Ankommen statt unterwegs sein - Raum und Mobilität zusammen denken - Projekt Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung Erster Zwischenbericht
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acatech DISKUSSION Ankommen statt unterwegs sein – Raum und Mobilität zusammen denken Projekt Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung Erster Zwischenbericht Klaus J. Beckmann, Wolfgang Blumthaler, Helmut Holzapfel, Yulika Zebuhr
acatech DISKUSSION Ankommen statt unterwegs sein – Raum und Mobilität zusammen denken Projekt Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung Erster Zwischenbericht Klaus J. Beckmann, Wolfgang Blumthaler, Helmut Holzapfel, Yulika Zebuhr
Die Reihe acatech DISKUSSION Diese Reihe sammelt Autorenbeiträge über technikwissenschaft liche und technologiepolitische Themen. Sie dokumentiert die fach übergreifende Diskussion auf Veranstaltungen, in Projekten und Arbeitskreisen von acatech. Die inhaltliche Verantwortung liegt bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren. Alle bisher erschienenen acatech Publikationen stehen unter www.acatech.de/publikationen zur Verfügung.
Inhalt Zusammenfassung 5 Projekt 7 1 Einleitung 8 1.1 Projektansatz 9 2 Mobilität in Stadtregionen 10 2.1 Was bedeutet Mobilität? 10 2.2 Verkehr und Verkehrsmittelwahl 11 2.3 Alltagsmobilität in Stadtregionen 11 3 Nachhaltige Raum- und Verkehrsentwicklung 16 3.1 Zum Begriff der Nachhaltigkeit 16 3.2 Nachhaltige Mobilität: „verbessern, verlagern, vermeiden“ 18 3.3 Zusammenhang von Raum und Mobilität 20 3.4 Regelkreis Flächennutzung und Verkehr 21 3.5 Regelkreis der autogerechten Stadt 22 3.6 Regelkreis der Mobilität im Nahraum 24 4 Illustration der Wechselwirkungen von Flächennutzung und Verkehrssystem 26 4.1 Die Stadtregion – Zusammenhänge auf Makroebene 27 4.2 Das Quartier – Zusammenhänge auf Mesoebene 29 4.3 Der Straßenraum – Zusammenhänge auf Mikroebene 30 5 Integrierte Betrachtung von Raum und Mobilität 32 5.1 Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung 33 5.2 Herausforderungen und Hemmnisse einer integrierten Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung 36 6 Ausblick 38 Anhang 39 Literatur 41
Zusammenfassung hohen Verkehrsaufwänden. Entsprechend oft ist das Auto das Zusammenfassung bevorzugte Verkehrsmittel – sei es mangels Alternativen oder zu- mindest als komfortabelste Wahlmöglichkeit. Das acatech Projekt Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitäts- Kompakte und durchmischte Strukturen hingegen sind förder- planung untersucht in einem interdisziplinären Ansatz Rahmen- lich für eine lokale Angebotsvielfalt. In Kombination mit Stra- bedingungen, Konzepte, Umsetzungsstrategien und Kooperatio- ßenräumen mit hohen Verweil- und Aufenthaltsqualitäten wird nen für eine integrierte Raum- und Verkehrsplanung. Ziel ist es, es für Anwohnerinnen und Anwohner möglich und auch attrak- Chancen und Hemmnisse bei der Planung und Gestaltung von tiv, einen Großteil ihrer Alltagswege zu Fuß oder mit dem Rad nachhaltigen Stadt- und Mobilitätskonzepten zu identifizieren im Nahraum zurückzulegen. Zusätzlich leisten attraktive, beleb- und Ansätze für eine wirksame Umsetzung herauszuarbeiten. te Straßenräume und vielfältige Angebote einen positiven Bei- trag zur städtischen Lebensqualität und zur sozialen Durchmi- Die vorliegende erste Teilpublikation verschränkt die bisherige schung. Der öffentliche Raum wird für die Menschen wieder fachlich-inhaltliche Diskussion der trans- und interdisziplinär zu- zugänglich und nutzbar. Das fördert die lokale Lebensführung, sammengesetzten Projektgruppe mit dem wissenschaftlichen den sozialen Austausch und eine klima- und umweltverträgliche- Forschungsstand. Die wechselseitigen Zusammenhänge von re Alltagsgestaltung. Raum und Verkehr werden beschrieben und es wird abgeleitet, wie diese unsere Alltagsmobilität bestimmen. Denn: Gestaltung Als bisheriges Zwischenergebnis des Projekts lässt sich festhal- und Gliederung des Raums beeinflussen die Erreichbarkeit von ten, dass eine Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Orten des täglichen Lebens und damit die Art, wie wir leben Raum und Verkehr zu einer nachhaltigeren Mobilität beitragen und uns räumlich bewegen. Dabei spielen sowohl Strukturen kann. Indem der öffentliche Raum in seiner Funktion als Ort der von Siedlungsgebieten und deren Vernetzungen sowie die Viel- Begegnung und des Austauschs auf lokaler Ebene besser erleb- falt von Quartieren als auch die Gestaltung von Straßenräumen bar wird, kann die gesamte Stadtregion eine Aufwertung erfah- eine entscheidende Rolle. Raumstrukturen determinieren damit ren. Welche Hürden und Herausforderungen bei der integrierten wesentlich die Entstehung von Verkehr. Planung bestehen und inwieweit solche Konzepte in Kommunen bereits umgesetzt werden, wird in einer späteren Projektphase Weitläufig angelegte, disperse Raum- und Siedlungsstrukturen im Detail untersucht. erfordern die Überwindung weiter Distanzen und führen zu 5
Projekt – Dr. phil. Jürgen Gies, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) Projekt – Burkhard Horn, Freiberuflicher Berater, Mobilität & Verkehr – Strategie & Planung, Berlin – Dr. Charlotte Halpern, Sciences Po, Paris Projektleitung – Alvaro Artigas, PhD, Sciences Po, Paris – Univ.-Prof. Dr.-Ing. Klaus J. Beckmann, acatech/KJB.Kom Prof. Dr. Klaus J. Beckmann – Kommunalforschung, B eratung, Mo- Textbearbeitung und Redaktion deration und Kommunikation – Prof. Dr.-Ing. Helmut Holzapfel, acatech/Zentrum für Mobi- – Yulika Zebuhr, acatech Geschäftsstelle (Projektkoordination) litätskultur Kassel – Wolfgang Blumthaler, acatech Geschäftsstelle Projektgruppe Projektlaufzeit – Christian Hochfeld, Agora Verkehrswende (bis 31.12.2021) 12/2020–06/2023 – Dipl.-Ing. Wolfgang Aichinger, Agora Verkehrswende (seit 01.01.2022) – Univ.-Prof. Dr.-Ing. Felix Huber, Bergische Universität Förderung Wuppertal – Caroline Koszowski, M.Sc., TU Dresden Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Digitales und – Prof. Dr. Barbara Lenz, HU Berlin Verkehr gefördert – Förderkennzeichen 16DKVQ0001 – Dr. Jens Libbe, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) – Univ.-Prof. Dr. Martina Löw, TU Berlin – Dipl.-Ing. Stephan Reiß-Schmidt, Stadtdirektor a. D., DASL – Dipl.-Ing. Roland Stimpel, Fuss e. V., DASL – Prof. Dr.-Ing. Gebhard Wulfhorst, TU München Projektpartnerinnen und -partner – Dr. Holger Floeting, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) – Dr. Elke Bojarra-Becker, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) 7
ökologisch effektiven, ökonomisch effizienten und sozial aus- 1 Einleitung gewogenen Transformationsprozess einzuleiten.7 Im Auftrag der Bundesregierung hat die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität beispielsweise umfassende Empfehlungen erarbeitet, Das 21. Jahrhundert wird von vielfältigen und tiefgreifenden die eine Transformation des Verkehrssektors hin zu einer kli- Veränderungen geprägt sein. Der Klimawandel wächst sich maneutralen Mobilität ermöglichen.8 Die Ansätze zielen haupt- schon heute zur globalen Klimakrise aus und macht sich von sächlich darauf ab, die Abwicklung von Verkehr durch Elektrifi- Jahr zu Jahr stärker bemerkbar: Extremwetterereignisse nehmen zierung, Automatisierung und Vernetzung klimafreundlicher zu an Intensität und Häufigkeit zu. Gerade Städte sind aufgrund ei- gestalten. ner dichten Bebauung, eines hohen Anteils versiegelter Flächen und geringer Grün- und Wasserflächen stark von Hitze und Star- Technische Veränderungen und technologische Entwicklungen kregen betroffen. All dies hat Auswirkungen auf die Grundversor- allein werden jedoch nicht reichen, die vereinbarten Klimazie- gung der Städte, die Infrastruktur, den Wohnraum, die Lebens- le einzuhalten und dabei auch Zielsetzungen einer nachhalti- grundlagen der Menschen und deren Gesundheit.1 Zudem wird gen Raumentwicklung und des sozialen Zusammenlebens zu die Gesundheit durch hohe Schadstoffbelastungen in der Luft erfüllen. beeinträchtigt.2 Die EU-Grenzwerte für Stickoxid- und Feinstau- bemissionen – mit dem Verkehr als einem Hauptverursacher – Eine stärkere Berücksichtigung gebauter Stadt- und Sied- werden in europäischen Städten regelmäßig überschritten. lungsstrukturen ist erforderlich, um unsere Mobilität in Stadt- regionen nachhaltiger zu gestalten. Im Koalitionsvertrag der Dass ein nachhaltigerer Umgang mit unserer Umwelt nottut, ist amtierenden deutschen Bundesregierung wird diese Thematik gesellschaftlicher und politischer Konsens. In Deutschland halten etwa in Form einer Anpassung von Straßenverkehrsordnung und 59 Prozent der Bevölkerung es für besonders dringlich, den Um- Straßenverkehrsgesetz aufgegriffen, die „neben der Flüssigkeit welt- und Klimaschutz voranzubringen.3 Allerdings ist die Mehrheit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umwelt- skeptisch, ob es gelingen wird, den Klimawandel in den Griff zu be- schutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung kommen.4 Im Rahmen der internationalen Kooperation wurden bei berücksichtigt […].“9 UN-Klimakonferenzen oder auch im Rahmen des EU-Programms „Fit for 55“5 Zielsetzungen des Klima- und Umweltschutzes ver- Das acatech Projekt Integrierte Stadtentwicklung und Mobili- einbart. Auf Bundesebene wurden nach dem wegweisenden tätsplanung nimmt einen weit gefassten und ganzheitlichen Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts 2021 die Klima- Blickwinkel ein, indem es die Wechselwirkung zwischen Flächen- schutzvorgaben verschärft, mit dem Ziel, die Netto-Treibhausgas- nutzung und Erreichbarkeit in den Mittelpunkt stellt und in den neutralität bereits bis 2045 zu erreichen.6 Auf welche Weise und Kontext nachhaltiger Raum- und Verkehrsentwicklung bettet. mit welchen konkreten Maßnahmen die ambitionierten Zielset- Das Projekt untersucht, wo die Kommunen bei der Umsetzung zungen herbeigeführt werden sollen, bleibt weitgehend offen. solch ganzheitlicher Ansätze stehen und welche Herausforderun- gen dabei zu bewältigen sind. Auch gesellschaftliche, rechtliche, Im Mobilitätssektor wird bereits intensiv daran gearbeitet, die organisatorische und ökonomische Rahmenbedingungen wer- schädlichen Auswirkungen des Verkehrs zu begrenzen und einen den in diesem Zusammenhang analysiert. 1 | Vgl. Estrada et al. 2017, S. 1. 2 | Vgl. European Environment Agency 2021. 3 | Vgl. Mobilitätsmonitor 2020. 4 | Vgl. Mobilitätsmonitor 2021. 5 | Vgl. Europäischer Rat 2021. 6 | Vgl. § 3 Absatz 2 KSG. 7 | Vgl. Agora Verkehrswende 2021. 8 | Vgl. Nationale Plattform Zukunft der Mobilität 2021a. 9 | Siehe Koalitionsvertrag 2021, S. 52. 8
Einleitung 1.1 Projektansatz Der vorliegende Zwischenbericht präsentiert die Zwischenergeb- nisse der bisherigen Auseinandersetzung im Zuge des acatech In Zusammenarbeit mit einer interdisziplinär zusammengesetz- Projekts Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Er ten Projektgruppe werden die oben aufgeführten Fragestellun- soll einen Einstieg in die Thematik bieten, grundlegende konzep- gen untersucht. Qualitative Analysen zur Umsetzung ergänzen tionelle Zusammenhänge von Raum und Mobilität erklären, zen- die Diskussion. Dabei stehen Organisationsstrukturen, Prozesse trale Fragestellungen aufzeigen und einen Ausblick auf die wei- und Handlungsansätze, Hemmnisse und Hürden wie auch för- tere Projektbearbeitung geben. Die Publikation führt Ergebnisse dernde Bedingungen bei der Umsetzung integrierter Stadtent- zusammen, die aus zwei Projektworkshops, vertiefenden Inter- wicklungs- und Mobilitätsplanungsansätze in Deutschland und views mit Mitgliedern der Projektgruppe und einer Literaturana- Europa im Fokus der Betrachtung. Neben der begleitenden Ver- lyse der bestehenden Forschung gewonnen wurden. Ausgewähl- öffentlichung in weiteren Publikationen zu projektrelevanten te Kernaussagen aus den Interviews sind in der Publikation in Teilinhalten werden die Ergebnisse mit Projektende in einer aca- Form von anonymisierten Zitaten wiedergegeben. tech STUDIE publiziert. Die acatech STUDIE wird durch einen kommunalen Leitfaden ergänzt, welcher als Handreichung für Kommunen dienen und bei der Umsetzung eines integrierten Planungsansatzes unterstützen soll. 9
2 Mobilität in Stadt Räumliche und zeitliche Erreichbarkeit regionen Im Kontext physischer Mobilität beschreibt Erreichbar- keit die Möglichkeit, Orte für verschiedene Aktivitäten mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln aufzusuchen. Da- 2.1 Was bedeutet Mobilität? bei ist zu unterscheiden zwischen der Erreichbarkeit aus Perspektive der Individuen und der Erreichbarkeit von Standorten. Menschen sind aus vielen unterschiedlichen Gründen unter- Erreichbarkeit ist abhängig von wegs: Der tägliche Weg zur Arbeit, in die Schule oder den Kin- § räumlichen Komponenten wie der Verteilung von In- dergarten, dienstliche Wege, Freunde und Bekannte treffen, Ein- frastruktur und Angeboten, kauf und der Transport von Gütern, der Arztbesuch oder einfach § Komponenten des Verkehrssystems und Raumwider- zum Vergnügen – aus all diesen Gründen sind Menschen aktiv, ständen, suchen Orte auf und sind damit mobil. § zeitlichen Komponenten der Verfügbarkeit bezie- hungsweise Zugänglichkeit von Angeboten, § individuellen Komponenten und Fähigkeiten.12 Welche Technologien und Mobi- litätsmodelle erwarten uns in Zu- kunft? Die aktuelle Ausgabe der Die zunehmende digitale Vernetzung ermöglicht außerdem vir- acatech HORIZONTE10 richtet den tuelle Mobilität. Von unserer physischen Mobilität entkoppelt, Blick auf die Transformation unserer können wir uns auch im virtuellen Raum bewegen. Durch den Mobilität. Einsatz von digitalen Technologien können zu jeder Zeit und an jedem Ort vielfältige Aktivitäten wahrgenommen werden, ohne dabei den eigenen physischen Standort zu verändern. Die- Unter Mobilität werden unterschiedliche und teilweise wider- se „Gleichzeitigkeit“ verändert unsere Mobilitätspraktiken. Ak- sprüchliche Dinge verstanden. Zur Einordnung ist eine Unter- tuelle Beispiele sind mobiles Arbeiten, Distance Learning oder scheidung zwischen potenzieller und realisierter Mobilität hilf- Onlineshopping. reich: „Potentielle Mobilität ist die Beweglichkeit von Personen, allgemein und als Möglichkeit. Realisierte Mobilität ist realisier- In Abhängigkeit von Zweck und Regelmäßigkeit unterscheidet te Beweglichkeit, ist die Befriedigung von Bedürfnissen durch man zwischen langfristiger Mobilität (zum Beispiel bei einer um- Raumveränderung.“11 zugsbedingten Verlagerung des Lebensmittelpunkts), Alltagsmo- bilität, Freizeitmobilität und Urlaubsmobilität. Diese Begriffe las- In diesem Projekt verstehen wir Mobilität primär als potenziel- sen sich in der Regel nicht eindeutig voneinander abgrenzen, vor le Mobilität und damit als Möglichkeit der Teilnahme an Aus- allem Freizeitmobilität weist Überschneidungen mit Alltags- und tausch- und Vermittlungsprozessen. Mobilität ist damit eine Urlaubsmobilität auf. Als Beschreibungsgröße der Alltagsmobilität Grundvoraussetzung dafür, das eigene Leben zu gestalten und kann die Anzahl der erreichten Ziele beziehungsweise zurückgeleg- am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. ten Wege pro Tag herangezogen werden.13 Das Projekt Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung fokussiert auf die Be- trachtung der Alltagsmobilität. Diese ist vor allem im täglichen Lebensumfeld ein bedeutender Verkehrsfaktor, der besonders stark von lebensräumlichen Strukturen bestimmt ist. 10 | Vgl. acatech 2021. 11 | Siehe Becker et al. 1999, S. 71. 12 | Vgl. Geurs/Van Wee 2004, S. 128. 13 | Vgl. Lenz 2018. 10
Mobilität in Stadtregionen 2.2 Verkehr und Verkehrsmittelwahl Erreichbarkeit der Angebote, der Wegezweck und Transportbe- darf, aber auch die körperlichen Voraussetzungen, die Verkehrs- Verkehr dient der Umsetzung der Mobilität in physische Ortsver- mittelverfügbarkeit, Transportkosten, das Sicherheitsempfinden änderung. Er ist das Aggregat aus realisierter Mobilität und auf der Strecke oder die Witterungsverhältnisse. Je nach Ver- entsteht durch die tatsächliche Bewegung von Personen oder den fügbarkeit sowie individueller Abwägungen und Präferenzen Transport von Gegenständen im Raum.14 Als Beschreibungsgröße werden unterschiedliche Verkehrsmodi als besonders attraktiv wird häufig der Verkehrsaufwand herangezogen, welcher die Ge- betrachtet oder überwiegend genutzt. Diese Zusammenhänge samtfahrleistung im Personen- beziehungsweise Güterverkehr in zeigen sich auch in zahlreichen internationalen Studien.16 Personenkilometer beziehungsweise Tonnenkilometer angibt. 2.3 Alltagsmobilität in Stadtregionen Verkehrsmittelwahl und Modal Split: Die alltäglich ge- nutzten Fortbewegungstechniken können folgenderma- Alltagsmobilität findet überall dort statt, wo Menschen le- ßen gruppiert werden: ben und aktiv sind. Das Projekt Integrierte Stadtentwicklung § Fußverkehr und Mobilitätsplanung fokussiert auf die Alltagsmobilität in § Radverkehr Stadtregionen. § Öffentlicher Verkehr (ÖV) beziehungsweise Öffentli- cher Personennahverkehr (ÖPNV) Als Stadtregion verstehen wir dabei den gesamten Raum, wel- § Motorisierter Individualverkehr (fahrende und mit- che durch städtische Strukturen geprägt ist. Dazu zählen die fahrende Personen) urbanen Teilräume genauso wie jene umliegenden Teilräume, Die Erfassung der Anteile dieser Kategorien an den die durch eine starke Vernetzung und Wechselwirkung mit den gesamt zurückgelegten Wegen beziehungsweise am meist zentral gelegenen urbanen Teilräumen geprägt sind. Beide Verkehrsaufwand bezeichnet man als Modal Split, Teilräume werden als gleichermaßen bedeutende Bestandteile eine wichtige Kenngröße für die Analyse urbaner komplexer Netzwerkstrukturen betrachtet.17 Mobilitätssysteme. Stadtregionen können sich je nach lokaler Ausprägung stark voneinander unterscheiden, sie umfassen monozentrische Me- Die Wahl des Verkehrsmittels für einzelne Wege ist dabei tropolregionen genauso wie polyzentrische Regionen und die grundsätzlich eine individuelle Entscheidung. Sie unterliegt je- Regionen von Klein- und Mittelstädten.18 In der Untersuchung doch einer Vielzahl von angebots- und nachfrageorientierten werden rein ländliche Räume nur am Rande behandelt da diese Faktoren15. Dazu zählen etwa die lokale Angebotsqualität, die abweichende Mobilitätsdynamiken aufweisen. 14 | Vgl. Becker et al. 1999. 15 | Vgl. Koszowski et al. 2019. 16 | Vgl. Chalkia et al. 2019/Schönfelder et al. 2010, S. 31–49. 17 | Vgl. UBA 2021a, S. 7. 18 | Die in diesem Projekt als Untersuchungsräume betrachteten Stadtregionen entsprechen den Raumtypen 71–75 der regionalstatistischen Raumty- pologie gemäß RegioStaR 7. Sie umfassen 39,1 Prozent der Landesfläche Deutschlands bei 75,8 Prozent der Bevölkerung. Vgl. BMVI 2020. 11
Wie sind wir unterwegs? Wie bewegen wir uns fort, welche Herausforderungen sind damit verbunden? Die folgenden Grafiken geben einen Überblick über den Status quo, Entwicklungen und Tendenzen … Welche Verkehrsmittel nutzen wir? a 10- bis 19-Jährige sowie über 70-Jährige sind mit einem Anteil von etwa 40 % am häufigsten zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. a 12 % Männer im Alter zwischen 30 und 60 Jahren 23 % legen die längsten Wegstrecken zurück, gleichaltrige Frauen legen 30 % kürzere Wegstrecken 12 % zurück und nutzen 50 % seltener den 53 % motorisierten Individualverkehr. a Wie unterscheidet sich die Verkehrsmittelwahl in zentralen und p eripheren Gebieten? b Personen mit hohem ökonomischen Status legen 18 % mehr Wege und 50 % 10 % größere Tagesentfernungen zurück als Personen 20 % mit niedrigem ökonomischen Status. a 15 % 26 % 8% 43 % 16 % 62 % 13 Millionen bzw. 39 % zentral der deutschen Erwerbstätigen pendeln in einen anderen Kreis. c peripher a | Vgl. MiD Ergebnisbericht 2017, Modal Split des Verkehrsaufkommens für Stadtregionen (RegioStaR 7 71–75), eigene Berechnung. b | Vgl. MiD Ergebnisbericht 2017, Modal Split des Verkehrsaufkommens, Vergleich RegioStaR 7 71–72 (zentral) vs. 73–74 (peripher), eigene Berechnung. c | Vgl. Pendleratlas 2020. 12
Mobilität in Stadtregionen Warum sind wir unterwegs? e Welche Verkehrsmittel werden für welche 7 km 16 km Wegstrecken genutzt? d 15 km Ø Weglänge 0 km 1 km 2 km 5 km 10 km 20 km 50 km 70 km 5 km 6 km 27 % 7% 30 % 28 % 5% Frauen legen doppelt so viele Begleitwege zurück wie Männer, Männer wiederum doppelt so viele dienstliche Wege wie Frauen.e Wie hat sich unsere Fortbewegung verändert? Gesamt f Metropolen g 2002 2017 2002 2017 Bei nahezu gleichbleibender Anzahl von täglich 3,1 Wegen ist die Tagesstrecke um 23 % 21 % 35 % 33 % 18 % auf 39 km gestiegen. f 9% 11 % 12 % 18 % 9% 10 % 17 % 18 % Die durchschnittliche Anzahl der PKW pro Haushalt ist von 1998 bis 2018 58 % 58 % 37 % 31 % um 11% auf 1,08 gestiegen. h Abbildung 1: Wie sind wir unterwegs? Zahlen und Fakten zum Verkehrsverhalten (Quelle: eigene Darstellung) d | gl. MiD Regionalbericht Metropolregion Hamburg 2017. V e |Vgl. MiD Ergebnisbericht 2017. f |Vgl. MiD Zeitreihenbericht 2002–2008–2017, Entwicklung des Modal Splits des Verkehrsaufkommens in Deutschland. g | Vgl. MiD Zeitreihenbericht 2002–2008–2017, Entwicklung des Modal Splits des Verkehrsaufkommens in Metropolen in niedrigen Distanzklassen, eigene Berechnung. h | Vgl. Statistisches Bundesamt 2018, Ausstattung privater Haushalte mit Fahrzeugen. 13
Welche Auswirkungen hat Verkehr? Straßen machen rund 20 % der 43 % der PKW-Neuzulassungen in Deutschland sind 2019 großvolumige Fahrzeuge (SUV, Vans, Geländewagen, Kleinbusse). k bebauten Fläche in Städten aus. i 33 % 3 % 19 % 39 % Anteil der dedizierten Infrastruktur je Verkehrsmittel an der Straßenfläche in Berlin j Fahrzeuge werden immer größer: Seit 1950 stieg die durchschnittliche Fahrzeuglänge um 10 % auf 4,65 m, die durchschnittliche Fahrzeugbreite um 15 % auf 1,85m. k Tägliche Kosten für die Fläche eines Parkplatzes (= ^12 m²) l als Anwohnerparkplatz: max. 0,08 € Miete für privaten Abstellplatz in Garage: Flächenverbrauch rund 2–18 € pro Person m Nutzungsgebühr für 12m² Marktstand: rund 4–18 € 140 m2 20 m2 7 m2 5 m2 2 m2 Auto, Auto, Straßenbahn, Radfahrer, Fußgänger 50 km/h, geparkt 50 Insassen 15 km/h 1 Insasse i | gl. Angel et al. 2012. V j | Vgl. Nello-Deakin 2019. k | Vgl. Huber/Schwedes 2021. l | Vgl. Difu Standpunkt: Bewohnerparken in Städten 2020, regionale Werte für Schwerin beziehungsweise München Schwabing. m | Vgl. Milieudefensie 2017. 14
Mobilität in Stadtregionen CO2- Ausstoß im Verkehrssektor: Entwicklung seit 2010 150 und Reduktionsziel 2030 in Deutschland. n Emissionen in Mio. t. CO2-Äq. 100 50 0 2010 2020 2030 60–70 % der verkehrsbedingten Feinstaub Der Straßenverkehr verursacht 39 % emissionen werden durch Abrieb verursacht. o der Stickoxidemissionen (NO ). x q Allein der durchschnittliche Reifenabtrieb pro 1.000 Fahrtkilometer Mehr als die Hälfte der Deutschen fühlt wiegt mit 120 g p mehr als eine Tafel Schokolade. sich von Straßenverkehrslärm gestört oder belästigt. r 41 Stunden suchen Autofahrende jährlich einen innerstädtischen 75 % der Unfälle mit Personenschaden Parkplatz. Die Suche dauert durchschnittlich 6 Minuten. geschehen innerorts. v Dabei werden etwa 2,7 km zurückgelegt. s, t 30 % der Verkehrstoten in Deutschland Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit im motorisierten waren zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. v Individualverkehr in deutschen Städten liegt auf dem letzten Kilometer unter 30 km/h. u Kinder können erst mit etwa 11 Jahren Deutsche Autofahrende stehen jährlich sichere Querungsstellen im im Schnitt 46 Stunden im Stau. u Straßenraum wie Erwachsene identifizieren. w Abbildung 2: Welche Auswirkungen hat Verkehr? Zahlen und Fakten zu Verkehrsfolgen (Quelle: eigene Darstellung) n | Vgl. UBA 2021b. o | Vgl. SZ 2019. Der Blick auf unser Verkehrsverhalten und die dadurch p | Vgl. ADAC 2021. q | Vgl. European Environment Agency 2021. induzierte Belastungssituation für Mensch und Umwelt r | Vgl. UBA 2022 zeigt, dass es auf dem Weg zu lebenswerten, klima s | Vgl. Inrix 2017. t | Vgl. ADAC 2020, eigene Berechnung. neutralen, sicheren und sozial gerechten Stadtregionen u | Vgl. Inrix Verkehrsstudie 2020. viel zu tun gibt. Zur nachhaltigen Gestaltung unserer v | Vgl. Statistisches Bundesamt 2020, Verkehrsunfälle. Mobilität werden unterschiedliche Ansätze verfolgt. w | Vgl. Schmidt/Funk 2021. 15
3 Nachhaltige Raum- „Es geht darum, dass wir etwas nachhalten. Dass wir so mit Ressourcen umgehen, dass auch zukünftige Generati- und Verkehrs onen diese verwalten und mitgestalten können.“ entwicklung Der spätestens mit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre breit geführte, gesellschaftspolitische Diskurs über die Grenzen Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für die Funktionsfä- des Wachstums20 hat vielfältige Definitionen von Nachhaltig- higkeit unserer Gesellschaft und Wirtschaft: Sie ermöglicht die keit und damit auch begriffliche Unschärfen hervorgebracht. Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und trägt Weitgehender Konsens in der Konzeptionalisierung des Begriffs zu Beschäftigung und Wohlstand bei. Gleichzeitig zieht unsere besteht darin, dass die tragende Struktur der Nachhaltigkeit die Mobilität Verkehr auf den Straßen nach sich. Dieser belastet das drei Bereiche Ökologie, Ökonomie und Soziales umfasst und Klima, die Umwelt und die Lebensqualität. Es stellt sich also die damit von einem Zusammenhang der sozioökonomischen Ent- Frage, wie sich Mobilität und Nachhaltigkeit in Einklang brin- wicklung mit Ressourcenverbrauch und Umweltqualität aus- gen lassen. geht. Das Quintupel der Nachhaltigkeit erweitert das Nachhal- tigkeitsdreieck um zwei Dimensionen: das Kulturelle im Sinne der ästhetischen Gestaltung und der kulturellen Weiterentwick- 3.1 Zum Begriff der Nachhaltigkeit lung sowie die Gesundheit im Sinne physischer und psychisch- emotionaler Befindlichkeiten der Menschen.21 „Nachhaltigkeit bedeutet, mit den Ressourcen zu haushalten. Hier und heute sollten Menschen nicht auf Kosten der Men- Nachhaltiges Handeln erfordert, mit unseren natürlichen Le- schen in anderen Regionen der Erde und auf Kosten zukünftiger bensgrundlagen so umzugehen, dass zukünftige Generationen Generationen leben.“19 die gleichen Wahlmöglichkeiten haben wie wir heutzutage.22, 23 Damit ist der Grundidee der Nachhaltigkeit eine globale und in- tergenerationelle Gerechtigkeitskomponente inhärent, die der sozial sozial psychisch- kulturell emotional und Nachhaltigkeit physisch Nachhaltigkeit ökonomisch ökologisch ökonomisch ökologisch Abbildung 3: Dreieck der Nachhaltigkeit (Quelle: eigene Abbildung 4: Quintupel der Nachhaltigkeit (Quelle: eigene Darstellung) Darstellung nach Beckmann 2000) 19 | Siehe BMU 2021. 20 | Vgl. World Commission on Environment and Development 1987. 21 | Vgl. Beckmann 2000. 22 | In dem Klimabeschluss von 2021 kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass dem Grundgesetz ein verfassungsrechtlich verbindli- cher Auftrag zum Klimaschutz innewohnt, der zwangsläufig zur Klimaneutralität führt. Freiheit könne nicht nur im Hier und Jetzt gedacht werden, sondern müsse immer die Implikationen ihres Gebrauchs für die Zukunft bedenken. Vgl. Aust 2021. 23 | Vgl. Becker/Jahn 2006, S. 240 ff. 16
Nachhaltige Raum- und Verkehrsentwicklung Freiheit des Einzelnen Grenzen setzt, sofern andere weit entfernt oder erst zukünftig lebende Personen in ihrer Handlungsfreiheit Handlungsprinzipien für Nachhaltigkeit26, 27 beeinträchtigt werden.24 Neben diesem normativen Postulat birgt der Begriff aber auch ein analytisches Potenzial, Entwick- Effizienz zielt auf eine ergiebigere Nutzung von Rohstof- lungsprozesse zu untersuchen und operative Handlungsprinzipi- fen und Ressourcen ab. Ziele werden dadurch mit ge- en zu definieren, um kurzfristige Problemlösungen in langfristige, ringstmöglichem Einsatz von Material, Fläche oder Ener- politisch-strategische Transformationsprozesse zu überführen.25 gie erreicht. Sowohl die Frage, was für künftige Generationen erhalten wer- Konsistenz zielt auf naturverträgliche und kreislauf- den soll, als auch Strategien und Maßnahmen für die Umset- gerechte Stoff- und Energieströme ab. Die Leistungen zung müssen Gegenstand kontinuierlicher gesellschaftlicher der Ökosysteme werden dabei genutzt, ohne diese zu Aushandlungen sein. Dabei ist es wichtig, diesen gesellschafts- zerstören. politischen Diskurs durch Bewusstseinsbildung und Sensibilisie- rung zu unterstützen. Suffizienz zielt auf eine Änderung der Konsum- und Pro- duktionsmuster ab, die einen reduzierten Rohstoff- und Ressourcenverbrauch erfordern. Nachhaltigkeit als politische Zielsetzung Auf internationaler Ebene haben die Vereinten Nationen treibhausneutralen Kontinent zu machen. Laut „Green 2017 in der Agenda 2030 17 politische Zielsetzungen Deal“ müssen verkehrsbedingte Emissionen bis 2050 im für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Deve- Vergleich zu 1990 um 90 Prozent verringert werden.30 Mit lopment Goals, SDGs) formuliert.28 Die nationale Nach- der Änderung des Klimaschutzgesetzes im Jahr 2021 haltigkeitsstrategie29 übersetzt diese Ziele in nationales hat sich die Bundesrepublik Deutschland ambitioniertere Handeln. Nachhaltige Mobilität ist direkt und indirekt in Ziele gesetzt: Sie strebt die Netto-Treibhausgas-Neutralität mehreren Zielen adressiert. bereits bis 2045 an. Im Verkehrssektor sollen die Treib- hausgasemissionen bis 2030 auf 85 Mio. Tonnen CO2- Die Europäische Union hat mit dem „European Green Äquivalent gesenkt werden,31 das entspricht einer Reduk- Deal“ das Ziel ausgerufen, Europa bis 2050 zum ersten tion um 48 Prozent gegenüber dem Bezugsjahr 1990. Abbildung 5: Nachhaltige Mobilität zahlt auf unterschiedliche Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen ein (Quelle: UN 2017). 24 | Vgl. Ekardt 2010, S. 10. 25 | Vgl. Becker et al. 1999., S. 243. 26 | Vgl. Behrendt et al. 2018. 27 | Vgl. Deutscher Städtetag 2021. 28 | Vgl. UN 2017. 29 | Vgl. Bundesregierung 2021. 30 | Vgl. EU-Kommission 2020. 31 | Vgl. § 4 Absatz 1 KSG. 17
3.2 Nachhaltige Mobilität: Eine Verbesserung des Verkehrs soll diesen möglichst umwelt- „verbessern, verlagern, freundlich und ressourcensparsam abwickeln und damit die negativen Begleiterscheinungen möglichst geringhalten. Ef- vermeiden“ fizienzsteigernde Technologien können zu einem umwelt- und klimaschonenden Verkehr beitragen, zum Beispiel indem die Überträgt man die obigen Überlegungen auf die Verkehrsthe- Energiebilanz von Fahrzeugen in Produktion und Betrieb opti- matik, stellt sich die Frage, wie wir unsere Mobilität umwelt- miert wird. Alternative Antriebssysteme wie Elektromotoren oder und sozialverträglich gestalten können.32 Wir verstehen unter Brennstoffzellen sowie die Verwendung von postfossilen Kraft- nachhaltiger Mobilität „möglichst viele Möglichkeiten und stoffen (erneuerbare Energien, Wasserstoff etc.) sind im Betrieb Freiheiten der Alltagsgestaltung mit möglichst wenig Ver- perspektivisch wesentlich emissionsärmer als herkömmlich mo- kehrsaufwand und möglichst geringen negativen Folgen“33 torisierte Fahrzeuge.35 Geringere Fahrzeugmasse36 und weniger für Mensch und natürliche Umwelt. In Forschung und Praxis Fahrtwiderstände, etwa durch kleinere und leichtere Fahrzeuge, folgen die Handlungsprinzipien den Prämissen „verbessern, ver- können den Energieverbrauch reduzieren.37 Eine gezielte Steue- lagern und vermeiden“34. Aufgrund der besonders hohen negati- rung des Verkehrs durch intelligente Verkehrsleitsysteme kann ven Effekte des motorisierten Individualverkehrs (MIV) innerhalb den Verkehrsfluss und die Auslastung der bestehenden Infra- des Personenverkehrs nimmt der diesen Prinzipien zugrunde lie- struktur effizienter gestalten. gende Maßnahmenmix vor allem diesen Sektor in den Blick: Die Verlagerung des Verkehrs zielt darauf ab, den Umstieg vom individuell genutzten motorisierten Verkehr auf klimafreundli- „Nachhaltige Mobilität bedeutet, Mobilitätsbedürfnisse chere Alternativen wie das Zufußgehen, das Fahrrad oder den tatsächlich zu befriedigen, aber in einer Weise, dass so- öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu fördern. In der Re- wohl die ökonomischen als auch die sozialen und auch die gel kommt dabei eine Kombination aus Pull- und Push-Maßnah- ökologischen Randbedingungen dabei beachtet werden.“ men zum Einsatz. Unter Pull-Maßnahmen werden in der Regel angebots- geteilter Mobilität, also zu Sharing- oder Ride-Pooling- orientierte Veränderungen verstanden. Dazu zählen Angeboten. beispielsweise die Bevorrechtigung des öffentlichen Verkehrs an Ampeln oder dessen verbesserte Taktung, Push-Maßnahmen haben zum Ziel, die Nutzung des um diesen zu beschleunigen. Auch infrastrukturelle motorisierten Individualverkehrs (MIV) durch regulative Angebotsverbesserungen wie (virtuelle) Haltestellen, Steuerung beziehungsweise Kostenanlastung weniger Mobilitätsstationen, sichere Abstellmöglichkeiten für attraktiv zu machen. Die Regulation kann sich dabei zum Fahrräder oder der Ausbau sicherer Geh- und Radwege Beispiel im Ordnungsrecht (Umweltzonen, Geschwindig- können die Attraktivität erhöhen. Technologische und keitsbegrenzungen etc.) oder bei der Kostenanlastung datengestützte Innovationen, die die Vernetzung un- (CO2-Besteuerung, Parkraumbewirtschaftung etc.) und terschiedlicher Mobilitätsangebote erleichtern, können in der Umgestaltung der Straßeninfrastruktur nieder- als Hebel für veränderte Mobilitätspraktiken wirken. Ver- schlagen, indem Flächen des MIV zugunsten anderer kehrsmittelübergreifende Reise- und Buchungsapps er- Nutzungen umverteilt werden. Ein wichtiger Erfolgsfak- leichtern beispielsweise die inter- und multimodale Fort- tor von Push-Maßnahmen ist die notwendige Überwa- bewegung und ermöglichen den einfachen Zugang zu chung und Durchsetzung der Bestimmungen. 32 | Vgl. Banister 2008/Jourmad/Gudmundsson 2010. 33 | Siehe acatech 2021, S. 9. 34 | Vgl. Gertz/Holz-Rau 1994/Banister 2011. 35 | Vgl. Nationale Plattform Zukunft der Mobilität 2021b. 36 | Vgl. Küng et al. 2019. 37 | Vgl. Bigazzi/Rouleau 2017. 18
Nachhaltige Raum- und Verkehrsentwicklung Damit knüpfen Nachhaltigkeitsstrategien des Verbesserns und zurückzulegender Wege über erhöhte Kosten für Autofahrende des Verlagerns dort an, wo Verkehr bereits stattfindet. Sie haben kann zwar verkehrsreduzierend wirken, ist allerdings vor dem keinen direkten Einfluss auf den Verkehrsaufwand in Form der Hintergrund sozialer Fragestellungen zu diskutieren. Kenngröße der zurückgelegten Personenkilometer. Hier kommt die dritte Handlungsstrategie, die der Verkehrs- „Unsere Gesellschaft ist divers. Entsprechend wichtig vermeidung, zum Tragen: Der Verkehrsaufwand lässt sich über ist es, alle Personengruppen, die Altersfrage und die Ge- die Anzahl der Wege oder die zurückzulegenden Wegstrecken schlechterfrage zu berücksichtigen. Wir brauchen eine in- beeinflussen. klusive Mobilität, die alle Lebensstile respektiert …“ Wird die Anzahl der Wege verringert, werden weniger Ziele er- reicht, was sich negativ auf gesellschaftliche Teilhabe und Teil- Eine nachhaltige Lösung zur Verkehrsvermeidung liegt darin, an nahme auswirken kann. Weniger Wege bedeuten unter dieser der Stellschraube der zurückzulegenden Wegstrecken zu dre- Voraussetzung individuelle Einschränkungen in der Mobilität hen. Wie das gelingen kann, zeigt eine Betrachtung des Zusam- und der freien Lebensgestaltung. Die Steuerung der Anzahl menhangs von Raum und Mobilität: Wenn Nachhaltigkeit „unter die Räder“ gerät: Rebound- und Backfireeffekte Ein bedeutender Risikofaktor von Nachhaltigkeitsstra- Individuelle Verhaltensänderungen – in diesem Fall grö- tegien im Verkehrssektor sind Reboundeffekte.38 Da- ßere Distanzen – können also technologisch mögliche bei handelt es sich um unerwünschte Nebeneffekte, Ressourceneinsparungen schmälern. Gleichzeitig können welche die Ressourceneinsparungen, die durch Tech- auch systemische oder technische Entwicklungen und nologien und Innovationen erst möglich wurden, wie- Trends Reboundeffekte auslösen. Dies wird am Beispiel der aushebeln. Ist im Vergleich zur Ausgangssituation veränderter Fahrzeugdimensionierungen deutlich. Immer sogar ein insgesamt höherer Energie- beziehungsweise größere, schwerere und stärker motorisierte Fahrzeuge Ressourcenverbrauch zu verzeichnen, spricht man von haben einen entsprechend höheren Energie- beziehungs- Backfireeffekten. weise Kraftstoffbedarf. Größe, Gewicht und Leistung he- ben Effizienzsteigerungen von Motorentechnologien oder Die Entstehung von Reboundeffekten liegt häufig in alternativer Antriebsformen wiederum auf. technologisch und innovationsbedingten Verhaltens- oder Systemänderungen begründet. Im Verkehrsbe- Generell lassen sich Reboundeffekte, da sie oft auch in- reich lässt sich dies am Beispiel von Innovationen in der direkt auftreten, nie gänzlich vermeiden. Einsparungs- Fahrzeugtechnologie veranschaulichen: So hat sich der versprechen, die Reboundeffekte ignorieren, führen Wirkungsgrad von Motoren in den vergangenen Jahr- allerdings zu Fehleinschätzungen und -prognosen. Da- zehnten durch technologische Innovationen kontinu- her ist es notwendig, unerwünschte Nebeneffekte mög- ierlich erhöht. Entsprechend sank der Kraftstoffbedarf lichst zu antizipieren und bei Kalkulationen und Planun- pro Fahrzeug und zurückgelegtem Kilometer. Bei nahe- gen zu berücksichtigen – insbesondere im Kontext von zu gleichbleibenden Treibstoffausgaben erweitert sich Innovationen wie Elektrifizierung, Automatisierung und damit allerdings auch der persönliche Aktionsradius. digitaler Vernetzung.39 38 | Vgl. Walnum et al. 2014. 39 | Vgl. Gudmundsson et al. 2010. 19
3.3 Zusammenhang von Raum und Bahn- beziehungsweise Korridorräume41 sind Räume, Mobilität die durch die Verbindung von Start- und Endpunkt de- finiert sind, im Vordergrund steht die Qualität dieser Im Zusammenhang von Raum und Mobilität liegt das Potenzial, Verbindung. Verkehrstrassen wie Straßen oder Bahnstre- Mobilität insgesamt nachhaltiger zu gestalten, ohne die indivi- cken etwa werden häufig als Korridorräume betrachtet. duelle Mobilität dabei einzuschränken. Denn über verdichtete und nutzungsgemischte sowie attraktive Raumstrukturen – so Ortsräume beschreiben konkrete, geografisch markier- die These – verkürzen sich die zurückzulegenden Alltagswege bare Stellen. Sie weisen eine individuelle Ortsqualität zum Beispiel für den Einkauf, die ärztliche Versorgung oder auf, welche sich über die geografische Lage und Topo- Sport- und Freizeitaktivitäten. Gibt es vor Ort vielfältige, anspre- grafie, die Nutzung und subjektive Wahrnehmung sowie chende Angebote, spart das nicht nur Zeit, sondern es hat auch das Wechselspiel mit anderen Räumen definiert. einen positiven Effekt auf das Verkehrsaufkommen: § Weite Alltagswege werden obsolet. Dabei ist eine Zuschreibung dieser Raumfiguren meist nicht § Aktive Fortbewegung (das Zufußgehen und Radfahren) wird singulär, vielmehr treten die Raumfiguren überlagert auf. Ein attraktiver. und derselbe Raum kann gleichzeitig von unterschiedlichen § Der öffentliche Raum wird in seiner Funktion als Ort des Auf- Raumfiguren geprägt sein, diese stehen entsprechend häufig enthalts, der Begegnung und des Austauschs gestärkt. auch in Konflikt zueinander. So steht die Territoriallogik von po- litisch-rechtlich definierten Verwaltungseinheiten den stadtregi- Zur Herleitung dieser These ist es zielführend, sich mit den raum- onalen Anforderungen entgegen, zwischen unterschiedlichen theoretischen Begriffen der „Raumfiguren“ auseinanderzuset- Verwaltungsgebieten ein durchgängiges Netzwerk von Verbin- zen, die unterschiedliche Raumlogiken sowie deren Wechselwir- dungen aufzubauen und abzustimmen. kungen beschreiben. Auch Orts- und Korridorlogik stehen häufig in gegenseitigem Konflikt. Aus Sicht von Nutzenden, für die der Raum überwie- Raumfiguren40 gend als Spiel-, Freizeit-, Aufenthalts- und Lebensraum fungiert, stehen die Ortslogik und die Ortsqualität im Vordergrund. Für Territorialräume sind Räume, die durch eine klare Gren- Nutzende, welche den Raum überwiegend als Durchfahrts- und ze nach außen (ab)getrennt sind. So ist die politische Verkehrsraum nutzen, sind die Korridorlogik und die Korridor- Verwaltung in der Regel auf ein entsprechendes Territo- qualität von primärem Interesse. Diese Qualitäten können ein- rium beschränkt. ander jedoch negativ beeinflussen. Netzwerkräume basieren auf der Verbindung unter- Die Raumfiguren und -logiken ermöglichen damit ein besseres schiedlicher Elemente. So beschreiben beispielsweise öf- Verständnis von Wechselwirkungen und Konfliktpotenzialen fentliche Verkehrsnetze Netzwerkräume, indem sie unter- rund um die Handlungsfelder Flächennutzung und Mobilität. schiedliche Orte einer Region miteinander verknüpfen. 40 | Vgl. Löw/Knoblauch 2021. 41 | Zur eindeutigen begrifflichen Abgrenzung von der Bahn als Verkehrsmittel wird in dieser Publikation, abweichend von Löw/Knoblauch, der Begriff der „Korridorräume“ verwendet. 20
Nachhaltige Raum- und Verkehrsentwicklung 3.4 Regelkreis Flächennutzung und einzelnen Bereiche einander beeinflussen.43 Hierdurch entsteht Verkehr eine selbstverstärkende Wirkung, welche bestehende Strukturen verfestigt. Grundsätzlich sind Flächennutzung und Verkehr zwei Hand- Darauf aufbauend beschreiben Wegener und Fürst den Regel- lungsfelder, zwischen denen enge Wechselwirkungen beste- kreis Flächennutzung und Verkehrssystem. Dieser befasst sich hen.42 Die Erschließung und Anbindung eines Standorts durch mit der grundsätzlichen Abhängigkeit von Verkehrssystem, Er- das Verkehrssystem beeinflusst seine Attraktivität und in Folge reichbarkeit, Flächennutzung und Aktivitäten.44 die Flächennutzung an diesem Standort. Die Flächennutzung wiederum beeinflusst durch die Verteilung von Zielen im Raum § Das bestehende Verkehrssystem beschreibt die vorhande- und deren Erreichbarkeit das Verkehrssystem und die Mobilitäts- ne Verkehrsinfrastruktur und die verfügbaren Verkehrsmittel praktiken. und -angebote. Daraus ergeben sich Reisezeiten, Kosten und Attraktivität der Verkehrsmittel. Damit bestimmt das Ver- Dieser Zusammenhang von Flächennutzung und Verkehrssys- kehrssystem die … tem wird in unterschiedlichen Modellen diskutiert. Kutter präg- § … Erreichbarkeit. Dieser Begriff fasst zusammen, wie gut te dazu bereits 1975 das Bild eines Regelkreises, in dem die Ziele erreichbar sind. Sie besteht nicht nur aus der reinen Reisezeit zum Ziel, auch Faktoren wie Kosten, Verbindungs- komfort und Sicherheitsempfinden beeinflussen die Erreich- barkeit. Erreichbarkeit ist einer der bestimmenden Faktoren der … Verkehrssystem § … Flächennutzung. Standortqualität und Erreichbarkeit bestimmen, welche Projekte an welchen Standorten entwi- ckelt werden. Dadurch werden unterschiedliche Angebote erzeugt, die bauliche Dichte bestimmt die Anzahl an Ange- boten. Die Angebotsauswahl und -vielfalt beeinflusst die … § … Aktivitäten der Menschen. Die Kombination aus Vielfalt und Lage der Angebote ist dabei Grundlage für die Wahl der Erreichbarkeit Aktivitäten individuellen Zielorte der Alltagsmobilität. Die Umsetzung dieser Mobilität resultiert in Verkehr, welcher wiederum das Verkehrssystem prägt. Eine Thematik, die im Modell von Wegener und Fürst nur am Rande berücksichtigt wird, ist die Raumqualität, die in Wechsel- Flächennutzung beziehung zu allen Elementen des Regelkreises steht. Auf Basis der unterschiedlichen Raumfiguren muss dabei vor allem das Wechselspiel von Orts- und Korridorqualitäten betrachtet wer- den. Nachfolgend wird daher die jeweilige Rolle von Orts- be- Abbildung 6: Regelkreis von Flächennutzung und Verkehrs ziehungsweise Korridorqualitäten bei der Betrachtung des system (Quelle: eigene Darstellung nach Wegener/Fuerst Zusammenhangs von Verkehrssystem und Flächennutzung in 2004) den Mittelpunkt gestellt. 42 | Vgl. Kitamura et al. 1994/Holz-Rau/Scheiner 2019. 43 | Vgl. Kutter 1975. 44 | Vgl. Wegener/Fuerst 2004, S. viii. 21
3.5 Regelkreis der autogerechten wurde ab dem 19. Jahrhundert die Begrenzung durch Stadtmau- ern gelöst. Über die Trassen der Eisenbahn wurde eine Ausdeh- Stadt45 nung des individuellen Aktionsradius möglich. in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erleichterte die Verbreitung des Automobils Die Wechselwirkungen des Regelkreises von Flächennutzung als Massenfortbewegungsmittel die Überwindung natürlicher und Verkehrssystem führen zu einer selbstverstärkenden Wir- Raumwiderstände, gleichzeitig etablierten sich Planungsparadig- kung, das heißt, sie verfestigen bestehende Verkehrssysteme. men einer Funktionstrennung von Wohnen, Arbeit und Freizeit, Im Kontext einer Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung führt beschrieben durch die Charta von Athen 1933. In Kombination dies dazu, dass Pfadabhängigkeiten bestehen und historische wirkten diese beiden Entwicklungen stark distanzfördernd. Durch Entwicklungen einen hohen Einfluss auf die aktuelle Situation die Fokussierung auf die Fernerreichbarkeit in allen Bereichen ausüben.46 Um diese historischen Pfade zu verlassen, müssen er- wurde ein sich selbst verstärkender Mechanismus in Gang ge- hebliche systemische Widerstände überwunden werden. setzt, der das Automobil in den Fokus der Stadt- und Verkehrsin- frastrukturplanung rückte.47 Dieser Regelkreis der autogerechten Während die meisten Städte in vorindustriellen Zeiten auf Kom- Stadt rückt die Korridorqualität ins Zentrum und wird nachfol- paktheit ausgerichtet und damit fußläufig erschlossen waren, gend in Anlehnung an den allgemeinen Regelkreis skizziert: Autogerechtes Verkehrssystem Fernerreichbarkeit Korridorqualität Disperse Aktivitäten Funktionstrennung Abbildung 7: Der Regelkreis der autogerechten Stadt fokussiert Korridorqualitäten (Quelle: eigene Darstellung). § Durch die steigende Verbreitung von Automobilen und die großen Einzugsgebiete konzentrieren sich Angebote an we- damit mögliche höhere Geschwindigkeit sinkt die Reisezeit, nigen, gut erreichbaren Orten, wo Großinfrastrukturen ent- sodass Raumwiderstände abgebaut werden. Dadurch steigt stehen. Die Qualität von Räumen bemisst sich daher vor die Erreichbarkeit von fernen Zielen. allem an der Erreichbarkeit und an Korridorqualitäten, Orts- § Die bessere Fernerreichbarkeit ermöglicht es, Städte und qualität ist meist von untergeordneter Bedeutung. Nutzungen zu trennen. Dadurch ändert sich die Flächennut- § Durch die Nutzungstrennung werden die alltäglichen Wege zung, während die bauliche Dichte abnimmt. Aufgrund der zwischen Wohnen, Arbeiten und Bedürfniserfüllung weiter, 45 | Vgl. Sheller/Urry 2000. 46 | Vgl. Fischedick/Grunwald 2017, S. 25. 47 | Vgl. Reichow 1959. 22
Nachhaltige Raum- und Verkehrsentwicklung größere Entfernungen werden im Zuge der Alltagsmobilität Aufgrund der Prägung von Städten durch das Automobil erge- zurückgelegt. Dies verstärkt die Priorisierung von Korridor- ben sich Pfadabhängigkeiten. Verstärkt werden diese durch qualitäten über Ortsqualitäten. Marktmechanismen, die eine Konzentration und Maßstabsver- § Die großen Entfernungen der alltäglichen Mobilität begüns- größerung von Infrastrukturen befördern. Dieser Sachverhalt ma- tigen schnelle Verkehrsmittel. Nutzungstrennung und ge- nifestiert sich etwa in dezentralen und primär durch den mo- ringere städtebauliche Dichte stehen im Konflikt zur Bünde- torisierten Individualverkehr (MIV) erschlossenen Einkaufs- und lungswirkung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Fachmarktzentren, welche die Versorgung eines sehr großen Ein- Damit steigt die Attraktivität des Automobils als Hauptver- zugsgebiets abdecken. Die Pfadabhängigkeiten führen dazu, kehrsmittel. Um Staus und Überlastungen zu vermeiden, dass eine Abkehr von einem Automobil-fokussierten Verkehrssys- wird die Infrastruktur des Automobils weiter ausgebaut. tem hin zu nachhaltigeren Systemen mit erheblichen Widerstän- Dies verbessert Korridorqualitäten weiter, geht jedoch zulas- den verbunden ist. ten der Ortsqualitäten anliegender Räume. § Durch den Fokus auf eine autogerechte Infrastruktur und Um diese Pfadabhängigkeit zu durchbrechen, sind neben einem Korridorqualitäten wird die Fernerreichbarkeit weiter ge- hohen Veränderungsdruck auch überzeugende Alternativen stärkt und Raumwiderstände werden abgebaut. notwendig. Eine Alternative muss dabei die Vorteile des aktuel- len Systems, also die gute Erreichbarkeit von vielfältigen Zielen, Über den gesamten Regelkreis hinweg werden somit Korridor- erhalten und die negativen Aspekte wie den hohen Verkehrs- qualitäten gegenüber Ortsqualitäten priorisiert. Dadurch wird aufwand und die daraus folgenden Umwelt- und Klimabelas- eine Alltagsmobilität gefördert, die auf Entfernung ausgelegt ist tungen reduzieren. Ein Verkehrssystem, welches auf Ortsqualität und das Verkehrsmittel Auto systematisch bevorzugt. Dies geht und Nutzungsmischung fokussiert und dadurch die Erreich- einher mit einer positiven Konnotation von Autobesitz als Sta- barkeit von Zielen in der Nähe stärkt, kann diese Alternative tussymbol für individuellen Wohlstand. bieten. „Wir haben seit etwa hundert Jahren einen Regelkreis, bei dem sich die Zentralisierung und das Auseinanderrücken von Einrichtungen und die höhere Geschwindigkeit ge- genseitig bedingen.“ 23
3.6 Regelkreis der Mobilität im Teilnehmenden orientiert und auf Grün- und Freiräume setzt, för- Nahraum48 dert stattdessen sogar die Teilhabe und Teilnahme der Menschen am öffentlichen Leben und wertet noch dazu das Stadtbild auf.49 Dieser Ansatz, welcher in der Neuen Leipzig-Charta50 als Kernele- Eine planerische Rückbesinnung auf die Ortsqualität kann die ment der europäischen Stadt beschrieben und in unterschied- Verkehrsleistung reduzieren, ohne die Menschen in ihrer All- lichen Leitbildern vertieft wird, etwa in der 15-Minuten-Stadt,51 tagsmobilität einzuschränken. Eine lokale Raumplanung, die dem Transit Oriented Development (TOD)52 oder dem Superblock- sich an Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr (ÖV) und deren Konzept in Barcelona,53 kann wie folgt veranschaulicht werden: Aktives Verkehrssystem Naherreichbarkeit Ortsqualität Lokale Aktivitäten Funktionsmischung Abbildung 8: Im Zentrum des Regelkreises der stadtverträglichen Mobilität steht die Ortsqualität (Quelle: eigene Darstellung). § Eine gute Ortsqualität unterstützt eine lokal ausgerichte- Möglichkeiten, Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzu- te Lebensführung. Kann ein Individuum seine alltäglichen legen. Mit einer guten Ortsqualität wird also auch die aktive Bedarfe (Wohnen, Arbeit, Einkauf, Arztbesuch, Freizeitgestal- Mobilität attraktiver. tung, Spielmöglichkeiten, Bildungseinrichtungen, Zugang zu § Aufgrund der kürzeren Wegstrecken und des höheren Anteils Mobilitätsangeboten) möglichst vor Ort erfüllen und besteht aktiver Mobilität verliert die Korridorqualität zugunsten der zudem eine hohe Aufenthaltsqualität (Attraktivität des öf- Ortsqualität an Bedeutung, der Bedarf an Straßeninfrastruk- fentlichen Raums, Verweilmöglichkeiten, Barrierefreiheit, tur für den motorisierten Individualverkehr (MIV) sinkt. Eine physische und psychische Sicherheit), ist es seltener erforder- Neuverteilung des öffentlichen Raums zugunsten von Infra- lich, lange Distanzen zurückzulegen. strukturen aktiver Mobilität und des öffentlichen Verkehrs § Ist es wegen eines guten Vor-Ort-Angebots nicht zwin- sowie von Aufenthalts-, Frei- und Grünflächen wird mög- gend erforderlich, weite Distanzen zurückzulegen, nimmt lich. Durch den Rückbau der Verkehrsfläche des MIV erhöht der Zwang ab, im Alltag das Auto zu nutzen. Es gibt mehr sich wiederum die Ortsqualität. 48 | Vgl. Urry 2002. 49 | Vgl. BSBK 2020. 50 | Vgl. BMI 2020. 51 | Vgl. Moreno 2020. 52 | Vgl. Belzer/Autler 2002. 53 | Vgl. Mueller et al. 2020. 24
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