Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury

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Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Das Bauhaus

        Grafische Meisterwerke
        von Klee bis Kandinsky
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Das Bauhaus

        Grafische Meisterwerke
        von Klee bis Kandinsky

                         S A N D ST E I N
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Inhalt

Wir danken unseren großzügigen Förderern:   Neues Leben                                                8
                                            Roland Krischke

                                            Ganzheitlich europäisch. Das frühe Bauhaus                10
                                            in Weimar und die Neue Europäische Graphik
                                            Benjamin Rux

                                            Die Druckerei am Staatlichen Bauhaus in Weimar –          18
                                            eine Werkstatt für das Sammeln
                                            Thomas Matuszak

                                            »Der europäische Geist« – Krisis einer transnationalen    30
                                            Avantgarde in der Grafik 1919 – 1925
                                            Toni Hildebrandt

                                            Mappe I: Meister des Staatlichen Bauhauses in Weimar      38
                                            Benjamin Rux
                                            Mappe II: Französische Künstler                           58
                                            Laura Rosengarten
                                            Mappe III: Deutsche Künstler                              68
                                            Benjamin Rux
                                            Mappe IV: Italienische und russische Künstler             88
                                            Laura Rosengarten
                                            Mappe V: Deutsche Künstler                               106
                                            Sophie Thorak

                                            Druckgrafische Mappenwerke von Bauhaus-Meistern          126
                                            im Lindenau-Museum Altenburg
                                            Lyonel Feininger: Zwölf Holzschnitte                     128
                                            Georg Muche: Ypsilon – die kleine Satire                 144
                                            auf die Weltanschauung des Materialisten N.
                                            Gerhard Marcks: Das Wielandslied der aelteren Edda       158

                                            Verzeichnis der ausgestellten Werke                      173
                                            Literatur                                                181
                                            Autoren                                                  182
                                            Bildnachweis                                             183
                                            Impressum                                                184
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Lyonel Feininger
                                                                                            Zwölf Holzschnitte, Titelblatt, 192o
                                                                                            Holzschnitt

Lyonel Feininger                                     Georg Muche
Titelblätter der Mappen I, III, IV, V, 1921 – 1923   Ypsilon, Mappendeckel, 1920 /21        Gerhard Marcks
Federlithografien                                    Pinsel in Weiß auf rosa Seidenpapier   Das Wielandslied, Titelblatt, 1923

   6                                                                                                                               7
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Neues Leben                                                       Karl Villaret in Erfurt, Bahnhofsstr. 5 a, erworben wurden           Die Ausstellung wurde von Dr. Benjamin Rux und
                                                                  und dass daran die Verwaltung für Kunstangelegenheiten           Laura Rosengarten kuratiert, die auch für die Redaktion
Ende 1951 oder Anfang 1952 erwarb der erst seit                   der Thüringer Landesregierung entscheidenden Anteil              des Katalogs verantwortlich zeichnen. Für ihre gediegenen
wenigen Monaten fest angestellte Direktor Hanns-Conon             hatte. ( Die Bezirke der DDR wurden erst im Sommer 1952          Texte danken wir Dr. Toni Hildebrandt, Dr. Thomas
von der Gabelentz (1892 – 1977) die vier unter dem Titel          geschaffen und damit die Länderstruktur de facto aufgelöst.)     Matuszak und Sophie Thorak. Für das umsichtige Lektorat
Neue Europäische Graphik erschienenen Bauhaus-Mappen              1951 /52 war der in Altenburg geborene Kunsthistoriker           gilt Martin Fruhstorfer unser Dank.
für das Lindenau-Museum. Das war eine symbolische Tat,            Erhard Frommhold (1928 – 2007) bei der Verwaltung                    Für die angenehme Zusammenarbeit und die einfühl­-
knüpfte Gabelentz damit doch fast hundert Jahre nach              für Kunstangelegenheiten tätig. Frommhold prägte später          same Gestaltung danken wir vielmals dem Sandstein Verlag
Bernhard August von Lindenaus Tod 1854 auf seine Weise            als Cheflektor des VEB Verlag der Kunst in Dresden               in Dresden.
an dessen Sammelpolitik an. Lindenau hatte sich erfolg­-          über Jahrzehnte maßgeblich die Verlagslandschaft der DDR.            Für die großzügige Förderung der Ausstellung und
reich bemüht, einen umfassenden Querschnitt der Meister-         Nach Kriegsgefangenschaft, Klempnerlehre und Studium              des umfänglichen Begleitprogramms danken wir sehr herzlich
werke abendländischer Kunst vom Altertum bis zum                 in Jena war Frommhold Anfang der 1950 er Jahre Ober­              der Thüringer Staatskanzlei, der Sparkassen-Kulturstiftung
Klassizismus zu erwerben. Er hatte Spitzenwerke wie die          referent für Bildende Kunst und Museen im Ministerium             Hessen-Thüringen und der Sparkasse Altenburger Land.
180 frühitalienischen Tafelgemälde gekauft, eine gediegene       für Volksbildung des Landes Thüringen und anschließend            Es ist vielen Freunden und Besuchern des Lindenau-Museums
Sammlung antiker Vasen zusammengetragen und ihnen                persönlicher Referent des Leiters der Thüringer Ver­wal­tung      noch viel zu wenig bewusst, dass die im 20. Jahrhundert
Kopien jener Plastiken oder Gemälde von Weltrang                 für Kunstangelegenheiten. In dieser Funktion korrespon-           begründeten »neuen Sammlungen« einen weiteren bedeuten-
an die Seite gestellt, die er nicht im Original nach Altenburg   dierte er regelmäßig mit Hanns-Conon von der Gabelentz            den Schwerpunkt des Museums neben den Lindenau’schen
hatte holen können.                                              und unterstützte ihn bei seinen Ankäufen.                         Beständen bilden. Noch sind nicht alle Werke dieser Zeit
   Gabelentz, der bereits seit November 1945 als ehren­              In einem offiziellen Schreiben an die Verwaltung für Kunst-   inventarisiert, vor allem Zehntausende Blätter der Grafischen
amtlicher Leiter der in Altenburg befindlichen Sammlungen        ­angelegenheiten, in dem es auch um Zuweisung der Mittel          Sammlung harren noch der vollständigen Erfassung.
agierte, hatte es sich zum Ziel gesetzt, dem Lindenau-Museum      für den Erwerb der Bauhaus-Mappen geht, formuliert               Die Publikation in klassischen Bestandskatalogen und im Netz
neue Impulse zu geben. Indem er gezielt eine Grafische            Hanns-Conon von der Gabelentz am 16. November 1951               zu Dokumentations- und Forschungszwecken ist ein
Sammlung aufbaute, deutsche Plastik und Malerei des               seinen Wunsch, ihm möglichst noch weitere Geldmittel             wich­tiger Bestandteil unserer Museumsarbeit. Der vorliegende
späten 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne erwarb,       zukommen zu lassen, »um die Bestände des seit 1854               Katalog ist ein kleiner, aber wesentlicher Baustein im
vor allem aber auch die zeitgenössische Kunst wertschätzte,       ohne eigentliche Leitung bestehenden Lindenau-Museums            Rahmen dieser Bemühungen.
gab er dem Museum einen weiteren Sammelschwerpunkt                […] auffüllen zu können«. Seine Begründung lautete:                  Mit der künstlerischen Zeitreise zu den Anfängen des
und weckte es damit aus dem Dorn­röschenschlaf.                   »Das Lindenau-Museum ist das einzige reine Kunst-Museum          Bauhauses tauchen wir zugleich ein in die unruhigen Jahre
   Das Staatliche Bauhaus in Weimar plante 1921 eine Reihe        Thüringens und enthält mit seinen Sammlungen Werte,              nach dem Ersten Weltkrieg, als die Thüringer Herzöge
von fünf Grafik-Mappen mit dem Titel Neue Europäische             die weit über die DDR hinaus von Bedeutung sind;                 abdankten und sich neue Staaten bildeten. Am 13. November
Graphik, die einen Querschnitt der zeitgenössischen               ihre Ergänzung in entsprechendem Umfange ist daher               1918 wurde in der Landeshauptstadt Altenburg der Frei­-
europäischen Kunst geben sollten. Alle Künstler von Rang          eine unbedingte Notwendigkeit.«                                  ­staat Sachsen-Altenburg gegründet, der am 1. Mai 1920
sollten vertreten sein. Walter Gropius und Lyonel Feininger,         Nicht nur durch strategische Ankäufe gelang es Gabelentz,      im Land Thüringen aufging. Es ist eine historische Kurio­
der Leiter der druckgrafischen Werkstatt, hatten die erste        dem Lindenau-Museum einen neuen Stellenwert zu schaffen,          sität, dass der leitende Staatsminister der bis zum 27. März
Mappe für die Bauhaus-Meister bestimmt, die dritte                auch die Bestandspflege, eine Vielzahl von Ausstellungen         1919 amtierenden Übergangsregierung ein Politiker
und fünfte Mappe waren deutschen Künstlern zugedacht,             insbesondere zur zeitgenössischen Kunst und nicht zuletzt –       namens Wilhelm Tell (1871 – 1950) war. Ob dieser gern
die zweite Mappe vornehmlich französischen Künstlern              als entscheidende Voraussetzung alles Weiteren – der Aufbau       aus Schillers Drama über seinen Namensvetter zitierte,
und die vierte Mappe Künstlern aus Italien und Russ­land.         eines funktionierenden Museumsbetriebs mit entsprechen-           ist nicht überliefert. Ein Satz des Freiherrn von Attinghausen
Die Auflage betrug pro Mappe 110 Stück (Mappe V:                  dem Mitarbeiterstamm prägten sein Direktorat.                     aus dem vierten Akt wäre immerhin angemessen gewesen:
130 Stück). Nicht alles ließ sich bis 1924 so realisieren. Die                                                                      »Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, Und neues Leben
vierte Mappe erschien mit weniger Blättern und die zweite        Die Ausstellung »Das Bauhaus – Grafische Meister­­­werke           blüht aus den Ruinen.«
Mappe kam gar nicht zustande. Dennoch war es ein                 von Klee bis Kandinsky« ist Altenburgs Beitrag zum
Pro­jekt, das in wunder­barer Weise die Ziele des Bauhauses      Bauhausjahr 2019.                                                 Altenburg, im Januar 2019
ver­körperte. Es nimmt wenig Wunder, dass die National­­           Neben allen Grafiken der vier Bauhaus-Mappen zeigen             Dr. Roland Krischke
sozialisten in ihren »Säuberungsaktionen« gezielt ganze          wir ergänzend drei weitere herausragende Produktionen             Direktor des Lindenau-Museums Altenburg
Mappen zerstörten. Nur wenige sind heute noch voll­-             der Druckwerkstatt am Staatlichen Bauhaus Weimar:
stän­­dig erhalten, und umso bemerkenswerter ist es daher,       Die Zwölf Holzschnitte von Lyonel Feininger, die zehn Holz­-
dass vier vollständige Mappenwerke wenige Jahre nach             schnitte umfassende Mappe Das Wielandslied der aelteren
dem Zweiten Weltkrieg in das Lindenau-Museum gelangten.          Edda von Gerhard Marcks und Georg Muches seltene
   Leider ist der Ankauf nicht vollständig aus den Archiv­       Radierfolge Ypsilon – die kleine Satire auf die Welt­anschauung
akten nachvollziehbar. Immerhin ist klar, dass die Mappen        des Materialisten N. Es handelt sich durchweg um Werke
für jeweils 500 Mark bei der Buch- und Kunsthandlung             aus eigenem Bestand.

  8                                                                                                                                                                                                  9
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Ganzheitlich europäisch.           Feuer des Neuanfangs

                                   Um sich das Feuer des Neuanfangs zu vergegenwärtigen,
                                                                                                     der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik
                                                                                                     und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker
                                                                                                     einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines

Das frühe Bauhaus in Weimar        das viele Künstler mit der Novemberrevolution 1918 ergriff,
                                   als es galt, nicht nur eine neue Kunst, sondern den »neuen
                                   Menschen« und eine neue Gesellschaft gleich mit zu
                                                                                                     neuen kommenden Glaubens.« 5 Der Titelholzschnitt zum
                                                                                                     Manifest von Lyonel Feininger zeigt eine Kathedrale als Bau
                                                                                                     der Zukunft, an der – wie in der mittelalterlichen Bauhütte –

und die Neue Europäische Graphik   erschaffen, lohnt sich ein Blick in die Wirkungsstätte Harry
                                   Graf Kesslers (Abb. 1).1 In Weimar, wo Kessler aus dem
                                   Geiste Friedrich Nietzsches einen Ort der internationalen
                                                                                                     viele Handwerker und Künstler unterschiedlicher Her­kunft
                                                                                                     und Klassen beteiligt sind (Abb. 2). Der Neuanfang am
                                                                                                     Bauhaus war universell. Er beruhte auf den Leitideen der
                                   Moderne errichten und damit ein Gegengewicht zur                  Ganzheitlichkeit und der Transnationalität. Beide Prinzipien
Benjamin Rux                       national definierten Kunstdoktrin unter Kaiser Wilhelm II.        kommen in der Neuen Europäischen Graphik besonders
                                   schaffen wollte,2 wurde im Vorfeld des Ersten Weltkriegs          zum Tragen.
                                   an der von Kessler gegründeten »Cranach-Presse« der Satz             Feiningers Holzschnitt Kathedrale fasst nicht nur die
                                   für 43 Holzschnitte des französischen Bildhauers Aristide         künstlerischen Disziplinen Architektur, Skulptur und Malerei –
                                   Maillol gerichtet, die eine Prachtausgabe der Eklogen             für jede Disziplin steht ein Turm – symbolisch zusammen.
                                   des römischen Dichters Vergil begleiten sollten. Diese deutsch-   Die Ana­logie geht noch viel weiter. So, wie gotische
                                   französische Zusammenarbeit wurde Ende Juli 1914                  Kathe­dralen hoch in den Himmel ragten und von weiter
                                   jäh unterbrochen, als sich Kessler in patriotischem Über­-        Ferne aus sichtbar von einem Natur, Geist und weltliche
                                   schwang zu seinem Regiment begab, um als Rittmeister in           Macht um­fassenden kosmischen Ganzen, das das Chaos
                                   Frankreich und Belgien, den Ländern seiner Freunde                beherrscht, kündeten, 6 so verstand sich auch das Bau­haus
                                   Maillol, Auguste Rodin und Henry van de Velde, zu kämpfen.        als Ort ganzheitlichen Denkens und Handelns inmitten
                                   Traumatisiert von den Kriegserlebnissen wurde der nun-            einer immer unübersichtlicher werdenden Zeit. Die Idee
                                   mehr als »Roter Graf« titulierte überzeugte Republikaner          »Bauhaus« bezog ihre Anziehungskraft vor allem aus
                                   nach der Novemberrevolution zum Motor einer umso                  dem Versuch, der in der auf Zweck und Norm gerichteten
                                   entschiedeneren transnationalen Avantgarde, die allein
                                   den Nationalismus überwinden und die Zukunft des
                                   »neuen Menschen« bauen könne. Die Arbeit an den Eklogen,
                                   in der sich Arkadien als Europa zu erkennen geben sollte,
                                   nahmen Kessler und Maillol in den 1920 er Jahren wieder
                                   auf und brachten sie 1926 als Manifest einer deutsch-­
                                   französischen Aussöhnung zum Abschluss. 3                            1
                                      Auch das am 1. April 1919 von Walter Gropius gegrün­-          Zu einer Neubewertung
                                                                                                     der Revolution und den Folgen
                                   dete Bauhaus war das Kind einer Zeit, die sich zu Höherem
                                                                                                     bis zum Hitlerputsch 1923 vgl.
                                   berufen fühlte. Das Bauhaus war die Antwort einer Avant-          Robert Gerwarth: Die größte aller
                                   garde auf den schrankenlosen Materialismus und ent­               Revolutionen. November 1918
                                   hemmten Nationalismus, die das »lange 19. Jahr­hundert«           und der Aufbruch in eine neue Zeit,
                                   beendeten und in den Ersten Weltkrieg mündeten. Es hatte          München 2018.
                                                                                                        2
                                   seine Wurzeln in der revolutionären Stimmung der Mo-
                                                                                                     Vgl. Alexandre Kostka: »Darin
                                   nate nach der Novemberrevolution, als sich Künstler               irrt Nietzsche. Der Große Stil
                                   und Intellektuelle im Geiste des Sozialismus politisierten        nicht notwendig hart.« Harry Graf        4
                                   und Visionen für eine bessere Zukunft entwarfen.4 In Berlin,      Kessler, Friedrich Nietzsche und      Zur historischen Situation
                                   dem neben Paris wichtigsten Zentrum der Avantgarde,               die Kunst in Weimar, in: Aufstieg     der europäischen Avantgarden
                                                                                                     und Fall der Moderne, Ausst.-         vor dem Hintergrund des Endes
                                   waren die frisch ins Leben gerufene »Novembergruppe«,
                                                                                                     Kat. Weimar 1999, S. 42 – 58.         des Ersten Weltkriegs vgl. Ian
                                   aber auch Herwarth Waldens Sturm-Galerie und Dada                    3                                  Kershaw: Höllensturz. Europa
                                   Träger dieser neuen Bewegung. Ebenfalls in Berlin ent­wickelte    Vgl. etwa das Exemplar im             1914 bis 1949, München 2016,
                                   Gropius seine Idee für das Bauhaus als Stätte einer               Kupferstichkabinett Berlin, 1926,     S. 237 – 254.
                                   von der Gesellschaft getragenen, allumfassenden Kunst,            32 × 23,2 × 2,2 cm. Weiterführend        5
                                                                                                     dazu Markus Kersten: Arkadien         Walter Gropius: Manifest
                                   als er Anfang 1919 noch als Vorsitzender des revolutionären
                                                                                                     oder Europa? Die Eklogen-             und Programm des Staatlichen
                                   »Arbeitsrates für Kunst« wirkte. Im Bauhaus-Manifest              Edition des Grafen Harry Kessler,     Bauhauses in Weimar, Weimar
                                   umriss Gropius seine Utopie mit den Worten: »Wollen, erden-       in: Antike und Abendland 63           im April 1919, Klassik Stiftung
                                   ken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft,          (2017), S. 169 – 194.                 Weimar, Bauhaus-Museum.

                                                                                                                                                                            11
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Dabei sahen sich vor allem Künstler als Propheten dieser
                                                             neuen schöpferischen Zeit und Ordnung, die Mensch, Natur
                                                             und Geist zusammenschloss.
                                                                Diesem ganzheitlichen Aspekt des frühen Bauhauses
                                                             steht das damit aufs Engste verbundene Konzept der Trans­-
                                                             nationalität zur Seite. War die ganzheitliche Praxis am
                                                             Bauhaus, wie sie etwa Johannes Itten in seinem berühmten
                                                             Vorkurs lieferte, eine – sinnbildlich gesprochen – vertikale
                                                             Öffnung zwischen Himmel und Erde, so kann die Trans­
                                                             nationalität auf horizontaler Achse als Ausdehnung im
                                                             Raum aufgefasst werden, die dem Bauhaus eine entschieden
                                                             europäische Identität verlieh und nach 1933 auch in                                                                                6
                                                                                                                                                                                             Die Literatur zur Architektur
                                                             Amerika und schließlich in Asien und Afrika Früchte trug.
                                                                                                                                                                                             goti­scher Kathedralen als Bedeutungs-
                                                             In Weimar lehrten neben den beiden Schweizern Johannes                                                                          ­träger ist umfangreich und
                                                             Itten und Paul Klee ein Amerikaner mit deutschen Wur­-                                                                          kontrovers. An dieser Stelle soll der
                                                             zeln (Feininger), ein Russe (Wassily Kandinsky) und ein                                                                         Hinweis genügen, dass scholastische
                                                             Ungar (László Moholy-Nagy). Nicht wenige der etwa 1250                                                                          Theologie und Philosophie wie
                                                                                                                                                                                             etwa die Summa theologiae des
                                                             Schüler (Gesamtzahl 1919 – 1933) kamen aus dem Ausland. 9
                                                                                                                                                                                             Hl. Thomas von Aquin nicht ohne
                                                             Dabei war eine europäisch vernetzte Intelligenz auch                                                                            Einfluss auf die Architektur blie­ben,
                                                             in den frühen Jahren der Weimarer Republik keine Selbst-                                                                        dazu am besten Dieter Kimpel
                                                             verständlichkeit – und Nationalismen bestimmten die                                                                             und Robert Suckale: Die gotische
                                                             Denkmuster mit. Thomas Mann gibt dafür im Zauberberg                                                                            Architektur in Frankreich 1130 –
                                                                                                                                                                                             1270, München 1985, v. a. S. 56 – 58
                                                             (1924) ein beredtes Beispiel, wo der junge Hans Castorp
                                                                                                                                                                                             und zu den politischen Voraus­
                                                             in den unheilvollen Strudel eines »clash of cultures«                                                                           setzungen S. 65 – 75. In der Romantik
                                                             zwischen dem fortschrittsgläubigen italienischen Weltbürger                                                                     verklärte sich der Blick auf die
                                                             Settembrini und dem reaktionären jüdischstämmigen Jesu­-                                                                        gotischen Kathedralen und brachte
                                                             iten Naphta gerät – und unter dem Einfluss seiner Mentoren                                                                      besonders in Deutschland den
                                                                                                                              Abb. 2
                                                                                                                                                                                             Wunsch nach einem Anbau von
                                                             in den Ersten Weltkrieg taumelt und fällt.                       Lyonel Feininger, Kathedrale, 1919
                                                                                                                                                                                             Türmen an bestehenden gotischen             10
                                                                                                                              Holzschnitt, 31 × 19,1 cm, Kunstsammlungen Chemnitz
                                                                                                                                                                                             Kirchenbauten hervor.                    Vgl. etwa Ulrike Bestgen: »Formung
                                                                                                                                                                                                7                                     ist Bewegung, ist Tat. Formung
                                                             Weimar                                                                                                                          Bergsons Werke wie Materie               ist Leben.« Paul Klee und Goethes
                                                                                                                                                                                             und Gedächtnis oder Schöpferische        Metamorphosenlehre, in: Ausst.-
                                                                                                                                                                                             Entwicklung erschienen in den            Kat. Weimar 2009, S. 275 – 279;
                                                             Die künstlerische Vision des Neuanfangs konnte nur eine              Doch das Feld in Weimar war vermint. Nationalis-
                                                                                                                                                                                             ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts      Barbara Hentschel: Kandinsky und
                                                             kosmopolitische sein. Und Weimar, die ehemalige Residenz-        tische Kräfte übernahmen die Deutungshoheit über               in deutscher Übersetzung zuerst          Goethe. Über das Geistige in der
Abb. 1
                                                             stadt, bot den geeigneten Ort dazu. Goethes gedankliche          das klassische Weimar mit seinen »Nationaldichtern« und        im Diederichs Verlag in Jena, einem      Kunst in der Tradition Goethescher
Edvard Munch, Harry Graf Kessler, 1906                       Weite, die nicht nur Kunst und Natur und das »alte Europa«       führten sie gegen die avantgardistische Moderne ins Feld. 11   Zentrum der Moderne in unmittel­-        Naturwissenschaft, Berlin 2000.
Öl auf Leinwand, 200 × 84 cm, Neue Nationalgalerie, Berlin   mit Griechenland, Italien und Frankreich einschloss,             Das offene, humanistische Menschenbild Goethes und             barer Nachbarschaft zum Bauhaus             11
                                                                                                                                                                                             Weimar.                                  Vgl. Justus H. Ulbricht:
                                                             sondern bis in den Nahen Osten, nach Asien und Amerika           Schillers hatte im geschlossenen Denken zahlreicher Kunst­-
                                                                                                                                                                                                8                                     »Wir wün­­schen hier kein München-
                                                             reichte, bot fast 90 Jahre nach dem Tod des Universalisten       kritiker und Kulturpolitiker keinen Platz. Schon lange         Zur »esoterischen« Ausrichtung           Schwabing«. Das Staatliche Bau-
Kaiserzeit verlustig gegangenen Spiritualität als mensch­-   einen noch immer lebendigen und keimfähigen Boden.               vor 1933 bekamen Vertreter der Moderne diese aus Klassiker-    des frühen Bauhauses vgl.                haus im Spannungsfeld der poli-
lichem Grundbedürfnis wieder zu ihrem Recht zu verhelfen     Das zeigen nicht zuletzt Künstler wie Feininger, Itten,          ­verehrung, Lokalpatriotismus und traditionalistischem         Ausst.-Kat. Hamm/Würzburg 2006.          tischen Kultur Weimars 1918 – 1925,
und sie gleichwertig neben andere materielle Bedürfnisse     Kandinsky und Klee, die Goethes Natur­wissenschaften am           Kunstverstand gespeiste Ablehnung alles Neuen und Un-            9                                     in: Ausst.-Kat. Weimar 1999,
                                                                                                                                                                                             Béatrice Joyeux-Prunel: Les avant-       S. 264 – 272.
zu stellen. Die am Bauhaus angestrebte Vereinigung von       Bauhaus weiterdachten und in ihrer Lehre vermittelten. 10         deutschen zu spüren. Schon als Harry Graf Kessler
                                                                                                                                                                                             gardes artistiques 1918 – 1945,             12
Kunst und Handwerk war – anders gesagt – der Versuch         Auch mit Schiller ließ sich am Bauhaus viel anfangen:             als Kunstbeauftragter des letzten Weimarer Großherzogs        Paris 2017, S. 193 – 207, hier           Antje Neumann (Hrsg.): Harry
einer Wiederannäherung von Geist und Materie, Metaphysik     Dessen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen         Wilhelm Ernst und ehrenamtlicher Direktor des Mu­seums        S. 193, nennt das Bauhaus zu Recht       Graf Kessler – Henry van de Velde.
und Physik, die die künst­­lerisch enorm anschlussfähige     wurden im Unterricht viel zitiert. Noch wichtiger war             für Kunst und Kunstgewerbe im Jahr 1903 den Belgier           »un centre international«. Zur           Der Briefwechsel, Köln / Weimar/
Lebensphilosophie Henri Bergsons, aber auch die Rationa-     Schiller jedoch als Repräsentant einer aus der Aufklärung         Henry van de Velde als zukünftigen Leiter der Kunst­          besonderen Beziehung des Bauhauses       Wien 2015. Vgl. auch die ver­-
                                                                                                                                                                                             zu Frankreich vgl. Das Bauhaus           sammelten Aufsätze in: Harry Graf
lismuskritik Wilhelm Diltheys bereits im Fin de Siècle       gewachsenen kosmopolitischen Tradi­tion, an die man –             gewerbeschule nach Weimar holte, hatte sich Wider­stand
                                                                                                                                                                                             und Frankreich. Le Bauhaus et            Kessler. Porträt eines europäischen
for­mu­liert hatten.7 Reform­pädagogik, Anthroposophie und   vor allem mit Rekurs auf seinen zentralen Begriff der Freiheit    geregt. 12 Dabei hatte dem Großherzog zunächst eine           la France 1919 – 1940, hrsg. von         Kulturvermittlers, hrsg. von
Lebensreform-Bewegung trugen ihren Teil zum Programm         – nach dem Ende des Kaiserreichs in Deutschland wieder            ambitionierte und ausgesprochen liberale Kulturvision         Isabelle Ewig, Thomas W. Gaehtgens       Julia Drost und Alexandre Kostka,
der geistig-körperlichen Erneuerung des Menschen bei.8       anknüpfen konnte.                                                 vorgeschwebt: Unter Anleitung Kesslers sollte in Weimar       und Matthias Noell, Berlin 2002.         Berlin 2015.

   12                                                                                                                                                                                                                                                                  13
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Die Druckerei am Staatlichen         Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus;
                                     das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor
                                     der Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß
                                                                                                         Der alte Herr vermutet, der Händler wolle ihm etwas
                                                                                                      verkaufen; doch er könne keine Blätter mehr erwerben,
                                                                                                      er sei froh, »wenn wir unser Stück Brot auf dem Tische

Bauhaus in Weimar – eine Werkstatt   der Drang des Sammelns in die Geister kömmt, wenn eine
                                     Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht
                                     wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird.
                                                                                                      haben. Wir können nicht mehr mittun bei den irrsinnigen
                                                                                                      Preisen […], unsereins ist ausgeschaltet für immer.«
                                                                                                      Das Missverständnis wird sogleich aufgeklärt, indem der

für das Sammeln                      Sammeln als Leidenschaft
                                                                               Adalbert Stifter       Reisende bekundet, er sei gekommen, »ihm als vieljährigem
                                                                                                      Kunden unseres Hauses und einem der größten Sammler
                                                                                                      Deutschlands meine Aufwartung zu machen«. Derart
                                                                                                      geschmeichelt, möchte der alte Connaisseur seine Schätze
Thomas Matuszak                      Der Schriftsteller Stefan Zweig (1881 – 1942), in seiner         zeigen: »das sind nicht drei oder fünf Stücke, das sind
                                     Salzburger Zeit von 1919 bis zu seiner Emigration 1934           siebenundzwanzig Mappen, jede für einen anderen Meister,
                                     selbst dem Sammeln intensiv zugetan, hat mit seiner Novelle      und keine davon halb leer.«
                                     Die unsichtbare Sammlung. Eine Episode aus der deutschen            Man verabredet sich für den frühen Nachmittag,
                                     Inflation 1 aus dem Jahr 1927 eine der anrührendsten und         nach dem Essen und der Mittagsruhe. Von der Ehefrau
                                     zugleich traurigsten Geschichten über einen erblindeten          erfährt der Antiquar den Vornamen des alten Herrn:
                                     Sammler und dessen grafische Kostbarkeiten verfasst. Sie         Herwarth – dies dürfte von Stefan Zweig als eine Anspie-
                                     sei hier zu Beginn – unter ausgiebiger Hin­zu­ziehung des        lung auf Herwarth Walden, den Gründer und Leiter
                                     Novellentextes – eingehender nacherzählt.                        der legendären Berliner Sturm-Galerie (gegründet 1912),
                                        Herr R. …, »einer der angesehensten Kunstantiquare            gemeint sein.
                                     Berlins«, steigt »zwei Stationen hinter Dresden« in einen Zug       Bevor der Kunsthändler das Haus verlässt, um im Ort
                                     und erzählt seinem Abteilnachbarn eine der sonderbarsten         zu Mittag zu essen, begleitet ihn die Tochter des Ehepaars,
                                     Episoden, die er in seiner Tätigkeit als Händler erlebt habe.    Annemarie, zur Tür und gesteht ihm dort die Wahrheit:
                                     Er hatte sich in die Provinz aufgemacht, »um einstige Kun­-      »Vater ist nach dem Ausbruch des Krieges vollkommen
                                     den aufzustöbern, denen ich vielleicht ein paar Dubletten        erblindet. Schon vorher war seine Sehkraft öfters gestört,
                                     wieder abluchsen könnte«. Bei der Durchsicht der Geschäfts­      die Aufregung hat ihn dann gänzlich des Lichtes beraubt
                                     post und der alten Kundenliste »stieß ich plötzlich auf          […].« Unter Verweis auf die Krisensituation nach dem
                                     ein ganzes Bündel Briefe von unserem wohl ältesten Kunden,       Krieg und die grassierende Inflation bekennt sie aufgeregt:
                                     der mir nur darum aus dem Gedächtnis gekommen war,               »[...] Vater versteht nichts mehr von den Preisen und
                                     weil er seit Anbruch des Weltkrieges, seit 1914, sich nie mehr   von der Zeit … er weiß nicht, daß wir alles verloren haben
                                     mit irgendeiner Bestellung oder Anfrage an uns gewandt           und daß man von seiner Pension nicht mehr zwei Tage
                                     hatte«. Er stellt sich ihn als sonderbaren, alt­väte­rischen,    im Monat leben kann …«. In dieser Not entschieden sich
                                     skurrilen Sonderling vor, den »als Sammler alter Graphiken       Mutter und Tochter, Blätter aus der Grafiksammlung
                                     eine ganz ungewöhnliche Klugheit, vor­zügliche Kenntnis          zu verkaufen: »[...] wir hofften, damit auf Jahre versorgt
                                     und feinsten Geschmack« auszeichnet. Folglich begibt sich        zu sein. Aber Sie wissen ja, wie das Geld einschmilzt […],
                                     der Berliner Händler »in eine der unmöglichsten Provinz-         und der Händler sandte das Geld immer so spät, daß es
                                     städte, die es in Sachsen gibt«, um jenen Herren aufzusuchen,    schon entwertet war. […] So ist allmählich das Beste seiner
                                     in dessen Besitz sich »die herr­­lichsten Blätter Rembrandts     Sammlung […] weggewandert, nur um das nackte, kärg-
                                     neben Stichen Dürers und Mantegnas in tadelloser Voll­­          lichste Leben zu fristen, und Vater ahnt nichts davon.«
                                     ständigkeit« befinden. Er macht im Ort die Adresse des
                                     Sammlers ausfindig und begibt sich auf den Weg; schließlich
                                     wird ihm die Wohnungstür von der Ehe­­frau des Grafik­
                                     liebhabers geöffnet und er wird ihm vor­gestellt: »ein alter,
                                     aber noch markiger Mann, mit buschigem Schnurrbart
                                     in verschnürtem, halb militärischem Hausrock«, der ihn
                                     herz­lich begrüßt. Jedoch: »Er kam mir nicht einen Schritt                                         1
                                     entgegen, und ich mußte […] bis an ihn heran, um seine                                          Stefan Zweig: Die unsichtbare
                                                                                                                                     Sammlung. Erzählungen,
                                     Hand zu fassen. Doch als ich sie fassen wollte, merkte ich
                                                                                                                                     Berlin 2016, S. 7 – 22. Um der
                                     an der waagerecht unbeweglichen Haltung dieser Hände,                                           besseren Lesbarkeit willen wird
                                     daß sie die meinen nicht suchten, sondern erwarteten. Im                                        im Folgenden auf den Nachweis
                                     nächsten Augenblick wußte ich alles: Dieser Mann war blind.«                                    der einzelnen Zitate verzichtet.

                                                                                                                                                                      19
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Um diesen Verlust nicht offenkundig werden zu lassen,      Druckgrafik am Bauhaus                                          von Graphik und der Druck von Mappenwerken und illus­-            Durch einen stetigen Anreiz, durch immer wiederholtes
verfallen Mutter und Tochter auf eine List: Sie haben                                                                          trierten Büchern verbreiteten sich wie eine Epidemie. Der         Darbieten soll Verständnis und Liebe zur Kunst wachsen.
dem betagten Kunstkenner »nämlich in die alten Passe­          Dieser »reinen Begeisterung« stand eine soziale Wirklich-       Anwalt Heinrich Stinnes, der über seinen Kunsthändler ein         Durch eine sehr vielseitige Auswahl soll Duldsamkeit
partouts, deren jedes er beim Anfühlen kennt, Nachdrucke       keit gegenüber, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs         Abonnement auf jedes erste Exemplar eines in Deutschland          gegen das Andere, gegen das noch nicht Verstandene er-
oder ähnliche Blätter statt der verkauften eingelegt, sodaß    in Deutschland durch Arbeitslosigkeit, Kriegsversehrte,         vervielfältigten Blattes eingegangen war, brachte so inner-       reicht werden.« 5
er nichts merkt, wenn er sie antastet. Und wenn er sie         Inflation, Hunger, Krankheit, Tod – allein die Pandemie         halb weniger Jahre eine Sammlung von über hunderttausend             Das Sammeln in diesem Sinne ist verstanden als Aus-
nur antasten und nachzählen kann (er hat die Reihenfolge       der Spanischen Grippe forderte in den Jahren 1918               Blatt Original­graphik zusammen.« 3                               druck eines enzyklopädischen Denkens im Sinne der
genau in Erinnerung), so hat er genau dieselbe Freude,         bis 1920 weltweit mindestens 25 Millionen Todesopfer 2 –,          In den Jahren 1919 bis 1923 erfuhr die Herausgabe              Aufklärung – nicht unbedingt auf Vollständigkeit angelegt,
wie wenn er sie früher mit seinen offenen Augen sah.«          Straßenkämpfe sowie politische Morde bestimmt war.              von druckgrafischen Editionen – Einzelblätter, Mappenwerke        vielmehr begriffen als eine Möglichkeit, das eigene Kunst-
    Abschließend bittet Annemarie den Gast: »[…] zerstören     Die deutsche Wirtschaft sah sich durch Reparationsleistungen,   sowie bibliophil gestaltete Bücher mit Originalgrafiken –         verständnis im Akt des Sehens zu schulen, zu steigern.
Sie ihm nicht diese letzte Illusion, helfen Sie uns, ihn       Produktionsverluste und Kriegstote mit erheblichen              einen quantitativen Höhepunkt. Dies ist implizit auch am          Damit verbunden ist letztlich ein ethischer Anspruch,
glauben zu machen, daß alle diese Blätter […] noch vor­-       Schwierigkeiten konfrontiert – nach einem globalen Krieg,       Beispiel der Grafischen Sammlung des Lindenau-Museums             durch das Sammeln schöpferischer, vervielfältigter Arbeiten
handen sind … er würde es nicht überleben, wenn er es          in dem rund 17 Millionen Menschen (10 Millionen Sol­­daten      abzulesen; das Museum konnte in den Jahren 1994 /95               den Kosmos des Wissens einem individuellen Urteil zu­
nur mutmaßte.«                                                 und etwa 7 Millionen Zivilisten) ihr Leben verloren hatten.     mit dem Ankauf der Sammlung Hoh, seinen ursprünglichen            gänglich zu machen. Damit berühren wir die Aspekte der
    Am frühen Nachmittag kehrt der Antiquar zurück und            Trotz oder vielleicht auch wegen dieser gesellschaft-        Bestand aus dieser Zeit erheblich erweitern: Der Anteil           Wissenschaft wie (auch) des Sammelns. Gotthold Ephraim
die beiden – Sammler und Händler – nehmen Blatt für Blatt      lichen Bedingungen und Gefährdungen setzte nach der             der Mappenwerke an den insgesamt in jenen Jahren                  Lessing folgerte in seiner unverkennbar zeitverhafteten,
die Kollektion in Augenschein: »Und nun entnahm er             Novemberrevolution und mit Beginn der Weimarer Republik         erfassten Veröffentlichungen (Stand: 2000) umfasst: 1919:         1766 publizierten Schrift Laokoon oder über die Grenzen
mit jener zärtlichen Vorsicht, wie man sonst etwas Zerbrech­   eine regelrechte Grafikwelle ein. Friedemann Berger             23 Map­pen; 1920: 35 Mappen; 1921: 33 Mappen;                     der Malerei und Poesie: »[…] denn der Endzweck der
liches berührt, mit ganz behutsam anfassenden schonenden       ver­wendete in seinem einleitenden Kommentar zu der             1922: 28 Mappen; 1923: 27 Mappen. 4 Es bleibt ein auf­-           Wissenschaften ist Wahrheit. Wahrheit ist der Seele not-
Fingerspitzen der Mappe ein Passepartout, in dem ein leeres    von Paul Westheim im Weimarer Gustav Kiepenheuer Verlag         schluss­reicher Sach­verhalt, dass in den wenigen Jahren          wendig; und es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses
vergilbtes Papierblatt eingerahmt lag, und hielt den wert­     herausgegebenen Zeitschrift in Mappenform mit Original­         der wirt­­schaftlichen Konsolidierung in Deutschland              wesentlichen Bedürfnisses den geringsten Zwang anzutun.
losen Wisch begeistert vor sich hin.«                          grafiken Die Schaf­­fenden den in diesem Kontext un­            Mitte der 1920 er Jahre die Herstellung und Verbreitung           Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen; und
    Zwei Stunden lang vertiefen sie ihre schauenden Blicke     gewohnten Begriff »Epidemie« (Abb. 1): »Die Beschäf­tigung      von originalgrafischen Mappenwerken spürbar zurückging.           das Vergnügen ist entbehrlich.«6
in »die unsichtbare Sammlung, die längst in alle Winde         mit der Gegenwartskunst und vor allem das Sam­meln              Mit expressionistischem Pathos ließe sich postulieren:
zerstreut sein mußte, sie war für […] diesen rührend betro-                                                                    Not schreit nach Kunst! ( Nicht unerwähnt darf in diesem
­genen Menschen noch unverstellt da […].«                                                                                      Zusammenhang bleiben, dass viele der Pressen und Verlage
    Am Ende, bevor der Händler wieder zu seiner Rück­reise                                                                     eine lediglich kurze Daseinsdauer erlebten; Geld- und
 aufbricht, entscheidet sich der alte Kunstkenner, seinen                                                                      Papiermangel sowie häufig wechseln­de Herausgeber waren
                                                                                                                                                                                                                                   2
 testamentarischen Verfügungen noch eine Klausel hinzu­                                                                        ständige Begleiterscheinungen. Außerdem gibt es kaum                                             Andere Schätzungen geben noch
 zufügen, nach der seine Sammlung im Hause des Antiquars                                                                       verlässliche Auskünfte darüber, wie viele Auflagen tatsäch-                                      höhere Todeszahlen an.
 zur Auktion kommen soll: »Versprechen Sie mir nur,                                                                            lich komplett verkauft werden konnten.) Es folgte noch                                              3
 einen schönen Katalog zu machen: Er soll mein Grabstein                                                                       einmal ein weniger qualitativ denn quan­­ti­­tativer Anstieg                                     Friedemann Berger: Einführung,
                                                                                                                                                                                                                                in: Die Schaffenden. Eine Auswahl
 sein, ich brauche keinen besseren.« Die beiden Herren                                                                         der Mappeneditionen im Zuge der Welt­wirtschafts­krise
                                                                                                                                                                                                                                der Jahrgänge I bis III und Katalog
 ver­abschieden sich, der alte Sammler winkt dem Händler                                                                       gegen Ende des Jahrzehnts, ehe mit der tota­litären Macht­                                       des Mappenwerkes, Leipzig und
 noch freudig aus dem Fenster nach.                                                                                            übernahme der National­sozialisten diesen verlegerischen                                         Weimar 1984, S. 5 – 33, hier S. 26.
    Seinem Gegenüber im Eisenbahnabteil bekennt der Rei­-                                                                      Unternehmungen ein Ende gesetzt wurde.                                                              4
 sende aus Berlin: »Da war ich wie der Engel des Märchens                                                                         Dem Sammeln von Druckgrafik – mithin von verviel­-                                            Vgl. Matuszak 2000, S. 13
                                                                                                                                                                                                                                (dort Anm. 17).
 in eine Armeleutestube getreten, hatte einen Blinden sehend                                                                   fäl­tigter Kunst – wohnt ein egalitärer Aspekt inne: Sie ist im
                                                                                                                                                                                                                                   5
 gemacht für eine Stunde nur dadurch, daß ich einem                                                                            Vergleich zu Gemälden oder Handzeichnungen in der Regel                                          Harald Rüggeberg: Johannes
 frommen Betrug Helferdienst bot und unverschämt log […].                                                                      erschwinglich. Verwiesen sei in diesem Kontext auf die                                           Böse über die Griffelkunst –
 Was ich aber mitnahm, war mehr: Ich hatte wieder einmal                                                                       Griffelkunst-Vereinigung Hamburg e. V., die – gegründet 1925                                     heute gelesen, in: Verzeichnis
 reine Begeisterung lebendig spüren dürfen in dumpfer,                                                                         im Geiste Alfred Lichtwarks durch Johannes Böse – druck-                                         der Editionen 1976 – 2000, Bd. 1
                                                                                                                                                                                                                                1976 – 1988, hrsg. von der
 freudloser Zeit, eine Art geistig durchleuchteter, ganz auf                                                                   grafische Blätter und Editionen bis heute ihren Mitgliedern
                                                                                                                                                                                                                                Griffelkunst-Vereinigung Hamburg
 die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menschen                                                                          zu einem günstigen jährlichen Preis anbietet – allerdings                                        e. V., Hamburg 2002, S. 9 – 11,
 längst verlernt zu haben scheinen.«                                                                                           mit dem Nachteil, dass die Auflagen­höhe der signierten oder                                     hier S. 10.
                                                                                                                               aber posthum autorisierten Arbeiten nicht angegeben wird.                                           6
                                                                                                                               Im Grundsatz ist die Vereinigung der expressionistischen                                         Gotthold Ephraim Lessing:
                                                                                                                                                                                                                                Laokoon oder über die Grenzen
                                                                                                                               Idee des »neuen Menschen« verpflichtet. Johannes Böse formu­-
                                                                                                                                                                                                                                der Malerei und Poesie. Mit
                                                               Abb. 1
                                                                                                                               lierte das Ziel des Wirkens so: »Die Arbeit der Griffelkunst                                     beiläufigen Erläuterungen ver­-
                                                               Die Schaffenden. Eine Zeitschrift in Mappenform,                ist eine psychologisch-pädagogische. Es gilt die Erziehung                                       schiedener Punkte der alten Kunst­-
                                                               4. Mappe, 2. Jahrgang 1920                                      zur Kunst und durch Kunst zu einem edleren Menschtum.                                            geschichte, Stuttgart 1994, S. 15.

  20                                                                                                                                                                                                                                                              21
Das Bauhaus Grafische Meisterwerke von Klee bis Kandinsky - Lesejury
Abb. 2                                                             Abb. 3                                                       Abb. 4
Walter Gropius, 1919                                               Lyonel Feininger, 1928                                       Gebäude der Kunsthochschule Weimar, um 1911

Die Druckwerkstatt am Bauhaus                                      im Frühjahr 1919 den Holzschnitt Kathedrale schuf –          Max Thedy (1858 – 1924) sowie der Bildhauer Richard
                                                                   gleichsam als architektonisches Symbol für die Einheit       Engelmann (1868 – 1966 ), verließen das Bauhaus; ihnen
Der Architekt Walter Gropius (1883 – 1969) hatte als               aller Künste in den mittelalterlichen Bauhütten.             folgte wenig später auch Walther Klemm. Die Posi­tionen
Grün­der mit dem Programm des Staatlichen Bauhauses zu             Darüber hinaus ist das Werk als aufstrebendes Sinnbild       von Klemm und Engelmann wurden daraufhin mit
                                                                                                                                                                                                 7
Weimar vom April 1919 etwas gänzlich Anderes im Sinn               für die zu gestal­tende Zukunft zu verstehen (Abb. S. 13).   Paul Klee und Oskar Schlemmer neu besetzt. Seit April
                                                                                                                                                                                              Zit. nach Weber 1999, S. 11.
(Abb. 2). Der erste Satz des Manifests lautet kategorisch:            Feininger übernahm die künstlerische Leitung der          1921 gab es in Weimar zwei eigenständige Institutionen        Der vorzüglich recherchierte
»Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau«, um        Drucke­­rei am Bauhaus; im Herbst 1919 wurde ihm mit         unter einem Dach: das Staatliche Bauhaus sowie die erneut     Text von Klaus Weber bildet die
sodann zweckdienlich zu fordern: »Architekten, Bildhauer,          Carl Zaubitzer ein anerkannter und unermüdlich tätiger       installierte Staatliche Hochschule für Bildende Kunst,        Grundlage des hier vorgelegten
Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück.« 7                     Handwerksmeister als Werkstattleiter an die Seite gestellt   diese wiede­rum mit einem akademisch ausgerichteten           Beitrags. Webers Untersuchung
                                                                                                                                                                                              wiederum basiert auf der frühen
   In dieser Aufzählung fehlen – die Grafiker, allen voran         (Abb. 5): »Die künstlerische Ausbildung war streng           Lehrbetrieb (Abb. 4). 9
                                                                                                                                                                                              Publikation von Hans Maria
die Druckgrafiker! Auch wenn die druckgrafische Werkstatt          an die handwerkliche gebunden; in der Weimarer Zeit             Die Druckwerkstatt des Bauhauses war für die Ver­fahren    Wingler – einem Referenzwerk
eigentlich nicht in das Konzept des Staatlichen Bauhauses,         unterstanden die Werkstätten […] jeweils einem ›Meister      des Hoch-, Tief- und Flachdrucks aus- und eingerichtet.       zum Thema: Wingler 1965. Vgl.
das dem Primat der Architektur und der funktionalen Einheit        der Form‹ und einem ›Meister des Handwerks‹ zugleich,        Für den Druckbetrieb standen dafür drei Handpressen zur       ferner zum Thema: Elisabeth
von Kunst und Form verpflichtet war, passte, so war                und die Studierenden waren verpflichtet, sich nach           Verfügung, wie auf einem Foto der Werkstatträume              Reissinger, Brigitte Reuter,
                                                                                                                                                                                              Michael Siebenbrodt: Druckerei-
die Abteilung Druckgrafik von Anfang an in der Institution         den Regeln des Handwerks einer Gesellen- und Meister­-       aus dem Jahr 1923 zu sehen ist (Abb. 6 ). Untergebracht
                                                                                                                                                                                              werkstatt, in: Bauhaus Weimar.
gegenwärtig. Nach der Zusammenlegung der ehemaligen                prüfung zu unterziehn.« 8                                    war die Druckwerkstatt in drei Räumen der ehemaligen          Entwürfe für die Zukunft,
Weimarer Kunstgewerbeschule unter Henry van de Velde                  Der Grafiker Walther Klemm (1883 – 1957) war seit         Kunstschulgebäude von Henry van de Velde; später kamen        hrsg. von Michael Siebenbrodt,
(1863 – 1957) mit der Hochschule für Bildende Kunst berief         1913 Leiter der Hochschule für Bildende Kunst in Weimar;     ein weiterer Arbeitsraum, eine neue Presse sowie diverse      Ostfildern-Ruit 2000, S. 210 – 227.
Walter Gropius mit Lyonel Feininger (1871 – 1956) als              ab April 1919 gehörte er als Meister dem Lehrkörper          Werkzeuge für die Tätigkeiten des Druckens hinzu. 10             8
                                                                                                                                                                                              Wingler 1965, S. 10.
ersten neuen Lehrer der Institution einen Künstler, der sich       des Bauhauses an. In der Folgezeit kam es zu Diffe­-            Die verantwortlichen Leiter und Mitarbeiter der Drucke­-
                                                                                                                                                                                                 9
dem Verfahren des Hochdrucks, namentlich der Holzschnitt-­         renzen in der Frage der künstlerischen Ausrichtung sowie     rei fanden bei der Aufnahme ihrer Arbeit ein für die          Vgl. Weber 1999, S. 15.
technik, mit großer Leidenschaft widmete (Abb. 3).                 der Stellung im gesellschaftlichen Prozess. Die inhaltlich   Zeit­umstände erstaunlich reichhaltiges Papierlager vor –        10
Feininger war es, der für das Titelblatt des Bauhaus-Mani­fes­ts   konser­vativ eingestellten Lehrer, der Maler und Grafiker    darunter getönte Kartons, Kupferdruck- und Büttenpapiere      Ebd., S. 12.

  22                                                                                                                                                                                                                         23
Mappe I            Meister des Staatlichen Bauhauses in Weimar

                   Die erste Mappe der Neuen Europäischen Graphik ver­
                                                                                   Formen. Um den Grad der Abstraktion seines von ihm
                                                                                   selbst als »Prismaismus« bezeichneten Malstils weiter
                                                                                   zu erhöhen, kam ihm der Holzschnitt mit seinen flächigen
                   sammelt je zwei Arbeiten der Meister, die im Herbst 1921,       und line­aren Qualitäten entgegen. Der Holzschnitt eröffnete
Lyonel Feininger   als Walter Gropius das Projekt initiierte, am Bauhaus           Feininger auch Möglichkeiten, mystische und pantheistische
Johannes Itten     lehrten. Wassily Kandinsky, der erst im Sommer 1922 nach        Sinn­gehalte in der kristallinen Bildstruktur zu transpor­
Paul Klee          Weimar kam, ist deshalb nicht hier, sondern in der vierten      tieren. Dies wird besonders im Motiv der Kathedrale greifbar,
Gerhard Marcks     Mappe vertreten. Die Mappe bot den Bauhaus-Meistern             dem Titelblatt für das Manifest und Programm des Staat­-
Georg Muche        die Mög­lichkeit, als Gruppe vor ein breites, internationales   lichen Bauhauses in Weimar aus dem Jahr 1919 (Abb. S. 13).
Oskar Schlemmer    Pub­likum zu treten und für die Idee des Bauhauses zu           Auch im Holzschnitt Villa am Strand, der auf einige Zeich­-
Lothar Schreyer    werben. Obwohl streng genommen nur Lyonel Feininger             nungen am Ostseebad Heringsdorf mit der Villa Oppenheim
                   ein leidenschaftlicher Druckgrafiker war, schlossen sich        zurückgeht, 4 ist ein klassisch aufgefasster Bau mit voran­
                   alle sieben Meister dem Anliegen an. Für Paul Klee standen      gestellten Säulen in eine prismatisch gebrochene Land­-
                   Malerei und Handzeichnung über der »reproduzierenden            schaft eingewoben. Das vom Menschen errichtete Bauwerk
                   Graphik« 1, während Gerhard Marcks den Holzschnitt              geht mittels der nach allen Seiten hin fluchtenden Linien
                   erst am Bauhaus für sich entdeckte. Johannes Itten, Georg       eine Synthese mit Natur und Kosmos ein.
                   Muche, Oskar Schlemmer und Lothar Schreyer schufen
                   jeweils nur ein schmales druckgrafisches Œuvre. Vielleicht
                   besteht der Reiz dieser Mappe aber gerade in diesem
                   Moment des Anfangs und dem offenen, experimentellen
                   Umgang mit einem Medium, das für die Mehrzahl der
                   Bauhaus-Meister noch zu entdecken war und produktiv mit
                   den Errungenschaften auf anderen künstlerischen Gebieten
                   wie der Zeichnung (Klee), der Plastik (Marcks) und der
                   Bühne (Schlemmer, Schreyer) verknüpft wurde.
                      Die Gesamtleitung des Mappenprojekts lag hier wie bei                                           1
                   allen anderen Mappen in den Händen von Feininger.                                               Paul Klee in einem Brief
                                                                                                                   an Emmy Galka Scheyer vom
                   Als künstlerischer Leiter der Druckerei gestaltete er außer­
                                                                                                                   5. Dezember 1934, zit. nach
                   dem für alle Mappen der Reihe Druckvermerk, Titelblatt,                                         Weber 1999, S. 87.
                   Inhaltsverzeichnis und Impressum in einer expressiven                                              2
                   Versalienschrift. Feininger schuf auch den Holzstock für                                        Der erste Holzschnitt entstand
                   das Überzugspapier der Halbpergamentmappen (Nr. 11 – 110).                                      1918, vgl. Lyonel Feininger. Das
                                                                                                                   graphische Werk. Radierungen,
                   Die Vorzugsausgaben (Nr. 1 – 10, darunter die im Besitz
                                                                                                                   Lithographien, Holzschnitte,
                   des Lindenau-Museums Altenburg) waren Ganzpergament­                                            hrsg. von Leona E. Prasse, Berlin
                   mappen. Die Arbeiten in dieser Vorzugsversion wurden                                            1972 und Björn Egging: Auf
                   auf Japanpapier handgedruckt. Die Grafiken sind nach                                            dem Weg zum Bauhaus-Künstler.
                   Künstlernamen alphabetisch sortiert. Sie führen die schöp-                                      Zu den Holzschnitten Lyonel
                                                                                                                   Feiningers und ihrer Bedeutung
                   ferische Vielfalt der künstlerischen Positionen vor Augen,
                                                                                                                   als künstlerische Impulsgeber,
                   wobei auffällt, dass rational-konstruktivistische Beiträge                                      in: Ausst.-Kat. Quedlinburg 2013,
                   in den Anfangsjahren des Bauhauses keineswegs über­-                                            S. 24 – 36.
                   wiegen, sondern Arbeiten, die der Intuition, dem Mystischen                                        3
                   oder gar der Esoterik ein weites Feld einräumen, in der                                         Zit. nach Egging 2013,
                                                                                                                   wie Anm. 2, S. 27.
                   Überzahl sind.
                                                                                                                      4
                      Lyonel Feininger (1871 – 1956) schuf einen Großteil                                          WVZ Prasse W 226. Feininger
                   seines 320 Ar­bei­­ten umfassenden Holzschnitzwerks in den                                      hielt sich seit 1908 wiederholt in
                   Jahren 1918 bis 1920.2 Seine Berufung an das Bauhaus                                            Heringsdorf auf, wo Skizzen
                   durch Gropius im April 1919 fällt genau in jene Zeit, als er                                    entstanden, vgl. Villa am Strande.
                                                                                                                   Heringsdorf, 1912, Bleistift,
                   »wie ein Rasender« 3 täglich Druckstöcke schnitt. Seit er
                                                                                                                   16,5 × 20,1 cm, Moeller Fine Art,
                   1911 bei einer Ausstellungsbeteiligung in Paris den                                             New York. Bereits 1918 entstanden
                   Kubismus kennengelernt hatte, experimentierte Feininger                                         Holzschnitte mit dem gleichen
                   in seinen Ge­mälden mit geometrischen und prismatischen                                         Motiv (WVZ Prasse W 2 u. 80).

                                                                                                                                                    39
Lyonel Feininger        Lyonel Feininger
Villa am Strand, 1920   Spaziergänger, 1918
Holzschnitt             Holzschnitt

   44                                         45
Johannes Itten
Spruch, 1921                                   Johannes Itten
Pinsel- und Federlithografie in fünf Farben,   Haus des weißen Mannes, 1920 / 22
Spritztechnik, schabloniert                    Pinsel- und Kreidelithografie, gekratzt

   46                                                                                    47
Mappe III               Deutsche Künstler

                        Da die Produktion der zweiten Mappe kaum voran­-
                                                                                             Der Holzschnitt Heinrich Campendonks (1889 – 1957)
                                                                                         zeigt einen weiblichen Akt vor einem Bauernhaus auf
                                                                                         einer Wiese. 7 Rechts ist ein Rind, links die perspektivisch
                        schritt, entschloss man sich am Bauhaus dazu, die Heraus-        deut­lich kleiner dargestellte Figur des Bauern zu erken-
Rudolf Bauer            gabe der dritten Mappe vorzuziehen. Sie erschien 1922            ­nen. Eine schwere schwarze Sonne senkt sich über die abend­-
Willi Baumeister        mit den planmäßig für sie vorgesehenen 14 Blät­tern               liche Szenerie. Der helle, von einer breiten Linie streng
Heinrich Campendonk     vornehmlich deutscher Künstler. 1 Bei Heinrich Campen-            konturierte Akt steht im markanten Gegensatz zu den dunk-
Walter Dexel            donk, August Macke und Franz Marc handelt es sich                 len Flächen und Figuren, die ihn umgeben. Der Ein­druck
Oskar Fischer           um Schlüssel­figuren des deutschen Expressionismus. Die           einer Idylle will sich trotz des bäuerlichen Ambientes
Jacoba van Heemskerck   Arbeiten von Macke und Marc wurden aus dem Nachlass               durch die Ambivalenz des Schwarz-Weiß und die rätselhafte
Bernhard Hoetger        in die Mappe aufgenommen. Die meisten Künstler                    Symbolik der Akteure nicht einstellen. Campendonk war
August Macke            der dritten Mappe lernten sich im Umfeld von Herwarth             Mitglied der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«, beteiligte
Franz Marc              Waldens Sturm-Galerie kennen und galten als Vorreiter             sich 1913 am »Ersten Deutschen Herbst­salon« in Berlin
Johannes Molzahn        einer »neuen Kunst«. Waldens Galerie war seit dem »Ersten         und prägte den Rheinischen Expressionismus.
Kurt Schwitters         Deutschen Herbstsalon« von 1913 eine der wichtigsten
Fritz Stuckenberg       Plattformen nicht nur der deutschen, sondern der euro­
Arnold Topp             päischen Avantgarde, denn auch Künstler aus Frank­reich,
William Wauer           Italien, Russland und anderen Nationen stellten hier
                        aus.2 Das Ausstellungsprogramm der Sturm-Galerie, aber
                        auch die regelmäßig in der revolutionären Zeitschrift
                        Der Sturm auftretenden Künstler boten Gropius den ge-
                        eigneten Orientierungsrahmen für die Auswahl der Künstler
                        der Bauhaus-Mappen. Zudem stellten alle Meister des
                        Bauhauses regelmäßig bei Walden aus. Mit Georg Muche,
                        der zuvor an Waldens Kunstschule lehrte, und Lothar
                        Schreyer, dem Leiter der Sturmbühne, kamen zwei Künstler
                        aus dem engsten Kreis des Sturm nach Weimar. 3                                                            3
                                                                                                                               Vgl. auch Weber 1999, S. 27.
                           Rudolf Bauer (1889 – 1953) gehörte zum Kreis jener
                                                                                                                                  4
                        Künstler, die mit Waldens Sturm-Galerie in Berlin groß ge-                                             Vgl. Rudolf Bauer 1889 – 1953,
                        worden sind. 4 Schon 1917 präsentierte Walden in einer                                                 Ausst.-Kat. Museum Moderner
                        Einzelausstellung über 100 Werke des Künstlers, die                                                    Kunst Wien und Staatliche Kunst­-
                        eine enge Auseinandersetzung mit Kandinsky und der kon­-                                               halle Berlin, hrsg. von Susanne
                                                                                                                               Neuburger, Wien 1985.
                        struktiven Seite des Expressionismus verraten. Bauer
                                                                                                                                  5
                        zeich­nete auch für die Zeitschrift Der Sturm und lehrte                                               Zu Baumeister als Druckgrafiker
                        an Waldens Kunstschule. Mit seiner Lithografie Bantama                                                 und Zeichner vgl. Willi Baumeister.
                        schuf Bauer ein Gewebe aus Linien und Schraf­furen,                                                    Der Zeichner, Ausst.- Kat.
                        die auf dem Papier dynamische Kräfte entfalten. Von einem                                              Kupfer­stichkabinett Berlin, hrsg.
                                                                                                                               von Andreas Schalhorn, Köln 2017.
                        Kraft­­zentrum in der unteren Bildmitte schie­ßen die Formen
                                                                                                                                  6
                        wie nach einer Explosion auseinander.                                                                  Willi Baumeister: Das graphische
                           Der in Stuttgart geborene Willi Baumeister (1889 – 1955)         1                                  Werk, hrsg. von Heinz Spielmann,
                        erhielt seine künstlerische Prägung unter anderem auf            Eine Ausnahme bildet die              Hamburg 1972 (WVZ 75).
                        mehreren Reisen nach Paris. 5 Als er im Jahr 1914 gemein-        nieder­ländische Künstlerin Jacoba       7
                                                                                         van Heemskerck.                       Vgl. Heinrich Campendonk:
                        sam mit Schlemmer in der französischen Hauptstadt war,
                                                                                            2                                  Das Graphische Werk, hrsg. von
                        stu­­­dierte er die Bildwelten Paul Cézannes und der Kubisten,   Zur Transnationalität des Sturm-      Mathias T. Engels, neu bearbeitet
                        die sein Werk bis in die späten 1920 er Jahre beeinflussen       Kreises vgl. Anita Beloubek-Hammer:   von Gerhart Söhn, Düsseldorf
                        sollten. Die Lithografie Visieren ( Sitzende Figur) bezieht –    Der Sturm – Schauplatz der            1996, S. 70 (WVZ 51). Campendonk
                        ähnlich wie in den Lithografien Schlemmers der ersten Mappe      europäischen Avant­garde im zeit­-    offenbart mit den immer wieder­
                                                                                         genössischen Umfeld, zum 100.         kehrenden Tiermotiven in seinen
                        – geo­metrische Formen in die Konstruktion eines mensch­
                                                                                         Jubi­läum der von Herwarth Walden     Holz­schnitten eine Nähe zu Franz
                        lichen Körpers ein, der dadurch maschinen­hafte Züge             gegründeten Berliner Kunstgalerie,    Marc. Unser Holzschnitt hat mit
                        annimmt.6                                                        in: Jahrbuch der Berliner Museen 54   WVZ 37 (Weiblicher Akt mit Ziege
                                                                                         (2012), S. 103 – 127.                 vor einem Haus) einen Vorläufer.

                                                                                                                                                              69
Rudolf Bauer
Bantama, um 1921                         Willi Baumeister
Kreide-, Pinsel- und Federlithografie,   Visieren (Sitzende Figur), 1921 / 22
Spritztechnik, Materialdruck             Pinsel- und Federlithografie

   74                                                                           75
Heinrich Campendonk                      Walter Dexel
Sitzender weiblicher Akt in Landschaft   Abstrakte Komposition
mit Bauernhaus, 1920 / 21                (Sternenbrücke), 1919
Holzschnitt                              Holzschnitt

   76                                                            77
Ypsilon – die kleine Satire   Georg Muche beteiligte sich ab 1915 an den internatio-
                              ­nalen Sturm-Ausstellungen. Mehrere Jahre lang war er
                               als Herwarth Waldens Assistent und als Lehrer an dessen

auf die Weltanschauung         Kunst­schule tätig. Am Bauhaus leitete er einen Vorkurs
                               sowie als Formmeister die Werkstätten für Holzbildhauerei
                               und Weberei.

des Materialisten N.              Insbesondere zu Beginn seiner Weimarer Zeit hat Muche
                               sich intensiv mit der Druckgrafik auseinandergesetzt und
                               war auf diesem Gebiet deutlich produktiver als etwa in
                               der Malerei oder der Zeichnung. Die Druckgrafik bestand
Georg Muche                    für Muche gleichberechtigt neben diesen Gattungen.
                               Von seinen Drucken wurden meist nur wenige Exem­plare
                               hergestellt.1
                                  Muches druckgrafische Folge mit dem rätselhaften
                               Titel Ypsilon – die kleine Satire auf die Weltanschauung
                               des Materialisten N. setzt sich aus neun kleinformatigen
                               Radierungen zusammen. Hervorzuheben ist der aller
                               Wahrscheinlichkeit nach vom Künstler handbeschriftete
                               Mappendeckel.2 Die Darstellungen der Radierfolge bewegen
                               sich im Grenzbereich von Figuration und Abstraktion.
                               Sie zeigen sich frei im Raum bewegende Kreis- und ­Gitter-
                               formen, die Muche zu Formationen mit teilweise maschi-
                               nen- oder menschenähnlichen Zügen verband. Locker
                               gesetzte Punkt- und Linienstrukturen fassen diese Gebilde
                               in den Bildraum ein. Astrologische Zeichen eröffnen
                               kosmische Kontexte und verweisen auf Muches Interesse
                               für metaphysische Zusammenhänge.
                                  Die Folge wurde nie als solche veröffentlicht. Bekannt
                               ist nur eine weitere Ausführung der Mappe, die im Bauhaus-
                               Archiv in Berlin aufbewahrt wird. Diesem Exemplar liegt
                               als zehntes Blatt ein Linolschnitt bei. 3

                              Sophie Thorak

                                                                                               1
                                                                                            Vgl. Weber 1999, S. 85.
                                                                                               2
                                                                                            Vgl. Matuszak 2000, S. 324.
                                                                                               3
                                                                                            Vgl. Weber 1999, S. 85 – 86.

                                                                                                                           145
Georg Muche       Georg Muche
Ypsilon 4, 1920   Ypsilon 9, 1921
Ätzradierung      Ätzradierung

  148                               149
Georg Muche
Georg Muche       Ypsilon 8 Das Märchen von der ersten
Ypsilon 3, 1920   Bewegung ein kosmisches Stilleben, 1921
Ätzradierung      Ätzradierung

  150                                                       151
S A N D ST E I N

9     783954      984602
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