Ampel auf Grün: Die sozial-ökologisch-liberale Illusion?

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  Albrecht von Lucke

  Ampel auf Grün:
  Die sozial-ökologisch-liberale Illusion?
Den 15. Oktober 2021, das Datum der       chen. Andererseits wird es kaum rei-
Verabschiedung des Sondierungspa-         chen, wie Lindner und Habeck die an-
piers zwischen SPD, Grünen und FDP,       gebliche „Zäsur für die politische Kul-
kann man sich bereits jetzt im Kalen-     tur Deutschlands“ primär als eine Fra-
der markieren. Denn seit diesem Tag       ge des Stils zu beschwören.
steht fest: Die Ampel kommt. Wer sich        Inhaltlich ist wahlweise von einer
wie Christian Lindner derart „über-       neuen „Fortschritts-“, „Erneuerungs-“
zeugt [gibt], dass es lange Zeit keine    oder „Modernisierungskoalition“ die
vergleichbare Chance gegeben hat,         Rede. Und schnell wird dabei vor al-
Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu     lem eine historische Parallele gezogen:
modernisieren“, und wer wie Robert        „Es hat in Deutschland eine sehr er-
Habeck bereits eine historische „Hoff-    folgreiche sozialliberale Koalition ge-
nungszeit“ anbrechen sieht, der wird      geben, von 1969 bis 1982, die übrigens
derlei selbstgeweckte Erwartungen         auch aus einer großen Koalition her-
nicht enttäuschen können.                 vorging“, betonte Olaf Scholz bereits in
   Realistischerweise wird man aller-     seiner ersten Erklärung am Tag unmit-
dings vor allem zwei Geburtshelfer für    telbar nach der Wahl, um wie folgt fort-
diese angebliche neue Ära ausmachen       zufahren: „Jetzt gewissermaßen ei-
können: die Linkspartei, die durch ihr    ne sozial-ökologisch-liberale Koalition
schwaches Abschneiden eine linke Ko-      zu bilden, hat also Grundlagen in der
alition schon arithmetisch unmöglich      Geschichte der Regierungstätigkeit in
gemacht hat, und die CDU/CSU, der         Deutschland.“
durch ihren Absturz und den anschlie-        Die Schlussfolgerung scheint ja auch
ßenden desolaten Zustand das gleiche      verblüffend einfach: Man nehme die
für Jamaika gelungen ist. Allen pathe-    sozialliberale Koalition, füge ob der Er-
tischen Verlautbarungen zum Trotz         fahrungen mit Rot-Grün von 1998 bis
ist die Ampel also keine Liebesheirat,    2005 noch das ökologische Moment
sondern primär ein Zweckbündnis aus       hinzu, schüttele das Ganze ordentlich
Einsicht in die Notwendigkeit mangels     durch – und heraus kommt die neue so-
besserer Optionen – denn eine weite-      zial-ökologisch-liberale-Koalition.
re „große Koalition“ könnte keiner der       Doch der Vergleich könnte schie-
kommenden Koalitionäre seiner Wäh-        fer kaum sein. Die sozialliberale Koa-
lerschaft zumuten. Die faktische Alter-   lition hatte, nach zwanzig Jahren Uni-
nativlosigkeit der Ampel wird „Olaf im    onsregierung, echten Projektcharak-
Glück“ Scholz zum nächsten Kanzler        ter und leistete vor allem unter Willy
der Bundesrepublik machen.                Brandt einen historischen Aufbruch:
   Die entscheidende Frage ist damit      nach außen durch die neue Ostpolitik,
allerdings noch nicht beantwortet: wo-    nach innen durch eine fundamentale
für diese Koalition in der Sache ste-     gesellschaftliche Liberalisierung.1
hen wird und stehen soll. Einerseits
braucht es in der Tat nach 16 Jahren      1 Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-
Merkel ein neues Aufbruchsverspre-          Scheel, Stuttgart 1982.

                                               Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
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Dagegen weckt bereits das Ergebnis                        Als klassische Klientelpartei kommt es
der Sondierungen massive Zweifel dar-                     für sie in erster Linie darauf an, als die
an, ob die kommende Ampel-Koalition                       „Stimme der ökonomischen Vernunft“
den vor allem in ökologischer Hinsicht                    gegen Grüne und Rote dafür zu sorgen,
erforderlichen Aufbruch tatsächlich                       dass – um mit dem früheren SPD-Fi-
zu leisten imstande ist – und ob es sich                  nanzminister Karl Schiller zu sprechen
überhaupt um ein echtes politisches                       – „die Tassen im Schrank bleiben“. Ge-
Projekt handeln wird. Denn im Ver-                        nau das ist der FDP bereits mit den im
gleich zu 1969 gibt es eklatante Unter-                   Sondierungspapier festgelegten Inhal-
schiede und Grenzen, was das Zusam-                       ten gelungen. Indem sie, wie verspro-
menspiel der drei Koalitionspartner                       chen, Steuererhöhungen genauso wie
anbelangt – und zwar in systemischer,                     neue Schulden, aber auch das Tempo-
temporaler und inhaltlicher Hinsicht.                     limit von 130 Stundenkilometern auf
                                                          deutschen Autobahnen und die Bür-
                                                          gerversicherung verhindern konnte,
   FDP mit Zeitvorteil, Grüne mit                         hat sie mit diesen klassischen „Brot-
   inhaltlich-strategischem Nachteil                      und-Butter“-Themen die Bedürfnis-
                                                          se ihrer gut situierten Klientel bereits
Im Unterschied zu einer Zweierkoa-                        bestens befriedigt. Denn deren Erwar-
lition sind in Dreierkonstellationen                      tung an die FDP besteht vor allem da-
Unstimmigkeiten von Beginn an qua-                        rin, zu verhindern, dass die grün-roten
si systemisch angelegt. In einem Duo                      Bäume in den Himmel wachsen.
sind beide Partner in gleichem Maße                          Die FDP hat ihre Siege damit gleich
aufeinander angewiesen, ungeach-                          zu Beginn der angehenden Koali-
tet ihrer Größe. In einem Trio besteht                    tion eingefahren und sich so den über-
dagegen immer die Gefahr, dass zwei                       lebenswichtigen starken Stimmen-
Partner sich gegen den dritten verbün-                    sockel gesichert. Damit ist sie bes-
den. Die daraus resultierende Angst,                      tens gewappnet für das kommen-
gegeneinander ausgespielt zu werden,                      de Superwahljahr 2022 mit den vier
sorgt für ein latentes Klima des Miss-                    wichtigen Landtagswahlen im Saar-
trauens. Wenn, wie im Falle der Am-                       land, in Schleswig-Holstein, in Nord-
pel, mit der FDP eine Partei in das geg-                  rhein-Westfalen und Niedersachsen.
nerische Lager wechselt, kommt noch                       Auf diese Weise wahrt sie ihre Chance,
ein weiteres Problem hinzu. Damit                         das „gegnerische Lager“ erfolgreich
steht nämlich von Beginn an die Ver-                      und möglicherweise sogar vorzeitig
suchung im Raum, das Lager vielleicht                     wieder zu verlassen und zur CDU/CSU
eines Tages wieder zu wechseln und                        zurückzukehren – oder aber erneut
zum angestammten Partner zurückzu-                        die angebliche bürgerliche Kraft in ei-
kehren, was die FDP mit dem Wechsel                       ner SPD-geführten Koalition zu geben.
zu Helmut Kohl 1982 bereits einmal                        Genau das war die Rolle der FDP in den
vollzog, als sie die heute so gelobte so-                 1970er Jahren und offensichtlich zielt
zial-liberale Koalition rüde beendete.                    darauf auch Christian Lindner ab.2
   Mehr noch als bei einem gemein-                        Angesichts der Tatsache, dass die
samen Projekt spielen in einer bloßen                     Union sich derzeit mit Bravour wei-
Zweckgemeinschaft alle Koalitionäre                       ter selbst zerlegt, ist diese strategische
in erster Linie auf eigene Rechnung.                      Option ja auch durchaus attraktiv.
Damit kommt für die Ampel ein zwei-                          Der für die SPD-Spitze entscheiden-
ter Faktor ins Spiel, der einen erhebli-                  de zeitliche Horizont ist dagegen ein
chen Unterschied macht, nämlich der                       anderer, nämlich das Ende der Legisla-
Faktor Zeit.
                                                          2 Christian Lindner, Die FDP bleibt Anwalt der
   Hier aber gibt es einen fundamen-                        bürgerlichen Mitte, in: „Frankfurter Allge-
talen strategischen Vorteil für die FDP.                    meine Zeitung“ (FAZ), 18.10.2021.

Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
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turperiode. Auch die Wahl 2025 zu ge-      erstes Bewusstsein für diese Thematik
winnen, hat der kommende Kanzler be-       geschaffen wurde, haben wir es heute
reits zum ausdrücklichen Ziel erklärt.     mit einer ganz anderen Dramatik und
Nur das würde eine nachhaltige Ablö-       Dringlichkeit zu tun.
sung der Union als der die Mitte domi-
nierenden Partei bedeuten; andernfalls
bliebe der jetzige Sieg der SPD nur so       Was heißt heute Fortschritt –
etwas wie ein Zufallsprodukt der Ge-         und was Freiheit?
schichte. Deshalb war für Olaf Scholz
in den Sondierungen zweierlei ent-         Gerade weil die vergangenen fünfzig
scheidend: erstens, mit Mindestlohn        Jahre weitgehend ungenutzt blieben,
und stabiler Rente die sozialdemokra-      wird heute eine bloße Modernisierung
tischen Kernforderungen durchzuset-        der herrschenden Verhältnisse nicht
zen, und zweitens, überhaupt die Basis     reichen, um der ökologischen Zerstö-
für eine möglichst stabile Koalition zu    rung wirksam Abhilfe zu schaffen.
schaffen, die die Legislaturperiode tat-   Modernisierung, Innovation und Er-
sächlich durchhält. Nicht zuletzt des-     neuerung sind in der Tat die Begriffe
halb hielt er sich in den ersten Wochen    der 1970er Jahre, als es lediglich auf
geschickt zurück und überließ der Sel-     eine Verbesserung des realexistie-
fie-trunkenen grün-gelben „Zukunfts-       renden Korporatismus ankam. Das
koalition“ weitgehend das Feld – im-       bedeutete im damaligen Fordismus
mer in dem Wissen darum, dass erst am      die Partizipation aller an den kapita-
Ende, sprich 2025, abgerechnet wird        listischen Zuwächsen, was am mar-
und dann in aller Regel der Amtsinha-      kantesten durch hohe Tarifabschlüsse
berbonus zieht.                            der Gewerkschaften zum Ausdruck
   Bei den Grünen dagegen liegt die        kam. Angesichts der heutigen ökolo-
Sache weit komplizierter. Das Verlan-      gischen Probleme ist es mit einer der-
gen ihrer Wählerinnen und Wähler           artigen „Lösung“ nicht getan. Anstatt
geht weit über eine Legislaturperio-       bloßer Innovation ist eine grundle-
de hinaus. Vor allem von den Grünen        gende Transformation der ressourcen-
wird erwartet, dass sie die Jahrhun-       verschlingenden Ökonomie zu einer
dertaufgabe der Klimakatastrophe tat-      nachhaltigen, klimaneutralen Wirt-
sächlich angehen. In gewisser Weise        schaft erforderlich, was eine regel-
muss die Partei somit immer auch die       recht revolutionäre Herausforderung
Welt retten. Das ist eine enorme Hypo-     darstellt.3
thek. Wenn die Grünen tatsächlich die         Hier bereits zeigt sich, dass sich hin-
so dringend erforderliche sozial-ökolo-    ter der von den drei Koalitionären ge-
gische Transformation erreichen wol-       priesenen Modernisierungskoalition
len, dann müssen sie schon im Ansatz       höchst disparate Ansätze verbergen.
sehr viel weitreichender als ihre bei-     Besonders Olaf Scholz betont immer
den Koalitionspartner agieren.             wieder, SPD, Grüne und FDP verbinde
   Das aber verweist auf die dritte und    „die Idee des Fortschritts“. Doch was
entscheidende Differenz zur sozialli-      bedeutet heute Fortschritt? Und was
beralen Koalition ab 1969, nämlich auf     bedeutet Freiheit? Und was sind die
die massiven inhaltlichen Unterschie-      Grenzen von Fortschritt und Freiheit?
de, ja zum Teil Gegensätze zwischen        Hier klaffen die Positionen der drei Ko-
den drei Koalitionären – insbesondere      alitionäre in spe weit auseinander.
mit Blick auf die zentrale ökologische        Zum einen gibt es fundamentale Un-
Herausforderung, der wir uns heute         terschiede zwischen FDP auf der einen
gegenübersehen. Denn auch wenn zu
Beginn der 1970er Jahre mit den Ver-       3 Vgl. den Beitrag von Jürgen Tallig in dieser
öffentlichungen des Club of Rome ein         Ausgabe.

                                                Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
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und Grünen wie SPD auf der anderen                        ab 2030 eine „Vollbremsung“ hinle-
Seite. Wo im Fortschrittsverständnis                      gen müssen, sind wir laut Karlsruhe be-
der FDP eindeutig der Markt der do-                       reits heute zu erheblichen Freiheitsein-
minierende Akteur ist, kommt bei den                      schränkungen verpflichtet.6
beiden anderen dem Staat eine weit
größere Rolle zu. Das wird insbeson-
dere bei der bis heute ungeklärten Fra-                     Gegenwart oder Zukunft,
ge der Finanzierung der erforderlichen                      struktur- oder wertkonservativ
immensen Klimaprogramme deutlich,
bei der die FDP jegliche Belastung der                    Dagegen ist das Freiheitsverständnis
Wirtschaft wie der Vermögenden ab-                        der FDP absolut gegenwartsbezogen.
lehnt. Allerdings schwebt den Grünen                      Lindner hat im Wahlkampf ausdrück-
ausweislich ihres Wahlprogramms ge-                       lich jeden Verzicht abgelehnt, er setzt
rade keine harte Konfrontation, son-                      allein auf technologische und Markt-
dern vielmehr eine „kooperative Wirt-                     lösungen, etwa durch den Handel mit
schaftspolitik“ vor. Zu diesem Zweck                      Emissionszertifikaten. Genau dieses
plädieren sie, durchaus zu Recht, für                     Denken hat sich im Sondierungspa-
einen „Pakt mit der Wirtschaft“.                          pier durchgesetzt. Von notwendigen
   Die Baerbock-Habeck-Grünen soll-                       Einschränkungen ist an keiner Stelle
ten bei ihrer Paktiererei jedoch nicht                    die Rede. Insofern ist die Ampel ei-
zu gutmeinend sein: Denn so wenig                         ne Zumutungsvermeidungskoalition,
sich Grüne und Liberale habituell und                     die den von Lindner beschworenen
von der gemeinsamen bürgerlichen                          „Möglichkeitsraum“ vor allem den ge-
Herkunft her unterscheiden, so liegen                     genwärtigen Konsumenten eröffnet.
doch Welten zwischen ihren Interessen                     Es geht daher an der Realität vorbei,
und Inhalten. Es mag durchaus schön                       wenn ob der Tatsache, dass die jüngere
klingen, wenn sich sowohl Christian                       Generation vor allem FDP und Grüne
Lindner als auch Robert Habeck auf                        gewählt hat, ein Generationenkonflikt
die Ökologie eines Hans Jonas bezie-                      primär mit der SPD, also zwischen Alt
hen.4 Aber offensichtlich bedeutet das                    und Jung, ausgemacht wird. Vielmehr
in beiden Fällen etwas völlig ande-                       zeigt sich daran, dass die junge Gene-
res. Das wird insbesondere am unter-                      ration in sich hochgradig gespalten ist
schiedlichen Freiheitsverständnis von                     – in Anhänger einer kurzfristig-hedo-
Grünen und FDP deutlich. Während                          nistischen und solche einer langfris-
die FDP auf die „Jetzt-gleich-Freiheit“                   tig-nachhaltigen Freiheit.
abstellt, betonen die Grünen die „glei-                      Genauso falsch wäre es jedoch, des-
che Weiterfreiheit“, die auch die kom-                    halb auf ein quasi symbiotisches Ver-
menden Generationen einbezieht.5                          hältnis von Grünen und Roten zu
Letzteres hat auch das Bundesverfas-                      schließen. Denn auf der anderen Sei-
sungsgericht mit seinem wegweisen-                        te gibt es auch ein eklatantes Span-
den Urteil vom 29. April 2021 verlangt.                   nungsverhältnis zwischen den Grü-
Demnach schützt das Grundgesetz                           nen auf der einen sowie FDP und SPD
nicht nur die Freiheiten der gegenwär-                    auf der anderen Seite. Sowohl FDP als
tig, sondern auch jene der zukünftig                      auch SPD sind Verfechter eines wachs-
Lebenden. Damit künftige Generatio-                       tumsgetriebenen Fortschrittsmodells –
nen überhaupt noch eine Möglichkeit                       die einen mehr zugunsten der Arbeit-
haben, eine freiheitliche Position beim                   geber, die anderen zugunsten der Ar-
Klimaschutz einzunehmen und nicht                         beitnehmer. Beide Parteien treffen sich
                                                          dort, wo man gemeinsam mit der Wirt-
4 Robert Pausch und Bernd Ulrich, Das Leuch-
  ten der Ampel, in:„Die Zeit“, 30.9.2021.
5 Die Begriffe stammen von Eva von Redecker,              6 Vgl. Susanne Götze, Klimarevolution aus Karls-
  in: „Die Zeit“, 13.10.2021.                               ruhe, in: „Blätter“, 6/2021, S. 9-12.

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schaft Klimaschutz als rein technolo-            Fortschritt sei, erst mühsam eine Ant-
gisches Fortschrittsprojekt betrachtet.          wort erarbeitet werden muss“.8
Oder, wie Olaf Scholz, Klimaschutz als              Die wahrhaft fortschrittliche Hal-
Industriepolitik ansieht. In beiden Ge-          tung bezeichnet Eppler als wertkon-
dankengebäuden ist eine Begrenzung               servativ und er erkennt sie schon da-
des Wachstums nicht angelegt. Mit der            mals weit mehr in der aufkommenden
erforderlichen Transformation der Ge-            neuen ökologischen Bewegung. Das
sellschaft wie der Wirtschaft hat das            Wertkonservative verbindet den grü-
wenig zu tun. Besonders deutlich wird            nen Willen zur Bewahrung der Schöp-
dies an der Entwicklung der Automo-              fung oder der natürlichen Lebens-
bilindustrie. So richtig der Umstieg auf         grundlagen mit dem christlich-konser-
E-Technologie ist: Wenn sich die deut-           vativen Denken. Es ist daher mehr als
sche Automobilindustrie inzwischen               ein Zufall, dass die grüne Bewegung
darauf eingestellt hat, den gesamten             just in den 1970er Jahren und damit
Individualverkehr von Verbrennern                gegen eine primär wachstumsorien-
auf E-Motoren umzustellen, ist dies in           tierte sozialliberale Koalition entstand
erster Linie ein ungeheures Konjunk-             – auch und gerade gegen einen Bun-
turprogramm. Wirklich ökologisch wä-             deskanzler namens Helmut Schmidt,
re dagegen eine fundamentale Umstel-             den Olaf Scholz als sein großes Vor-
lung von privatem auf öffentlichen Per-          bild bezeichnet und der schon damals
sonennah- und -fernverkehr. FDP und              bekanntlich diejenigen schlicht zum
SPD wollen die Lösung der Klimapro-              Arzt schicken wollte, „die Visionen
bleme dagegen allein durch Technolo-             hatten“. Ganz in diesem Sinne wurde
gie und ökonomische Innovation errei-            Erhard Eppler als dezidierter Gegner
chen. Ganz in diesem Sinne bezeich-              Schmidts von diesem als „unser Ajatol-
net sich Olaf Scholz als „technologi-            lah aus Stuttgart“ verspottet.
schen Zukunftsoptimisten“.7
   Beiden Richtungen ist von daher
genau das eigen, was der wohl wich-                Der weite Weg von Ralf Dahrendorf
tigste Kritiker der späten soziallibe-             zu Christian Lindner
ralen Koalition, nämlich der vormali-
ge SPD-Entwicklungsminister Erhard               Der grüne Gedanke war schon damals
Eppler, als strukturkonservativ be-              Stachel im Fleisch gegen den Zug zu
zeichnet hat – und was er damals gera-           ungehemmter systemkonformer Mo-
de den vermeintlich Fortschrittlichen            dernisierung – und müsste es auch in
vorwarf: „Meist besteht der geistige             dieser sozial-ökologisch-liberalen Ko-
Fundus dieser Strukturkonservativen              alition wieder sein, damit die Transfor-
aus dem letzten Aufguss des Liberalis-           mation nicht von Beginn an scheitert.
mus der Jahrhundertwende. Sie geben                 Denn noch ein Weiteres kommt er-
sich optimistisch, setzen nach wie vor           schwerend hinzu: Die Liberalen der
Wachstum mit Fortschritt gleich, glau-           1970er Jahre waren noch – jedenfalls
ben an die menschliche Erfindungs-               in Teilen – jene der linksliberalen Frei-
kraft, die schließlich – technokratisch          burger Thesen, die die FDP vor 50 Jah-
– alles wieder ins Lot bringe“, so Eppler        ren, auf ihrem Bundesparteitag am
schon 1975 in seinem ungemein hell-              27. Oktober 1971, verabschiedet hatte.
sichtigen und bis heute wegweisen-               Diese Thesen enthielten, was damals
den Buch „Ende oder Wende“. Es sei               ziemlich revolutionär war, einen ei-
daher das „Elend der Progressiven“, so           genen Abschnitt zum Umweltschutz
Eppler weiter, „dass auf die Frage, was          und forderten die Demokratisierung

7 Peter Carstens, Olaf Scholz erntet, in: FAZ,   8 Erhard Eppler, Ende oder Wende, Stuttgart
  25.8.2021.                                       1975, S. 29 und 33.

                                                     Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
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der Gesellschaft wie auch die Reform                      finden, hängt vom Schließen der Lücke
des Kapitalismus.9 Spätestens seit dem                    zwischen Realität und Bewusstsein ab.
Wechsel des Koalitionspartners 1982 –                     Wir müssen erst einmal begreifen, dass
von der SPD zurück zu CDU/CSU – und                       wir an einem historischen Wendepunkt
der folgenden Spaltung gehört diese                       stehen: von einem Zeitalter der Grenz-
FDP der Vergangenheit an. In gewisser                     überwindung zu einem Zeitalter der
Weise traten die Grünen das linkslibe-                    Grenzbestimmung, von einem Zeitalter
rale Erbe an. Das ist auch der Grund                      der unbegrenzten Möglichkeiten zu ei-
dafür, warum mit Gerhart Baum einer                       nem der möglichen Begrenzungen, von
der verbliebenen Linksliberalen so in-                    einem Zeitalter partiellen Überflusses
ständig auf eine Wiedervereinigung                        zu einem Zeitalter, wo wir erkennen,
von linksliberalen Grünen und wirt-                       was überflüssig ist.“11
schaftsliberaler FDP hofft, zumindest                        Allerdings klingen die Dahrendorfs
in einer Ampel, wenn nicht sogar da-                      und Epplers des Jahres 1975 damit weit
rüber hinaus.                                             mehr nach Fridays for Future als nach
    Für ein echtes sozial-ökologisch-libe-                Christian Lindner. „Ich glaube, dass
rales Projekt bräuchte es aber weit mehr                  keine andere Konstellation als diese in
als das, nämlich ein völlig neues Fort-                   der Lage ist, diese Herausforderung zu
schrittsdenken, das Anfang der 1970er                     meistern“, tönt derweil der FDP-Vorsit-
auch in Teilen der FDP zu Hause war.                      zende. Bisher sind das jedoch vor allem
In den entwickelten Gesellschaften der                    große Phrasen, die in den nächsten vier
Welt habe sich „ein dominantes Thema                      Jahren erst durch Taten beglaubigt
erschöpft, das Thema des Fortschritts                     werden müssen. So richtig und wich-
in einem bestimmten, eindimensio-                         tig daher ein 25-Millionen-Solardä-
nalen Sinn, der linearen Entwicklung,                     cher-Programm, der Ausstieg aus der
des impliziten und oft genug expliziten                   Kohle, wenn auch nur „idealerweise
Glaubens an die unbegrenzten Mög-                         schon bis 2030“, das Ende des Verbren-
lichkeiten der quantitativen Expan-                       nermotors und ein Sofortprogramm ge-
sion“, schrieb ebenfalls 1975 und ganz                    gen die Klimakrise sind: Ob sie wirk-
im Epplerschen Sinne der große libera-                    lich eine „Zeitenwende“ (Katrin Gö-
le Vordenker und zeitweilige FDP-Po-                      ring-Eckardt) bedeuten, bleibt solan-
litiker Ralf Dahrendorf in seinem Buch                    ge zweifelhaft, solange keine grundle-
„Die neue Freiheit“.10 Und angesichts                     gende Transformationsperspektive zu
der großen Überlebensprobleme, die                        erkennen ist, die eine Antwort darauf
der Club of Rome kurz zuvor präzisiert                    gibt, was heute weiter wachsen darf
hatte, prophezeite er: „Wenn wir nicht                    und was unbedingt schrumpfen muss.
bald zu drastischen Aktionen schreiten,                   Denn, so abschließend12 noch einmal
werden sie sich so sehr verschlimmern,                    Erhard Eppler: „Auch Krisenmanage-
dass wir jede Kontrolle verlieren, bis                    ment, so wichtig es ist, entbindet nicht
unser Wohlstand, unsere Freiheit, am                      von der Frage, worauf wir eigentlich
Ende unser Überleben bedroht sind.“                       hinauswollen. Und bei den meisten
    Eine sozial-ökologisch-liberale Koa-                  politischen Entscheidungen [...] wer-
lition in diesem Geiste könnte in der Tat                 den wir gefragt sein, ob wir Strukturen
dazu angetan sein, die großen Probleme                    auf Kosten von Werten oder Werte auf
anzugehen. Wie wusste Eppler bereits                      Kosten von Strukturen bewahren wol-
1975: „Ob wir einen Weg in die Zukunft                    len. Wer ersteres versucht, wird dem
                                                          Sog des Reaktionären nicht lange ent-
9 Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer und                 gehen. Wer letzteres will, wird sich bei
   Walter Scheel, Die Freiburger Thesen der Li-           den Progressiven wiederfinden.“
   beralen, Reinbek 1972.
10 Ralf Dahrendorf, Die neue Freiheit. Überleben
   und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt,           11 Erhard Eppler, a.a.O., S. 18.
   München 1975, zitiert nach S. 33 f., 42.               12 Ebd., S. 37.

Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
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