ALL THE GOOD - ruhrtriennale.de - JAN LAUWERS NEEDCOMPANY - Vereinigte Bühnen Bozen
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URAUFFÜHRUNG Regie, Texte, Bühne: Jan Lauwers Musik: Maarten Seghers Do 22. Aug 20.00 Uhr Mit: Grace Ellen Barkey, Romy Louise Fr 23. Aug 20.00 Uhr Lauwers, Victor Lauwers, Jan Lauwers, Sa 24. Aug 20.00 Uhr Sarah Lutz, Benoît Gob, Elik Niv, Yonier Fr 06. Sept 20.00 Uhr Camilo Mejia, Jules Beckman, Simon Sa 07. Sept 20.00 Uhr Lenski, Maarten Seghers, Elke Janssens Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck Kostüm: Lot Lemm Dramaturgie: Elke Janssens Einführung jeweils 45 Minuten vor Lichtdesign: Ken Hioco, Jan Lauwers Vorstellungsbeginn. Ton: Ditten Lerooij Künstler*innengespräch am 23. Aug Produktion: Marjolein Demey im Anschluss an die Vorstellung, Technische Direktion, Bühne: moderiert von Peter Michalzik. Ken Hioco Maske: Lot Lemm, Benoît Gob Englisch, Französisch, Niederländisch, Assistenz Technische Direktion: Hebräisch und weitere Sprachen mit Tijs Michiels englischen und deutschen Übertiteln. Assistenz Bühne: Nina Lopez Le Galliard Weitere Infos unter: Tourtechnik: Saul Mombaerts, Bram ruhr3.com/allthegood Geldhof, Dries D’Hondt, Jannes Dierynck Eine Produktion der Needcompany. Assistenz Kostüm: Lieve Meeussen In Partnerschaft mit RIJEKA 2020 Llc. Praktikum Kostüm: Marion Thomasson in the framework of Rijeka 2020 – Praktikum P.U.L.S: Lisaboa Houbrechts European Capital of Culture, Croatian Sprachcoach EN: Helen McNamara National Theatre “Ivan pl. Zajc” Sprachcoach FR: Anny Czupper Koproduktion: Ruhrtriennale, Festival Übersetzung EN: Gregory Ball Reims Scènes d'Europe, Concertge- Übersetzung FR: Anne Vanderschueren bouw Brugge, La Colline Paris Übersetzung DE: Rosi Wiegmann Kopräsentation: Zürcher Theater Spektakel, Teatro Central de Sevilla, Technische Projektleitung RT: Kaaitheater Brussel, Toneelhuis Darko Šošić Antwerpen, Malta festival Poznań, Künstlerische Produktionsleitung RT: Festival Theaterformen Braun- Judith Humer schweig, NTGent Dramaturgie RT: Lucie Ortmann Tax Shelter uFund nv, Melissa Thomas, Christel Simons Mit der Unterstützung von Belgian Federal Government’s Tax Shelter and the Flemish authorities.
ALL THE GOOD SUMMARY All the good tells a story about loss and hope. A love story at a time in which Europe is sacrificing its values and a large group of people are succumbing to hate and incomprehension. The story of a family of artists with their everyday cares and the omnipresent death, which mercilessly imposes itself both in the seclusion of their home and in the outside world. In 2014, Jan Lauwers met the Israeli elite soldier and war veteran Elik Niv who, following a serious accident and a long rehabilitation process, became a professional dancer. They had long discussions „Artists have to do their very about his military operations best for their poetica to and his development as a danc- provide an answer to the er in the safely subsidised world of the living arts in Germany. It alldevouring political was during these conversations suffocation we have ended up that the bombs exploded at Za- in. Brexit, Trump, Erdoğan, the ventem airport and Maalbeek abuse of our planet, the terror metro station. All the good is a of an expansive economy, the story with a double autobio- loss of solidarity – those have graphical background: Elik’s life on the one hand and to be dealt with politically. L auwers with Grace Ellen Bar- But the poetry of arts has to key and their children in their provide for the humanity.“ house, an old bakery and work- Jan Lauwers place in the infamous district of Molenbeek, on the other. All the good also tells the story of a young girl, Romy, who is convinced that the world is good. During a trip through China, she meets the soldier Elik while she is vomiting in an alleyway after drinking snake’s blood. This meeting changes her life.
JAN LAUWERS IM GESPRÄCH Stefanie Carp und Lucie Ortmann treffen den Autor und Regisseur von All the good vor dem Probenstart in Gladbeck Lucie Ortmann Ihr habt heute mit dem Aufbau in der Maschinenhalle begonnen. Wie fühlt es sich an, All the good an diesen besonderen Ort zu transferieren? Jan Lauwers Das ist mein Job. Ich reise viel und suche nach fantasti- schen Orten. Die Maschinenhalle Zweckel ist einer der wunderbarsten Orte, die ich kenne. Die Energie des Raums ist sehr stark. Die gesamte Umgebung inspiriert mich. Stefanie Carp Wenn ich Dein Bühnenbild für All the good anschaue, sehe ich ein Künstleratelier, einen Probenraum, aber auch eine Woh- nung, und im Zentrum ein sehr interessantes Objekt, ein Kunstobjekt. Was bedeutet das Setting für Dich? J. L. Wir leben in einer Zeit, in der Identität ein wichtiges Thema ist. Ich habe zuletzt einige Aufführungen von jungen Künstler*innen gesehen, die alle über sich selbst in einer Welt sprechen, die sie nicht verstehen. Diese Diskussionen über Identität waren das erste Problem, das ich aufgreifen wollte. Als mein Vater vor 15 Jahren starb, habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, über meine Familie zu schreiben. Ich vermutete, die Leute würden mich deswegen zerreißen, dass es zu per- sönlich sein würde. Ich habe an Molière gedacht, der über seine Frau und seine Mätresse schrieb und auch mit ihnen auf der Bühne spielte. Sie haben ihn dafür ins Gefängnis gesteckt – es war zu eitel. Heute gefällt den Leuten so etwas. Die Idee eines biographischen Theaters interessiert mich auch, aber es kann Kunst langweilig machen... Ich sah mich also mit den Debatten um Identität konfrontiert, die in den letzten vier Jahren hervorschossen, mit postkolonialen Bewegungen, mit #MeToo. Kunst hatte politisch zu werden. Mein Statement wurde: Politische Kunst zerstört die Schönheit von Politik und von Kunst. Wenn Politiker*innen Künstler*innen werden, ist das eine Katastrophe und umgekehrt auch. Als ich 2016 anfing an All the good zu arbeiten, passierten die Terroran- schläge in Brüssel. Meine Tochter hat die U-Bahn kurz vor der Explosi-
on verlassen. Der Anschlag kam uns also sehr nah. Die Needcompany ist zu der Zeit vom Brüsseler Zentrum nach M olenbeek gezogen, wo die Terrorist*innen herkamen. Donald Trump hat Molenbeek als „hell- hole of Europe“ bezeichnet. Dem stimme ich nicht zu, aber ich musste über meine Familie schreiben und wie wir in diesem „hellhole“ leben und arbeiten, Kunst machen. Also ja, ich habe buchstäblich mein Haus, mein Atelier und meine Familie auf die Bühne gebracht. L. O. Auf der Bühne befindet sich auch der Tänzer Elik Niv, ein ehema- liger israelischer Elitesoldat. J. L. Ja. Als ich zu schreiben begann, habe ich zum ersten Mal Palästina besucht und war schockiert. Es gibt eine große Opposition gegen Isra- el in Belgien – eine viel größere als in Deutschland. Dieser Unterschied hat mit der Geschichte der Länder und ihrer unterschiedlichen Schuld zu tun: dem Kolonialismus und dem Holocaust. Vor einigen Jahren habe ich den Israeli Elik Niv kennengelernt, der im Libanon gekämpft hat. Er war in den Special Forces, um in geheimen Missionen Menschen zu töten. Ich war von seiner Geschichte fasziniert: Er wurde in die Beine geschossen und hat sich nach einer langen Rehabilitation zum profes- sionellen Tänzer ausgebildet. Ich habe ihn gefragt, ob ich seine G e- schichte erzählen darf. Also stößt dieser Eindringling, dieser Soldat, zu meiner Familie dazu. Und der Rest ist Fiktion, Fiktion über Liebe – die brauchte ich in all diesem Horror. S. C. Ich möchte darauf zurückkommen, was Du eben beschrieben hast, dass Kunst und Politik getrennt werden sollten. Alles, was Du uns anschließend erzählt hast, wie nah uns die Konflikte unserer transkultu- rellen Welt kommen, scheint darauf hinauszulaufen, das eben nicht mehr trennen zu können. J. L. Es ist eine Katastrophe, wenn Politik das Ziel von Kunst wird. Für mich muss Kunst eine dialektische Beziehung zur Kultur, zur Welt haben, in der sie produziert wird. Zu behaupten, es gäbe keine Verbin- dung ist naiv. Aber Politik muss Kompromisse finden, während Kunst niemals nach Kompromissen suchen sollte. Politiker*innen müssen Antworten geben, Künstler*innen sollten Fragen stellen und Probleme
erzeugen. Meine Arbeit ist politisch, aber ich halte auch ein abstraktes Gemälde für politisch. Die Konkretheit politischer Kunst finde ich demagogisch und naiv. Heute sollen wir die Identitätsprobleme, die Probleme von #MeToo oder der Bewegungen von People of Colour mit Kunst lösen. Ich sage: Erzeugt Probleme mit eurer Kunst und löst die Probleme mit eurem sozialen Verhalten. L. O. Aber das Bewusstsein für Machtgefälle, das diese Bewegungen verursacht haben, ist sehr präsent im Stück. Wie verortest Du Dich darin? J. L. Ich wollte mit einer gewissen Form von Enttäuschung in mir um gehen. Die Enttäuschung, nicht die richtigen Werkzeuge, Instrumente, zu finden, um auszudrücken, was ich möchte. In diesem Stück versuche ich, zu meinen Wurzeln zurückzugehen. Ich stelle momentan immer wie- der fest, wie wichtig mein katholischer Hintergrund ist. Wenn ich im Stück sage, dass die schönste Kunst die katholische Kunst ist, bedeutet das nicht, dass Kunst katholisch sein sollte. Nur wenn wir melancholisch sein wollen – und ich wollte zu den christlichen Gemälden zurück – dann müssen wir Gott neu erfinden, ihn re-installieren. Während der Renais- sance, der Gotik oder dem Barock wurden die Gemälde im Dienste Gottes geschaffen. Aber wir können heute nicht mehr religiös in unserer Kunst sein. Heute ist das Ziel, politisch zu sein. Haben wir also Gott mit Politik getauscht? Das versuche ich mit dem Stück zu verstehen, mit dem Stück, das keine Antworten gibt, sondern Fragen provoziert. S.C. Der Titel lautet All the good. Was ist das Gute? J.L. Der Titel provoziert ebenfalls ein Problem. Denn das Gute hat durchaus eine biblische Konnotation. Für andere bedeutet es einfach etwas Positives. Wir müssen gute Kunst schaffen und das ist schwierig. Wir haben gelernt, dunkle, traurige Kunst zu lieben. Der Versuch, ein Stück zu schreiben, in dem alle Leute glücklich sind, muss scheitern. Wir brauchen Traurigkeit, wir brauchen Schmerz. Das ist sehr christlich. Wir realisieren gar nicht, dass unsere Kultur möchte, dass wir leiden. Die Frage lautet, wie können wir diesen ideologischen Inhalt über- schreiten, um irgendwo anders hinzukommen.
L. O. Du hast gerade gesagt, wir brauchen Schmerz. Für mich sind As- pekte der Gewalt, physische Gewalt und Schmerz, zentral in All the good. Das Glas der Gefäße bricht und eine Performerin verletzt sich. Zwei Darsteller*innen proben eine Vergewaltigung. Es gibt Verweise auf die frühe Performance Art. Künstler*innen wie Marina Abramović beschäftigte die Frage nach Authentizität im Sinne von authentes = Hand an sich legen. Wie sind Erfahrungen von Gewalt oder Leid in einer künstlerischen Arbeit darzustellen, wie lassen sie sich kommuni- zieren oder gar teilen? J. L. Du stellst eine interessante Frage. Das, worüber Du sprichst, ist das größte Problem Europas. In Brüssel gibt es die Organisation Cinemaximiliaan, eine Film-Plattform von und für Newcomer. Wir nennen Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um nach Belgien zu kommen, Newcomer, nicht Geflüchtete. Man spürt direkt, dass sie so viel mehr zu sagen haben als wir, die in Europa in sicheren Communities aufge- wachsen sind. Sie haben so viel Energie und so eine dunkle Geschich- te zu erzählen. Der Film eines jungen Mannes, der über das Mittelmeer kam, zeigte, wie er den Brüsseler Stadtmarathon lief. Alle Teilneh- mer*innen erhalten eine Medaille und er nahm sie und sagte: Schaut her, ich bin 40 km gerannt und habe eine Medaille bekommen. Ich bin 5.000 km gerannt und da war niemand. Ich fand das stark. Aber wenn sie Kunst machen, tun sie es abstrakt – sehr weit weg vom Schmerz. Europas Tragödie ist, dass wir eine so umfassende Geschichte haben und dass wir sie lieben, dass sie das einzige ist, was wir haben. Euro- pas Vergangenheit wird zum Gefängnis. Wir sollten darum kämpfen, aus dem Gefängnis auszubrechen. Aber dabei sollten wir die Geschich- te respektieren und nicht ikonoklastisch werden. S. C. Bei einer anderen Gelegenheit hast Du gesagt, dass Du keine christliche Kunst mehr zeigen kannst, weil wir in ikonoklastischen Zeiten leben. Meinst Du damit, dass wir die Kunst nicht mehr sehen oder nicht mehr schätzen können? J. L. Ich habe letztens mit meinem Sohn darüber diskutiert, was das ultima- tive Kitschbild sei. Für mich ist es Mickey Mouse. Mein Sohn entgegnete, das kitschigste Bild ist Jesus am Kreuz. Es hängt überall und wir akzep-
tieren es, weil es Kitsch geworden ist. Wenn jemand von einem anderen Planeten die Bilder sehen würde, würde er denken, diese Menschen müssen grausam sein. 1997 hat Bob Dylan dem Papst ein privates Kon- zert gegeben und alle waren schockiert. Dylan hat die Ö ffentlichkeit be- trogen, als er für den Papst gesungen hat. Früher haben alle Künst- ler*innen für den Papst gearbeitet. Der Unterschied war: Gott existierte. Als Michelangelo für den Papst gearbeitet hat, war er ihm nicht untertan. Sein Talent war gottgegeben, was ihn dem Papst ebenbürtig machte. Über diese Dinge heute nachzudenken, ist spannend, besonders wenn es um Religion, um den Islam, das Christentum, um die Frage, was Europa ist, geht… Müssen wir unsere christliche Kultur verteidigen? Was bedeutet es, wenn wir uns verteidigen? S. C. Aber ist unsere Zeit wirklich ikonoklastisch? Bilder bekommen immer mehr Macht und Bedeutung. J. L. Ja, es ist faszinierend, wie wichtig Bilder sind. Menschen werden wegen ihnen getötet. Diese Bedeutung kam mit den ikonoklastischen Bewegungen, im Christentum mit den Protestanten. Ein Jahr nach Mohammeds Tod passierte es auch in der islamischen Welt: Im Iran kann man durchaus ein Porträt von Mohammed, von Allah machen, in Saudi-Arabien nicht. L. O. Du hast mal in einem Interview gesagt, „theatre is a method of teaching us how to see”. Zeigst Du die christlichen Gemälde in diesem Sinne, um ihnen einen neuen Raum zu geben, ein neues Potential zu eröffnen? J. L. Das Wort „teaching“ finde ich etwas problematisch, vielleicht liegt das an der Übersetzung. Aber ja, mit dem Stück sage ich den Zuschau- er*innen: schaut erneut, was seht ihr? Für den Schluss musste es die Kreuzabnahme des flämischen Künstlers Rogier van der Weyden sein. Es gibt darin so viel zu entdecken. Auch das ist mein Hintergrund. Und hier kommen wir zum Thema Identität zurück.
L. O. Die Needcompany ist eine transkulturelle Company. Du bist also sozusagen mit den Identitäten anderer umgeben. Wie beeinflusst Dich das in Deiner Arbeit? J. L. Du lernst ständig. Heute ist es anders als vor 20 Jahren. Als ich die Needcompany gegründet habe, waren die Faschist*innen dabei, Belgien zu übernehmen. In Antwerpen, wo ich gelebt habe, holten sie 33 Pro- zent der Stimmen. Ich habe damals aufgehört, in meiner Muttersprache zu schreiben und zu inszenieren, um die Needcompany international aufzustellen. Ich habe mit italienischen, spanischen, schwedischen oder argentinischen Schauspieler*innen zusammengearbeitet. Wir haben uns auf einer sprachlichen Ebene nicht direkt verstanden, aber wir haben textbasiertes Theater gemacht. Heute gibt es viele multilinguale Thea- terprojekte, aber damals war das ein politisches Statement. S. C. Die Arbeiten der Needcompany waren schon immer interdisziplinär. In fast allen Deiner Stücke spielt Musik eine zentrale Rolle. In welcher Weise inspiriert Dich Musik? J. L. Ich bin so glücklich über die Zusammenarbeit mit Maarten Seghers. Er ist ein fantastischer Komponist. Die Autonomie der Musik wird immer wichtiger für mich. Die Musik muss wie auf einem Konzert funktionie- ren, sie soll keine Illustration von dem, was man sehen soll, sein. Die Art, wie wir zusammen kreieren, hat sich über die Jahre entwickelt. Wir arbeiten beide zunächst alleine. Maarten komponiert Musik, ich schrei- be. Es ist für mich sehr wichtig, dass die Musik einen anderen Inhalt bietet. Das ist dasselbe, wenn die Schauspieler*innen dazu stoßen und sie das Stück verändern. Sie machen die Figuren stärker als ich es mir vorstellen könnte. Das ist kein kollektiver, sondern ein kollaborativer Prozess. Es ist immer eine einzelne Person, die die Entscheidungen trifft. Jemand ist künstlerisch produktiv und die anderen unterstützen ihn dabei. Kollektives Denken ist gut für die Organisation von Kunst, nicht für ihre Schöpfung. S. C. Wie ist Needcompany organisiert? Ist es eine Künstlerfamilie? Wechseln die Mitglieder?
J. L. Das ist immer Entwicklung. Der Familiengeist bedeutet, dass du Needcompany beitrittst, wenn du das Gefühl hast, das dort etwas passiert, das dich interessiert. Ich sehe einen Unterschied zur jüngeren Genera- tion, die eher auf ihre eigene Identität fokussiert ist und dazu neigt, schneller zu urteilen. Was ich gelernt habe, ist Menschen mehr einzu- beziehen. Es gibt eine neue Notwendigkeit dafür. Als wir vor 20, 30 Jahren mit afrikanischen oder chinesischen Schauspieler*innen zu- sammengearbeitet haben, haben wir nie über Ethnizität oder Colour gesprochen. Es war für uns normal. Es sind interessante Zeiten, um Kunst zu machen. Und in gewisser Weise bin ich froh, dass es schwie- riger ist, das „Was“ zu bestimmen. Künstler*innen sind immer mit dem „Wie“, dem „Warum“ und dem „Was“ beschäftigt. Die Frage, warum ich Kunst mache, stellt für mich kein Problem dar, das „Wie“ ist mein Job, das „Was“ die Herausforderung. Was ist genau jetzt spezifisch? Das ist vielleicht der Grund, warum ich für All the good meinen klarsten Text überhaupt geschrieben habe, den für mich klarsten Text.
LIEBER JAN, als ich zufälligerweise mit Dir Ende November 2018 das westliche Jordan ufer und vor allem Hebron besuchte, war das eine rundum schockierende Erfahrung für mich. Ich bin schon viel gereist in meinem Leben, auch zu weniger ausgewiesenen Orten, aber erst in Hebron habe ich wirklich gesehen, wozu Menschen fähig sein können, zu wel- cher bodenlosen Perversität die condition humaine führen kann. Es war reiner Wahnsinn zu sehen und zu spüren, was für ein sardonisches Vergnügen Unterdrücker*innen aus der Erniedrigung und Schikane Un- terdrückter ziehen können. Es war ein erneuter Beweis für die Tatsache, dass es ein großer Unterschied ist, ob man etwas versteht, weil man darüber liest, oder ob man es mit eigenen Augen sieht. Wie so viele Menschen verließ ich Palästina noch stärker als schon zuvor in der Überzeugung, dass Israel Taten begeht, die nicht schön zu reden sind, und dass die Palästinenser*innen deren Opfer sind. Natür- lich wusste ich, dass dieser Konflikt komplexer ist als das, natürlich sind auch die Palästinenser*innen keine Unschuldslämmer und haben Blut an den Händen, natürlich haben auch sie Anführer*innen, die von Zynis- mus und Opportunismus getrieben werden anstatt von aufrechter Mit- menschlichkeit, natürlich hat jeder Krieg am Ende nur Verlierer*innen, aber ich war überzeugt, dass es eine deutliche Grenze gibt, eine Unter- grenze dessen, was man menschlich nennen kann, und dass die Israelis diese Untergrenze systematisch überschreiten. In den Wochen nach der Palästinareise fing ich mich allmählich wie- der ein, die Übelkeit verschwand langsam aber sicher, und das Gefühl, genau zu wissen, wer gut und wer schlecht ist, erhielt sich. All the good ist ein Stück, das meinen felsenfesten Glauben wieder ins Wanken bringt. Ich finde es wirklich sehr mutig. Natürlich schmälert es die Tatsache nicht, dass die Situation in Palästina vollkommen inakzeptabel ist, und dass hunderttausende Menschen auf widerwärtige Weise unterdrückt werden. Natürlich schmälert es die Tatsache nicht, dass es doch eine klare Untergrenze gibt, die man nicht überschreiten darf, und dass Israel das überdeutlich trotzdem tut, aber was interessanter ist, ist die Frage, warum Menschen
das dann trotzdem tun, und wer diese Menschen sind. Was führt sie dahin? Und wie macht man als Künstler*in das Unfassbare doch auf andere Art begreiflich, oder vielleicht eher spürbar? Und auch: warum ist das so schwierig? Warum finden wir es so toll, Partei zu ergreifen, irgendwo dazu zu gehören, für etwas und demnach gegen etwas ande- res zu sein? Du stellst in dem Stück die Frage: wer ist der Israeli? Wer sind all die Soldat*innen, wer steht dahinter? Wenn Elik erzählt, was eigentlich in ihm vorgeht in dem Moment, in dem er einem Feind Auge in Auge ge- genübersteht – die Gewehre gezückt, geladen und ausgerichtet – da entsteht eine andere Realität, eine Realität, in der das Urteil eines Außenstehenden auf einmal völlig unpassend scheint. Der Außen stehende, die Künstlerfamilie, die du einbringst, die aus einer Art unan- gebrachtem moralischen Überlegenheitsgefühl meint, über die Taten anderer urteilen zu müssen. Das ist etwas, das wir, wenn wir ehrlich sind, alle kennen. Die moralische Hochebene, auf der wir so gern ver- weilen, ist selbst ein Teil des Problems, eine Position, die unseren Blick allzu sehr vernebelt. Oder wie progressive Menschen die Systeme, die sie so gern anklagen, oft einfach reproduzieren. Kolonialismus, Rassis- mus, Sexismus, Unterdrückung: jedes Mal gehen wir davon aus, dass sie überwunden sind, aber jedes Mal gebrauchen wir eben diese Systeme, um das zu sagen. In All the good wird die Karikatur, die manchmal aus der palästinen sischen Frage gemacht wird, durchlöchert. Metaphern kommen an ihre Stelle. Eine Liebesgeschichte, ein Mädchen, das an das Gute glaubt, die Vagina als ultimatives Symbol für das Leben, für die Quelle, die im- mer wieder anderes hervorbringt. Das ist der Kreis, wahrscheinlich die ultimative Metapher in diesem Stück, die Gewaltspirale, aber auch der Kreis, der uns immer wieder an den Anfang zurückbringt, bis es keine Täter*innen und Opfer mehr gibt, bis alle einfach wieder Menschen sein können. Der Kreis, der auch bewirkt, dass wir doch jedes Mal wieder neu anfangen, und dass wir weiterhin an alles Gute glauben können, das Gute im Menschen, in jedem Menschen, auch wenn er zu schreck- lichsten Untaten fähig ist. Es befähigt uns erneut, die Situation zu betrachten, nicht aus politi- schem Blickwinkel (und Denkensart), der der Sache meist recht weit im Wege steht, aber gerade aus der menschlichen Perspektive: was b edeutet
es, als Mensch in diese Situation zu kommen, wie gehst du damit um? Kannst du damit umgehen? Hinter jeder betroffenen Seite steht zuerst ein Mensch, und wie grausam dessen Taten, Worte oder Gedanken auch sein können, kein Mensch entspricht dem wirklich jemals. Das be- greifen zu wollen, heißt, dass wir uns manchmal verpflichten müssen, das Unbegreifliche doch begreifen zu wollen, anstatt es direkt zu verur- teilen. Wie schwer das auch ist, wie verlockend es oft ist zu (ver)urteilen. All the good ist so ein ultimatives Plädoyer für Empathie, mit allen Konsequenzen durchgezogen, ein Aufruf, empathisch zu bleiben, selbst wenn es jeder Form von sozial Wünschenswertem zuwiderläuft. Und vielleicht ist es das, was wir heute mehr als jemals zuvor brauchen: Empathie, echte, aufrichtige Empathie. Vielen herzlichen Dank für diese Aufführung. Mit geneigten Grüßen Tom Tom Rummens arbeitet als Dramaturg am LOD Muziektheater Gent.
PORTRÄT DES KÜNSTLERS ALS MANN AM WENDEPUNKT Erwin Jans 0. Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und schimmerte nicht so wie Raubtierfelle, und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. 1. In seinem berühmten Gedicht Archaischer Torso Apollos aus dem Jahr 1908 beschreibt Rainer Maria Rilke eine ästhetische Erfahrung, die wir hundert Jahre danach, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vielleicht nicht mehr ganz nachvollziehen können und der wir inzwischen aus verschiedenen Gründen sogar misstrauen. Die im Gedicht beschriebene Situation ist ebenso einfach wie vielsagend: Der Dichter spaziert durch ein Museum, möglicherweise den Pariser Louvre, und merkt plötzlich, dass ihn ein Torso des Gottes Apollo anblickt. Die Skulptur hat keinen Kopf, aber in ihrer Brust glüht noch immer der Blick des griechischen Gottes. Das Gedicht endet mit den überraschenden und geheimnisvol- len Versen „denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“ Es ist, als ob die Apollostatue den Dichter aus jedem Winkel ansähe und aus dem Gestein eine Stimme erklänge, die ihn
dazu aufruft, sein Leben zu ändern. Nicht die Betrachter*innen schau- en das Kunstwerk an, sondern umgekehrt: Das Kunstwerk b etrachtet die Betrachtenden. In dieser Umkehrung wird die ästhetische Erfah- rung zum ethischen Aufruf. Das Gedicht beschreibt, wie einschneidend und entscheidend die Begegnung mit einem Kunstwerk sein kann, wie zwingend dessen Appell. Offensichtlich handelt es sich um ein hierar- chisches Verhältnis: Das Kunstwerk besitzt die absolute Autorität, sich an die Betrachter*innen mit einer dringlichen Forderung zu wenden. Es ist eine Aufforderung, die aus einer völlig anderen, h öheren Sphäre zu kommen scheint. Das Kunstwerk erinnert uns daran, dass wir noch nicht vollständig, noch nicht wirklich leben. Es fragt nach einer inneren Revolution, nein, es verlangt sie. Es ist sicher nicht unwichtig, dass der Ort des Geschehens ein Museum ist. Ein Museum ist ja eine von der alltäglichen Wirklichkeit abgetrennte, sakrale Stelle, die das ästheti- sche Erlebnis in besonderem Maße ermöglicht. Alles, was ablenken könnte, wird ausgeschlossen. Die Besucher*innen begegnen dem Kunstobjekt auf Augenhöhe. Aber das ästhetische Erlebnis hat nicht nur mit dem Ort des Museums zu tun, sondern auch mit Zeit, Tradition und Geschichte, die sich zwischen den Mauern des Gebäudes verdich- tet haben. Ist es Zufall, dass sich gerade ein archaischer griechischer Torso über die Jahrhunderte hinweg an den Dichter wendet und ihn auffordert, sein Leben zu ändern? Keine zehn Jahre und einen (Ersten) Weltkrieg später sollte Marcel Duchamp sein Urinoir unter dem Namen Fountain in New York ausstellen und damit die gesamte ästhetische Erfahrung des 20. Jahrhunderts profanieren. 2. „Das Theater liegt in der Stadt und die Stadt liegt in der Welt und die Wände sind aus Haut“, so charakterisierte die Dramaturgin Marianne van Kerkhoven 1994 die Kommunikation zwischen dem Theater und der Wirklichkeit. Die Anziehungskraft ihrer Formulierung steckt in der orga- nischen Metapher der Haut, die die Innen- und die Außenwelt als hoch- empfindliche Folie trennt, aber auch verbindet. Aber inzwischen sind 25 Jahre vergangen. Wie viel Welt verträgt die Kunst? Was würden Besu- cher*innen am Beginn des 21. Jahrhunderts empfinden, wenn sie sich dem archaischen Torso Apollos gegenübersähen? Vielleicht würden sie sich Fragen zum Museum als Institution, zu seiner Verwaltungshie- rarchie, der Finanzierung, dem Verhältnis zum Kunstmarkt, dem ökolo-
gischen Fußabdruck, der Partizipation des Publikums, dem Elitismus und dem Dekolonialisierungskonzept stellen. Sie könnten Einblick in die sozialen, ökonomischen und politischen Umstände, unter denen der Torso entstand, nehmen wollen. Sie könnten den westlichen Kanon und seinen universellen Anspruch kritisieren. Sie könnten das ‚white privilege‘ des Kunstbetriebs und seine hetero-männliche Dominanz attackieren. Der Torso spricht nicht mehr. Seine Rede geht unter in einem Stimmengewirr, aus dem laute und drängende Fragen über L egitimität, Demokratisierung, Aktivismus oder Diversität nach außen dringen… Wer ließe sich da nicht zum Schweigen bringen? 3. In All the good stellt sich Jan Lauwers mitten in den Sturm. Das tut er buchstäblich. Er lässt seine Rolle von Benoît Gob spielen, der in der Mitte der Bühne steht. „Benoît ist mein Selbstporträt.“ Lauwers bleibt körperlich auf der Bühne anwesend, aber am Rand der Szene. Er be- trachtet sich aus einiger Entfernung im Spiegel des Theaters. „Im Spie- gel sieht eine schöne Frau eine schöne Frau. Und ein Affe sieht einen Affen”, sagt seine Tochter Romy später. Was sieht Lauwers, wenn er sein Alter Ego anschaut: „Ein Künstler in einem Netz aus Zweifeln. Ein düsterer Romantiker.“ Das geht aus Textstellen wie den folgenden her- vor: „Einer muss es tun“, „Gegen alles sein“, „Die Welt verdient keine Poesie mehr“ oder „Die Welt ist nicht die Welt, sondern eine Erfindung“. Der Sturm, der in seinem Kopf und Herzen tobt, tobt auch um sein Haus herum, das im Laufe der Vorstellung mehr als einmal in seinen Grund- festen erschüttert wird. Ist das eine Ankündigung großen Unheils? Die Möglichkeit einer Katastrophe (ein Krieg, ein Attentat...) hängt wie ein Schatten über der Vorstellung. „Der Fokus liegt auf mir allein“ verkündet Lauwers zu Beginn der Vor- stellung in Bezug auf sich selbst, wie es zu einem düsteren Romantiker passt, der gern der Mittelpunkt der Welt sein möchte, was sich aber bald als Illusion erweisen wird. Die Welt ist viel zu groß und verändert sich viel zu schnell. Seine Geschichte und seine künstlerischen Zweifel werden von den Geschichten der anderen überlagert. Er ist in eine exis- tenzielle und künstlerische Krise geraten. Die Installation, an der er arbeitet, soll „ein glasklares Schicksal, das alles wegfegt“ darstellen, sieht aber immer mehr wie ein Weihnachtsbaum aus. Er verzichtet sogar auf Sex, wenn das seine künstlerische Energie steigert, aber das führt
nur zu dem Ergebnis, dass seine Frau eine Tinder-Affäre mit Camilo, einem Freund der Familie anfängt. Überdies hat seine Tochter ein Ver- hältnis mit Elik, einem ehemaligen israelischen Soldaten, der im Libanon gegen die Hisbollah gekämpft hat. Die Welt und die Geschichte dringen ungewollt und ungeniert in sein Haus ein, das „ein Hafen für radikale Schönheit“ hätte sein sollen. Stattdessen wird seine Wohnung zu ei- nem Ort häuslicher Sorgen und Streitereien, von Liebesaffären und Sex, wobei all das mit Diskussionen über den Sinn und Unsinn der Kunst durchsetzt ist. „Kunst soll swingen und singen, den Scheißkram be- zwingen”, behauptet Maarten, der Narr, der Mann ohne Identität. Simon, die Habsburger Krähe, hat beschlossen, dass die Kunst mittlerweile nicht mehr schockieren kann, das könne nur noch die Welt selbst. Grace arbeitet an einer Studie über die Unmöglichkeit des Unsichtbaren, will aber nichts davon preisgeben... 4. Lauwers stützt sich auf die Geschichten, die er von seinen Schauspie- ler*innen angeboten bekommen hat: „Ich schreibe auf der Haut dieser Leute“, sagt er im Prolog. Das darf man durchaus wörtlich nehmen, denn drei der Bühnenakteur*innen bilden seine Familie – seine Frau Grace, seine Tochter Romy und sein Sohn Victor – und die anderen sind enge Freund*innen, mit denen er zum Teil seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Er kennt ihre Geschichten. Aber er nennt sich auch den „irreführenden Erzähler“: „Meine Wahrheit ist nicht die Ihre. Und auch nicht ihre.“ So viele Menschen, so viele Wahrheiten. So viele L inien, die einander kreu- zen. Alle Geschichten müssten erzählt werden, aber das geht nicht. Man- che Geschichten sind zu lang, andere würden nur ablenken. Außerdem darf nicht jeder alles erzählen. Die Aneignung und das Sprechen „im Namen von“ hat Grenzen. Jules darf Eliks Geschichte erzählen, weil er auch Jude ist, aber Sarah nicht. Sie hat zwar einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter. Palästinenser*innen stehen nicht auf der Bühne, also kann die Geschichte von Mahmoud, einem der letzten Glasbläser aus Hebron, der für die Vorstellung 800 einzigartige kleine Vasen ange- fertigt hat, nicht erzählt werden. In jeder einzelnen Vase steckt die Seele eines Kunstwerks, das irgendwo in die Irre gegangen ist. Während der Vorstellung gehen viele Vasen zu Bruch. Auch ihnen bietet das Haus kei- nen Schutz mehr. Städte sind „die Kontaktzonen der Welt“: Zonen, in denen Kulturen und Menschen, die bislang durch Geografie, Geschichte,
Religion, E thnizität usw. getrennt waren, gezwungen werden, im glei- chen Raum mit einander umzugehen, zu verhandeln, und das in einem Kontext historischer Traumata, ungleicher Machtverhältnisse und einer permanenten Erfahrung des ‚lost in translation’. Neue gesellschaftliche Empfindlichkeiten geraten in Konflikt mit vorhandenen Verhaltensmus- tern und kulturellen Traditionen. Während die Diversität zunimmt, werden ethnische, kulturelle, religiöse und andere Identitäten schärfer abge- grenzt und in gesellschaftliche sowie kulturelle Ansprüche umgesetzt. Das Sprechen wird neu verteilt. Wer zum Schweigen verurteilt war, er- greift nun das Wort und erzählt seine Geschichte. Gegen das universalis- tische und normative Sprechmonopol des weißen Heteromannes mobili- sieren sich die Stimmen aller möglichen Minderheiten, um einen eigenen Ort, eine eigene Geschichte, eine eigene Identität einzufordern. „Zu viele verkehrte Entscheidungen führen zu genehmigten Geschichten. Geneh- migte Geschichten führen zu genehmigten Identitäten. Unaufhaltsam führen sie zu dem Riesenirrtum, der Geschichte heißt. Wir brauchen Ruhe in der Welt der Künste.“ Das sagt Simon, die Krähe, zu Benoît. 5. Aber was spricht dagegen, die Krise ernst zu nehmen und nicht so- fort eine Antwort wissen zu wollen oder zu müssen? Warum die Krise nicht eine Zeit lang durchleben und wie ein Fieber ausschwitzen? Diesen Standpunkt scheint der in England tätige südafrikanische Kunsthistoriker Sarat Maharaj in einer Diskussion über künstlerische Diversität einzunehmen. Er skizziert die heutige Lage sehr klar: „Die Autonomie der künstlerischen Kriterien ist eine Errungenschaft der Mo- derne. Unabhängige künstlerische Kriterien existieren und auf deren Grundlage funktioniert ein Großteil der westlichen Kunstwelt. Ich glaube nicht, dass wir das einfach als Unsinn abtun können. Es findet ein Dialog statt, der Rechenschaft über die nicht künstlerischen Kriterien ablegt, die in den arroganten Momenten der Hochmoderne abgelehnt wurden. Man dachte, dass sie für immer überholt wären, aber nun kommen sie wieder zum Vorschein. Der Dialog, der Konflikt, das Echo von Homi Bhabhas Idee der Verhandlung von der Grenzlinie aus – all das bricht die Debatte auf. Wir haben rein autonome Kriterien, und in dem ureige- nen Moment, da wir diese autonomen Kriterien affirmieren, können wir die Diskussion nicht abschließen und bewegen wir uns zu sehr in die andere Richtung, zurück zu den ästhetischen Kriterien. Wenn wir diese
Richtung weiter verfolgen, bringt uns das unserem Ziel auch nicht nä- her, sondern wir müssen wieder auf das Feld der künstlerischen Krite- rien zurückgreifen. Ich nehme an, dass dies ein Echo der Doppelbewe- gung ist, in deren Rahmen wir weder die europäische Perspektive noch die nicht-europäische Perspektive vorziehen.“ Wir sind in einer politi- schen und kulturellen Epoche angekommen, in der sich die Zukunft präsentiert als etwas, das wir in der Vergangenheit übersehen haben: eine Rückkehr des Verdrängten oder Vergessenen oder Verstoßenen. Wir bekommen also eine Art zweite Chance, aber dann unter anderen (schwierigeren?) Umständen. Noch einmal Sarat Maharaj: „Wenn wir das Konzept der Kunst als einer permanenten Krise akzeptieren und Kunst als eine kritische Aktivität sehen, die alle Konzepte, mit denen wir auf ein neues Kunstwerk zugehen, in eine Krise stürzt; wenn wir das mit der Spannung zwischen intrinsischen Faktoren verbinden, rein ästheti- schen Kriterien, und mit all den Anforderungen ästhetischer Art, von denen wir glaubten, wir hätten sie in der frühen Moderne hinter uns gelassen, die aber zurückgekommen sind, um sich zu rächen, die sich nun in den Metropolen als Immigrant*innen of Colour, als Frauen und als sexuelle Minderheiten sammeln und Fragen stellen wie: Weshalb kann ich dieses Werk nicht ausgehend von meiner Kultur, meiner Weib- lichkeit, meiner Homosexualität beurteilen? Ich meine, dass das Vor- handensein des nicht-ästhetischen Aspekts uns vielleicht eine Idee der permanenten Krise vermitteln könnte und dass wir das als Element in den Evaluierungsprozess bei der Suche nach Qualität einbeziehen sollten.” 6. Die #MeToo-Bewegung hat die Kunstwelt stark erschüttert. In der Vorstellung schimmert immer wieder eine alternative, weibliche Kunst geschichte auf. So spielen Victor und Sarah das Künstlerduo Gentel Art, eine Hommage an Artemisia Gentileschi (1593-1652), eine italieni- sche Malerin des Frühbarocks, die erste Frau, die mit Ölfarbe malen durfte. Sie wurde von ihrem Lehrmeister Tassi vergewaltigt und später, während ihres Prozesses gegen den Vergewaltiger, wurde sie gefoltert, um die Wahrheit ihrer Anschuldigung zu prüfen. Dass ihr Schaffen aus der Vergessenheit geholt wurde, ist vor allem ein Verdienst des Feminismus. Neben ihr kommt Camille Claudel (1864-1943) im Stück vor, eine der ersten Frauen, der man erlaubte, männliche Akte zu zeichnen. Später b rachte ihr Bruder sie in ein Irrenhaus. Auch Louise
Bourgeois (1911-2010) und Marina Abramović (*1946) werden in den Gesprächen erwähnt, wobei Letztere einen Seitenhieb erhält, wenn Grace nüchtern anmerkt, „Marina Abramović hätte sich keinen Stern in den Bauch geschnitten, wenn sie ein Kind geboren hätte“. Romys Urteil über L’origine du monde (1866) von Gustave Courbet ist ebenso witzig wie vernichtend: „Courbet war ein Hahn ohne Kopf, der eine Möse ohne Kopf malte. Wie so viele Männer.“ Gleichzeitig filmt sie mit Eliks kleiner Spionagekamera ihre Vagina von innen. Da sie es selbst tut, wird es ihre eigene Geschichte: „Sieh dir das Bild an, was siehst du, wenn du nicht weißt, was es ist?… Eine abstrakte, blubbernde Masse. Aber wenn du richtig hinschaust, erkennst du darin ein Gesicht oder ein Tier, ein Rubens-Gemälde… Siehst du, meine Vagina enthält alle Bilder der Welt”. Sie fängt an, mit Eliks Penis zu spielen wie mit einem Hampelmann. Un- schuldige paradiesische Erotik jenseits der Pornographie? Sind Romy und Elik die neuen Adam und Eva? Jenseits der Qualen der Liebe? “Wol- len wir ficken?”, fragt Romy und Elik antwortet: „Solange wir nicht Liebe machen müssen, finde ich die Idee ausgezeichnet.” Wird hier das Motto des Stücks verhöhnt, der Vers aus einem düsteren und zynischen Lied von Leonard Cohen: „The naked man and woman are just a shiny arte- fact of the past”? 7. All the good endet, wo diese Betrachtungen begannen: in einem Museum, Auge in Auge mit einem der größten Gemälde des westlichen Kanons. Just a shiny artefact of the past? Oder doch nicht? Benoît steht im Prado in Madrid vor der Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden, das vermutlich zwischen 1432 und 1435 entstanden ist. Ein durch und durch christliches Werk, das einen der bewegendsten Momente der Heilsgeschichte abbildet: Christus wird vom Kreuz abge- nommen. Der Leichnam Christi als stiller Vorbote seiner Auferstehung. Ist dieser Epilog von All the good nach den vielen existenziellen und künstlerischen Zweifeln schließlich doch eine Rückkehr zu den alten Meistern? Zur Sicherheit eines über die Jahrhunderte hinweg geheilig- ten Kanons? Zur großen Erlösungsgeschichte unserer europäischen Kultur? Ist er Ausdruck der tiefen Melancholie eines alternden Künst- lers in einer Welt, die sich viel zu schnell wandelt und viel zu viel ver- gisst? Vielleicht. Warum nicht?
Lauwers betrachtet das Gemälde nicht im Hinblick auf sein religiöses Geheimnis, sondern im Hinblick auf sein künstlerisches Geheimnis. Er geht nicht vom Thema aus, sondern von der Materie: „Das sind die eigent- lichen Geschichten. Die Geschichten, die in der Materie des Bildes be- graben sind.” Was Lauwers sieht, ist nicht die künftige Auferstehung, sondern der Fall, das Leiden, die Verlorenheit des Menschen. Genau dort sieht er die Schönheit, die Dostojewski zufolge die Welt retten kann: „Sieh dir die fein aufgetragenen Tränen an. (...) Diese Tränen sind das zeitlose Leiden. Fragen der Herkunft oder Identität spielen dann keine Rolle mehr.“ Auch die Identität des Schöpfers ist bedeutungslos geworden: „Er (Rogier van der Weyden) verstand wie kein Zweiter, dass er hinter der Wahrheit zurücktreten musste. Die Wahrheit des Guten.“ Kunst – nicht als Ausdruck des eigenen Ichs, sondern als Möglichkeit, ihm zu entkommen und sich dem Appell des Rilke-Gedichts zu öffnen. Jan Lauwers sagt: „Kunst handelt nicht von der Einsamkeit des Be- trachtens, sondern von der Einsamkeit der Betrachter*innen. Einsam steht er in seiner Zeit. Kunstwerke sind nicht einsam, sie sehen das, was die Betrachter*innen übersehen haben. Was alle Lebenden und Toten übersehen haben, als sie zu schnell hinsahen. Als sie nicht allein hinzuschauen wagten, weil ‚all das Gute‘ so viel ist. All the good ist ein äußerst schwieriges Bild.“ Du musst dein Leben ändern. Erwin Jans arbeitet als Dramaturg bei Het Toneelhuis in Antwerpen.
BIOGRAPHIEN ensemble mit, das sich 1981 in das Epigonentheater zlv [zonder leiding Needcompany wurde 1986 von Jan van = dt. ohne Leitung von] um- Lauwers und Grace Ellen Barkey in wandelte. Lauwers setzte sich Anfang Brüssel gegründet. Maarten Seghers der 1980er-Jahre für einen radikalen ist seit 2001 dabei. Die Künstlerische Wandel in Flandern ein und schaffte Leitung aus Lauwers, Barkey und den internationalen Durchbruch. 2014 Seghers lässt ihre eigene Arbeit in das wurde er mit dem Goldenen Löwen Kollektiv einfließen: Theater, Tanz, der Biennale von Venedig für sein Performance, bildende Kunst, Text- Lebenswerk ausgezeichnet. arbeit. Von Beginn an war die Needcompany international, multi- Maarten Seghers gestaltet Objekte, lingual, innovativ und multidisziplinär Installationen und Performances und angelegt. Diese Diversität zeigt sich macht Musik. Neben seiner Arbeit als am deutlichsten am Ensemble, in dem Performer der Needcompany berei- durchschnittlich sieben Nationali- chert er die Produktionen mit seinen täten vertreten sind. Bei der Needcom- eigenen Kompositionen. 2006 grün- pany dreht sich alles um das künst- dete Seghers mit Jan Lauwers und der lerische Projekt, um Authentizität, Not- Musikerin Elke Janssens die OHNO wendigkeit und Bedeutung. Das COOPERATION. Gemeinsam ent- Medium selbst wird stets hinterfragt, werfen sie Performances, Videoarbei- die Qualität eines Werkes wird in ten, Installationen und Musik. Seghers’ Relation zur gewählten Form konti- Kunstverständnis entzieht sich jedwe- nuierlich überprüft. der Definition und spricht sich gegen Stigmatisierung aus. Er begreift Kunst Der Autor, Regisseur und bildende als eine Möglichkeit, einen Umgang Künstler Jan Lauwers ist durch seine mit Verwirrung und Chaos zu finden. bahnbrechende Bühnenarbeit mit der Needcompany bekannt geworden. Von Weitere Biographien finden Sie unter 2009 bis 2014 war Needcompany ruhr3.com/allthegood Artist-in-Residence am Wiener Burg- theater. 2018 inszenierte Lauwers mit L'incoronazione di Poppea bei den Salzburger Festspielen seine erste Oper. Darüber hinaus schuf Lauwers künstlerische Arbeiten, die unter anderem im Kunstzentrum BOZAR (Brüssel) und im Museum McaM (Shanghai) gezeigt wurden. Er studierte Malerei an der Kunstakade- mie Gent (KASK) und gründete Ende der 1979er-Jahre das Epigonen-
Das Feuilleton im Radio. Deutschlandfunk Kultur berichtet von der Ruhrtriennale Rang 1 Das Theatermagazin Samstag, 14.05 Uhr Kompressor Das Kulturmagazin Montag – Freitag, 14.07 Uhr Fazit Kultur vom Tage Montag – Sonntag, 23.05 Uhr bundesweit und werbefrei An Rhein und Ruhr auf UKW 96,5 DAB+, Kabel, Satellit, Online, App deutschlandfunkkultur.de
Die kulturelle Klammer des Ruhrgebiets. Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend bei der Ruhrtriennale 2019! Mehr Kultur finden Sie morgen in Ihrer Tageszeitung. Schauen Sie doch einfach mal rein. Besuchen Sie uns im Internet: funkemedien.de
TEAM DER RUHRTRIENNALE 2019 TEAM ALL THE GOOD (RT19) Intendanz: Intendantin: Stefanie Carp, Mitarbeiterin Technik der Intendantin / Sponsoring: Margo Zalite Bühne: Gerd Mikuscheit, Markus Wiemann Geschäftsführung: Geschäftsführerin: Licht: Melanie Bluhm, Robin Diehl, Anke Lindner Dr. Vera Battis-Reese, Mitarbeiterin der Geschäftsfüh- Ton: Verena Rogler rung / Sponsoring: Stefanie Kusenberg; Justitiariat: Kostüm Josephin Berger, Eva Gamble, Philip Ebert, Ute Packeiser, Julia Strauß Sarah Benscheidt, Vanessa San Román Domínguez, Maske Isabel Kowol, Alexandra Schramm Annika Trockel; Controlling: Birgit Schuurman Vorderhaus Nicole Becher, Ana Becher, Wiebke Bruns, Dramaturgie: Dr. Julia Naunin, Juliane Votteler, Johanna Flender, Janna Flöttmann, Sofia Hagemeier, Anne Mahlow, Brigitte Olbrisch, Lucie Ortmann; Mirlinda Hiseni, Caroline Königs, Zoe Luise Kuhfuss, Freie Kurator*innen: Max-Philip Aschenbrenner (Congo), Janne Lars Linder, Svenja Ney, Mona Victoria Carolin Hochleichter (Love Story), Florian Malzacher (Trai- Nordmeyer, Samuel Peter, Lara Pollmeier, Damian ning for the Future), Matthias Osterwold (Konzerte); Junge Popp, Katharina Sattler, Esther Wagner, Christina Triennale: Lina Hölscher, Vittoria Moa Lenz; Internationaler Zejewski Festivalcampus: Dr. Philipp Schulte, Carla Gesthuisen Künstlerisches Betriebsbüro: Jürgen Reitzler, Chris- tiane Biallas, Monique Collas, Lisa Katharina Holzberg, Jennifer Köhler (in Elternzeit), Hanna Kriegleder, Amelie Lopper, Karina Wozniak Marketing und Vertrieb: Franca Lohmann, Janna Ditt- meyer, Lisa Ernst, Fabio Gorchs, Richard Steinkötter, Anamaria Sumić, Kai Wycisk; Grafik: Janina Kumpies, Lennart Lofink; Ticketing: Ulrike Graf, Anja Nole, Denise Oppenberg Presse: Verena Bierl, Sarah Beer (in Elternzeit), Jelena Jakobi, Laura Mrochen Technik, Ausstattung Benjamin zur Heide, Mirko Bartoš, Ingo Fey, Marie Gäthke, Alexandra Kaiser, Georg Kolacki, Martin Mainka, Anne Prietzsch, Julia Reimann, Ioannis Siaminos, Saskia Tappe, Erik Tru- pin, Holger Vollmert, Anke Wolter, Florian Wulff Kostüm, Maske: Anna Dressendörfer, Pia Norberg, Christina Hillinger Verwaltung: Uwe Peters, Tanja Alstede, Heidi Böhmer, Fatima Derhai-Unger, Hosam Elkoulak, Elina Godowski, Dominika Hourtz, Renate Ingenwerth, Alexandra Kühn- toph, Franz-Josef Lortz, Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel, Annika Rötzel, Julia Schmidt, Michael Turrek Veranstaltungsorganisation: Claudia Klein, Eileen Berger, Sven Mesterjahn Auszubildende: Elisabeth Hölscheidt, Karina Kopocz, Lina Nole, Jacob Spitzlay, Annika Stolz Festivalteam Marketing / Ticketing: Fabian Ceska, Elodie Forget, Johanna Freytag, Sarah Geldmacher, Ivonne Höntzsch, Kevin Hörning, Marlen Hoischen, Ariane Karwotka, Amin Kassab, Kenny Kremer, David Moser, Eva Olbricht, Sophie Schäfer, Amélie Schlach- ter, Clara Schwinning, Anastasiya Stefanyuk, Merle Stickdorn, Camilla Szymanski, Grith Stiepermann, Sarah Tzscheppan, Franziska van Stephaudt, Nadescha Winking
NEEDCOMPANY OFFICE Texte: Das Gespräch mit Jan Lauwers ist ein Originalbeitrag; General manager: Johan Penson Abdruck des Briefs von Tom Assistant general manager: Rummens an Jan Lauwers (Über- Toon Geysen setzung: Christian Dawid, PANTHEA) Artistic coordination: Elke Janssens und des Beitrags von Erwin Jans Production & planning: Marjolein (Übersetzung: Rosi Wiegmann) mit Demey freundlicher Genehmigung der Press & communication: Jeroen Autoren; Sarat Maharaj zitiert von Goffings Erwin Jans nach Ria Lavrijsen: Technical director: Ken Hioco Cultural diversity in the arts. Art, art Assistant to technical director: policies and the facelift of Europa, Tijs Michiels Amsterdam: Royal Tropical Institute Archive: Monique Christiaens 1993, S. 88-90 International bookings: Koen Vanhove / Key Perfomance Redaktion: Dr. Julia Naunin, Lucie Ortmann IMPRESSUM Fotos: Phile Deprez Herausgeber: Art Direction: Casual Compositions Kultur Ruhr GmbH (Manuel Raeder, Santiago da Silva) Gerard-Mortier-Platz 1 Grafik / Satz: Janina Kumpies, 44793 Bochum Lennart Lofink (Ruhrt riennale), Simon Steinberger (Casual Compositions) Geschäftsführung: Dr. Stefanie Carp, Dr. Vera Battis-Reese Titelfoto: Romy Louise Lauwers Foto Innenteil: Jan Lauwers, Grace Ellen Barkey Druck: Rasch Druckerei und Verlag GmbH & Co. KG Stand: 14. Aug 2019 Änderungen vorbehalten Gesellschafter und öffentliche Förderer
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