2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
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Inhalt Editorial 3 Schwerpunkt: Für ein soziales Europa in Vielfalt Welches Europa wollen wir? 4 Haltung zeigen in Europa6 Stop ISDS/Karikatur 7 Europäische Asylpolitik 8 Drei Fragen an Prof. Dr. Björn Hacker zur Europäischen Säule sozialer Rechte 10 Der Geruch von Armut 11 EMIN: Für eine garantierte Grundsicherung für alle – europaweit 13 Die „Griechenlandkrise“: Zwei Griechinnen berichten 14 Einmal Erasmus für alle! 16 Drei Fragen an Martin Roller, 11 Paritätisches Jugendwerk Baden-Württemberg 18 Internationale Samariterkooperation Starke Partnerschaften für Europa 19 Drei Fragen an Tilo Liewald zu EU-Förderprogrammen 20 Für mehr Europa in Gera 21 Armut und Überfluss an der Wurzel packen 22 Drei Fragen an Krzysztof Balon zu seinem Engagement in Europa 23 Drei Fragen an Renate Reymann vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband 24 Drei Fragen an Holger Wicht von der Deutschen AIDS-Hilfe 25 Sozialpolitik Sanktionen vor Gericht 26 Presseschau: Grundrente, Kindergrundsicherung, Weltkindertag, § 219a 27 Verbandsrundschau Vermischtes und Verschiedenes 29 16 Forum der Paritätischen Freiwilligendienste Buchrezension: „Weniger Markt, mehr Politik.“ Soziale Arbeit dies- und jenseits des Rheins: 31 32 Es lebe die deutsch-französische Freundschaft! 33 Termine, Termine, Termine... 34 Rahmenverträge, Umfrage, Bildnachweise, Impressum 36 Nicht nur gedruckt sondern auch unter facebook.com/paritaet itaet bei Twitter unter @par t bei Instagram als pa ae rit Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf- 26 Datei im Internet heruntergeladen werden: www.paritaet.org 2 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Editorial Professor Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands Liebe Leserinnen und Leser, die Europäische Union steht vor einer Unsere Forderungen reichen von der um die Vielfalt in der Gesellschaft zu Zerreißprobe: erstarkende rechtsdema- Sozial-, Bildungs- und Migrationspoli- fördern. Wir brauchen zudem eine ak- gogische und nationalkonservative Re- tik über das Beihilferecht bis hin zur tive Flüchtlings- und Migrationspoli- gierungen und gesellschaftliche Grup- Wirtschaftspolitik. Kernanliegen ist es tik, die Zuflucht suchenden Menschen pen, Euroskeptizismus, mangelnde immer, zu einem sozialen Europa bei- Schutz gewährt und Verantwortung Solidarität mit EU-Mitgliedsstaaten zutragen, wo keine Existenzängste nicht abweist. Basierend auf dem Ge- und Zufluchtsuchenden, neoliberale herrschen, alle Menschen sozial teilha- danken der Parität ist es unser Ziel, Austeritätspolitik zulasten sozialer Ge- ben, Menschenrechte in vollem Um- allen Menschen nicht nur Chancen, rechtigkeit und des Schutzes vor Ar- fang geschützt werden und der die Un- sondern Möglichkeiten zu eröffnen mut, Brexit… gleichheit verstärkenden neoliberalen und den gleichen Respekt entgegenzu- Bis zum letzten Jahr hat der Paritä- Wirtschafts- und Finanzpolitik ein bringen. Auch in Europa treten wir für tische gegenüber der EU eine Art der Ende gesetzt wird. eine vielfältige, offene und tolerante Nicht-Einmischung vertreten und sich Die EU muss die soziale Dimension Gesellschaft ein, die Armut und Exklu- lediglich in defensiver Weise gegen- vertiefen und Armut bekämpfen, um sion bekämpft und gleiche Teilhabe für über der EU und nur zu wenigen Poli- die Gemeinschaft Gleicher zu fördern alle schafft. tikfeldern geäußert. Hervorzuheben und das Vertrauen in die Gemein- ist hier unser Engagement gegen die schaft zu fördern sowie um rechten Herzlich, Ihr EU-Freihandelsabkommen mit den Demagogen den Boden zu entziehen, USA (TTIP) und Kanada (CETA) sowie die sich von den sozialen Unsicher- zur europäischen Flüchtlings- und Mi- heiten und Abstiegsängsten der Men- grationspolitik. Jedoch schien es ange- schen nähren. Dazu gehört u.a. die sichts der Herausforderungen der EU Festlegung sozialpolitischer Mindest- als notwendig, diese Position zu über- standards in der Rente und beim Ar- denken und weiter zu fassen. Im Okto- beitslosengeld, die den nationalen Ge- ber 2018 hat sich der Paritätische in gebenheiten gerecht werden. Es seinem europapolitischen Grundsatz- braucht den Schutz und die Förderung papier erstmals zur aktiven Gestaltung sozialer Dienstleistungen und gemein- eines sozialen und demokratischen Eu- nütziger Dienste im Beihilfe- und ropas positioniert. Pünktlich zur Wahl Wettbewerbsrecht. Die gesellschaft- zum Europäischen Parlament am 26. liche Teilhabe aller Menschen sowie Mai 2019 haben wir weitere umfas- ihr Zugang zu angemessenen Sozial-, sende europapolitische Forderungen Gesundheits- und Pflegeleistungen verfasst, die, aufbauend auf dem muss garantiert werden. Ebenso sind Grundsatzpapier, klare Erwartungen Austauschprogramme sowie soziale an die europäische Politik formulieren. und inklusive Programme zu stärken, www.der-paritaetische.de 2 | 2019 3
Schwerpunkt Welches Europa wollen wir? Grund- und Menschenrechte Armut überwinden, umsetzen und schützen soziale Rechte verwirklichen In verschiedenen Papieren der EU Die Zahl der von Armut und Aus- sind Grund- und Menschenrechte grenzung betroffenen Menschen in definiert. Diese müssen verwirk- der Europäischen Union liegt bei licht und konsequent berücksich- 118 Millionen Menschen: ein Vier- tigt werden. Die EU muss auch tel der europäischen Bevölkerung soziale Menschenrechte umfas- ist von Armut betroffen. In der Ver- send respektieren, schützen und gangenheit jedoch hat die EU durch stärken. Das erwarten wir vom ihre Austeritätspolitik dazu beige- Europäischen Parlament. Alle tragen, soziale Krisen sogar noch Bürger*innen müssen ihre demo- zu verstärken. Wir sagen: Europa kratischen Rechte uneingeschränkt braucht nicht nur wirtschaftliche, wahrnehmen können. Freie Mei- sondern auch soziale Stabilitätskri- nungsäußerung, die Presse- und terien. Die Bekämpfung von Armut Wissenschaftsfreiheit sowie der muss für das neue Europäische Par- Schutz vor rechtlicher Willkür müs- lament oberste Priorität haben. Die sen umfassend verwirklicht wer- Umsetzung der Europäischen Säu- den. Das Freizügigkeitsrecht und ein le sozialer Rechte muss von dem Recht auf Sozialschutz müssen für neu gewählten EP und der neuen alle Bürger*innen gelten und dür- Europäischen Kommission im Zu- fen nicht auf Arbeitnehmer*innen sammenwirken mit dem Rat kon- reduziert werden. sequent weiter verfolgt werden. Soziale Infrastruktur Dienstleistungen am Menschen, Engagement fördern, entwickeln, Teilhabe fördern nicht an Märkten orientieren in Zusammenhalt investieren Soziale Teilhabe muss allen Men- Soziale Dienstleistungen dürfen Gerade in Zeiten eines spürbaren schen in Europa ermöglicht wer- nicht wie beliebige Waren behan- EU-Skeptizismus und erstar- den. Wir fordern die konsequente delt werden, sondern müssen bür- kender nationalistischer Strö- Umsetzung der UN-Behinderten- gernah zugänglich sein und hohen mungen müssen soziale und in- rechtskonvention und die europa- Qualitätsansprüchen genügen. klusive EU-Programme gestärkt weite Schaffung einer barrierefrei- Freihandelsabkommen dürfen nicht werden. Alle Förderprogramme en, inklusiven sozialen Infrastruk- dazu beitragen, soziale Standards sollten noch stärker benachteili- tur. Sowohl umfassende gesell- zu beseitigen oder zu umgehen. Das gte Gruppen ansprechen, und von schaftliche Teilhabe als auch der Europäische Recht muss die Vielfalt Grund auf vereinfacht werden. Zugang zu angemessenen Sozial-, der Träger und Angebote achten Gemeinnützige Dienste als wich- Gesundheits- und Pflegedienstlei- und Transparenz fördern. Wir tige Akteure der Zivilgesellschaft stungen müssen garantiert wer- fordern vom EP und der Europä- dürfen nicht länger beim Zugang den. Es braucht eine hohe Qualität ischen Kommission, bei allen wett- zu Förderprogrammen gegenüber und Sicherheit von medizinischen bewerbs- und beihilferechtlichen gewinnorientierten Unternehmen und pflegerischen Produkten und Entscheidungen die besondere Rolle benachteiligt werden. Es braucht Leistungen und Transparenz bei gemeinnütziger Organisationen und insbesondere auch neue Förder- Pharmaspenden. Unternehmen zu berücksichtigen. möglichkeiten für soziale Innovati- onen im gemeinnützigen Bereich. 4 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Schwerpunkt Vierzig Jahre nach der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) sind im Mai 2019 mehr als 500 Mil- lionen EU-Bürger*innen aufgerufen, ihre Abgeordneten neu zu wählen. Aus der „Gemeinsamen Versammlung“ von 78 Parlamentariern nationaler Parlamente im Jahre 1952 wurde im Laufe der Jahrzehnte ein Europäisches Parlament mit 705 Sitzen. Der Paritätische Gesamtverband hat als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege zehn Forderungen formuliert, die wir hier in gekürzter Form dokumentieren. Mehr auf: www.paritaet.org Für eine solidarische und Internationale humane Flüchtlings- und Zusammenarbeit für Migrationspolitik Frieden und Verständigung Die Verantwortung für die Auf- Die EU ist mehr denn je gefragt, die nahme Schutzsuchender darf Auswirkungen der eigenen Politik nicht vor die Grenzen Europas auf andere Länder zu berücksichti- abgeschoben werden. Wir for- gen. Es geht um Fragen des Klima- dern faire und rechtsstaatliche schutzes und effizienter Ressour- Asylverfahren, den Ausbau legaler cennutzung, um Handel, Steuern, Zugangswege nach Europa und Ernährung und Migration. Die EU Ausbau und Unterstützung der muss ihren Beitrag dazu leisten, Seenotrettung. Wir fordern von die 17 Ziele der Agenda 2030 der den EP-Abgeordneten sich dafür Vereinten Nationen zu verwirkli- einzusetzen, dass alle europä- chen. Die Internationale Erklärung ischen Einrichtungen und Dienste der Menschenrechte und die Pakte verpflichtet werden, im Rahmen über bürgerliche und politische ihrer Kompetenzen und Möglich- Rechte sowie über wirtschaftliche, keiten Flüchtlinge zu unterstützen soziale und kulturelle Rechte müs- und Migrant*innen Zugänge zu sen gleichberechtigt als Verpflich- Bildung und Arbeit zu eröffnen. tungen begriffen werden. Ein Europa ohne Grenzen Partizipation und Finanzmärkte regulieren für den Menschen Willensbildung Die Freizügigkeit der EU- Die Mobilisierung und Einbindung Einige Mitgliedsstaaten der EU lei- Bürger*innen gehört seit jeher zivilgesellschaftlicher Kräfte ist den noch immer unter den Folgen zu den Grundpfeilern der EU. unerlässlich, um die gemeinsamen der Finanzkrise. Eine konsequente Das Freizügigkeitsrecht aller EU- sozialen Probleme in Europa nach- Regulierung der Finanzmärkte Bürger*innen darf nicht in Frage haltig zu lösen. Die Stärkung des ist unabdingbar. Spekulative Fi- gestellt, die Freizügigkeit nicht auf Sozialen in Europa ist auch eine nanztransaktionen müssen einge- Erwerbstätige reduziert werden. Antwort auf nationalistische Be- dämmt werden. Wirtschaftliche Angesichts des Fachkräftemangels strebungen, die Errungenschaf- Ungleichgewichte in der EU müs- in Deutschland gerade im Gesund- ten der europäischen Einigung sen effektiver als bisher abgebaut heits- und Pflegebereich braucht rückgängig zu machen. Die Arbeit und die sozialpolitische Koordinie- es grenzüberschreitende Qualifi- von zivilgesellschaftlichen Organi- rung gestärkt werden. Der Euro- zierungsoffensiven und die Förde- sationen muss durch die Europä- päische Stabilitätsmechanismus rung transnationaler Projekte, um ische Union effektiv unterstützt ist zu einem Europäischen Wäh- den Fachkräftebedarf zu decken werden, gerade wenn nationale rungsfonds (EWF) unter Kontrolle ohne gleichzeitig dringend benöti- Regierungen versuchen, soziales des EPs auszubauen. gte Fachkräfte aus anderen Regi- und demokratisches Engagement onen abzuziehen. einzuschränken. www.der-paritaetische.de 2 | 2019 5
Schwerpunkt Haltung zeigen in Europa. Hintergründe und Bedeutung des neuen Grundsatzpapiers: Mehr Soziales in Europa I n einem jüngst verabschiedeten erschien es unangemessen, der neoli- Grundsatzpapier fordert der Paritä- beralen Politik auf europäischer Ebene tische ein neues Leitbild für ein so- nichts entgegenzusetzen. Vor dem ziales und demokratisches Europa – Hintergrund der europäischen Auste- ein Europa, das seinen Fokus von den ritätspolitik wurde für den Paritä- wirtschaftlichen Freiheiten auf die tischen klar: Es braucht eine Beschluss- Verantwortung für die Menschen lage, die es dem Verband erlaubt, sich lenkt. Der Paritätische bekennt sich in die europäische Politik einzu- klar zum Ziel eines gemeinsamen eu- mischen – und für ein soziales und ropäischen Raums der Freiheit, Solida- demokratisches Europa zu kämpfen. rität, Teilhabe und der Rechtsstaatlich- Das leistet das neue Grundsatzpapier: keit. Aus Sicht des Paritätischen muss Es ermöglicht dem Paritätischen und sich das vereinte Europa ambitionierten seinen Mitgliedsorganisationen nicht sozialpolitischen Zielen verschreiben. nur in Deutschland, sondern auch in Es braucht eine positive Vision einer Gemeinschaft, die danach strebt, die Europa Haltung zu zeigen. Angesichts einer wiedererstarkenden Demos am 19. Mai 2019 Lebensbedingungen der Menschen in Rechten kommt dieser europapoli- Europa so zu gestalten, dass alle Men- tischen Neuausrichtung auch im Ein Europa für Alle: Deine schen in Europa frei von Existenzäng- Kampf gegen Nationalisten und Stimme gegen Nationalismus! sten leben können und ihre volle, wirk- Rechtsextreme besondere Bedeutung Nicht nur in Deutschland sehen sich die- same und gleichberechtigte Teilhabe zu. Nicht nur in Deutschland sehen jenigen im Aufwind, die Hass und Res- an der Gesellschaft ermöglicht wird. sich diejenigen im Aufwind, die Hass sentiments gegen Geflüchtete und Min- Für den Paritätischen bedeutet die und Ressentiments gegen Geflüchtete derheiten schüren, Menschenrechte neue europapolitische Positionierung und Minderheiten schüren, den einschränken und das Asylrecht abschaf- einen Kurswechsel. Bisher hat sich der Rechtsstaat und unabhängige Gerichte fen wollen. Nationalisten und Rechtsex- Verband vor allem dafür eingesetzt, die angreifen, Menschenrechte einschrän- treme erstarken in ganz Europa. Und Zuständigkeit für Sozialpolitik bei den ken und das Asylrecht abschaffen wol- sie drohen ihre Macht weiter auszubau- Nationalstaaten zu halten, um eine Ab- len. Vor diesem Hintergrund haben en: Zwischen dem 23. und 26. Mai wäh- wärtsspirale bei den sozialen Stan- viele Mitgliedsorganisationen in den len die Bürger*innen der EU-Mitglied- dards zu verhindern. Den entschei- letzten Jahren verstärkt dafür gewor- staaten das Europäische Parlament neu. denden Anstoß, diese defensive Stel- ben, die Paritätischen Werte offensiver Die rechten Kräfte hoffen, mit so vielen lung zur EU zu überdenken, gab die zu verteidigen. In der Folge wurden Abgeordneten wie noch nie in das Euro- desaströse Sparpolitik, die die EU 2010 Grundsätze und Werte des Verbandes päische Parlament einzuziehen. Soll ihr unter deutscher Hegemonie einleitete. intensiv diskutiert: Was heißt es aktu- Vormarsch gestoppt werden, braucht es Mit harten Sparmaßnahmen sollte die ell für das Paritätische Fundament – Kräfte, die sich ihnen entschlossen ent- Eurokrise überwunden werden. Die die Gleichwertigkeit aller Menschen – gegenstellen. Gemeinsam mit einem Opfer dieser neoliberalen Krisenbewäl- einzustehen? Die Antwort fiel klar und breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis tigung waren die Bevölkerungen in deutlich aus: Als Paritäter*in gilt es, ruft der Paritätische zu Großdemonstra- Griechenland, Irland, Portugal, Spani- die Menschenrechte stark zu machen tionen in mehreren Städten auf – am 19. en und Italien. Viele mussten erheb- und zu verteidigen. Das neue europa- Mai, unmittelbar vor den Europawahlen. liche Einkommenseinbußen hinneh- politische Grundsatzpapier schafft die Gemeinsam streitet das Bündnis für die men, Sozialleistungen wurden massiv Grundlage, dieser Überzeugung über Vision eines Europas, das Humanität gekürzt, die Arbeitslosigkeit stieg teils die Grenzen Deutschlands hinweg und Menschenrechte verteidigt, und für dramatisch an. Eine ganze Generation Rechnung zu tragen. Haltung zeigen Demokratie, Vielfalt und Meinungsfrei- junger Erwachsener sah sich ihrer in Europa – das ist bitter notwendig. heit steht. Ein Europa, das soziale Ge- Hoffnung auf eine gute Zukunft be- rechtigkeit garantiert und einen grund- raubt. Für einen Verband, der sich die Ulrich Schneider legenden ökologischen Wandel und die Bekämpfung von Armutund sozialer ist Hauptgeschäftsführer Lösung der Klimakrise vorantreibt. Es ist Ausgrenzung auf die Fahnen schreibt, beim Paritätischen Gesamtverband Zeit Haltung zu zeigen: Für ein demo- dessen Mitgliedsorganisationen zahl- Wiebke Schröder ist Referentin für kratisches und solidarisches Europa! reiche EU-weite Projekte verantworten, übergreifende Fachfragen Mehr Infos: www.paritaet.org 6 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Schwerpunkt Menschenrechte schützen - Konzernklagen stoppen! Paritätischer unterstützt europaweite Kampagne E in breites Bündnis von über 150 Beispiel Umwelt-, Verbraucher- oder stem profitieren, während viele Be- europäischen Organisationen, Arbeitnehmerrechte stärken wollen. troffene von Menschenrechtsverstö- Gewerkschaften und sozialen Diese Paralleljustiz für Konzerne un- ßen durch Konzerne keine Möglich- Bewegungen hat im Januar die Kam- tergräbt eine gemeinwohlorientierte keit haben, zu ihrem Recht zu kom- pagne „Menschenrechte schützen – Politik in Europa und im globalen Sü- men”, so Ulrich Schneider. Konzernklagen stoppen“ mit einer den. Petition gestartet. Das Bündnis fordert ein Ende der Sonderrechte für Konzerne und ein Der Paritätische unterstützt die Kam- internationales Abkommen, um Kon- pagne für gesetzliche Rechenschafts- zerne für Menschenrechtsverstöße pflichten von Konzernen und gegen zur Rechenschaft zu ziehen und Be- Investor-Staat-Schiedsgerichte (ISDS), troffenen Zugang zur Justiz zu ge- einem parallelen, einseitigen und un- währleisten. Gut eine Woche nach fairen Justizsystem für Konzerne. Start der Kampagne hatten bereits Handelsabkommen wie das zwischen mehr als 290.000 Menschen die Peti- der EU und Kanada ausgehandelte tion unterzeichnet. CETA ermöglichen Konzernen Zu- gang zu diesen speziellen Schiedsge- Auf der Seite des Bündnisses können richten. auch Sie sich beteiligen: Sie erlauben es Konzernen Regie- “Es kann nicht sein, dass Konzerne stopisds.org/de/aktion/ rungen zu verklagen, wenn diese zum von einem privaten globalen Justizsy- www.der-paritaetische.de 2 | 2019 7
Europäische Asylpolitik „Desperate Journeys“ so betitelt der UN Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) seinen Bericht über Flücht- linge und Migranten, die im vergange- nen Jahr versucht haben, nach Europa zu kommen. Rund 140.000 Menschen sind 2018 über das Mittelmeer nach Europa geflohen, ein deutlicher Rück- gang gegenüber den Vorjahren. Min- destens 2.300 von ihnen sind auf die- sem Weg ums Leben gekommen – es ertranken also durchschnittlich sechs Personen pro Tag! Andere wurden be- reits kurz nach ihrer Abreise von der libyschen Küstenwache aufgriffen. Sie landen dann in der Regel erneut in von Milizen betriebenen Lagern, wo sie unter erbärmlichen Bedingungen le- ben – oder sich freikaufen – müssen. Hier sind Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung und selbst das Auswärtige Amt spricht von „KZ-ähn- lichen Zuständen“. Die libyschen „See- gab, sind viele Menschen im Mittel- übergeben oder aber in zentralen La- notretter“ und die Milizen, die die La- meer ertrunken. Langfristiges Ziel gern in einzelnen europäischen Län- ger betreiben, sind, so hat es kürzlich kann es daher nicht sein, einen Zu- dern unterbringen. Diese Pläne – so auch die italienische Staatsanwalt- stand aufrecht zu erhalten, der weiter- scheint es – sind gescheitert: Es findet schaft festgestellt, nicht selten iden- hin zehntausende Menschen zwingt, sich bisher in Europa kein Land, welches tisch. Das hält die EU bedauerlicher- über das Mittelmeer zu fliehen. Aber bereit wäre, als zentrale Anlaufstelle die weise aber nicht davon ab, mit diesem man rettet niemanden, indem man die im Mittelmeer Geretteten aufzuneh- „Regime“ eng zu kooperieren und es Seenotrettung einstellt und behindert. men – und sie dann innerhalb der EU zu finanzieren. Eine erste Forderung muss es sein, zu verteilen. Und es findet sich erst dass sich die europäischen Staaten recht kein Staat auf dem afrikanischen Die EU hat in den vergangenen Jahren schleunigst wieder an einer effektiven Kontinent, der bereit wäre eine „Aus- mit einer Vielzahl von Maßnahmen Seenotrettung beteiligen, für die im schiffungsplattform“ anzubieten, zu auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen Mittelmeer Geretteten Verantwortung welcher die im Mittelmeer Geretteten reagiert. Dazu gehören auch eine Ein- übernehmen und ihnen in Europa Zu- zurückgebracht werden sollen. schränkung der staatlichen Seenotret- gang zu einem fairen Asylverfahren tung und nun auch eine nahezu voll- ermöglichen. Diese Aufgabe darf man Gescheitert ist auch das seit mehreren ständige Behinderung der von ver- freilich nicht nur den Mittelmeer-An- Jahren praktizierte „Hotspot Konzept“ an schiedenen zivilgesellschaftlichen Or- rainerstaaten aufbürden, es bedarf europäischen Außengrenzen. Auch drei ganisationen betriebenen Seenotret- vielmehr einer solidarischen Regelung Jahre nach dem EU-Türkei-Deal ist die tung. Diese Vorgehensweise ist weder hinsichtlich der Verteilung der im Mit- Situation in den Hotspots auf den griechi- mit den völkerrechtlichen noch den telmeer Geretteten. schen Inseln für die Asylsuchenden kata- humanitären Verpflichtungen Euro- strophal – und das, obwohl Finanzmittel pas vereinbar. Zentrale Anlaufstelle für Gerettete fehlt in erheblichem Umfang zur Verfügung Mitte 2018 hatte die EU Kommission gestellt wurden. Die bisherigen Erfah- Gewiss: auch in Zeiten, in denen es andere Überlegungen vorgestellt, was rungen haben deutlich gemacht, dass in eine intensivere europäische See- künftig mit im Mittelmeer Geretteten solchen Lagern an den Außengrenzen notrettung (insbesondere die großan- geschehen solle. Man wollte die Betrof- Europas die Betroffen häufig über Jahre gelegte Seenotrettungsaktion „mare fenen entweder in „Ausschiffungsplatt- hinweg unter elenden Bedingungen le- nostrum“ der italienischen Marine) formen“ an nordafrikanische Länder ben müssen und dass dort auch kein Zu- 8 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Schwerpunkt gang zu einem fairen und effektiven Asy- schon aus der Liste der Haupther- Verweis auf legale Zugangswege läuft lerfahren gewährleistet werden kann. kunftsländer ersichtlich: Syrien, Irak, also häufig – leider – ins Leere. Es macht angesichts der bisherigen Er- Iran, Afghanistan, Pakistan. Es gibt – nach wie vor – in vielen Län- fahrungen daher keinen Sinn, weiter dern Europas eine starke Zivilgesell- an solchen „Hotspot“-Modellen festzu- Der große Wunsch nach einem gesteu- schaft, die sich für die Rechte geflüch- halten. Zielführender ist es, die Asylsu- erten Verfahren teter Menschen einsetzt und konkrete chenden nach der Ankunft in einem Bei der Weiterentwicklung der europä- Hilfe für sie organisiert. Es gibt auch europäischen Land zügig auf die ver- ischen Asylpolitik geht es im Kern immer mehr Kommunen, die sich be- schiedenen EU Mitgliedstaaten zu ver- auch um die Zukunft des individuellen reit erklären, zusätzlich Flüchtlinge teilen. Ein starres Verteilungssystem, Asylrechts. Soll es dieses perspekti- aufzunehmen, Eine Aufgabe für die in das alle EU Staaten einbezogen wer- visch noch geben, oder soll es durch Zukunft wird es sein, diese europä- den, wird es in absehbarer Zeit nicht ein Gnadenrecht ersetzt werden, ische Zivilgesellschaft mehr zu bün- geben. Es scheitert am Widerstand ver- welches es ins Belieben der EU- Staa- deln, damit sie stärkeren Einfluss auf schiedener europäischer Staaten. Es ten stellt, wie viele Flüchtlinge sie auf- die zukünftige Ausgestaltung der eu- scheitert aber auch, wenn dabei nicht nehmen wollen („Obergrenze“)? Dass ropäischen Flüchtlingspolitik nehmen auch die Perspektiven der Flüchtlinge es besser ist, wenn Flüchtlinge die kann. Dabei sollte sie auch die europä- in stärkerem Maße berücksichtigt wer- Möglichkeit haben, im Rahmen von ische Politik der „Fluchtursachenbe- den. Ein wichtiger Schritt in diese humanitären Aufnahmeprogrammen, kämpfung“ in den Blick nehmen. Un- Richtung wäre es, wenn anerkannten Resettlementprogrammen, mit huma- ter dieser Überschrift fördert die EU Flüchtlingen in der EU das Recht auf nitären Visa oder im Rahmen der Fa- derzeit eine Fülle von Maßnahmen Freizügigkeit eingeräumt würde. milienzusammenführung nach Euro- und Projekten. Aber dienen die Pro- pa zu kommen, als wenn sie sich der jekte tatsächlich vorrangig der Flucht- Fokussierung auf Kontrolle der Außen- gefahrvollen, oft tödlichen Reise über ursachenbekämpfung oder eher der grenzen das Mittelmeer aussetzen, ist offen- Migrationssteuerung? Eine europä- Solange man in der zentralen Frage, sichtlich. Das darf aber keine Rechtfer- ische Politik, die darauf abzielt, durch wie die Asylsuchenden in der EU zu tigung sein, all denen, die außerhalb frühzeitige Abschottung und Ausbau verteilen sind, keine Einigung erzielt solcher geregelter Verfahren an die eu- der Kontrollen in den afrikanischen hat, sind auch die sonstigen Überle- ropäischen Grenzen gelangen, den Zu- Ländern die Mobilität innerhalb Afri- gungen hinsichtlich einer Neufassung gang zu einem Asylverfahren zu ver- kas einzuschränken, stünde im Wider- des Gemeinsamen Europäischen Asyl- wehren. Das ist ein klarer Verstoß ge- spruch zu den Zielen, die sich die Afri- systems (GEAS) auf Eis gelegt. Ein gen das völkerrechtlich verbriefte „Re- kanischen Staaten in der Agenda 2063 Durchbruch noch vor der Wahl des foulementverbot“, das verbietet, gegeben haben. Dort wird gerade in Europäischen Parlaments im Mai er- Schutzsuchende in Staaten zurückzu- der Förderung der Bevölkerungsmobi- scheint unrealistisch. Mindestens weisen, in den ihnen Verfolgung, Fol- lität ein zentrales Mittel für den wirt- neun Entwürfe für eine Neuregelung ter oder andere schwerwiegende Men- schaftlichen Aufschwung der afrika- des Europäischen Asylsystems liegen schenrechtsverletzungen drohen. nischen Länder gesehen. auf dem Tisch, die nicht nur auf eine stärkere Angleichung der europä- Zudem ist festzuhalten, dass die oft- ischen Asylpolitik abzielen, sondern mals geforderten „legalen Zugangs- vor allem auf eine stärkere Kontrolle wege bisher doch nur in geringem der Außengrenzen und eine Auslage- Umfang existieren. Weltweit hat der rung des Flüchtlingsschutzes und der UNHCR einen Neuansiedlungsbedarf Migrationskontrolle. für 1,4 Millionen Flüchtlinge angemel- det – die EU hat 34.000 Plätze zur Ver- Insbesondere die Sicherung der Au- fügung gestellt. Die Möglichkeiten der ßengrenzen und die Reduzierung der legalen Einreise für Familienangehöri- Zahl der Europa erreichenden Schutz- ge von subsidiär Geschützten wurden suchenden stellt den kleinsten gemein- gerade eingeschränkt. Humanitäre samen Nenner der europäischen Asyl- Visa – die Möglichkeit etwa der Asylan- politik dar. Und diese Politik ist erfolg- tragstellung bei einer deutschen Bot- reich, wie man an den stark rückläu- schaft, gibt es nicht. Und wie man an figen Zahlen Asylsuchender in Europa der aktuellen Diskussion um das Fach- erkennen kann. Gut 600.000 waren es kräfteeinwanderungsgesetz erleben 2018, ein Rückgang von 50 Prozent ge- kann, ist hierzulande die Bereitschaft, Harald Löhlein ist Leiter genüber dem Jahr 2015. Dass viele der geringqualifizierte Personen aus Dritt- der Abteilung Migration Geflüchteten vor Krieg, Bürgerkrieg staaten, etwa zum Zwecke der Ausbil- und internationale Kooperation oder Verfolgung geflohen sind, wird dung einreisen zu lassen, gering. 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Schwerpunkt Drei Fragen an Prof. Dr. Björn Hacker zur Europäischen Säule sozialer Rechte Prof. Dr. Björn Hacker ist Professor für Wirtschaftspolitik. Er lehrt seit 2014 an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. 2010 schloss er seine Promotion über das europäische Sozialsystem ab. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören die europäische Wirtschafts- und Währungsu- nion, ökonomische und politische Integrationsprozesse, Transformation von Wohl- fahrtsstaaten, soziale Dimension der EU und Makroökonomie. Eine Besprechnung seines aktuellen Buches „Weniger Staat, mehr Politik“ findet sich in dieser Ausgabe auf Seite 32. Herr Prof. Dr. Hacker, „Die europäische Wenn Sie konkret eine Sache an der euro- Was wäre nötig, um das Soziale in Europa Säule sozialer Rechte (ESSR) soll neue und päischen Säule sozialer Rechte ändern insgesamt zu stärken? wirksamere Rechte für die Bürgerinnen könnten: Was wäre das? und Bürger gewährleisten“, so heißt es auf Trotz aller Unterschiede in der Organi- der Homepage der Europäischen Kommis- Die wohlklingenden Formulierungen sation des Sozialschutzes in den Mit- sion. Wird sie diesem Anspruch gerecht? über „angemessenen“ Sozialschutz gliedstaaten existiert ein europäischer müssten mit Mindeststandards und Konsens über einen interventionsfä- Derzeit leider nicht. Was 2017 groß als Zielwerten konkretisiert und in einem higen und regulierenden Staat, die Ab- „soziale Rechte“ proklamiert wurde, ist Sozialprotokoll zum Vertrag von Lissa- sicherung der großen Lebensrisiken nicht Bestandteil des europäischen Pri- bon verbindlich gemacht werden. Heu- und die Vermeidung von Armut über märrechts und für die Bürgerinnen und te vergleicht die Europäische Kommis- auf Steuern und Beiträgen beruhenden Bürger nirgendwo einklagbar. Es sind sion zwischen den Mitgliedstaaten ein Sozialsystemen. Wir müssen dies so vielmehr 20 Grundsätze zur Sozialpoli- Set an Indikatoren, das die Umsetzung umrissene Europäische Sozialmodell tik aufgeschrieben worden, auf die sich der Säule sozialer Rechte messen soll. wieder stärker als ureigenes Erfolgspro- alle Mitgliedstaaten verständigen konn- Dieses „Soziale Scoreboard“ ist ein An- dukt betrachten. Es zu schützen und ten: vom lebenslangen Lernen über ge- fang, doch ohne quantifizierbare poli- stark zu machen im Umgang mit Glo- rechte Entlohnung bis zu angemes- tische Ziele verpufft die Wirkung. balisierung, Digitalisierung und neuen senen Rentenleistungen. Das darf man Ideen für die praktische Umsetzung gesellschaftlichen Herausforderungen nicht zu gering schätzen, schließlich wären etwa eine Mindestlohnnorm bei sollte ein zentrales Anliegen der EU sind die Wohlfahrtsstaaten in der EU 60 Prozent des jeweiligen nationalen werden. sehr unterschiedlich organisiert. Medianlohns, ein Rahmen für existenz- sichernde Grundsicherungssysteme in Die Säule sozialer Rechte spricht rich- Doch mit rein deklatorischen Rechten Abhängigkeit der nationalen Armuts- tige Themen an, doch ein Soziales Eu- kann sich das Soziale Europa nur im gefährdungsquote oder ein Korridor ropa erfordert konkrete politische Ge- Schneckentempo entwickeln und wird für Sozialschutzausgaben pro Kopf staltung. Im Binnenmarkt und der weiter unter der Dominanz der Wirt- entsprechend der langfristigen Ent- Währungsunion heißt dies, der Markt- schaftsintegration leiden. Das zeigt wicklung des Bruttoinlandsprodukts. gläubigkeit einen regulierenden Rah- sich auch in der faktisch nicht existie- men entgegen zu stellen. Im europä- renden politischen Debatte um die Wichtig dabei ist: es geht nicht um den ischen Wettbewerb sollen sich die Un- Säule sozialer Rechte in Deutschland: Bau eines einheitlichen Sozialsystems, ternehmen behaupten, nicht die Wohl- Wo das Land im wirtschaftlichen Wett- sondern um Verhinderung von Soziald- fahrtsstaaten auseinanderdividieren. bewerb mit anderen Staaten steht, ist umping und Befeuerung sozialer Auf- ständiges Thema in der Öffentlichkeit. wärtskonvergenz. Statt „one-size-fits-all“- Dagegen ist die relative soziale Lage Zielen benötigen wir einen sozialen Rah- Die Fragen stellte Philipp Meinert ein Nischenthema für Expertinnen men in Europa, der sich an nationalen und Experten. Größen und Bedürfnissen orientiert. 10 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Schwerpunkt Der Geruch von Armut ger mit den Ämtern wegen der Melde- Das Quartier Dortmunder Nordmarkt ist oftmals erste Anlaufstelle von Neuein- pflicht, die begreifen die Wichtigkeit wanderern aus Rumänien und Bulgarien. Weil viele keine Chance in ihren Heimat- von Klingelschildern erst, wenn ernste ländern sehen, suchen sie ihr Glück in Deutschland. Das Team des Planerladens Probleme da sind“, erklärt Sozialarbei- nimmt sich ihnen an und hilft bei der Suche nach Arbeit und Wohnungen. Ein terin Gamze Çalışkan bei einem Rund- schwieriges Unterfangen, wissen die Mitarbeiter. gang. Heruntergelassene Jalousien ver- dreckt und durchlöchert, ein Blick ins Haus zeigt zerstörte Briefkästen. Für U m 8.20 Uhr standen alle 70 im gänge standen die Häuser schon länger viele Neuzuwanderer würden die he- Planerladen bei Gamze leer und verwahrlosten“, erklärt ein Mit- runtergekommenen Gebäude dabei Çalışkan auf der Matte: Das begründer des Planerladens, Reiner die letzte Zufluchtsmöglichkeit dar- Ordnungsamt hatte eines der Dort- Staubach. Zirka 4.300 Menschen, mehr stellen, denn auf dem normalen Woh- munder Problemhäuser in der Nord- als 50 Prozent der Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien in Dort- nungsmarkt hätten sie kaum Chancen. stadt geräumt. Somit wurden viele ob- dachlos. „Darunter Schwangere und mund, sind in der Nordstadt unterge- kommen. „Zuwanderer aus bestimm- „Es ist sehr schwierig eine Wohnung viele Kinder“, erinnert sich Çalışkan. Die Sozialarbeiterin und ihre Kollegen ten Regionen verteilen sich scheinbar und Arbeit zu finden“, weiß Çalışkan. vom Planerladen vermittelten: beglei- selbstselektiv auf bestimmte Ankunfts- Auch auf dem Arbeitsmarkt werde die teten die Betroffenen zum Mieterver- stadtteile, weil die Erstankömmlinge Lage der Zuwanderer ausgenutzt: „Kei- ein und zum Sozialamt. durch Informationen aus erster Hand ner von denen bekommt Mindestlohn.“ den Nachzüglern Orientierungshilfe Die Profiteure arbeiten mit unrechten Seit 1982 gibt es den Planerladen in der liefern“, erklärt der Stadtplaner. Mitteln: Im Planerladen haben die Mit- Dortmunder Nordstadt. Die Arbeit des arbeiter schon viele unzulässige Ar- Vereins zielt auf die Verbesserung der Keine Chancen auf dem normalen Woh- beits- und Mietverträge gesehen. So Wohn- und Lebensbedingungen der nungsmarkt verlangten Vermieter hohe Transakti- Anwohner ab. Die Mitarbeiter, oftmals Die Mallinckrodtstraße im Quartier onskosten, nicht wenige Neuzuwande- mit Migrationshintergrund, planen Nordmarkt ist bekannt dafür, dass hier rer müssten eine Art Provision an Veranstaltungen, klären auf und bera- Bulgaren und Rumänen zusammen- Wohnungsbesitzer bezahlen. Normale ten ihre Klienten zu ihren Problemen. kommen. Betroffene Gebäude sind Wohnungen seien schwer zu bekom- Wie an jenem Morgen, als Gamze schnell zu finden, Klingelschilder nur men, viele Besitzer würden offen zuge- Çalışkan und ihre Kollegen 70 Men- schlecht oder unkenntlich beschriftet, ben, dass sie nicht an Bulgaren vermie- schen vor der Obdachlosigkeit bewah- mehrere Namen übereinanderge- ten. „Es gibt viel Diskriminierung“, ren mussten. schrieben. „Da bekommen die oft Är- sagt Çalışkan. Der Bulgare Hasan Naskow war einer von ihnen, seine Frau hochschwanger. Zusammen mit 68 anderen lebten sie auf engstem Raum, ein Matratzenla- ger. Er erinnert sich: Überall lagen Sa- chen, Schuhe, Strümpfe herum, „es war ekelig“. „Das ist ein Geschäft für die Vermieter“, weiß Çalışkan vom Pla- nerladen und rechnet vor: Von jedem Mieter wurden 350 Euro kassiert, dabei lebten vier bis fünf Personen zusam- men in einem Zimmer bei vier Woh- nungen. Auch in der Küche und dem Die „Problemhäuser“ in Flur. Viel Geld für die Vermieter, aber der Nordstadt sind schnell zu finden: Der die baulichen und hygienische Zustän- Hauseingang zeigt einen de – katastrophal. Blick ins Innere, Brief- kästen sind zerstört, der Zirka 100 dieser „Ekelhäuser“ zählte die Zusand der Fassaden ist Nordstadt 2007. „Als Folge schlechter katastrophal. Bewirtschaftung und spekulativer Vor- www.der-paritaetische.de 2 | 2019 11
Schwerpunkt Die Mehrheit der bulgarischen und ru- mänischen Neuzuwanderer in der Nordmarkt gehöre den Rom-Völkern an und damit zu der größten Minderheit Europas – laut EU-Kommission zur stärksten diskriminierten Gruppe. Nach Stadtplaner Staubach leiden die Roma zudem am meisten unter rassi- stisch motivierten Straftaten sowie un- ter sozialer Ausgrenzung und Verelen- dung. Die Integration des Wandervolks kommt in den EU-Mitgliedstaaten eines kürzlich veröffentlichten Berichts der EU-Kommission nur schleppend voran, trotz EU- Vorgaben zur Integration der Gamze Çalışkan vom Roma. Auch in Dortmund stoße laut Planungsladen zeigt auf ein der Mitarbeiter das Volk auf Vorurteile modernisiertes Haus im Quartier und habe mit extremen Ungleichbe- Nordmarkt, die Sozialarbeiterin handlungen zu kämpfen. wohnt selbst in der Gegend. Bestehende Systeme funktionieren nicht Ein Zimmer, viele Betten, ein Couch- von Sozialdiensten entdecken. Laut die richtige Richtung sei nun von der tisch in der Mitte. Monatelang hat die EU-Kommission hat sich bei der Bil- Stadt getan. Im Februar 2017 übertrug Sozialarbeiterin Çalışkan noch daran dung und Armutsbekämpfung die sie im Rahmen eines sozialen Bewirt- gedacht und den Geruch in der Nase. Lage der Roma in der EU zwar verbes- schaftungsvertrags der Stiftung Sozi- Am Tisch kochte eine Mutter einer sert, im Gesundheitsbereich und beim ale Stadt und der Grünbau GmbH die fünfköpfigen Familie das Essen auf ei- Zugang zu Beschäftigung und Woh- Aufgabe der Sicherung von 40 Wohn- ner elektrischen Pizzapan. Ein Gerät nungen seien hingegen kaum Verbes- einheiten plus zwei Gewerbeeinheiten für alles, ein Raum für alle, zum Schla- serungen zu verzeichnen. am Nordmarkt, die unter Zwangsver- fen, waschen, leben und essen. „Dieser waltung standen und sicherte so den Essensgeruch, der in der Wohnung Sanierung kann zu Verdrängung führen Bestand ohne Verdrängung der Be- hing, das war der Geruch von Armut“, Nicht alle Ansätze greifen: In Dort- wohner. das mit anzusehen und wenig tun zu mund wurden 2013 von der Dortmun- können, das habe ihr so wehgetan. der Gesellschaft für Wohnen mbH An anderer Stelle gehen Räumungen (DOGEWO21) 30 Problemimmobilien weiter, ohne dass Vorsorge geleistet Sie ist müde: Çalışkan wäre froh, wenn im Norden erworben. Mittels eines wird. Nach der Hausräumung von Ha- bereits bestehende Systeme funktio- Fonds sollten die Gebäude instandge- san Naskow kamen einige der Bewoh- nieren würden. „Dafür kämpfen wir“, setzt werden. Die Akteure wurden ner in Übergangsheimen unter, einige sagt sie. Vieles ihrer Arbeit hätte mit 2014 dafür mit dem Preis „Soziale gingen nach Bulgarien zurück. Auch Formalitäten vom Jobcenter und Fami- Stadt“ ausgezeichnet. Naskow wurde nahegelegt, in sein Hei- lienkasse zu tun, Miet- oder Arbeits- matland zurückzukehren, obwohl er verträge prüfen, aufklären. „Einiges Den Roma half es nicht: Bei der spä- eine sozialabgabenpflichtige Beschäfti- hat sich schon getan“, meint sie. Seit teren Belegung sollte eine andere Ziel- gung hat. Da übernachtete Naskow 2011 agieren im Dortmunder „Netz- gruppe angesprochen werden, um drei Monate lang in bulgarischen Ca- werk EU-Armutszuwanderung“ unter „eine Vermischung und Stabilisie- fés, seine schwangere Frau nutzte eine der Federführung des Sozialdezernats rung“ zu gewährleisten und keine Nei- Rückkehrhilfe und gebar das Kind in Wohlfahrtverbände und andere lokale der auszulösen, meint Planerladen- der alten Heimat, bevor sie wieder zu Akteure. Vorstandsmitglied Staubach. „Bei- ihrem Mann stieß. spiele aus Dortmund und Duisburg Im Stadtteil sind die Helfer präsent, zeigen, dass die an sich begrüßens- Annabell Fugmann das Ordnungsamt hat ein „Fallma- werte Sanierung von Problemhäusern nagement Problemhäuser“ eingerich- zur Verdrängungsstrategie gerät.“ Das tet und befindet sich mit einem Büro Problem wird verlagert. an der Mallinckrodtstraße. Der Planer- Zahlreiche Veranstaltungen sowie Weitere Informationen unter: laden ist an mehreren Standorten mit Aufklärungsarbeit des Planerladens www.planerladen.de Ladenlokalen oder Büros vor Ort, an vielen Stellen kann man Ladenlokale hätten Wirkung gezeigt: Ein Schritt in 12 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Schwerpunkt EMIN: Für eine garantierte Grundsicherung für alle – europaweit D ie Europäische Union steckt in alle Mitgliedsländer dazu verpflichtet muss den nationalen Umständen ent- der Krise. Das ist offenkundig. soziale Grundsicherungssysteme zu sprechen – eine einheitliche Leistungs- Der Umgang mit der Finanz- etablieren und so auszubauen, dass höhe für alle Mitgliedsländer scheint markt- und Eurokrise führte vor allem sie gegen Armut und soziale Ausgren- wenig sinnvoll, da der jeweilige natio- im Süden Europas zu massiven sozia- zung schützen. Das EMIN – Netzwerk nale Entwicklungsstand zu berücksich- len Verwerfungen. Im Umgang mit spricht sich – um Missverständnisse zu tigen ist – und ausreichend hoch sein, Flüchtlingen versagen die europä- vermeiden – nicht dafür aus, dass die um das Ziel der Armutsvermeidung (zu- ischen Regierungen und verweigern Grundsicherung auf der europäischen mindest in der mittleren Perspektive) zu sich einer menschenrechtskompa- Ebene angesiedelt wird; die Organisa- erreichen. Gerade an diesem letzten Kri- tiblen Politik. Insbesondere aber ver- tion und die Finanzierung der Grund- terium scheitern die meisten Grundsi- sagt die Europäische Union bei dem sicherungssysteme verbleiben jeweils cherungssysteme: die Leistungen liegen Ziel, ein soziales Europa zu schaffen, in nationaler Zuständigkeit. Wohl regelmäßig deutlich unter der Armuts- welches allen Menschen in Europa er- aber spricht sich das Netzwerk dafür grenze. Dies gilt auch für die Grundsi- möglicht frei von Existenzängsten zu aus, dass zentrale Ziele und Standards cherungsleistungen in Deutschland, die leben und gleichberechtigt an der Ge- rechtlich verbindlich auf europäischer im europäischen Vergleich eher unter- sellschaft teilzuhaben. Infolge der Ebene beschlossen und damit für alle durchschnittlich ausfallen. Eine Kritik, multiplen Krisen verliert die Europä- Mitgliedsländer verbindlich werden. die der Paritätische gegenüber Hartz IV ische Union zunehmend an Unterstüt- regelmäßig vorträgt. zung in der Bevölkerung der Mitglieds- In politischen Willenserklärungen ist länder. Der „Brexit“ – erstmals tritt ein das Ziel der Sicherung des Existenz- EMIN formuliert im Kern drei Qua- Mitgliedsland aus der Union wieder minimums schon seit langer Zeit auf litätsstandards, die durch eine Euro- aus – ist nur das deutlichste Zeichen europäischer Ebene etabliert. So hat in päische Richtlinie gesichert werden des Vertrauensverlustes. Die erstar- Fortführung der Ideen der UN-Men- müssen: die Leistungen müssen ange- kenden rechten politischen Parteien schenrechtserklärung der Europarat messen hoch („adequate“), zugänglich propagieren eine Rückkehr zu Souve- schon 1961 erklärt, dass „Jedermann“ („accessible“) und ermöglichend („en- ränität der Nationalstaaten. das Recht auf Fürsorge hat, wenn er kei- abling“) sein. Diese Kriterien wären im ne ausreichenden Mittel hat. Ähnliche Einzelnen weiter zu konkretisieren. Sie Die Europäische Union braucht in die- Erklärungen finden sich auch in Be- weisen aber einen Weg zu einem Euro- ser dramatischen Situation politische schlüssen der EU. Und die Europäische pa, im dem die Menschen frei von Exis- Ziele und Politiken, die den Mehrwert Union hat zuletzt 2017 in der „Europäi- tenzängsten leben können. Dafür wirbt europäisches Zusammenarbeit sowohl schen Säule sozialer Rechte“ unter Num- das Netzwerk durch verschiedenste symbolisieren als auch konkret erfahr- mer 14 formuliert, dass „jede Person, die Aktivitäten, im vergangenen Jahr bei- bar machen. Das Netzwerk für eine nicht über ausreichende Mittel verfügt, spielsweise mit einer Info-Bustour europäische Mindestsicherung („Eu- (…) das Recht auf angemessene Grund- durch ganz Europa (http://eminbus. ropean Minimum Income Network“ sicherungsleistungen (hat), die ein wür- eu/bus-tour/). – EMIN) macht ein Angebot für ein devolles Leben ermöglichen (…).“ Doch derartiges Ziel. EMIN ist ein informel- es fehlt diesen Erklärungen die rechtli- les Netzwerk von Organisationen und che Verbindlichkeit. Die Mitgliedslän- Einzelpersonen auf EU- und nationaler der bleiben in der Ausgestaltung ihrer Dr. Andreas Ebene, in dem sich auch der Paritäti- Grundsicherungssysteme frei. Die so- Aust ist Referent sche engagiert, und wird vom Europä- ziale Wirklichkeit sieht daher häufig für Sozialpolitik ischen Anti-Armuts-Netzwerk (EAPN) anders aus: Die Grundsicherung hilft in der Paritä- koordiniert. Die zentrale Forderung: zumeist nicht viel gegen Armut. Denn tischen For- Allen Menschen, die in Europa leben, es wird etwa nicht verhindert, dass Län- schungsstelle. soll ein würdiges Dasein garantiert der gar keine landesweiten Grundsiche- werden. All die Menschen in Europa, rungssysteme haben (bislang: Italien, Wer die Anliegen von EMIN un- die ihren lebensnotwendigen Bedarf Griechenland) oder bestimmte Perso- terstützen will, kann die laufende nicht anderweitig decken können, sol- nengruppen (wie z.B. junge Menschen online Petition „Garantierte Min- len Zugang zu einer auskömmlichen in Frankreich oder auch Dänemark) desteinkommen. Niemand verdient Grundsicherung bekommen. Konkret komplett vom Leistungsbezug ausge- weniger, alle profitieren“ mitzeich- schlägt das Netzwerk vor, dass eine Eu- schlossen werden. Zentrales Problem ist nen. Siehe: www.emin-eu.net ropäische Richtlinie erlassen wird, die die Leistungshöhe. Die Leistungshöhe www.der-paritaetische.de 2 | 2019 13
Schwerpunkt Die „Griechenlandkrise“: Zwei Griechinnen berichten Fast zehn Jahre ist es her, dass der griechische Ministerpräsident Gior- gos Papandreou öffentlich erklärte, sein Land wäre so stark verschul- det, dass es die Kredite aus eigener Kraft nicht mehr tilgen könnte. Die Schuldenlast lag bei 350 Milliarden Euro. Es war das, was als die „Grie- chenland-Krise“ in die Geschichte eingehen wollte und deren Erschüt- terungen man weit über die Landesgrenzen hinaus spürte. Die Europä- ische Union reagierte hart, auch aus Angst um den Euro und die Stabi- lität der Banken, die Griechenland über Jahrzehnte großzügige Kredite einräumte. Sie half Griechenland gemeinsam mit Internationalem Wäh- rungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) und for- derte zugleich harte Einschnitte in der Ausgabenpolitik des Landes. I n der Folge musste Griechenland, der Krise.“ Die junge Frau hat zwei Ma- fen in einem Café am Boxhagener um weiterhin Geld von der EU zu sterabschlüsse, einen in Museologie Platz in Berlin-Friedrichshain. bekommen, sogenannte „Sparpa- und einen in Soziologie. In Griechen- Auch Maria Brand studierte, und zwar kete“ schnüren, deren Inhalt neben land arbeitete sie im Kulturbereich, Germanistik, um die Verbindung in stärkerer Ahndung von Steuerflucht also einer Branche, an der traditionell ihre deutsche Heimat aufrechterhalten im Wesentlichen aus sozialen Ein- viel gespart wird und in der Krise erst zu können. Nach dem Abschluss 2009 schnitten bestand. Die Pakete enthiel- recht. Hochqualifiziert aber ohne jegli- suchte sie ein Jahr lang nach Arbeit, ten die Anhebung des Rentenalters von che Perspektive verließ Maria ihre Hei- bekam aber nur Angebote mit einem 65 auf 67 Jahre bei gleichzeitiger Sen- mat Thessaloniki Richtung Deutsch- Stundenlohn für drei Euro. Letztend- kung des Rentenniveaus, Gehaltskür- land, lernte schnell Deutsch und be- lich entschied sie sich für Berlin, arbei- zungen im öffentlichen Sektor, Anhe- kam in Berlin eine Stelle bei einem tete zwei Jahre im Start Up-Bereich bung der Mehrwertsteuer und Milliar- griechischen Verein. Die Erfahrung und machte hier ihren Master in Medi- denkürzungen im Gesundheitssystem, war aber zunächst ernüchternd: „Die en- und Kulturmanagement. Auch um nur einige Beispiele zu nennen. Menschen in der griechischen Com- hier engagiert Maria sich für ihre Und sie trafen natürlich zu allererst die munity waren nicht gerade offen für Landsleute. Ihr Projekt, das sie mit einfache Bevölkerung. neue Leute.“ Nach diversen anderen Freunden betreibt, nennt sich Berlinx- Viele Griechen emigrierten aus dem Jobs, unter anderem im Gastro-Be- calling. Dabei handelt es sich um eine Land, in dem sie für sich keine Perspek- reich, landete sie 2016 beim VIA. Webseite für griechischsprachige Men- tive sahen und suchten ihr Glück woan- Die andere Maria heißt Brand mit schen in Berlin. Auf www.berlinxcal- ders. Einige zog es auch nach Berlin Nachnamen. Im Gegensatz zu ihrer ling.com können sich in erster Linie und mit zwei von ihnen konnten wir Namensvetterin hat die 33-Jährige, de- griechischsprachige Menschen, die uns über ihre Erfahrungen, Meinungen ren Vater Deutscher und deren Mutter neu in Berlin sind, über das kulturelle und Wünsche austauschen. Neben ih- Griechin ist, bis zu ihrem zehnten Le- Leben in der Hauptstadt informieren. rem Status als Exil-Griechinnen in Ber- bensjahr in Unterfranken gewohnt, Dennoch ist Berlinxcalling mehr als lin haben sie noch etwas gemeinsam: bevor es nach Thessaloniki ging. Den eine reine Infoseite. „Der Hauptgrund, Sie beide heißen Maria. Umzug von Deutschland nach Grie- warum wir das gestartet haben, war Maria Oikonomidou ist Sprecherin chenland empfand sie als Umzug in der Abbau von Integrationsproble- beim Forum der Migrantinnen und den Dauerurlaub: „Du musst dir das so men.“ Auch Hilfestellungen für den Migranten im Paritätischen Gesamt- vorstellen Wie die Deutschen Grie- Umgang mit Ämtern, bei der Woh- verband und arbeitet außerdem bei chenland kennen, so haben wir Grie- nungssuche und der sehr speziellen VIA, dem Verband für interkulturelle chenkinder im Ausland das auch gese- deutschen Bürokratie sollen bald auf Arbeit (VIA) Regionalverband Berlin/ hen. Du bist einmal im Jahr in der der Homepage zu finden sein. Maria Brandenburg e.V., wo ich sie treffe. Sonne am Strand dort. Die Idee, das merkte, dass immer mehr Leute kä- Maria kam 2011 nach Deutschland das ganze Jahr zu haben war einfach men, die auch stets die gleichen Fragen und bezeichnet sich selbst als „Kind phantastisch“, erklärt sie mir bei Tref- hätten. „Entweder sagst du das jedem 14 www.der-paritaetische.de 2 | 2019
Schwerpunkt können. Aber das ist nicht einfach. Vor beeren sind groß, die Enttäuschung 30 Jahren hatten wir noch Politiker, die dementsprechend. „Griechen sind was sich auch eventuell gegen stärkere Län- das betrifft von Null auf 100. Das ist der wie Deutschland oder Frankreich unser Retter, heißt es dann. Griechi- durchgesetzt haben. In den letzten 20 scher Pathos, sage ich da.“ Maria sieht Jahren haben wir immer weniger Poli- mit ihrem auch deutschen Blick nüch- tiker, die die Meinung der Bevölkerung terner auf Politiker. vertreten können.“ Und was erhofft sie sich von den Euro- „Aus meiner Sicht müsste die Troika pawahlen? „Das Problem mit den Euro- Maria Oikonomidou und die Europäische Union mehr für pawahlen ist: Wir wissen zu wenig da- die Menschen tun. Die europäischen rüber, wir informieren uns zu wenig“, einzeln oder stellst es einmal auf eine Abgeordneten sind von den Menschen meint sie. „Ich glaube, wir haben im- Seite.“ Darüber hinaus befindet sich gewählt und sollten das nicht verges- mer noch keine europäische Identität so gerade ein Verein in Gründung. sen“, erklärt Maria Oikonomidou auf ausgeprägt , dass wir auf irgendetwas Wie notwendig so eine Homepage ist, die Frage, was von Seiten der EU hätte hoffen können. Ich erhoffe mir, dass ein erlebte sie selbst. Allein die Eröffnung anders laufen müssen. Die EU sei auch friedliches Europa auch kulturell an- eines Kontos funktioniere hier völlig ein Grund, warum die rechtsextreme läuft. Derzeit haben wir eher ein wirt- anders als in Griechenland. Trotz per- Partei Goldene Morgenröte in Grie- schaftliches Europa und zum Teil auch fekter Deutschkenntnisse stieß Maria chenland so stark sei. Diese beschäf- politisch. Ich erhoffe mir ein Bewusst- Brand anfangs in Deutschland auf tigt auch Maria Brand. „Mir macht es sein für eine europäische Identität.“ Mauern. Wie soll es dann erst jeman- Angst, dass die Goldene Morgenröte so Ob sie sich eine Rückkehr nach Grie- dem gehen, der zum ersten Mal in stark ist“, sagt sie. chenland vorstellen könne, frage ich Deutschland ist? Kulturelle Unter- Maria Brand hat aufgrund ihres deut- Maria Oikonomidou. Sie knüpft das, schiede beschreibt auch Maria Oikono- schen Hintergrundes einen anderen wenig emotional, an die Möglichkeit, midou, aber anderer Natur. Überstun- Zugang zur griechischen Politik. Sie in Deutschland arbeiten zu können. den sind für sie vollkommen normal, versuche immer die deutsche und die „Vor Weihnachten hatte ich noch keine auch wenn ihr Chef das nicht so gern griechische Perspektive zu sehen. Da- Bewilligung für mein Projekt. Und da sieht. „Aber ich mache das gern und von, dass die linke Regierung dem stellte sich mir die Frage: Wenn ich ich frage auch nicht immer“, lacht sie. Spardiktat zustimmte, sei sie nicht so hier nicht arbeiten kann – was mache Beide haben noch Verbindungen in enttäuscht wie viele andere, sondern ich dann hier? Ich könnte zwar auch ihre Heimat und spüren die Folgen der sah keinen anderen Ausweg. „Ich habe hier vom Staat leben, aber das möchte sogenannten Krise auch bei ihren damals den Grundgedanken unter- ich nicht. Die Frage wurde mir schon Freunden: Maria Oikonomidou hat stützt, dass sich im Verhältnis von häufiger gestellt. Griechenland ist mei- Freunde, die einen Doktortitel haben Staat und Gesellschaft etwas ändern ne Heimat, ich bin dort geboren, auf- und gerade einmal 900 Euro Brutto muss“, erklärt sie weiter. „Letztendlich gewachsen und erst mit 28 nach verdienen. Maria Brand kennt viele, die haben Bürger für die Fehler anderer Deutschland gekommen. Das wird im- mit Mitte 20 wieder zu ihren Eltern bezahlt. Das heißt nicht, dass man sich mer so sein.“ Dennoch habe sie auch ziehen mussten, weil sie sich keine Un- individuell aus der Verantwortung zie- in Deutschland inzwischen eine Bio- terkunft in der Stadt mehr leisten hen soll, aber im Nachhinein hätte graphie. „Ich würde mich freuen, wenn konnten. Ihre inzwischen wieder in noch einiges zusätzlich passieren sol- ich mal wieder zurückkehren kann, Griechenland lebende Oma könnte nur len.“ Ein Problem, meint sie, sei, dass aber sicher ist es nicht. Aber es sind ja von ihrer griechischen Rente kaum le- die Griechen auf Parteien eine Art auch nur zweieinhalb Stunden mit ben und bezieht glücklicherweise noch „Heldenblick“ hätten. Dies beträfe ge- dem Flugzeug von hier aus.“ etwas Rente aus Deutschland. rade frisch gewählte Parteien und Per- Maria Brand erzählt mir noch abschlie- Selbstverständlich kommt auch ir- sonen in der Politik. Die Vorschusslor- ßend eine Anekdote, die ihr in Deutsch- gendwann das Gespräch auf die Poli- land passierte, in dessen Medien häufig tik. Maria Oikonomidou wirkt ange- Begriffe wie „Pleitegriechen“ zu lesen sichts der griechischen Politik ernüch- Maria Brand waren und suggeriert wurde, dass die tert: „Es ist egal, dass wir eine linke Bevölkerung ihre Probleme selbst ver- Regierung in Griechenland haben. Am schuldete. Eines Abends sei ihr in grö- Anfang haben das alle sehr positiv be- ßerer Runde mal ein 10 Cent-Stück aus trachtet. Die Hauptrolle spielt trotz- der Tasche gefallen. Ein Bekannter hob dem die Europäische Union.“ Sie wün- es auf und legte es mit den Worten sche sich, „dass mehr Menschen in „Hier, nimm. Du bist ja eine arme Grie- Griechenland in die Politik gehen, die chin.“ Sie fand das nicht so komisch. nicht nur eine Meinung haben, son- dern diese auch nach außen vertreten Philipp Meinert www.der-paritaetische.de 2 | 2019 15
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