Ampel auf Grün: Die sozial-ökologisch-liberale Illusion?
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
KOMMENTARE Albrecht von Lucke Ampel auf Grün: Die sozial-ökologisch-liberale Illusion? Den 15. Oktober 2021, das Datum der chen. Andererseits wird es kaum rei- Verabschiedung des Sondierungspa- chen, wie Lindner und Habeck die an- piers zwischen SPD, Grünen und FDP, gebliche „Zäsur für die politische Kul- kann man sich bereits jetzt im Kalen- tur Deutschlands“ primär als eine Fra- der markieren. Denn seit diesem Tag ge des Stils zu beschwören. steht fest: Die Ampel kommt. Wer sich Inhaltlich ist wahlweise von einer wie Christian Lindner derart „über- neuen „Fortschritts-“, „Erneuerungs-“ zeugt [gibt], dass es lange Zeit keine oder „Modernisierungskoalition“ die vergleichbare Chance gegeben hat, Rede. Und schnell wird dabei vor al- Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu lem eine historische Parallele gezogen: modernisieren“, und wer wie Robert „Es hat in Deutschland eine sehr er- Habeck bereits eine historische „Hoff- folgreiche sozialliberale Koalition ge- nungszeit“ anbrechen sieht, der wird geben, von 1969 bis 1982, die übrigens derlei selbstgeweckte Erwartungen auch aus einer großen Koalition her- nicht enttäuschen können. vorging“, betonte Olaf Scholz bereits in Realistischerweise wird man aller- seiner ersten Erklärung am Tag unmit- dings vor allem zwei Geburtshelfer für telbar nach der Wahl, um wie folgt fort- diese angebliche neue Ära ausmachen zufahren: „Jetzt gewissermaßen ei- können: die Linkspartei, die durch ihr ne sozial-ökologisch-liberale Koalition schwaches Abschneiden eine linke Ko- zu bilden, hat also Grundlagen in der alition schon arithmetisch unmöglich Geschichte der Regierungstätigkeit in gemacht hat, und die CDU/CSU, der Deutschland.“ durch ihren Absturz und den anschlie- Die Schlussfolgerung scheint ja auch ßenden desolaten Zustand das gleiche verblüffend einfach: Man nehme die für Jamaika gelungen ist. Allen pathe- sozialliberale Koalition, füge ob der Er- tischen Verlautbarungen zum Trotz fahrungen mit Rot-Grün von 1998 bis ist die Ampel also keine Liebesheirat, 2005 noch das ökologische Moment sondern primär ein Zweckbündnis aus hinzu, schüttele das Ganze ordentlich Einsicht in die Notwendigkeit mangels durch – und heraus kommt die neue so- besserer Optionen – denn eine weite- zial-ökologisch-liberale-Koalition. re „große Koalition“ könnte keiner der Doch der Vergleich könnte schie- kommenden Koalitionäre seiner Wäh- fer kaum sein. Die sozialliberale Koa- lerschaft zumuten. Die faktische Alter- lition hatte, nach zwanzig Jahren Uni- nativlosigkeit der Ampel wird „Olaf im onsregierung, echten Projektcharak- Glück“ Scholz zum nächsten Kanzler ter und leistete vor allem unter Willy der Bundesrepublik machen. Brandt einen historischen Aufbruch: Die entscheidende Frage ist damit nach außen durch die neue Ostpolitik, allerdings noch nicht beantwortet: wo- nach innen durch eine fundamentale für diese Koalition in der Sache ste- gesellschaftliche Liberalisierung.1 hen wird und stehen soll. Einerseits braucht es in der Tat nach 16 Jahren 1 Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt- Merkel ein neues Aufbruchsverspre- Scheel, Stuttgart 1982. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
6 Kommentare Dagegen weckt bereits das Ergebnis Als klassische Klientelpartei kommt es der Sondierungen massive Zweifel dar- für sie in erster Linie darauf an, als die an, ob die kommende Ampel-Koalition „Stimme der ökonomischen Vernunft“ den vor allem in ökologischer Hinsicht gegen Grüne und Rote dafür zu sorgen, erforderlichen Aufbruch tatsächlich dass – um mit dem früheren SPD-Fi- zu leisten imstande ist – und ob es sich nanzminister Karl Schiller zu sprechen überhaupt um ein echtes politisches – „die Tassen im Schrank bleiben“. Ge- Projekt handeln wird. Denn im Ver- nau das ist der FDP bereits mit den im gleich zu 1969 gibt es eklatante Unter- Sondierungspapier festgelegten Inhal- schiede und Grenzen, was das Zusam- ten gelungen. Indem sie, wie verspro- menspiel der drei Koalitionspartner chen, Steuererhöhungen genauso wie anbelangt – und zwar in systemischer, neue Schulden, aber auch das Tempo- temporaler und inhaltlicher Hinsicht. limit von 130 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen und die Bür- gerversicherung verhindern konnte, FDP mit Zeitvorteil, Grüne mit hat sie mit diesen klassischen „Brot- inhaltlich-strategischem Nachteil und-Butter“-Themen die Bedürfnis- se ihrer gut situierten Klientel bereits Im Unterschied zu einer Zweierkoa- bestens befriedigt. Denn deren Erwar- lition sind in Dreierkonstellationen tung an die FDP besteht vor allem da- Unstimmigkeiten von Beginn an qua- rin, zu verhindern, dass die grün-roten si systemisch angelegt. In einem Duo Bäume in den Himmel wachsen. sind beide Partner in gleichem Maße Die FDP hat ihre Siege damit gleich aufeinander angewiesen, ungeach- zu Beginn der angehenden Koali- tet ihrer Größe. In einem Trio besteht tion eingefahren und sich so den über- dagegen immer die Gefahr, dass zwei lebenswichtigen starken Stimmen- Partner sich gegen den dritten verbün- sockel gesichert. Damit ist sie bes- den. Die daraus resultierende Angst, tens gewappnet für das kommen- gegeneinander ausgespielt zu werden, de Superwahljahr 2022 mit den vier sorgt für ein latentes Klima des Miss- wichtigen Landtagswahlen im Saar- trauens. Wenn, wie im Falle der Am- land, in Schleswig-Holstein, in Nord- pel, mit der FDP eine Partei in das geg- rhein-Westfalen und Niedersachsen. nerische Lager wechselt, kommt noch Auf diese Weise wahrt sie ihre Chance, ein weiteres Problem hinzu. Damit das „gegnerische Lager“ erfolgreich steht nämlich von Beginn an die Ver- und möglicherweise sogar vorzeitig suchung im Raum, das Lager vielleicht wieder zu verlassen und zur CDU/CSU eines Tages wieder zu wechseln und zurückzukehren – oder aber erneut zum angestammten Partner zurückzu- die angebliche bürgerliche Kraft in ei- kehren, was die FDP mit dem Wechsel ner SPD-geführten Koalition zu geben. zu Helmut Kohl 1982 bereits einmal Genau das war die Rolle der FDP in den vollzog, als sie die heute so gelobte so- 1970er Jahren und offensichtlich zielt zial-liberale Koalition rüde beendete. darauf auch Christian Lindner ab.2 Mehr noch als bei einem gemein- Angesichts der Tatsache, dass die samen Projekt spielen in einer bloßen Union sich derzeit mit Bravour wei- Zweckgemeinschaft alle Koalitionäre ter selbst zerlegt, ist diese strategische in erster Linie auf eigene Rechnung. Option ja auch durchaus attraktiv. Damit kommt für die Ampel ein zwei- Der für die SPD-Spitze entscheiden- ter Faktor ins Spiel, der einen erhebli- de zeitliche Horizont ist dagegen ein chen Unterschied macht, nämlich der anderer, nämlich das Ende der Legisla- Faktor Zeit. 2 Christian Lindner, Die FDP bleibt Anwalt der Hier aber gibt es einen fundamen- bürgerlichen Mitte, in: „Frankfurter Allge- talen strategischen Vorteil für die FDP. meine Zeitung“ (FAZ), 18.10.2021. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
Kommentare 7 turperiode. Auch die Wahl 2025 zu ge- erstes Bewusstsein für diese Thematik winnen, hat der kommende Kanzler be- geschaffen wurde, haben wir es heute reits zum ausdrücklichen Ziel erklärt. mit einer ganz anderen Dramatik und Nur das würde eine nachhaltige Ablö- Dringlichkeit zu tun. sung der Union als der die Mitte domi- nierenden Partei bedeuten; andernfalls bliebe der jetzige Sieg der SPD nur so Was heißt heute Fortschritt – etwas wie ein Zufallsprodukt der Ge- und was Freiheit? schichte. Deshalb war für Olaf Scholz in den Sondierungen zweierlei ent- Gerade weil die vergangenen fünfzig scheidend: erstens, mit Mindestlohn Jahre weitgehend ungenutzt blieben, und stabiler Rente die sozialdemokra- wird heute eine bloße Modernisierung tischen Kernforderungen durchzuset- der herrschenden Verhältnisse nicht zen, und zweitens, überhaupt die Basis reichen, um der ökologischen Zerstö- für eine möglichst stabile Koalition zu rung wirksam Abhilfe zu schaffen. schaffen, die die Legislaturperiode tat- Modernisierung, Innovation und Er- sächlich durchhält. Nicht zuletzt des- neuerung sind in der Tat die Begriffe halb hielt er sich in den ersten Wochen der 1970er Jahre, als es lediglich auf geschickt zurück und überließ der Sel- eine Verbesserung des realexistie- fie-trunkenen grün-gelben „Zukunfts- renden Korporatismus ankam. Das koalition“ weitgehend das Feld – im- bedeutete im damaligen Fordismus mer in dem Wissen darum, dass erst am die Partizipation aller an den kapita- Ende, sprich 2025, abgerechnet wird listischen Zuwächsen, was am mar- und dann in aller Regel der Amtsinha- kantesten durch hohe Tarifabschlüsse berbonus zieht. der Gewerkschaften zum Ausdruck Bei den Grünen dagegen liegt die kam. Angesichts der heutigen ökolo- Sache weit komplizierter. Das Verlan- gischen Probleme ist es mit einer der- gen ihrer Wählerinnen und Wähler artigen „Lösung“ nicht getan. Anstatt geht weit über eine Legislaturperio- bloßer Innovation ist eine grundle- de hinaus. Vor allem von den Grünen gende Transformation der ressourcen- wird erwartet, dass sie die Jahrhun- verschlingenden Ökonomie zu einer dertaufgabe der Klimakatastrophe tat- nachhaltigen, klimaneutralen Wirt- sächlich angehen. In gewisser Weise schaft erforderlich, was eine regel- muss die Partei somit immer auch die recht revolutionäre Herausforderung Welt retten. Das ist eine enorme Hypo- darstellt.3 thek. Wenn die Grünen tatsächlich die Hier bereits zeigt sich, dass sich hin- so dringend erforderliche sozial-ökolo- ter der von den drei Koalitionären ge- gische Transformation erreichen wol- priesenen Modernisierungskoalition len, dann müssen sie schon im Ansatz höchst disparate Ansätze verbergen. sehr viel weitreichender als ihre bei- Besonders Olaf Scholz betont immer den Koalitionspartner agieren. wieder, SPD, Grüne und FDP verbinde Das aber verweist auf die dritte und „die Idee des Fortschritts“. Doch was entscheidende Differenz zur sozialli- bedeutet heute Fortschritt? Und was beralen Koalition ab 1969, nämlich auf bedeutet Freiheit? Und was sind die die massiven inhaltlichen Unterschie- Grenzen von Fortschritt und Freiheit? de, ja zum Teil Gegensätze zwischen Hier klaffen die Positionen der drei Ko- den drei Koalitionären – insbesondere alitionäre in spe weit auseinander. mit Blick auf die zentrale ökologische Zum einen gibt es fundamentale Un- Herausforderung, der wir uns heute terschiede zwischen FDP auf der einen gegenübersehen. Denn auch wenn zu Beginn der 1970er Jahre mit den Ver- 3 Vgl. den Beitrag von Jürgen Tallig in dieser öffentlichungen des Club of Rome ein Ausgabe. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
8 Kommentare und Grünen wie SPD auf der anderen ab 2030 eine „Vollbremsung“ hinle- Seite. Wo im Fortschrittsverständnis gen müssen, sind wir laut Karlsruhe be- der FDP eindeutig der Markt der do- reits heute zu erheblichen Freiheitsein- minierende Akteur ist, kommt bei den schränkungen verpflichtet.6 beiden anderen dem Staat eine weit größere Rolle zu. Das wird insbeson- dere bei der bis heute ungeklärten Fra- Gegenwart oder Zukunft, ge der Finanzierung der erforderlichen struktur- oder wertkonservativ immensen Klimaprogramme deutlich, bei der die FDP jegliche Belastung der Dagegen ist das Freiheitsverständnis Wirtschaft wie der Vermögenden ab- der FDP absolut gegenwartsbezogen. lehnt. Allerdings schwebt den Grünen Lindner hat im Wahlkampf ausdrück- ausweislich ihres Wahlprogramms ge- lich jeden Verzicht abgelehnt, er setzt rade keine harte Konfrontation, son- allein auf technologische und Markt- dern vielmehr eine „kooperative Wirt- lösungen, etwa durch den Handel mit schaftspolitik“ vor. Zu diesem Zweck Emissionszertifikaten. Genau dieses plädieren sie, durchaus zu Recht, für Denken hat sich im Sondierungspa- einen „Pakt mit der Wirtschaft“. pier durchgesetzt. Von notwendigen Die Baerbock-Habeck-Grünen soll- Einschränkungen ist an keiner Stelle ten bei ihrer Paktiererei jedoch nicht die Rede. Insofern ist die Ampel ei- zu gutmeinend sein: Denn so wenig ne Zumutungsvermeidungskoalition, sich Grüne und Liberale habituell und die den von Lindner beschworenen von der gemeinsamen bürgerlichen „Möglichkeitsraum“ vor allem den ge- Herkunft her unterscheiden, so liegen genwärtigen Konsumenten eröffnet. doch Welten zwischen ihren Interessen Es geht daher an der Realität vorbei, und Inhalten. Es mag durchaus schön wenn ob der Tatsache, dass die jüngere klingen, wenn sich sowohl Christian Generation vor allem FDP und Grüne Lindner als auch Robert Habeck auf gewählt hat, ein Generationenkonflikt die Ökologie eines Hans Jonas bezie- primär mit der SPD, also zwischen Alt hen.4 Aber offensichtlich bedeutet das und Jung, ausgemacht wird. Vielmehr in beiden Fällen etwas völlig ande- zeigt sich daran, dass die junge Gene- res. Das wird insbesondere am unter- ration in sich hochgradig gespalten ist schiedlichen Freiheitsverständnis von – in Anhänger einer kurzfristig-hedo- Grünen und FDP deutlich. Während nistischen und solche einer langfris- die FDP auf die „Jetzt-gleich-Freiheit“ tig-nachhaltigen Freiheit. abstellt, betonen die Grünen die „glei- Genauso falsch wäre es jedoch, des- che Weiterfreiheit“, die auch die kom- halb auf ein quasi symbiotisches Ver- menden Generationen einbezieht.5 hältnis von Grünen und Roten zu Letzteres hat auch das Bundesverfas- schließen. Denn auf der anderen Sei- sungsgericht mit seinem wegweisen- te gibt es auch ein eklatantes Span- den Urteil vom 29. April 2021 verlangt. nungsverhältnis zwischen den Grü- Demnach schützt das Grundgesetz nen auf der einen sowie FDP und SPD nicht nur die Freiheiten der gegenwär- auf der anderen Seite. Sowohl FDP als tig, sondern auch jene der zukünftig auch SPD sind Verfechter eines wachs- Lebenden. Damit künftige Generatio- tumsgetriebenen Fortschrittsmodells – nen überhaupt noch eine Möglichkeit die einen mehr zugunsten der Arbeit- haben, eine freiheitliche Position beim geber, die anderen zugunsten der Ar- Klimaschutz einzunehmen und nicht beitnehmer. Beide Parteien treffen sich dort, wo man gemeinsam mit der Wirt- 4 Robert Pausch und Bernd Ulrich, Das Leuch- ten der Ampel, in:„Die Zeit“, 30.9.2021. 5 Die Begriffe stammen von Eva von Redecker, 6 Vgl. Susanne Götze, Klimarevolution aus Karls- in: „Die Zeit“, 13.10.2021. ruhe, in: „Blätter“, 6/2021, S. 9-12. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
Kommentare 9 schaft Klimaschutz als rein technolo- Fortschritt sei, erst mühsam eine Ant- gisches Fortschrittsprojekt betrachtet. wort erarbeitet werden muss“.8 Oder, wie Olaf Scholz, Klimaschutz als Die wahrhaft fortschrittliche Hal- Industriepolitik ansieht. In beiden Ge- tung bezeichnet Eppler als wertkon- dankengebäuden ist eine Begrenzung servativ und er erkennt sie schon da- des Wachstums nicht angelegt. Mit der mals weit mehr in der aufkommenden erforderlichen Transformation der Ge- neuen ökologischen Bewegung. Das sellschaft wie der Wirtschaft hat das Wertkonservative verbindet den grü- wenig zu tun. Besonders deutlich wird nen Willen zur Bewahrung der Schöp- dies an der Entwicklung der Automo- fung oder der natürlichen Lebens- bilindustrie. So richtig der Umstieg auf grundlagen mit dem christlich-konser- E-Technologie ist: Wenn sich die deut- vativen Denken. Es ist daher mehr als sche Automobilindustrie inzwischen ein Zufall, dass die grüne Bewegung darauf eingestellt hat, den gesamten just in den 1970er Jahren und damit Individualverkehr von Verbrennern gegen eine primär wachstumsorien- auf E-Motoren umzustellen, ist dies in tierte sozialliberale Koalition entstand erster Linie ein ungeheures Konjunk- – auch und gerade gegen einen Bun- turprogramm. Wirklich ökologisch wä- deskanzler namens Helmut Schmidt, re dagegen eine fundamentale Umstel- den Olaf Scholz als sein großes Vor- lung von privatem auf öffentlichen Per- bild bezeichnet und der schon damals sonennah- und -fernverkehr. FDP und bekanntlich diejenigen schlicht zum SPD wollen die Lösung der Klimapro- Arzt schicken wollte, „die Visionen bleme dagegen allein durch Technolo- hatten“. Ganz in diesem Sinne wurde gie und ökonomische Innovation errei- Erhard Eppler als dezidierter Gegner chen. Ganz in diesem Sinne bezeich- Schmidts von diesem als „unser Ajatol- net sich Olaf Scholz als „technologi- lah aus Stuttgart“ verspottet. schen Zukunftsoptimisten“.7 Beiden Richtungen ist von daher genau das eigen, was der wohl wich- Der weite Weg von Ralf Dahrendorf tigste Kritiker der späten soziallibe- zu Christian Lindner ralen Koalition, nämlich der vormali- ge SPD-Entwicklungsminister Erhard Der grüne Gedanke war schon damals Eppler, als strukturkonservativ be- Stachel im Fleisch gegen den Zug zu zeichnet hat – und was er damals gera- ungehemmter systemkonformer Mo- de den vermeintlich Fortschrittlichen dernisierung – und müsste es auch in vorwarf: „Meist besteht der geistige dieser sozial-ökologisch-liberalen Ko- Fundus dieser Strukturkonservativen alition wieder sein, damit die Transfor- aus dem letzten Aufguss des Liberalis- mation nicht von Beginn an scheitert. mus der Jahrhundertwende. Sie geben Denn noch ein Weiteres kommt er- sich optimistisch, setzen nach wie vor schwerend hinzu: Die Liberalen der Wachstum mit Fortschritt gleich, glau- 1970er Jahre waren noch – jedenfalls ben an die menschliche Erfindungs- in Teilen – jene der linksliberalen Frei- kraft, die schließlich – technokratisch burger Thesen, die die FDP vor 50 Jah- – alles wieder ins Lot bringe“, so Eppler ren, auf ihrem Bundesparteitag am schon 1975 in seinem ungemein hell- 27. Oktober 1971, verabschiedet hatte. sichtigen und bis heute wegweisen- Diese Thesen enthielten, was damals den Buch „Ende oder Wende“. Es sei ziemlich revolutionär war, einen ei- daher das „Elend der Progressiven“, so genen Abschnitt zum Umweltschutz Eppler weiter, „dass auf die Frage, was und forderten die Demokratisierung 7 Peter Carstens, Olaf Scholz erntet, in: FAZ, 8 Erhard Eppler, Ende oder Wende, Stuttgart 25.8.2021. 1975, S. 29 und 33. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
10 Kommentare der Gesellschaft wie auch die Reform finden, hängt vom Schließen der Lücke des Kapitalismus.9 Spätestens seit dem zwischen Realität und Bewusstsein ab. Wechsel des Koalitionspartners 1982 – Wir müssen erst einmal begreifen, dass von der SPD zurück zu CDU/CSU – und wir an einem historischen Wendepunkt der folgenden Spaltung gehört diese stehen: von einem Zeitalter der Grenz- FDP der Vergangenheit an. In gewisser überwindung zu einem Zeitalter der Weise traten die Grünen das linkslibe- Grenzbestimmung, von einem Zeitalter rale Erbe an. Das ist auch der Grund der unbegrenzten Möglichkeiten zu ei- dafür, warum mit Gerhart Baum einer nem der möglichen Begrenzungen, von der verbliebenen Linksliberalen so in- einem Zeitalter partiellen Überflusses ständig auf eine Wiedervereinigung zu einem Zeitalter, wo wir erkennen, von linksliberalen Grünen und wirt- was überflüssig ist.“11 schaftsliberaler FDP hofft, zumindest Allerdings klingen die Dahrendorfs in einer Ampel, wenn nicht sogar da- und Epplers des Jahres 1975 damit weit rüber hinaus. mehr nach Fridays for Future als nach Für ein echtes sozial-ökologisch-libe- Christian Lindner. „Ich glaube, dass rales Projekt bräuchte es aber weit mehr keine andere Konstellation als diese in als das, nämlich ein völlig neues Fort- der Lage ist, diese Herausforderung zu schrittsdenken, das Anfang der 1970er meistern“, tönt derweil der FDP-Vorsit- auch in Teilen der FDP zu Hause war. zende. Bisher sind das jedoch vor allem In den entwickelten Gesellschaften der große Phrasen, die in den nächsten vier Welt habe sich „ein dominantes Thema Jahren erst durch Taten beglaubigt erschöpft, das Thema des Fortschritts werden müssen. So richtig und wich- in einem bestimmten, eindimensio- tig daher ein 25-Millionen-Solardä- nalen Sinn, der linearen Entwicklung, cher-Programm, der Ausstieg aus der des impliziten und oft genug expliziten Kohle, wenn auch nur „idealerweise Glaubens an die unbegrenzten Mög- schon bis 2030“, das Ende des Verbren- lichkeiten der quantitativen Expan- nermotors und ein Sofortprogramm ge- sion“, schrieb ebenfalls 1975 und ganz gen die Klimakrise sind: Ob sie wirk- im Epplerschen Sinne der große libera- lich eine „Zeitenwende“ (Katrin Gö- le Vordenker und zeitweilige FDP-Po- ring-Eckardt) bedeuten, bleibt solan- litiker Ralf Dahrendorf in seinem Buch ge zweifelhaft, solange keine grundle- „Die neue Freiheit“.10 Und angesichts gende Transformationsperspektive zu der großen Überlebensprobleme, die erkennen ist, die eine Antwort darauf der Club of Rome kurz zuvor präzisiert gibt, was heute weiter wachsen darf hatte, prophezeite er: „Wenn wir nicht und was unbedingt schrumpfen muss. bald zu drastischen Aktionen schreiten, Denn, so abschließend12 noch einmal werden sie sich so sehr verschlimmern, Erhard Eppler: „Auch Krisenmanage- dass wir jede Kontrolle verlieren, bis ment, so wichtig es ist, entbindet nicht unser Wohlstand, unsere Freiheit, am von der Frage, worauf wir eigentlich Ende unser Überleben bedroht sind.“ hinauswollen. Und bei den meisten Eine sozial-ökologisch-liberale Koa- politischen Entscheidungen [...] wer- lition in diesem Geiste könnte in der Tat den wir gefragt sein, ob wir Strukturen dazu angetan sein, die großen Probleme auf Kosten von Werten oder Werte auf anzugehen. Wie wusste Eppler bereits Kosten von Strukturen bewahren wol- 1975: „Ob wir einen Weg in die Zukunft len. Wer ersteres versucht, wird dem Sog des Reaktionären nicht lange ent- 9 Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer und gehen. Wer letzteres will, wird sich bei Walter Scheel, Die Freiburger Thesen der Li- den Progressiven wiederfinden.“ beralen, Reinbek 1972. 10 Ralf Dahrendorf, Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt, 11 Erhard Eppler, a.a.O., S. 18. München 1975, zitiert nach S. 33 f., 42. 12 Ebd., S. 37. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021
Sie können auch lesen