2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband

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D 20493 E

                  2| 2019

Nachrichten | Berichte | Reportagen
2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Inhalt

                                               Editorial        3
                                               Schwerpunkt: Für ein soziales Europa in Vielfalt
                                               Welches Europa wollen wir?                          4
                                               Haltung zeigen in Europa6
                                               Stop ISDS/Karikatur                                 7
                                               Europäische Asylpolitik                             8
                                               Drei Fragen an Prof. Dr. Björn Hacker
                                               zur Europäischen Säule sozialer Rechte             10
                                               Der Geruch von Armut                               11
                                               EMIN: Für eine garantierte
                                               Grundsicherung für alle – europaweit               13
                                               Die „Griechenlandkrise“:
                                               Zwei Griechinnen berichten                         14
                                               Einmal Erasmus für alle!                           16
                                               Drei Fragen an Martin Roller,

                                          11
                                               Paritätisches Jugendwerk Baden-Württemberg         18
                                               Internationale Samariterkooperation
                                               Starke Partnerschaften für Europa                  19
                                               Drei Fragen an Tilo Liewald zu EU-Förderprogrammen 20
                                               Für mehr Europa in Gera                            21
                                               Armut und Überfluss an der Wurzel packen           22
                                               Drei Fragen an Krzysztof Balon
                                               zu seinem Engagement in Europa                     23
                                               Drei Fragen an Renate Reymann
                                               vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband 24
                                               Drei Fragen an Holger Wicht
                                               von der Deutschen AIDS-Hilfe                       25
                                               
                                               Sozialpolitik
                                               Sanktionen vor Gericht                             26
                                               Presseschau: Grundrente, Kindergrundsicherung,
                                               Weltkindertag, § 219a                              27

                                               Verbandsrundschau
                                               Vermischtes und Verschiedenes                       29

                                          16   Forum der Paritätischen Freiwilligendienste
                                               Buchrezension: „Weniger Markt, mehr Politik.“
                                               Soziale Arbeit dies- und jenseits des Rheins:
                                                                                                    31
                                                                                                    32

                                               Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!      33
                                               Termine, Termine, Termine...                        34
                                               Rahmenverträge, Umfrage, Bildnachweise, Impressum   36

                                                              Nicht nur gedruckt
                                                              sondern auch unter
                                                            facebook.com/paritaet
                                                                                 itaet
                                                          bei Twitter unter @par
                                                                                    t
                                                           bei Instagram als pa ae
                                                                               rit

                                                Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf-
                                          26    Datei im Internet heruntergeladen werden:
                                                             www.paritaet.org

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2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Editorial

                                                                      Professor Dr.
                                                                  Rolf Rosenbrock,
                                                                  Vorsitzender des
                                                                       Paritätischen
                                                                  Gesamtverbands
Liebe Leserinnen und Leser,

die Europäische Union steht vor einer      Unsere Forderungen reichen von der           um die Vielfalt in der Gesellschaft zu
Zerreißprobe: erstarkende rechtsdema-      Sozial-, Bildungs- und Migrationspoli-       fördern. Wir brauchen zudem eine ak-
gogische und nationalkonservative Re-      tik über das Beihilferecht bis hin zur       tive Flüchtlings- und Migrationspoli-
gierungen und gesellschaftliche Grup-      Wirtschaftspolitik. Kernanliegen ist es      tik, die Zuflucht suchenden Menschen
pen, Euroskeptizismus, mangelnde           immer, zu einem sozialen Europa bei-         Schutz gewährt und Verantwortung
Solidarität mit EU-Mitgliedsstaaten        zutragen, wo keine Existenzängste            nicht abweist. Basierend auf dem Ge-
und Zufluchtsuchenden, neoliberale         herrschen, alle Menschen sozial teilha-      danken der Parität ist es unser Ziel,
Austeritätspolitik zulasten sozialer Ge-   ben, Menschenrechte in vollem Um-            allen Menschen nicht nur Chancen,
rechtigkeit und des Schutzes vor Ar-       fang geschützt werden und der die Un-        sondern Möglichkeiten zu eröffnen
mut, Brexit…                               gleichheit verstärkenden neoliberalen        und den gleichen Respekt entgegenzu-
Bis zum letzten Jahr hat der Paritä-       Wirtschafts- und Finanzpolitik ein           bringen. Auch in Europa treten wir für
tische gegenüber der EU eine Art der       Ende gesetzt wird.                           eine vielfältige, offene und tolerante
Nicht-Einmischung vertreten und sich       Die EU muss die soziale Dimension            Gesellschaft ein, die Armut und Exklu-
lediglich in defensiver Weise gegen-       vertiefen und Armut bekämpfen, um            sion bekämpft und gleiche Teilhabe für
über der EU und nur zu wenigen Poli-       die Gemeinschaft Gleicher zu fördern         alle schafft.
tikfeldern geäußert. Hervorzuheben         und das Vertrauen in die Gemein-
ist hier unser Engagement gegen die        schaft zu fördern sowie um rechten           Herzlich, Ihr
EU-Freihandelsabkommen mit den             Demagogen den Boden zu entziehen,
USA (TTIP) und Kanada (CETA) sowie         die sich von den sozialen Unsicher-
zur europäischen Flüchtlings- und Mi-      heiten und Abstiegsängsten der Men-
grationspolitik. Jedoch schien es ange-    schen nähren. Dazu gehört u.a. die
sichts der Herausforderungen der EU        Festlegung sozialpolitischer Mindest-
als notwendig, diese Position zu über-     standards in der Rente und beim Ar-
denken und weiter zu fassen. Im Okto-      beitslosengeld, die den nationalen Ge-
ber 2018 hat sich der Paritätische in      gebenheiten gerecht werden. Es
seinem europapolitischen Grundsatz-        braucht den Schutz und die Förderung
papier erstmals zur aktiven Gestaltung     sozialer Dienstleistungen und gemein-
eines sozialen und demokratischen Eu-      nütziger Dienste im Beihilfe- und
ropas positioniert. Pünktlich zur Wahl     Wettbewerbsrecht. Die gesellschaft-
zum Europäischen Parlament am 26.          liche Teilhabe aller Menschen sowie
Mai 2019 haben wir weitere umfas-          ihr Zugang zu angemessenen Sozial-,
sende europapolitische Forderungen         Gesundheits- und Pflegeleistungen
verfasst, die, aufbauend auf dem           muss garantiert werden. Ebenso sind
Grundsatzpapier, klare Erwartungen         Austauschprogramme sowie soziale
an die europäische Politik formulieren.    und inklusive Programme zu stärken,

                                                                                       www.der-paritaetische.de   2 | 2019   3
2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Schwerpunkt

    Welches Europa wollen wir?
      Grund- und Menschenrechte                  Armut überwinden,
        umsetzen und schützen                soziale Rechte verwirklichen
      In verschiedenen Papieren der EU       Die Zahl der von Armut und Aus-
      sind Grund- und Menschenrechte         grenzung betroffenen Menschen in
      definiert. Diese müssen verwirk-       der Europäischen Union liegt bei
      licht und konsequent berücksich-       118 Millionen Menschen: ein Vier-
      tigt werden. Die EU muss auch          tel der europäischen Bevölkerung
      soziale Menschenrechte umfas-          ist von Armut betroffen. In der Ver-
      send respektieren, schützen und        gangenheit jedoch hat die EU durch
      stärken. Das erwarten wir vom          ihre Austeritätspolitik dazu beige-
      Europäischen Parlament. Alle           tragen, soziale Krisen sogar noch
      Bürger*innen müssen ihre demo-         zu verstärken. Wir sagen: Europa
      kratischen Rechte uneingeschränkt      braucht nicht nur wirtschaftliche,
      wahrnehmen können. Freie Mei-          sondern auch soziale Stabilitätskri-
      nungsäußerung, die Presse- und         terien. Die Bekämpfung von Armut
      Wissenschaftsfreiheit sowie der        muss für das neue Europäische Par-
      Schutz vor rechtlicher Willkür müs-    lament oberste Priorität haben. Die
      sen umfassend verwirklicht wer-        Umsetzung der Europäischen Säu-
      den. Das Freizügigkeitsrecht und ein   le sozialer Rechte muss von dem
      Recht auf Sozialschutz müssen für      neu gewählten EP und der neuen
      alle Bürger*innen gelten und dür-      Europäischen Kommission im Zu-
      fen nicht auf Arbeitnehmer*innen       sammenwirken mit dem Rat kon-
      reduziert werden.                      sequent weiter verfolgt werden.

         Soziale Infrastruktur               Dienstleistungen am Menschen,              Engagement fördern,
      entwickeln, Teilhabe fördern            nicht an Märkten orientieren          in Zusammenhalt investieren
      Soziale Teilhabe muss allen Men-       Soziale Dienstleistungen dürfen        Gerade in Zeiten eines spürbaren
      schen in Europa ermöglicht wer-        nicht wie beliebige Waren behan-       EU-Skeptizismus und erstar-
      den. Wir fordern die konsequente       delt werden, sondern müssen bür-       kender nationalistischer Strö-
      Umsetzung der UN-Behinderten-          gernah zugänglich sein und hohen       mungen müssen soziale und in-
      rechtskonvention und die europa-       Qualitätsansprüchen       genügen.     klusive EU-Programme gestärkt
      weite Schaffung einer barrierefrei-    Freihandelsabkommen dürfen nicht       werden. Alle Förderprogramme
      en, inklusiven sozialen Infrastruk-    dazu beitragen, soziale Standards      sollten noch stärker benachteili-
      tur. Sowohl umfassende gesell-         zu beseitigen oder zu umgehen. Das     gte Gruppen ansprechen, und von
      schaftliche Teilhabe als auch der      Europäische Recht muss die Vielfalt    Grund auf vereinfacht werden.
      Zugang zu angemessenen Sozial-,        der Träger und Angebote achten         Gemeinnützige Dienste als wich-
      Gesundheits- und Pflegedienstlei-      und Transparenz fördern. Wir           tige Akteure der Zivilgesellschaft
      stungen müssen garantiert wer-         fordern vom EP und der Europä-         dürfen nicht länger beim Zugang
      den. Es braucht eine hohe Qualität     ischen Kommission, bei allen wett-     zu Förderprogrammen gegenüber
      und Sicherheit von medizinischen       bewerbs- und beihilferechtlichen       gewinnorientierten Unternehmen
      und pflegerischen Produkten und        Entscheidungen die besondere Rolle     benachteiligt werden. Es braucht
      Leistungen und Transparenz bei         gemeinnütziger Organisationen und      insbesondere auch neue Förder-
      Pharmaspenden.                         Unternehmen zu berücksichtigen.        möglichkeiten für soziale Innovati-
                                                                                    onen im gemeinnützigen Bereich.

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2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Schwerpunkt

    Vierzig Jahre nach der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) sind im Mai 2019 mehr als 500 Mil-
    lionen EU-Bürger*innen aufgerufen, ihre Abgeordneten neu zu wählen. Aus der „Gemeinsamen Versammlung“
    von 78 Parlamentariern nationaler Parlamente im Jahre 1952 wurde im Laufe der Jahrzehnte ein Europäisches
    Parlament mit 705 Sitzen. Der Paritätische Gesamtverband hat als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege
    zehn Forderungen formuliert, die wir hier in gekürzter Form dokumentieren. Mehr auf: www.paritaet.org

                                          Für eine solidarische und                   Internationale
                                          humane Flüchtlings- und                  Zusammenarbeit für
                                              Migrationspolitik                 Frieden und Verständigung
                                        Die Verantwortung für die Auf-         Die EU ist mehr denn je gefragt, die
                                        nahme Schutzsuchender darf             Auswirkungen der eigenen Politik
                                        nicht vor die Grenzen Europas          auf andere Länder zu berücksichti-
                                        abgeschoben werden. Wir for-           gen. Es geht um Fragen des Klima-
                                        dern faire und rechtsstaatliche        schutzes und effizienter Ressour-
                                        Asylverfahren, den Ausbau legaler      cennutzung, um Handel, Steuern,
                                        Zugangswege nach Europa und            Ernährung und Migration. Die EU
                                        Ausbau und Unterstützung der           muss ihren Beitrag dazu leisten,
                                        Seenotrettung. Wir fordern von         die 17 Ziele der Agenda 2030 der
                                        den EP-Abgeordneten sich dafür         Vereinten Nationen zu verwirkli-
                                        einzusetzen, dass alle europä-         chen. Die Internationale Erklärung
                                        ischen Einrichtungen und Dienste       der Menschenrechte und die Pakte
                                        verpflichtet werden, im Rahmen         über bürgerliche und politische
                                        ihrer Kompetenzen und Möglich-         Rechte sowie über wirtschaftliche,
                                        keiten Flüchtlinge zu unterstützen     soziale und kulturelle Rechte müs-
                                        und Migrant*innen Zugänge zu           sen gleichberechtigt als Verpflich-
                                        Bildung und Arbeit zu eröffnen.        tungen begriffen werden.

 Ein Europa ohne Grenzen                       Partizipation und                 Finanzmärkte regulieren
     für den Menschen                           Willensbildung
Die Freizügigkeit der EU-               Die Mobilisierung und Einbindung       Einige Mitgliedsstaaten der EU lei-
Bürger*innen gehört seit jeher          zivilgesellschaftlicher Kräfte ist     den noch immer unter den Folgen
zu den Grundpfeilern der EU.            unerlässlich, um die gemeinsamen       der Finanzkrise. Eine konsequente
Das Freizügigkeitsrecht aller EU-       sozialen Probleme in Europa nach-      Regulierung der Finanzmärkte
Bürger*innen darf nicht in Frage        haltig zu lösen. Die Stärkung des      ist unabdingbar. Spekulative Fi-
gestellt, die Freizügigkeit nicht auf   Sozialen in Europa ist auch eine       nanztransaktionen müssen einge-
Erwerbstätige reduziert werden.         Antwort auf nationalistische Be-       dämmt werden. Wirtschaftliche
Angesichts des Fachkräftemangels        strebungen, die Errungenschaf-         Ungleichgewichte in der EU müs-
in Deutschland gerade im Gesund-        ten der europäischen Einigung          sen effektiver als bisher abgebaut
heits- und Pflegebereich braucht        rückgängig zu machen. Die Arbeit       und die sozialpolitische Koordinie-
es grenzüberschreitende Qualifi-        von zivilgesellschaftlichen Organi-    rung gestärkt werden. Der Euro-
zierungsoffensiven und die Förde-       sationen muss durch die Europä-        päische    Stabilitätsmechanismus
rung transnationaler Projekte, um       ische Union effektiv unterstützt       ist zu einem Europäischen Wäh-
den Fachkräftebedarf zu decken          werden, gerade wenn nationale          rungsfonds (EWF) unter Kontrolle
ohne gleichzeitig dringend benöti-      Regierungen versuchen, soziales        des EPs auszubauen.
gte Fachkräfte aus anderen Regi-        und demokratisches Engagement
onen abzuziehen.                        einzuschränken.

                                                                               www.der-paritaetische.de     2 | 2019   5
2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Schwerpunkt

Haltung zeigen in Europa.
Hintergründe und Bedeutung des neuen Grundsatzpapiers: Mehr Soziales in Europa

I
   n einem jüngst verabschiedeten            erschien es unangemessen, der neoli-
   Grundsatzpapier fordert der Paritä-       beralen Politik auf europäischer Ebene
   tische ein neues Leitbild für ein so-     nichts entgegenzusetzen. Vor dem
ziales und demokratisches Europa –           Hintergrund der europäischen Auste-
ein Europa, das seinen Fokus von den         ritätspolitik wurde für den Paritä-
wirtschaftlichen Freiheiten auf die          tischen klar: Es braucht eine Beschluss-
Verantwortung für die Menschen               lage, die es dem Verband erlaubt, sich
lenkt. Der Paritätische bekennt sich         in die europäische Politik einzu-
klar zum Ziel eines gemeinsamen eu-          mischen – und für ein soziales und
ropäischen Raums der Freiheit, Solida-       demokratisches Europa zu kämpfen.
rität, Teilhabe und der Rechtsstaatlich-     Das leistet das neue Grundsatzpapier:
keit. Aus Sicht des Paritätischen muss       Es ermöglicht dem Paritätischen und
sich das vereinte Europa ambitionierten      seinen Mitgliedsorganisationen nicht
sozialpolitischen Zielen verschreiben.       nur in Deutschland, sondern auch in
Es braucht eine positive Vision einer
Gemeinschaft, die danach strebt, die
                                             Europa Haltung zu zeigen.
                                             Angesichts einer wiedererstarkenden        Demos am 19. Mai 2019
Lebensbedingungen der Menschen in            Rechten kommt dieser europapoli-
Europa so zu gestalten, dass alle Men-       tischen Neuausrichtung auch im                 Ein Europa für Alle: Deine
schen in Europa frei von Existenzäng-        Kampf gegen Nationalisten und                Stimme gegen Nationalismus!
sten leben können und ihre volle, wirk-      Rechtsextreme besondere Bedeutung          Nicht nur in Deutschland sehen sich die-
same und gleichberechtigte Teilhabe          zu. Nicht nur in Deutschland sehen         jenigen im Aufwind, die Hass und Res-
an der Gesellschaft ermöglicht wird.         sich diejenigen im Aufwind, die Hass       sentiments gegen Geflüchtete und Min-
Für den Paritätischen bedeutet die           und Ressentiments gegen Geflüchtete        derheiten schüren, Menschenrechte
neue europapolitische Positionierung         und Minderheiten schüren, den              einschränken und das Asylrecht abschaf-
einen Kurswechsel. Bisher hat sich der       Rechtsstaat und unabhängige Gerichte       fen wollen. Nationalisten und Rechtsex-
Verband vor allem dafür eingesetzt, die      angreifen, Menschenrechte einschrän-       treme erstarken in ganz Europa. Und
Zuständigkeit für Sozialpolitik bei den      ken und das Asylrecht abschaffen wol-      sie drohen ihre Macht weiter auszubau-
Nationalstaaten zu halten, um eine Ab-       len. Vor diesem Hintergrund haben          en: Zwischen dem 23. und 26. Mai wäh-
wärtsspirale bei den sozialen Stan-          viele Mitgliedsorganisationen in den       len die Bürger*innen der EU-Mitglied-
dards zu verhindern. Den entschei-           letzten Jahren verstärkt dafür gewor-      staaten das Europäische Parlament neu.
denden Anstoß, diese defensive Stel-         ben, die Paritätischen Werte offensiver    Die rechten Kräfte hoffen, mit so vielen
lung zur EU zu überdenken, gab die           zu verteidigen. In der Folge wurden        Abgeordneten wie noch nie in das Euro-
desaströse Sparpolitik, die die EU 2010      Grundsätze und Werte des Verbandes         päische Parlament einzuziehen. Soll ihr
unter deutscher Hegemonie einleitete.        intensiv diskutiert: Was heißt es aktu-    Vormarsch gestoppt werden, braucht es
Mit harten Sparmaßnahmen sollte die          ell für das Paritätische Fundament –       Kräfte, die sich ihnen entschlossen ent-
Eurokrise überwunden werden. Die             die Gleichwertigkeit aller Menschen –      gegenstellen. Gemeinsam mit einem
Opfer dieser neoliberalen Krisenbewäl-       einzustehen? Die Antwort fiel klar und     breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis
tigung waren die Bevölkerungen in            deutlich aus: Als Paritäter*in gilt es,    ruft der Paritätische zu Großdemonstra-
Griechenland, Irland, Portugal, Spani-       die Menschenrechte stark zu machen         tionen in mehreren Städten auf – am 19.
en und Italien. Viele mussten erheb-         und zu verteidigen. Das neue europa-       Mai, unmittelbar vor den Europawahlen.
liche Einkommenseinbußen hinneh-             politische Grundsatzpapier schafft die     Gemeinsam streitet das Bündnis für die
men, Sozialleistungen wurden massiv          Grundlage, dieser Überzeugung über         Vision eines Europas, das Humanität
gekürzt, die Arbeitslosigkeit stieg teils    die Grenzen Deutschlands hinweg            und Menschenrechte verteidigt, und für
dramatisch an. Eine ganze Generation         Rechnung zu tragen. Haltung zeigen         Demokratie, Vielfalt und Meinungsfrei-
junger Erwachsener sah sich ihrer            in Europa – das ist bitter notwendig.      heit steht. Ein Europa, das soziale Ge-
Hoffnung auf eine gute Zukunft be-                                                      rechtigkeit garantiert und einen grund-
raubt. Für einen Verband, der sich die                              Ulrich Schneider    legenden ökologischen Wandel und die
Bekämpfung von Armutund sozialer                            ist Hauptgeschäftsführer    Lösung der Klimakrise vorantreibt. Es ist
Ausgrenzung auf die Fahnen schreibt,              beim Paritätischen Gesamtverband      Zeit Haltung zu zeigen: Für ein demo-
dessen Mitgliedsorganisationen zahl-              Wiebke Schröder ist Referentin für    kratisches und solidarisches Europa!
reiche EU-weite Projekte verantworten,                     übergreifende Fachfragen               Mehr Infos: www.paritaet.org

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2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Schwerpunkt

     Menschenrechte schützen - Konzernklagen stoppen!
      Paritätischer unterstützt europaweite Kampagne

E
      in breites Bündnis von über 150    Beispiel Umwelt-, Verbraucher- oder     stem profitieren, während viele Be-
      europäischen Organisationen,       Arbeitnehmerrechte stärken wollen.      troffene von Menschenrechtsverstö-
      Gewerkschaften und sozialen        Diese Paralleljustiz für Konzerne un-   ßen durch Konzerne keine Möglich-
Bewegungen hat im Januar die Kam-        tergräbt eine gemeinwohlorientierte     keit haben, zu ihrem Recht zu kom-
pagne „Menschenrechte schützen –         Politik in Europa und im globalen Sü-   men”, so Ulrich Schneider.
Konzernklagen stoppen“ mit einer         den.
Petition gestartet.                                                              Das Bündnis fordert ein Ende der
                                                                                 Sonderrechte für Konzerne und ein
Der Paritätische unterstützt die Kam-                                            internationales Abkommen, um Kon-
pagne für gesetzliche Rechenschafts-                                             zerne für Menschenrechtsverstöße
pflichten von Konzernen und gegen                                                zur Rechenschaft zu ziehen und Be-
Investor-Staat-Schiedsgerichte (ISDS),                                           troffenen Zugang zur Justiz zu ge-
einem parallelen, einseitigen und un-                                            währleisten. Gut eine Woche nach
fairen Justizsystem für Konzerne.                                                Start der Kampagne hatten bereits
Handelsabkommen wie das zwischen                                                 mehr als 290.000 Menschen die Peti-
der EU und Kanada ausgehandelte                                                  tion unterzeichnet.
CETA ermöglichen Konzernen Zu-
gang zu diesen speziellen Schiedsge-                                                Auf der Seite des Bündnisses können
richten.                                                                                  auch Sie sich beteiligen:

Sie erlauben es Konzernen Regie-         “Es kann nicht sein, dass Konzerne               stopisds.org/de/aktion/
rungen zu verklagen, wenn diese zum      von einem privaten globalen Justizsy-

                                                                                 www.der-paritaetische.de   2 | 2019      7
2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Europäische Asylpolitik
„Desperate Journeys“ so betitelt der
UN Hochkommissar für Flüchtlinge
(UNHCR) seinen Bericht über Flücht-
linge und Migranten, die im vergange-
nen Jahr versucht haben, nach Europa
zu kommen. Rund 140.000 Menschen
sind 2018 über das Mittelmeer nach
Europa geflohen, ein deutlicher Rück-
gang gegenüber den Vorjahren. Min-
destens 2.300 von ihnen sind auf die-
sem Weg ums Leben gekommen – es
ertranken also durchschnittlich sechs
Personen pro Tag! Andere wurden be-
reits kurz nach ihrer Abreise von der
libyschen Küstenwache aufgriffen. Sie
landen dann in der Regel erneut in von
Milizen betriebenen Lagern, wo sie
unter erbärmlichen Bedingungen le-
ben – oder sich freikaufen – müssen.
Hier sind Folter und Misshandlungen
an der Tagesordnung und selbst das
Auswärtige Amt spricht von „KZ-ähn-
lichen Zuständen“. Die libyschen „See-      gab, sind viele Menschen im Mittel-         übergeben oder aber in zentralen La-
notretter“ und die Milizen, die die La-     meer ertrunken. Langfristiges Ziel          gern in einzelnen europäischen Län-
ger betreiben, sind, so hat es kürzlich     kann es daher nicht sein, einen Zu-         dern unterbringen. Diese Pläne – so
auch die italienische Staatsanwalt-         stand aufrecht zu erhalten, der weiter-     scheint es – sind gescheitert: Es findet
schaft festgestellt, nicht selten iden-     hin zehntausende Menschen zwingt,           sich bisher in Europa kein Land, welches
tisch. Das hält die EU bedauerlicher-       über das Mittelmeer zu fliehen. Aber        bereit wäre, als zentrale Anlaufstelle die
weise aber nicht davon ab, mit diesem       man rettet niemanden, indem man die         im Mittelmeer Geretteten aufzuneh-
„Regime“ eng zu kooperieren und es          Seenotrettung einstellt und behindert.      men – und sie dann innerhalb der EU
zu finanzieren.                             Eine erste Forderung muss es sein,          zu verteilen. Und es findet sich erst
                                            dass sich die europäischen Staaten          recht kein Staat auf dem afrikanischen
Die EU hat in den vergangenen Jahren        schleunigst wieder an einer effektiven      Kontinent, der bereit wäre eine „Aus-
mit einer Vielzahl von Maßnahmen            Seenotrettung beteiligen, für die im        schiffungsplattform“ anzubieten, zu
auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen       Mittelmeer Geretteten Verantwortung         welcher die im Mittelmeer Geretteten
reagiert. Dazu gehören auch eine Ein-       übernehmen und ihnen in Europa Zu-          zurückgebracht werden sollen.
schränkung der staatlichen Seenotret-       gang zu einem fairen Asylverfahren
tung und nun auch eine nahezu voll-         ermöglichen. Diese Aufgabe darf man         Gescheitert ist auch das seit mehreren
ständige Behinderung der von ver-           freilich nicht nur den Mittelmeer-An-       Jahren praktizierte „Hotspot Konzept“ an
schiedenen zivilgesellschaftlichen Or-      rainerstaaten aufbürden, es bedarf          europäischen Außengrenzen. Auch drei
ganisationen betriebenen Seenotret-         vielmehr einer solidarischen Regelung       Jahre nach dem EU-Türkei-Deal ist die
tung. Diese Vorgehensweise ist weder        hinsichtlich der Verteilung der im Mit-     Situation in den Hotspots auf den griechi-
mit den völkerrechtlichen noch den          telmeer Geretteten.                         schen Inseln für die Asylsuchenden kata-
humanitären Verpflichtungen Euro-                                                       strophal – und das, obwohl Finanzmittel
pas vereinbar.                              Zentrale Anlaufstelle für Gerettete fehlt   in erheblichem Umfang zur Verfügung
                                            Mitte 2018 hatte die EU Kommission          gestellt wurden. Die bisherigen Erfah-
Gewiss: auch in Zeiten, in denen es         andere Überlegungen vorgestellt, was        rungen haben deutlich gemacht, dass in
eine intensivere europäische See-           künftig mit im Mittelmeer Geretteten        solchen Lagern an den Außengrenzen
notrettung (insbesondere die großan-        geschehen solle. Man wollte die Betrof-     Europas die Betroffen häufig über Jahre
gelegte Seenotrettungsaktion „mare          fenen entweder in „Ausschiffungsplatt-      hinweg unter elenden Bedingungen le-
nostrum“ der italienischen Marine)          formen“ an nordafrikanische Länder          ben müssen und dass dort auch kein Zu-

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2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Schwerpunkt

gang zu einem fairen und effektiven Asy-     schon aus der Liste der Haupther-              Verweis auf legale Zugangswege läuft
lerfahren gewährleistet werden kann.         kunftsländer ersichtlich: Syrien, Irak,        also häufig – leider – ins Leere.
Es macht angesichts der bisherigen Er-       Iran, Afghanistan, Pakistan.                   Es gibt – nach wie vor – in vielen Län-
fahrungen daher keinen Sinn, weiter                                                         dern Europas eine starke Zivilgesell-
an solchen „Hotspot“-Modellen festzu-        Der große Wunsch nach einem gesteu-            schaft, die sich für die Rechte geflüch-
halten. Zielführender ist es, die Asylsu-    erten Verfahren                                teter Menschen einsetzt und konkrete
chenden nach der Ankunft in einem            Bei der Weiterentwicklung der europä-          Hilfe für sie organisiert. Es gibt auch
europäischen Land zügig auf die ver-         ischen Asylpolitik geht es im Kern             immer mehr Kommunen, die sich be-
schiedenen EU Mitgliedstaaten zu ver-        auch um die Zukunft des individuellen          reit erklären, zusätzlich Flüchtlinge
teilen. Ein starres Verteilungssystem,       Asylrechts. Soll es dieses perspekti-          aufzunehmen, Eine Aufgabe für die
in das alle EU Staaten einbezogen wer-       visch noch geben, oder soll es durch           Zukunft wird es sein, diese europä-
den, wird es in absehbarer Zeit nicht        ein Gnadenrecht ersetzt werden,                ische Zivilgesellschaft mehr zu bün-
geben. Es scheitert am Widerstand ver-       welches es ins Belieben der EU- Staa-          deln, damit sie stärkeren Einfluss auf
schiedener europäischer Staaten. Es          ten stellt, wie viele Flüchtlinge sie auf-     die zukünftige Ausgestaltung der eu-
scheitert aber auch, wenn dabei nicht        nehmen wollen („Obergrenze“)? Dass             ropäischen Flüchtlingspolitik nehmen
auch die Perspektiven der Flüchtlinge        es besser ist, wenn Flüchtlinge die            kann. Dabei sollte sie auch die europä-
in stärkerem Maße berücksichtigt wer-        Möglichkeit haben, im Rahmen von               ische Politik der „Fluchtursachenbe-
den. Ein wichtiger Schritt in diese          humanitären Aufnahmeprogrammen,                kämpfung“ in den Blick nehmen. Un-
Richtung wäre es, wenn anerkannten           Resettlementprogrammen, mit huma-              ter dieser Überschrift fördert die EU
Flüchtlingen in der EU das Recht auf         nitären Visa oder im Rahmen der Fa-            derzeit eine Fülle von Maßnahmen
Freizügigkeit eingeräumt würde.              milienzusammenführung nach Euro-               und Projekten. Aber dienen die Pro-
                                             pa zu kommen, als wenn sie sich der            jekte tatsächlich vorrangig der Flucht-
Fokussierung auf Kontrolle der Außen-        gefahrvollen, oft tödlichen Reise über         ursachenbekämpfung oder eher der
grenzen                                      das Mittelmeer aussetzen, ist offen-           Migrationssteuerung? Eine europä-
Solange man in der zentralen Frage,          sichtlich. Das darf aber keine Rechtfer-       ische Politik, die darauf abzielt, durch
wie die Asylsuchenden in der EU zu           tigung sein, all denen, die außerhalb          frühzeitige Abschottung und Ausbau
verteilen sind, keine Einigung erzielt       solcher geregelter Verfahren an die eu-        der Kontrollen in den afrikanischen
hat, sind auch die sonstigen Überle-         ropäischen Grenzen gelangen, den Zu-           Ländern die Mobilität innerhalb Afri-
gungen hinsichtlich einer Neufassung         gang zu einem Asylverfahren zu ver-            kas einzuschränken, stünde im Wider-
des Gemeinsamen Europäischen Asyl-           wehren. Das ist ein klarer Verstoß ge-         spruch zu den Zielen, die sich die Afri-
systems (GEAS) auf Eis gelegt. Ein           gen das völkerrechtlich verbriefte „Re-        kanischen Staaten in der Agenda 2063
Durchbruch noch vor der Wahl des             foulementverbot“,        das    verbietet,     gegeben haben. Dort wird gerade in
Europäischen Parlaments im Mai er-           Schutzsuchende in Staaten zurückzu-            der Förderung der Bevölkerungsmobi-
scheint unrealistisch. Mindestens            weisen, in den ihnen Verfolgung, Fol-          lität ein zentrales Mittel für den wirt-
neun Entwürfe für eine Neuregelung           ter oder andere schwerwiegende Men-            schaftlichen Aufschwung der afrika-
des Europäischen Asylsystems liegen          schenrechtsverletzungen drohen.                nischen Länder gesehen.
auf dem Tisch, die nicht nur auf eine
stärkere Angleichung der europä-             Zudem ist festzuhalten, dass die oft-
ischen Asylpolitik abzielen, sondern         mals geforderten „legalen Zugangs-
vor allem auf eine stärkere Kontrolle        wege bisher doch nur in geringem
der Außengrenzen und eine Auslage-           Umfang existieren. Weltweit hat der
rung des Flüchtlingsschutzes und der         UNHCR einen Neuansiedlungsbedarf
Migrationskontrolle.                         für 1,4 Millionen Flüchtlinge angemel-
                                             det – die EU hat 34.000 Plätze zur Ver-
Insbesondere die Sicherung der Au-           fügung gestellt. Die Möglichkeiten der
ßengrenzen und die Reduzierung der           legalen Einreise für Familienangehöri-
Zahl der Europa erreichenden Schutz-         ge von subsidiär Geschützten wurden
suchenden stellt den kleinsten gemein-       gerade eingeschränkt. Humanitäre
samen Nenner der europäischen Asyl-          Visa – die Möglichkeit etwa der Asylan-
politik dar. Und diese Politik ist erfolg-   tragstellung bei einer deutschen Bot-
reich, wie man an den stark rückläu-         schaft, gibt es nicht. Und wie man an
figen Zahlen Asylsuchender in Europa         der aktuellen Diskussion um das Fach-
erkennen kann. Gut 600.000 waren es          kräfteeinwanderungsgesetz       erleben
2018, ein Rückgang von 50 Prozent ge-        kann, ist hierzulande die Bereitschaft,                        Harald Löhlein ist Leiter
genüber dem Jahr 2015. Dass viele der        geringqualifizierte Personen aus Dritt-                         der Abteilung Migration
Geflüchteten vor Krieg, Bürgerkrieg          staaten, etwa zum Zwecke der Ausbil-                    und internationale Kooperation
oder Verfolgung geflohen sind, wird          dung einreisen zu lassen, gering. Der                beim Paritätischen Gesamtverband

                                                                                          www.der-paritaetische.de   2 | 2019      9
2| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
Schwerpunkt

                                              Drei Fragen an Prof. Dr. Björn
                                              Hacker zur Europäischen Säule
                                              sozialer Rechte
                                               Prof. Dr. Björn Hacker ist Professor für Wirtschaftspolitik. Er lehrt seit 2014 an
                                               der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. 2010 schloss er
                                               seine Promotion über das europäische Sozialsystem ab. Zu seinen Arbeits- und
                                               Forschungsschwerpunkten gehören die europäische Wirtschafts- und Währungsu-
                                               nion, ökonomische und politische Integrationsprozesse, Transformation von Wohl-
                                               fahrtsstaaten, soziale Dimension der EU und Makroökonomie. Eine Besprechnung
                                               seines aktuellen Buches „Weniger Staat, mehr Politik“ findet sich in dieser Ausgabe
                                               auf Seite 32.

Herr Prof. Dr. Hacker, „Die europäische       Wenn Sie konkret eine Sache an der euro-      Was wäre nötig, um das Soziale in Europa
Säule sozialer Rechte (ESSR) soll neue und    päischen Säule sozialer Rechte ändern         insgesamt zu stärken?
wirksamere Rechte für die Bürgerinnen         könnten: Was wäre das?
und Bürger gewährleisten“, so heißt es auf                                                  Trotz aller Unterschiede in der Organi-
der Homepage der Europäischen Kommis-         Die wohlklingenden Formulierungen             sation des Sozialschutzes in den Mit-
sion. Wird sie diesem Anspruch gerecht?       über „angemessenen“ Sozialschutz              gliedstaaten existiert ein europäischer
                                              müssten mit Mindeststandards und              Konsens über einen interventionsfä-
Derzeit leider nicht. Was 2017 groß als       Zielwerten konkretisiert und in einem         higen und regulierenden Staat, die Ab-
„soziale Rechte“ proklamiert wurde, ist       Sozialprotokoll zum Vertrag von Lissa-        sicherung der großen Lebensrisiken
nicht Bestandteil des europäischen Pri-       bon verbindlich gemacht werden. Heu-          und die Vermeidung von Armut über
märrechts und für die Bürgerinnen und         te vergleicht die Europäische Kommis-         auf Steuern und Beiträgen beruhenden
Bürger nirgendwo einklagbar. Es sind          sion zwischen den Mitgliedstaaten ein         Sozialsystemen. Wir müssen dies so
vielmehr 20 Grundsätze zur Sozialpoli-        Set an Indikatoren, das die Umsetzung         umrissene Europäische Sozialmodell
tik aufgeschrieben worden, auf die sich       der Säule sozialer Rechte messen soll.        wieder stärker als ureigenes Erfolgspro-
alle Mitgliedstaaten verständigen konn-       Dieses „Soziale Scoreboard“ ist ein An-       dukt betrachten. Es zu schützen und
ten: vom lebenslangen Lernen über ge-         fang, doch ohne quantifizierbare poli-        stark zu machen im Umgang mit Glo-
rechte Entlohnung bis zu angemes-             tische Ziele verpufft die Wirkung.            balisierung, Digitalisierung und neuen
senen Rentenleistungen. Das darf man          Ideen für die praktische Umsetzung            gesellschaftlichen Herausforderungen
nicht zu gering schätzen, schließlich         wären etwa eine Mindestlohnnorm bei           sollte ein zentrales Anliegen der EU
sind die Wohlfahrtsstaaten in der EU          60 Prozent des jeweiligen nationalen          werden.
sehr unterschiedlich organisiert.             Medianlohns, ein Rahmen für existenz-
                                              sichernde Grundsicherungssysteme in           Die Säule sozialer Rechte spricht rich-
Doch mit rein deklatorischen Rechten          Abhängigkeit der nationalen Armuts-           tige Themen an, doch ein Soziales Eu-
kann sich das Soziale Europa nur im           gefährdungsquote oder ein Korridor            ropa erfordert konkrete politische Ge-
Schneckentempo entwickeln und wird            für Sozialschutzausgaben pro Kopf             staltung. Im Binnenmarkt und der
weiter unter der Dominanz der Wirt-           entsprechend der langfristigen Ent-           Währungsunion heißt dies, der Markt-
schaftsintegration leiden. Das zeigt          wicklung des Bruttoinlandsprodukts.           gläubigkeit einen regulierenden Rah-
sich auch in der faktisch nicht existie-                                                    men entgegen zu stellen. Im europä-
renden politischen Debatte um die             Wichtig dabei ist: es geht nicht um den       ischen Wettbewerb sollen sich die Un-
Säule sozialer Rechte in Deutschland:         Bau eines einheitlichen Sozialsystems,        ternehmen behaupten, nicht die Wohl-
Wo das Land im wirtschaftlichen Wett-         sondern um Verhinderung von Soziald-          fahrtsstaaten auseinanderdividieren.
bewerb mit anderen Staaten steht, ist         umping und Befeuerung sozialer Auf-
ständiges Thema in der Öffentlichkeit.        wärtskonvergenz. Statt „one-size-fits-all“-
Dagegen ist die relative soziale Lage         Zielen benötigen wir einen sozialen Rah-             Die Fragen stellte Philipp Meinert
ein Nischenthema für Expertinnen              men in Europa, der sich an nationalen
und Experten.                                 Größen und Bedürfnissen orientiert.

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Schwerpunkt

Der Geruch von Armut
                                                                                        ger mit den Ämtern wegen der Melde-
 Das Quartier Dortmunder Nordmarkt ist oftmals erste Anlaufstelle von Neuein-           pflicht, die begreifen die Wichtigkeit
 wanderern aus Rumänien und Bulgarien. Weil viele keine Chance in ihren Heimat-         von Klingelschildern erst, wenn ernste
 ländern sehen, suchen sie ihr Glück in Deutschland. Das Team des Planerladens          Probleme da sind“, erklärt Sozialarbei-
 nimmt sich ihnen an und hilft bei der Suche nach Arbeit und Wohnungen. Ein             terin Gamze Çalışkan bei einem Rund-
 schwieriges Unterfangen, wissen die Mitarbeiter.                                       gang. Heruntergelassene Jalousien ver-
                                                                                        dreckt und durchlöchert, ein Blick ins
                                                                                        Haus zeigt zerstörte Briefkästen. Für

U
        m 8.20 Uhr standen alle 70 im      gänge standen die Häuser schon länger
                                                                                        viele Neuzuwanderer würden die he-
        Planerladen     bei    Gamze       leer und verwahrlosten“, erklärt ein Mit-
                                                                                        runtergekommenen Gebäude dabei
        Çalışkan auf der Matte: Das        begründer des Planerladens, Reiner
                                                                                        die letzte Zufluchtsmöglichkeit dar-
Ordnungsamt hatte eines der Dort-          Staubach. Zirka 4.300 Menschen, mehr
                                                                                        stellen, denn auf dem normalen Woh-
munder Problemhäuser in der Nord-          als 50 Prozent der Zugewanderten aus
                                           Bulgarien und Rumänien in Dort-              nungsmarkt hätten sie kaum Chancen.
stadt geräumt. Somit wurden viele ob-
dachlos. „Darunter Schwangere und          mund, sind in der Nordstadt unterge-
                                           kommen. „Zuwanderer aus bestimm-             „Es ist sehr schwierig eine Wohnung
viele Kinder“, erinnert sich Çalışkan.
Die Sozialarbeiterin und ihre Kollegen     ten Regionen verteilen sich scheinbar        und Arbeit zu finden“, weiß Çalışkan.
vom Planerladen vermittelten: beglei-      selbstselektiv auf bestimmte Ankunfts-       Auch auf dem Arbeitsmarkt werde die
teten die Betroffenen zum Mieterver-       stadtteile, weil die Erstankömmlinge         Lage der Zuwanderer ausgenutzt: „Kei-
ein und zum Sozialamt.                     durch Informationen aus erster Hand          ner von denen bekommt Mindestlohn.“
                                           den Nachzüglern Orientierungshilfe           Die Profiteure arbeiten mit unrechten
Seit 1982 gibt es den Planerladen in der   liefern“, erklärt der Stadtplaner.           Mitteln: Im Planerladen haben die Mit-
Dortmunder Nordstadt. Die Arbeit des                                                    arbeiter schon viele unzulässige Ar-
Vereins zielt auf die Verbesserung der     Keine Chancen auf dem normalen Woh-          beits- und Mietverträge gesehen. So
Wohn- und Lebensbedingungen der            nungsmarkt                                   verlangten Vermieter hohe Transakti-
Anwohner ab. Die Mitarbeiter, oftmals      Die Mallinckrodtstraße im Quartier           onskosten, nicht wenige Neuzuwande-
mit Migrationshintergrund, planen          Nordmarkt ist bekannt dafür, dass hier       rer müssten eine Art Provision an
Veranstaltungen, klären auf und bera-      Bulgaren und Rumänen zusammen-               Wohnungsbesitzer bezahlen. Normale
ten ihre Klienten zu ihren Problemen.      kommen. Betroffene Gebäude sind              Wohnungen seien schwer zu bekom-
Wie an jenem Morgen, als Gamze             schnell zu finden, Klingelschilder nur       men, viele Besitzer würden offen zuge-
Çalışkan und ihre Kollegen 70 Men-         schlecht oder unkenntlich beschriftet,       ben, dass sie nicht an Bulgaren vermie-
schen vor der Obdachlosigkeit bewah-       mehrere Namen übereinanderge-                ten. „Es gibt viel Diskriminierung“,
ren mussten.                               schrieben. „Da bekommen die oft Är-          sagt Çalışkan.

Der Bulgare Hasan Naskow war einer
von ihnen, seine Frau hochschwanger.
Zusammen mit 68 anderen lebten sie
auf engstem Raum, ein Matratzenla-
ger. Er erinnert sich: Überall lagen Sa-
chen, Schuhe, Strümpfe herum, „es
war ekelig“. „Das ist ein Geschäft für
die Vermieter“, weiß Çalışkan vom Pla-
nerladen und rechnet vor: Von jedem
Mieter wurden 350 Euro kassiert, dabei
lebten vier bis fünf Personen zusam-
men in einem Zimmer bei vier Woh-
nungen. Auch in der Küche und dem                                                                                 Die „Problemhäuser“ in
Flur. Viel Geld für die Vermieter, aber                                                                           der    Nordstadt     sind
                                                                                                                  schnell zu finden: Der
die baulichen und hygienische Zustän-
                                                                                                                  Hauseingang zeigt einen
de – katastrophal.                                                                                                Blick ins Innere, Brief-
                                                                                                                  kästen sind zerstört, der
Zirka 100 dieser „Ekelhäuser“ zählte die                                                                          Zusand der Fassaden ist
Nordstadt 2007. „Als Folge schlechter                                                                             katastrophal.
Bewirtschaftung und spekulativer Vor-

                                                                                       www.der-paritaetische.de       2 | 2019     11
Schwerpunkt

Die Mehrheit der bulgarischen und ru-
mänischen Neuzuwanderer in der
Nordmarkt gehöre den Rom-Völkern an
und damit zu der größten Minderheit
Europas – laut EU-Kommission zur
stärksten diskriminierten Gruppe.
Nach Stadtplaner Staubach leiden die
Roma zudem am meisten unter rassi-
stisch motivierten Straftaten sowie un-
ter sozialer Ausgrenzung und Verelen-
dung. Die Integration des Wandervolks
kommt in den EU-Mitgliedstaaten eines
kürzlich veröffentlichten Berichts der
EU-Kommission nur schleppend voran,
trotz EU- Vorgaben zur Integration der                                                                  Gamze Çalışkan vom
Roma. Auch in Dortmund stoße laut                                                                 Planungsladen zeigt auf ein
der Mitarbeiter das Volk auf Vorurteile                                                      modernisiertes Haus im Quartier
und habe mit extremen Ungleichbe-                                                             Nordmarkt, die Sozialarbeiterin
handlungen zu kämpfen.                                                                           wohnt selbst in der Gegend.

Bestehende Systeme funktionieren nicht
Ein Zimmer, viele Betten, ein Couch-        von Sozialdiensten entdecken. Laut        die richtige Richtung sei nun von der
tisch in der Mitte. Monatelang hat die      EU-Kommission hat sich bei der Bil-       Stadt getan. Im Februar 2017 übertrug
Sozialarbeiterin Çalışkan noch daran        dung und Armutsbekämpfung die             sie im Rahmen eines sozialen Bewirt-
gedacht und den Geruch in der Nase.         Lage der Roma in der EU zwar verbes-      schaftungsvertrags der Stiftung Sozi-
Am Tisch kochte eine Mutter einer           sert, im Gesundheitsbereich und beim      ale Stadt und der Grünbau GmbH die
fünfköpfigen Familie das Essen auf ei-      Zugang zu Beschäftigung und Woh-          Aufgabe der Sicherung von 40 Wohn-
ner elektrischen Pizzapan. Ein Gerät        nungen seien hingegen kaum Verbes-        einheiten plus zwei Gewerbeeinheiten
für alles, ein Raum für alle, zum Schla-    serungen zu verzeichnen.                  am Nordmarkt, die unter Zwangsver-
fen, waschen, leben und essen. „Dieser                                                waltung standen und sicherte so den
Essensgeruch, der in der Wohnung            Sanierung kann zu Verdrängung führen      Bestand ohne Verdrängung der Be-
hing, das war der Geruch von Armut“,        Nicht alle Ansätze greifen: In Dort-      wohner.
das mit anzusehen und wenig tun zu          mund wurden 2013 von der Dortmun-
können, das habe ihr so wehgetan.           der Gesellschaft für Wohnen mbH           An anderer Stelle gehen Räumungen
                                            (DOGEWO21) 30 Problemimmobilien           weiter, ohne dass Vorsorge geleistet
Sie ist müde: Çalışkan wäre froh, wenn      im Norden erworben. Mittels eines         wird. Nach der Hausräumung von Ha-
bereits bestehende Systeme funktio-         Fonds sollten die Gebäude instandge-      san Naskow kamen einige der Bewoh-
nieren würden. „Dafür kämpfen wir“,         setzt werden. Die Akteure wurden          ner in Übergangsheimen unter, einige
sagt sie. Vieles ihrer Arbeit hätte mit     2014 dafür mit dem Preis „Soziale         gingen nach Bulgarien zurück. Auch
Formalitäten vom Jobcenter und Fami-        Stadt“ ausgezeichnet.                     Naskow wurde nahegelegt, in sein Hei-
lienkasse zu tun, Miet- oder Arbeits-                                                 matland zurückzukehren, obwohl er
verträge prüfen, aufklären. „Einiges        Den Roma half es nicht: Bei der spä-      eine sozialabgabenpflichtige Beschäfti-
hat sich schon getan“, meint sie. Seit      teren Belegung sollte eine andere Ziel-   gung hat. Da übernachtete Naskow
2011 agieren im Dortmunder „Netz-           gruppe angesprochen werden, um            drei Monate lang in bulgarischen Ca-
werk EU-Armutszuwanderung“ unter            „eine Vermischung und Stabilisie-         fés, seine schwangere Frau nutzte eine
der Federführung des Sozialdezernats        rung“ zu gewährleisten und keine Nei-     Rückkehrhilfe und gebar das Kind in
Wohlfahrtverbände und andere lokale         der auszulösen, meint Planerladen-        der alten Heimat, bevor sie wieder zu
Akteure.                                    Vorstandsmitglied Staubach. „Bei-         ihrem Mann stieß.
                                            spiele aus Dortmund und Duisburg
Im Stadtteil sind die Helfer präsent,       zeigen, dass die an sich begrüßens-                             Annabell Fugmann
das Ordnungsamt hat ein „Fallma-            werte Sanierung von Problemhäusern
nagement Problemhäuser“ eingerich-          zur Verdrängungsstrategie gerät.“ Das
tet und befindet sich mit einem Büro        Problem wird verlagert.
an der Mallinckrodtstraße. Der Planer-
                                            Zahlreiche Veranstaltungen sowie               Weitere Informationen unter:
laden ist an mehreren Standorten mit
                                            Aufklärungsarbeit des Planerladens                 www.planerladen.de
Ladenlokalen oder Büros vor Ort, an
vielen Stellen kann man Ladenlokale         hätten Wirkung gezeigt: Ein Schritt in

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Schwerpunkt

EMIN: Für eine garantierte
Grundsicherung für alle – europaweit
D
        ie Europäische Union steckt in      alle Mitgliedsländer dazu verpflichtet       muss den nationalen Umständen ent-
        der Krise. Das ist offenkundig.     soziale Grundsicherungssysteme zu            sprechen – eine einheitliche Leistungs-
        Der Umgang mit der Finanz-          etablieren und so auszubauen, dass           höhe für alle Mitgliedsländer scheint
markt- und Eurokrise führte vor allem       sie gegen Armut und soziale Ausgren-         wenig sinnvoll, da der jeweilige natio-
im Süden Europas zu massiven sozia-         zung schützen. Das EMIN – Netzwerk           nale Entwicklungsstand zu berücksich-
len Verwerfungen. Im Umgang mit             spricht sich – um Missverständnisse zu       tigen ist – und ausreichend hoch sein,
Flüchtlingen versagen die europä-           vermeiden – nicht dafür aus, dass die        um das Ziel der Armutsvermeidung (zu-
ischen Regierungen und verweigern           Grundsicherung auf der europäischen          mindest in der mittleren Perspektive) zu
sich einer menschenrechtskompa-             Ebene angesiedelt wird; die Organisa-        erreichen. Gerade an diesem letzten Kri-
tiblen Politik. Insbesondere aber ver-      tion und die Finanzierung der Grund-         terium scheitern die meisten Grundsi-
sagt die Europäische Union bei dem          sicherungssysteme verbleiben jeweils         cherungssysteme: die Leistungen liegen
Ziel, ein soziales Europa zu schaffen,      in nationaler Zuständigkeit. Wohl            regelmäßig deutlich unter der Armuts-
welches allen Menschen in Europa er-        aber spricht sich das Netzwerk dafür         grenze. Dies gilt auch für die Grundsi-
möglicht frei von Existenzängsten zu        aus, dass zentrale Ziele und Standards       cherungsleistungen in Deutschland, die
leben und gleichberechtigt an der Ge-       rechtlich verbindlich auf europäischer       im europäischen Vergleich eher unter-
sellschaft teilzuhaben. Infolge der         Ebene beschlossen und damit für alle         durchschnittlich ausfallen. Eine Kritik,
multiplen Krisen verliert die Europä-       Mitgliedsländer verbindlich werden.          die der Paritätische gegenüber Hartz IV
ische Union zunehmend an Unterstüt-                                                      regelmäßig vorträgt.
zung in der Bevölkerung der Mitglieds-      In politischen Willenserklärungen ist
länder. Der „Brexit“ – erstmals tritt ein   das Ziel der Sicherung des Existenz-         EMIN formuliert im Kern drei Qua-
Mitgliedsland aus der Union wieder          minimums schon seit langer Zeit auf          litätsstandards, die durch eine Euro-
aus – ist nur das deutlichste Zeichen       europäischer Ebene etabliert. So hat in      päische Richtlinie gesichert werden
des Vertrauensverlustes. Die erstar-        Fortführung der Ideen der UN-Men-            müssen: die Leistungen müssen ange-
kenden rechten politischen Parteien         schenrechtserklärung der Europarat           messen hoch („adequate“), zugänglich
propagieren eine Rückkehr zu Souve-         schon 1961 erklärt, dass „Jedermann“         („accessible“) und ermöglichend („en-
ränität der Nationalstaaten.                das Recht auf Fürsorge hat, wenn er kei-     abling“) sein. Diese Kriterien wären im
                                            ne ausreichenden Mittel hat. Ähnliche        Einzelnen weiter zu konkretisieren. Sie
Die Europäische Union braucht in die-       Erklärungen finden sich auch in Be-          weisen aber einen Weg zu einem Euro-
ser dramatischen Situation politische       schlüssen der EU. Und die Europäische        pa, im dem die Menschen frei von Exis-
Ziele und Politiken, die den Mehrwert       Union hat zuletzt 2017 in der „Europäi-      tenzängsten leben können. Dafür wirbt
europäisches Zusammenarbeit sowohl          schen Säule sozialer Rechte“ unter Num-      das Netzwerk durch verschiedenste
symbolisieren als auch konkret erfahr-      mer 14 formuliert, dass „jede Person, die    Aktivitäten, im vergangenen Jahr bei-
bar machen. Das Netzwerk für eine           nicht über ausreichende Mittel verfügt,      spielsweise mit einer Info-Bustour
europäische Mindestsicherung („Eu-          (…) das Recht auf angemessene Grund-         durch ganz Europa (http://eminbus.
ropean Minimum Income Network“              sicherungsleistungen (hat), die ein wür-     eu/bus-tour/).
– EMIN) macht ein Angebot für ein           devolles Leben ermöglichen (…).“ Doch
derartiges Ziel. EMIN ist ein informel-     es fehlt diesen Erklärungen die rechtli-
les Netzwerk von Organisationen und         che Verbindlichkeit. Die Mitgliedslän-
Einzelpersonen auf EU- und nationaler       der bleiben in der Ausgestaltung ihrer              Dr. Andreas
Ebene, in dem sich auch der Paritäti-       Grundsicherungssysteme frei. Die so-           Aust ist Referent
sche engagiert, und wird vom Europä-        ziale Wirklichkeit sieht daher häufig           für Sozialpolitik
ischen Anti-Armuts-Netzwerk (EAPN)          anders aus: Die Grundsicherung hilft              in der Paritä-
koordiniert. Die zentrale Forderung:        zumeist nicht viel gegen Armut. Denn                tischen For-
Allen Menschen, die in Europa leben,        es wird etwa nicht verhindert, dass Län-          schungsstelle.
soll ein würdiges Dasein garantiert         der gar keine landesweiten Grundsiche-
werden. All die Menschen in Europa,         rungssysteme haben (bislang: Italien,          Wer die Anliegen von EMIN un-
die ihren lebensnotwendigen Bedarf          Griechenland) oder bestimmte Perso-            terstützen will, kann die laufende
nicht anderweitig decken können, sol-       nengruppen (wie z.B. junge Menschen            online Petition „Garantierte Min-
len Zugang zu einer auskömmlichen           in Frankreich oder auch Dänemark)              desteinkommen. Niemand verdient
Grundsicherung bekommen. Konkret            komplett vom Leistungsbezug ausge-             weniger, alle profitieren“ mitzeich-
schlägt das Netzwerk vor, dass eine Eu-     schlossen werden. Zentrales Problem ist        nen. Siehe: www.emin-eu.net
ropäische Richtlinie erlassen wird, die     die Leistungshöhe. Die Leistungshöhe

                                                                                        www.der-paritaetische.de   2 | 2019   13
Schwerpunkt

                                               Die „Griechenlandkrise“:
                                             Zwei Griechinnen berichten
                                                           Fast zehn Jahre ist es her, dass der griechische Ministerpräsident Gior-
                                                           gos Papandreou öffentlich erklärte, sein Land wäre so stark verschul-
                                                           det, dass es die Kredite aus eigener Kraft nicht mehr tilgen könnte. Die
                                                           Schuldenlast lag bei 350 Milliarden Euro. Es war das, was als die „Grie-
                                                           chenland-Krise“ in die Geschichte eingehen wollte und deren Erschüt-
                                                           terungen man weit über die Landesgrenzen hinaus spürte. Die Europä-
                                                           ische Union reagierte hart, auch aus Angst um den Euro und die Stabi-
                                                           lität der Banken, die Griechenland über Jahrzehnte großzügige Kredite
                                                           einräumte. Sie half Griechenland gemeinsam mit Internationalem Wäh-
                                                           rungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) und for-
                                                           derte zugleich harte Einschnitte in der Ausgabenpolitik des Landes.

I
   n der Folge musste Griechenland,          der Krise.“ Die junge Frau hat zwei Ma-     fen in einem Café am Boxhagener
   um weiterhin Geld von der EU zu           sterabschlüsse, einen in Museologie         Platz in Berlin-Friedrichshain.
   bekommen, sogenannte „Sparpa-             und einen in Soziologie. In Griechen-       Auch Maria Brand studierte, und zwar
kete“ schnüren, deren Inhalt neben           land arbeitete sie im Kulturbereich,        Germanistik, um die Verbindung in
stärkerer Ahndung von Steuerflucht           also einer Branche, an der traditionell     ihre deutsche Heimat aufrechterhalten
im Wesentlichen aus sozialen Ein-            viel gespart wird und in der Krise erst     zu können. Nach dem Abschluss 2009
schnitten bestand. Die Pakete enthiel-       recht. Hochqualifiziert aber ohne jegli-    suchte sie ein Jahr lang nach Arbeit,
ten die Anhebung des Rentenalters von        che Perspektive verließ Maria ihre Hei-     bekam aber nur Angebote mit einem
65 auf 67 Jahre bei gleichzeitiger Sen-      mat Thessaloniki Richtung Deutsch-          Stundenlohn für drei Euro. Letztend-
kung des Rentenniveaus, Gehaltskür-          land, lernte schnell Deutsch und be-        lich entschied sie sich für Berlin, arbei-
zungen im öffentlichen Sektor, Anhe-         kam in Berlin eine Stelle bei einem         tete zwei Jahre im Start Up-Bereich
bung der Mehrwertsteuer und Milliar-         griechischen Verein. Die Erfahrung          und machte hier ihren Master in Medi-
denkürzungen im Gesundheitssystem,           war aber zunächst ernüchternd: „Die         en- und Kulturmanagement. Auch
um nur einige Beispiele zu nennen.           Menschen in der griechischen Com-           hier engagiert Maria sich für ihre
Und sie trafen natürlich zu allererst die    munity waren nicht gerade offen für         Landsleute. Ihr Projekt, das sie mit
einfache Bevölkerung.                        neue Leute.“ Nach diversen anderen          Freunden betreibt, nennt sich Berlinx-
Viele Griechen emigrierten aus dem           Jobs, unter anderem im Gastro-Be-           calling. Dabei handelt es sich um eine
Land, in dem sie für sich keine Perspek-     reich, landete sie 2016 beim VIA.           Webseite für griechischsprachige Men-
tive sahen und suchten ihr Glück woan-       Die andere Maria heißt Brand mit            schen in Berlin. Auf www.berlinxcal-
ders. Einige zog es auch nach Berlin         Nachnamen. Im Gegensatz zu ihrer            ling.com können sich in erster Linie
und mit zwei von ihnen konnten wir           Namensvetterin hat die 33-Jährige, de-      griechischsprachige Menschen, die
uns über ihre Erfahrungen, Meinungen         ren Vater Deutscher und deren Mutter        neu in Berlin sind, über das kulturelle
und Wünsche austauschen. Neben ih-           Griechin ist, bis zu ihrem zehnten Le-      Leben in der Hauptstadt informieren.
rem Status als Exil-Griechinnen in Ber-      bensjahr in Unterfranken gewohnt,           Dennoch ist Berlinxcalling mehr als
lin haben sie noch etwas gemeinsam:          bevor es nach Thessaloniki ging. Den        eine reine Infoseite. „Der Hauptgrund,
Sie beide heißen Maria.                      Umzug von Deutschland nach Grie-            warum wir das gestartet haben, war
Maria Oikonomidou ist Sprecherin             chenland empfand sie als Umzug in           der Abbau von Integrationsproble-
beim Forum der Migrantinnen und              den Dauerurlaub: „Du musst dir das so       men.“ Auch Hilfestellungen für den
Migranten im Paritätischen Gesamt-           vorstellen Wie die Deutschen Grie-          Umgang mit Ämtern, bei der Woh-
verband und arbeitet außerdem bei            chenland kennen, so haben wir Grie-         nungssuche und der sehr speziellen
VIA, dem Verband für interkulturelle         chenkinder im Ausland das auch gese-        deutschen Bürokratie sollen bald auf
Arbeit (VIA) Regionalverband Berlin/         hen. Du bist einmal im Jahr in der          der Homepage zu finden sein. Maria
Brandenburg e.V., wo ich sie treffe.         Sonne am Strand dort. Die Idee, das         merkte, dass immer mehr Leute kä-
Maria kam 2011 nach Deutschland              das ganze Jahr zu haben war einfach         men, die auch stets die gleichen Fragen
und bezeichnet sich selbst als „Kind         phantastisch“, erklärt sie mir bei Tref-    hätten. „Entweder sagst du das jedem

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Schwerpunkt

                                           können. Aber das ist nicht einfach. Vor     beeren sind groß, die Enttäuschung
                                           30 Jahren hatten wir noch Politiker, die    dementsprechend. „Griechen sind was
                                           sich auch eventuell gegen stärkere Län-     das betrifft von Null auf 100. Das ist
                                           der wie Deutschland oder Frankreich         unser Retter, heißt es dann. Griechi-
                                           durchgesetzt haben. In den letzten 20       scher Pathos, sage ich da.“ Maria sieht
                                           Jahren haben wir immer weniger Poli-        mit ihrem auch deutschen Blick nüch-
                                           tiker, die die Meinung der Bevölkerung      terner auf Politiker.
                                           vertreten können.“                          Und was erhofft sie sich von den Euro-
                                           „Aus meiner Sicht müsste die Troika         pawahlen? „Das Problem mit den Euro-
   Maria Oikonomidou                       und die Europäische Union mehr für          pawahlen ist: Wir wissen zu wenig da-
                                           die Menschen tun. Die europäischen          rüber, wir informieren uns zu wenig“,
einzeln oder stellst es einmal auf eine    Abgeordneten sind von den Menschen          meint sie. „Ich glaube, wir haben im-
Seite.“ Darüber hinaus befindet sich       gewählt und sollten das nicht verges-       mer noch keine europäische Identität so
gerade ein Verein in Gründung.             sen“, erklärt Maria Oikonomidou auf         ausgeprägt , dass wir auf irgendetwas
Wie notwendig so eine Homepage ist,        die Frage, was von Seiten der EU hätte      hoffen können. Ich erhoffe mir, dass ein
erlebte sie selbst. Allein die Eröffnung   anders laufen müssen. Die EU sei auch       friedliches Europa auch kulturell an-
eines Kontos funktioniere hier völlig      ein Grund, warum die rechtsextreme          läuft. Derzeit haben wir eher ein wirt-
anders als in Griechenland. Trotz per-     Partei Goldene Morgenröte in Grie-          schaftliches Europa und zum Teil auch
fekter Deutschkenntnisse stieß Maria       chenland so stark sei. Diese beschäf-       politisch. Ich erhoffe mir ein Bewusst-
Brand anfangs in Deutschland auf           tigt auch Maria Brand. „Mir macht es        sein für eine europäische Identität.“
Mauern. Wie soll es dann erst jeman-       Angst, dass die Goldene Morgenröte so       Ob sie sich eine Rückkehr nach Grie-
dem gehen, der zum ersten Mal in           stark ist“, sagt sie.                       chenland vorstellen könne, frage ich
Deutschland ist? Kulturelle Unter-         Maria Brand hat aufgrund ihres deut-        Maria Oikonomidou. Sie knüpft das,
schiede beschreibt auch Maria Oikono-      schen Hintergrundes einen anderen           wenig emotional, an die Möglichkeit,
midou, aber anderer Natur. Überstun-       Zugang zur griechischen Politik. Sie        in Deutschland arbeiten zu können.
den sind für sie vollkommen normal,        versuche immer die deutsche und die         „Vor Weihnachten hatte ich noch keine
auch wenn ihr Chef das nicht so gern       griechische Perspektive zu sehen. Da-       Bewilligung für mein Projekt. Und da
sieht. „Aber ich mache das gern und        von, dass die linke Regierung dem           stellte sich mir die Frage: Wenn ich
ich frage auch nicht immer“, lacht sie.    Spardiktat zustimmte, sei sie nicht so      hier nicht arbeiten kann – was mache
Beide haben noch Verbindungen in           enttäuscht wie viele andere, sondern        ich dann hier? Ich könnte zwar auch
ihre Heimat und spüren die Folgen der      sah keinen anderen Ausweg. „Ich habe        hier vom Staat leben, aber das möchte
sogenannten Krise auch bei ihren           damals den Grundgedanken unter-             ich nicht. Die Frage wurde mir schon
Freunden: Maria Oikonomidou hat            stützt, dass sich im Verhältnis von         häufiger gestellt. Griechenland ist mei-
Freunde, die einen Doktortitel haben       Staat und Gesellschaft etwas ändern         ne Heimat, ich bin dort geboren, auf-
und gerade einmal 900 Euro Brutto          muss“, erklärt sie weiter. „Letztendlich    gewachsen und erst mit 28 nach
verdienen. Maria Brand kennt viele, die    haben Bürger für die Fehler anderer         Deutschland gekommen. Das wird im-
mit Mitte 20 wieder zu ihren Eltern        bezahlt. Das heißt nicht, dass man sich     mer so sein.“ Dennoch habe sie auch
ziehen mussten, weil sie sich keine Un-    individuell aus der Verantwortung zie-      in Deutschland inzwischen eine Bio-
terkunft in der Stadt mehr leisten         hen soll, aber im Nachhinein hätte          graphie. „Ich würde mich freuen, wenn
konnten. Ihre inzwischen wieder in         noch einiges zusätzlich passieren sol-      ich mal wieder zurückkehren kann,
Griechenland lebende Oma könnte nur        len.“ Ein Problem, meint sie, sei, dass     aber sicher ist es nicht. Aber es sind ja
von ihrer griechischen Rente kaum le-      die Griechen auf Parteien eine Art          auch nur zweieinhalb Stunden mit
ben und bezieht glücklicherweise noch      „Heldenblick“ hätten. Dies beträfe ge-      dem Flugzeug von hier aus.“
etwas Rente aus Deutschland.               rade frisch gewählte Parteien und Per-      Maria Brand erzählt mir noch abschlie-
Selbstverständlich kommt auch ir-          sonen in der Politik. Die Vorschusslor-     ßend eine Anekdote, die ihr in Deutsch-
gendwann das Gespräch auf die Poli-                                                    land passierte, in dessen Medien häufig
tik. Maria Oikonomidou wirkt ange-                                                     Begriffe wie „Pleitegriechen“ zu lesen
sichts der griechischen Politik ernüch-                           Maria Brand          waren und suggeriert wurde, dass die
tert: „Es ist egal, dass wir eine linke                                                Bevölkerung ihre Probleme selbst ver-
Regierung in Griechenland haben. Am                                                    schuldete. Eines Abends sei ihr in grö-
Anfang haben das alle sehr positiv be-                                                 ßerer Runde mal ein 10 Cent-Stück aus
trachtet. Die Hauptrolle spielt trotz-                                                 der Tasche gefallen. Ein Bekannter hob
dem die Europäische Union.“ Sie wün-                                                   es auf und legte es mit den Worten
sche sich, „dass mehr Menschen in                                                      „Hier, nimm. Du bist ja eine arme Grie-
Griechenland in die Politik gehen, die                                                 chin.“ Sie fand das nicht so komisch.
nicht nur eine Meinung haben, son-
dern diese auch nach außen vertreten                                                                             Philipp Meinert

                                                                                      www.der-paritaetische.de   2 | 2019    15
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