Studie »Bisexuell sehr deutlich, dass Homosexualität keinesfalls aktive Männer 2010« [6] wird auf die sozial- von der heterosexuellen Mehrheit der Gesell- wissenschaftliche Diskussion der Bisexualität schaft als normal angesehen wird, auch wenn umfassender eingegangen. gleichgeschlechtliche Partnerschaften der Ehe In den letzten Jahren haben sich bisexuell fast gleichgestellt sind. Es ist daher auch nicht orientierte Menschen emanzipiert, um nicht nur verwunderlich, dass sich durch Unterdrückung wahrgenommen zu werden, sondern um auch der wahren sexuellen Identität bei einem Teil für die Förderung selbstbestimmter Sexualität der Jugendlichen therapierelevante psychische einzutreten. Es gibt mittlerweile verschiedene bzw. psychosomatische Symptome entwickel- Internetangebote für Bisexuelle, auch in ver- ten. Die WHO definiert Gesundheit als kör- schiedenen Altersgruppen. Der bekannteste ge- perliches, psychisches und soziales Wohlbefin- meinnützige Verein Deutschlands dürfte das Bi- den. Sexuelle Bedürfnisse, die mit der hetero- sexuelle Netzwerk »BiNe« (www.bine.net) mit normativen Einstellung der Mehrheitsbevölke- Sitz in Frankfurt am Main sein. Der Verein leistet rung kollidieren und von den betroffenen Indi- Bildungsarbeit und unterstützt den Aufbau und viduen nicht selbstbestimmt ausgelebt werden den Erhalt von Selbsthilfegruppen. Das Netz- dürfen, können deren psychisches und soziales werk gibt auch das Periodikum »BiJou – Bisexu- Wohlbefinden in stärkerem Maße beeinträch- elles Journal« heraus. In Deutschland existieren tigen. Schlimmsten Falles führen diese Stres- mittlerweile über 30 bisexuelle Gruppen. In den soren zu körperlichen, psychischen und sozia- sozialen Netzwerken und speziellen Internetpor- len Störungen, die unter Umständen wiederum talen sind bisexuell empfindende Menschen will- spezifische Diskriminierung erfahren können. kommen (z. B. facebook, meinVZ, lesarion, gay- Menschen, die sich als nicht heterosexuell iden- romeo, joyclub). Die Emanzipationsbewegung tifizieren, werden auf dem Hintergrund einer führt zu einer größeren Wahrnehmung bisexu- intersektionalen Betrachtungsweise also sehr eller Orientierung und zu größerer Toleranz und häufig mehrfach diskriminiert. Diesen Teufels- Akzeptanz in Gesellschaft und Bevölkerung. kreis gilt es zu durchbrechen, aber wie? 224 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:49 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
3.2 Bisexualität im Kontext von Hetero- und Homosexualität – Sexuelle Vielfalt und Gesundheit Salutogenese als neuer Denkansatz tale oder soziale Probleme berichten, also Men- schen, welche ihr inneres und äußeres Coming- Die traditionellen therapeutischen Berufe sind out offenbar erfolgreich und ohne nachhalti- in aller Regel in ihrem Denken pathogenetisch ge Beeinträchtigung durchlaufen haben. »Der ausgerichtet. Sie diagnostizieren und behan- Pathogenetiker ist mit einer Bestätigung von deln Störungen und Krankheiten oder versu- Hypothesen zufrieden; der Salutogenetiker be- chen dem Ausbruch oder einer Verschlechte- trachtet, ohne die Bedeutung von Erfahrung zu rung einer solchen durch Prävention zuvorzu- verschmähen, den abweichenden Fall. […]. Der kommen. Diese Denkweise findet sich auch abweichende Fall ist also, wie so oft, in der über- in der Mehrheitsgesellschaft. Gesundsein ist wiegenden Mehrheit« [8, S. 29]. Zukünftige der Normalzustand, Kranksein liegt außer- Forschung sollte nicht nur die negativen Fol- halb der Normalität. Aaron Antonovsky hat gen der abweichenden sexuellen Orientierung das allgemeingültige Verständnis von Gesund- fokussieren, sondern viel stärker die Frage un- heit und Krankheit durch sein Salutogenese- tersuchen, welche Faktoren dafür verantwort- Konzept verändert und erweitert [8]. Er ver- lich sind, dass ein großer Teil der Individuen steht Krankheit und Gesundheit als ein dia- selbstbestimmt mit ihrer von der heterosexuel- lektisches Gegensatzpaar. Krankheit und Ge- len Mehrheit abweichenden sexuellen und ge- sundheit sind zwei Pole eines Kontinuums. schlechtlichen Orientierung gesund lebt und So gesehen gehört Krankheit als etwas Nor- sich gemäß der WHO-Definition körperlich, males zur menschlichen Existenz. In der Me- psychisch und sozial wohlfühlt. Welche Kräf- dizin und anderen Humanwissenschaften gilt te sind dafür verantwortlich? Die Resilienz- Homöostase als der normale Zustand. In der forschung spricht von sogenannten Schutzfak- Physiologie ist der Begriff der Homöostase als toren. Im Unterschied zum salutogenetischen Konstanthaltung eines inneren Milieus (Soll- Denken, fokussiert diese Forschungsrichtung Zustand) definiert. Befinden sich die biolo- die erfolgreiche Bewältigung (Coping) von gischen Systeme des Menschen im Gleichge- Risiken und traumatischen Erlebnissen. Resi- wicht, wird er als gesund angesehen. Wenn lienzforschung ist damit auch stärker pathoge- aber Krankheit zum Leben als etwas »Nor- netisch ausgerichtet. Untersuchungen, welche males« dazugehört, führt das bei Antonovsky dieser Forschungsrichtung zuzuordnen sind, zur Annahme von Heterostase als Normalzu- ermitteln recht übereinstimmend die große stand, also dem Gegenteil von Homöostase. Bedeutung von sozialen Kompetenzen beim Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Individuum, die in aller Regel mit einer guten der Begriff der Homöostase auch von ande- Integration in den sozialen Systemen verbun- ren Wissenschaftlern (z. B. Luhmann, Varela, den ist. Menschen mit entsprechenden Eigen- Maturana) kritisiert wurde. So sollte besser schaften bewältigen Lebensrisiken besser als von Homöodynamik gesprochen werden, weil solche, die nicht über solche Kompetenzen Stasis Stillstand und damit Tod eines Systems verfügen. Diese Erkenntnisse stehen durchaus bedeuten würde. im Einklang mit den Überlegungen zur Ent- Die überwiegende Mehrzahl der Publika- wicklung von Gesundheit (Salutogenese) bei tionen zu LGBTI*-Personen bzw. Lebenswei- Antonovsky. Dennoch findet sich ein funda- sen fokussiert und untersucht die negativen mentaler Unterschied in den Betrachtungen. Folgen der Abweichung von der heterosexuel- Antonovsky sieht in Stressoren oder Risiken len Orientierung der Mehrheit. Außerhalb der nicht per se etwas Negatives bzw. Schädigen- Betrachtung bleiben dabei fast immer Indivi- des für das Individuum. Er spricht von »Sti- duen, die nicht über negative Folgen wie erhöh- muli« (Anregungen, Triebkräften), die auch te Suizidalität, Depressivität oder andere men- als willkommene Herausforderungen betrach- 225 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:49 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Harald Stumpe tet werden können, wenn diese für das jewei- geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, lige Individuum erklärbar und zugleich be- um den Anforderungen zu begegnen, die deutsam sind. Das zentrale Konstrukt seines von den Stimuli, mit denen man konfron- Denkansatzes ist das sogenannte »Sense of tiert wird, ausgehen. Antonovsky sieht hier Coherence« (SOC). Im Deutschen wird heu- Ressourcen, die man selbst unter Kontrol- te meist von »Kohärenzgefühl« oder auch le hat oder solche, die von legitimierten »Kohärenzsinn« gesprochen. Das SOC stellt Anderen kontrolliert werden – vom Part- nach Antonovsky »eine Hauptdeterminante ner, Freunden, Kollegen, Gott, Parteifüh- sowohl dafür dar, welche Position man auf rer oder auch von der Geschichte (also dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum er- jemandem, dem man vertrauen kann). hält, als auch dafür, dass man sich in Richtung ➢ Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit: Aus- des gesunden Pols bewegt« [8, S. 33]. Diese maß, in dem man das Leben emotional Aussage wird noch deutlicher im Zusammen- als sinnvoll empfindet: dass wenigstens ei- hang mit der Definition des SOC. Antonovs- nige der vom Leben gestellten Probleme ky selbst hat diese Definition im Laufe seiner und Anforderungen es wert sind, dass man Arbeit verändert und weiterentwickelt: »Das Energie in sie investiert und sie eher als Kohärenzgefühl (SOC) ist eine Grundorien- willkommene Herausforderungen sieht als tierung, die das Ausmaß eines umfassenden, Lasten, die man gern loswerden möchte. dauerhaften und gleichzeitig dynamischen Ge- fühls des Vertrauens darauf ausdrückt, dass, Mittels eines Fragebogens (Fragebogen zur 1. die Ereignisse im Leben strukturiert, vor- Lebensorientierung), der vielfach eingesetzt hersehbar und erklärbar sind; wurde, hat Antonovsky das SOC und seine 2. die Ressourcen verfügbar sind, um den aus drei Bestandteile operationalisiert und mess- den Ereignissen stammenden Anforderun- bar gemacht. gen gerecht zu werden; Bei dieser Denk-und Betrachtungsweise 3. diese Anforderungen Herausforderungen stehen nicht die negativen Auswirkungen von sind, die Interventionen und Engagement Stressoren im Mittelpunkt, sondern die Su- lohnen« [8, S. 36]. che nach sinnvollen Strategien im Umgang mit diesen im Sinne von eher willkommenen Das SOC besteht aus den drei Komponenten: Herausforderungen. Verstehbarkeit (comprehensibility), Hand- habbarkeit bzw. Machbarkeit (manageability) und Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit (mea- Handlungsempfehlungen und ningfulness). Schlussfolgerungen für die ➢ Verstehbarkeit: Ausmaß, in welchem man Durchsetzung sexueller Rechte interne und externe Stimuli als kognitiv und Selbstbestimmung als sinnhaft (verstehbar) wahrnimmt. Das In- Voraussetzung für sexuelle dividuum mit einem hohen Ausmaß an Gesundheit Verstehbarkeit, geht davon aus, dass Sti- muli, denen es in Zukunft begegnet, vor- Bis zum heutigen Tage wird Gesundheit meist hersagbar sein werden oder dass sie zumin- als Abwesenheit von Krankheit verstanden dest, sollten sie tatsächlich überraschend und auch so untersucht. Es existieren unzählige auftreten, eingeordnet und erklärt werden Studien zur Epidemiologie von Krankheiten. können . Die Gesundheitsberichte des Bundes basieren ➢ Handhabbarkeit bzw. Machbarkeit: Aus- auf vielfältigen epidemiologischen Datenquel- maß, in dem man wahrnimmt, dass man len und können daher nur indirekte Aussagen 226 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:49 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
3.2 Bisexualität im Kontext von Hetero- und Homosexualität – Sexuelle Vielfalt und Gesundheit zum Gesundheitszustand beschreiben. Eigent- Bedeutung dieser Faktoren für die Stärkung des lich handelt es sich um eine Krankheitsbericht- SOC bestätigt werden. Menschen, denen es auf erstattung. Gesundheit wird von der WHO als der Grundlage von kognitiven Einsichten (Ver- körperliches, psychisches und soziales Wohl- stehbarkeit) gelingt, potenzielle Stressoren, die befinden definiert. Diagnostizierte Krankhei- aus ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Ori- ten sind häufig Zuschreibungen und schließen entierung erwachsen, als sinnvolle Herausfor- Wohlbefinden nicht per se aus. Menschen, derung (Bedeutsamkeit) anzunehmen und ent- welche Bewältigungsarbeit (Coping) leisten, sprechende Verhaltensweisen im Umgang mit können sich trotz Krankheit eines relativen ihren sexuellen und geschlechtlichen Bedürfnis- Wohlbefindens erfreuen. Auch bisherige Stu- sen hervorzubringen (Handhabbarkeit), werden dien zur sexuellen Gesundheit basieren meist ein höheres Maß an Kohärenz (SOC) entwi- auf einer pathogenetischen Sichtweise. ckeln können. Folgendes praktisches Beispiel soll die aufgezeigten Zusammenhänge nochmals Empfehlungen an die Forschung verdeutlichen. Homophobe Äußerungen sind in Jungen- und Männergruppen weit verbreitet. Eine noch zu etablierende interdisziplinäre Se- Sie wirken als Stressor auf Heranwachsende, die xualwissenschaft (gleichberechtigte Koopera- erahnen, dass sich ihre eigene sexuelle Orientie- tion aller humanwissenschaftlichen Diszipli- rung von der der Mehrheit der jungen Männer nen) sollte sich verstärkt Forschungsfragen auf ihrer Peergroup unterscheidet. Nun gibt es zwei dem Hintergrund des salutogenetischen Pa- entgegengesetzte Möglichkeiten des Umganges radigmas widmen. Leitfragen im Zusammen- mit diesem Stressor: Rückzug in die innere Emi- hang mit selbstbestimmter Sexualität im Sinne gration, Bekämpfen der eigenen Wünsche und sexueller und geschlechtlicher Vielfalt wären Neigungen oder ein gewisses Verständnis für zum Beispiel: Was sind die Hauptfaktoren die Ursachen der weit verbreiteten homopho- für ein gelingendes inneres und äußeres Co- ben, diskriminierenden Sprüche der Peers (meist ming-out bei nicht-heterosexuellen, zum Bei- unüberlegt und unreflektiert benutzt) zu entwi- spiel schwulen und bisexuellen Männern? Wie ckeln und die gewonnenen Einsichten für einen wirkt sich gelebte, selbstbestimmte Sexualität kreativen Umgang mit diesen Stressoren zu nut- auf die Gesundheit im Sinne der WHO-De- zen. Das Individuum mit einem hohen Maß an finition aus? Welchen Einfluss hat das einver- »Verstehbarkeit« wird begreifen, dass Wege und nehmliche Ausleben sexueller Bedürfnisse auf Möglichkeiten für den Umgang mit diesen Stres- die Entwicklung des Kohärenzgefühles (SOC) soren gefunden werden können. Wie »Hand- bei Männern und damit auf die Stärkung ih- habbarkeit« herstellbar ist, also entsprechen- rer Gesundheit? Diese Fragen sind zumindest de Verhaltensweisen ausgeprägt werden können, für den deutschsprachigen Raum noch nicht wird von den individuellen Ressourcen abhän- erforscht. gen. Die Bewältigungsmöglichkeiten werden da- Die US-amerikanischen Forscher C. A. Hill her sehr vielfältig ausfallen. »Bedeutsamkeit« und C. J. Gunderson stellen in einem aktuellen bzw. »Sinnhaftigkeit« als dritter Bestandteil Übersichtsbeitrag [9] die wichtigsten Schutz- des Kohärenzgefühles (SOC) wirkt als verstär- faktoren auf dem Hintergrund der Resilienz- kendes Motiv das eigene Coming-out selbstbe- forschung dar. Sie unterscheiden dabei Ressour- stimmt zu durchlaufen und damit auch durch cen im sozialen Umfeld und persönliche Ei- das eigene Beispiel die Gesellschaft zu verändern. genschaften. Diese Ressourcen ermöglichen es Vergleichen wir die Überlegungen der LGBTI*-Personen, situationsgerechte und vor- oben genannten Studie zur Resilienzforschung teilhafte Verhaltensstrategien zu entwickeln. Un- mit denen der Salutogenese, dann kommen wir ter einer salutogenetischen Sichtweise kann die zu ähnlichen Ergebnissen. 227 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:49 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Harald Stumpe Zukünftig muss es gelingen traditionel- Geschlecht und sexueller Orientierung oder les, pathogenetisches sowie präventives Den- auch ADHS erinnert. An letzterer Diagnose, ken durch die Erkenntnisse der Resilienzfor- welche erst 1978 offiziell in die ICD aufge- schung und Salutogenese zu ergänzen. Das nommen wurde, verdient die Pharmaindustrie einseitige und derzeit bestimmende präven- Millionen. Diesen höchst bedenklichen Ent- tive Denken muss überwunden werden. Es wicklungen muss die Gesundheitspolitik ge- darf nicht nur um die Verhinderung von Ri- gensteuern. Die Prinzipien von Salutogenese siken (Prävention) gehen, sondern viel stär- und Resilienzforschung bedürfen einer größe- ker um die Anerkennung, dass Risiken zur ren Unterstützung. Wenn es gelingt, diesen menschlichen Existenz gehören und auch als positiven Denk- und Handlungsansatz in der Herausforderung und Chance gesehen wer- Gesellschaft fest zu verankern, wird es möglich den können. sein, gewaltige ideelle und materielle Ressour- cen freizusetzen und zu einer wirklichen Ver- Empfehlungen an die Gesundheitspolitik besserung des Gesundheitszustandes der Be- völkerung beizutragen. Leider findet sich für den Salutogeneseansatz in Deutschland kaum eine Lobby. Hierfür dürfte die neoliberale Entwicklung im deut- Literatur schen Gesundheitssystem verantwortlich sein. Kostenoptimierung und Gewinnmaximierung 1 Schweizer K, Brunner F. Sexuelle Orientierungen. stehen heute im Mittelpunkt, auch wenn die Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz. 2013;56:231–239. Vertreter der neoliberalen Gesundheitspolitik 2 Schmidt G. Das neue Der Die Das. Über die Mo- beschwören, dass alles zum Wohle des Pati- dernisierung des Sexuellen. Gießen: Psychosozial enten getan werde. Die Ökonomisierung des Verlag; 2005:138–139. Gesundheitswesens hat die Überhand gewon- 3 Voß HJ. Biologie & Homosexualität. Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext. Müns- nen. Die ärztlichen Entscheidungskompeten- ter: Unrast; 2013. zen werden durch die ökonomische Über- 4 Kinsey A, Pomeroy W, Martin C. Kinsey report. Das macht zunehmend eingeschränkt. M. Rudol- sexuelle Verhalten des Mannes. Frankfurt: S. Fi- phi schrieb schon 2007 im Deutschen Ärzte- scher; 1970. blatt von einer »beispiellosen Privatisierungs- 5 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt M: S. Fischer; 221. welle« [10]. Trotz des gegenteiligen Verspre- 6 Bochow M, Sekuler T. Bisexuell aktive Männer: chens neoliberaler Ökonomen sind die Kos- Schutz- und Risikoverhalten auf dem Hintergrund ten im Gesundheitswesen unverändert weiter von HIV/AIDS. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe (DAH); angestiegen. Um die Gründe der schlechten 2016:15–26. 7 Krell C, Oldemeier K, Müller S. Coming-out – und Lobby für den Salutogenseansatz zu verste- dann…?!, Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssi- hen, bedarf es keiner tiefgründigen Analy- tuation von lesbischen schwulen, bisexuellen und sen. Mit Diagnostik und Therapie von Krank- trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. heiten lässt sich viel mehr verdienen als mit München: Deutsches Jugendinstitut (DJI); 2016. 8 Antonovsky A. Salutogenese. Zur Entmystifizie- der Stärkung der Kohärenz, die zu gesünde- rung der Gesundheit. Tübingen: dgvt; 1997. ren Menschen führt, welche das Gesundheits- 9 Hill CA, Gunderson CJ. Resilience of lesbian, gay, system (besser: Krankheitssystem) nicht bzw. and bisexual individuals in relation to social en- weniger in Anspruch nehmen müssen. Hin- vironment, personal characteristics, and emotion zu kommt, dass »Andersartigkeit« im Sinne regulation strategies. Psychology of Sexual Orien- tation and Gender Diversity. 2015;3:232–252. normativer Abweichung immer noch stärker 10 Rudolphi M. Folgen der Privatisierung: Die Spiel- pathologisiert wird. Hier sei nur an die anhal- regeln sind willkürlich. Deutsches Ärzteblatt. tenden Diskussionen zur Pathologisierung von 2007;104:A-1956/B-1728/C-1664. 228 https://doi.org/10.30820/9783837973037-221, am 12.02.2022, 17:50:49 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
Sie können auch lesen