Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR

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Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
6. Projektaufruf »Stadtentwicklung und Migration«                     Foto: MarioGuti@gettyimages

            gestalten
            Ankunftsstädte
                                                    Pilotprojekten
                                                    Impulse aus den
Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
Impressum
    Herausgeber
    Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
    im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
    Deichmanns Aue 31–37, 53179 Bonn

    Wissenschaftliche Begleitung
    Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
    Referat RS 2 „Stadtentwicklung“
    Stephan Willinger und Katharina Hackenberg

    Auftragnehmer
    empirica ag
    Meike Heckenroth und Timo Heyn
    Kurfürstendamm 234, 10719 Berlin
    Telefon (030) 88 47 95-0
    www.empirica-institut.de

    Stand
    April 2021

    Satz und Layout
    Mia Sedding, Indivisual Berlin

    Druck
    Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn
    Gedruckt auf Recyclingpapier

    Bestellungen
    nationale-stadtentwicklungspolitik@bbr.bund.de; Stichwort: Ankunftsstädte

    Bildnachweis
    Titelbild: MarioGuti@gettyimages;
    Mahmoud Dabdoub: S. 25, 26; empirica: S. 4, 31, 38, 40, 41, 43, 44, 49, 70;
    FatCamera@gettyimages: S. 46; fotografixx@gettyimages: S. 20, 52;
    Kerstin Hehmann: S. 33; LeoPatrizi@gettyimages: S. 68;
    Martina Meyer, Stadt Saarbrücken: S. 3; Maskot@gettyimages: S. 14;
    Thomas Müller, IBA Thüringen: S. 60; olli0815@iStock: S. 65; Stadt Osnabrück: S. 23;
    Stadt Saarbrücken: S. 8, 11, 28, 62; Martin Schaarschmidt, Plattform e.V.: S. 56;
    Mia Sedding: S. 18/19, 34/35; City of Toronto: S.22; Urban Catalyst: S. 66;
    Diana Wetzestein: S. 54

    Nachdruck
    Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit genauer Quellenangabe gestattet.
    Bitte schicken Sie uns zwei Belegexemplare zu.

    Der Herausgeber übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit, die Genauigkeit und
    Vollständigkeit der Angaben sowie für die Beachtung privater Rechte Dritter. Die
    geäußerten Ansichten und Meinungen müssen nicht mit denen des Herausgebers
    übereinstimmen.

    ISBN 978-3-87994-528-3                                                                 Bonn 2021

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Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
Inhalt

    05
    Einführung

    09
    Ankunftsstädte und
    Ankunftsquartiere in
    Deutschland

    15                         PatchWorkCity: Teppich der Vielfalt

    Ankunftsstädte             Foto: Martina Meyer, Stadt Saarbrücken

    und Ankunftsquartiere
    gestalten

    21
    „Ankommen“ als
    Dimension von Stadt-       53
    entwicklung                Arbeiten in
                               Ankunftsquartieren
    29
    Dialoge führen –           61
    gesamtstädtisch und        Nachbarschaft und
    im Quartier                Zusammenleben –
                               Ankommen ermöglichen
    39
    Wohnen in der              69
    Ankunftsstadt              Ankunftsquartiere
                               strategisch begleiten
    47
    Bildung als Schlüssel in   74
    Ankunftsquartieren         Literatur

                                                                        3
Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
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Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
Anzahl eine besondere Herausforderung dar. ­Um
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                                                                                 sind die Kommunen in sämtlichen Handlungs-
                                                                                 feldern gefordert. Wohnraumversorgung und
                                                                                 soziale Infrastruktur, Sprache und Bildung,
                                                                                 Qualifizierung und Arbeitsmarkt, Partizipation

                 Einführung                                                      und bürgerschaftliches Engagement gehören
                                                                                 hierbei zu den zentralen Themen. Aber auch
                                                                                 der Dialog zwischen Politik, Verwaltung und
                                                                                 Bürgerschaft wird immer wichtiger, ist doch
                                                                                 die Haltung gegenüber Geflüchteten in unseren
                                                                                 Stadtgesellschaften nicht durchweg von Offenheit
                                                                                 und Hilfsbereitschaft bestimmt. Mancherorts
                                                                                 fallen rechtspopulistische Stimmungsmache und
                 Stadtgeschichten sind immer auch Migrations­                    Mobilisierung mittlerweile stärker ins Gewicht,
                 geschichten. Von Beginn an haben Wanderungs­                    auch der Zuspruch zu islamfeindlichen und
                 bewegungen zur Entwicklung und Urbanität unserer                nationalistischen Positionen wächst. Teile der
                 Städte maßgeblich beigetragen. Und auch heute gehört            Mehrheitsbevölkerung kommen mit diesem
                 das Kommen, Gehen und Bleiben selbstverständlich                vielfältigen Deutschland nicht zurecht, fühlen
                 zum urbanen Alltag. Mittlerweile leben Menschen                 sich fremd und schalten auf Abwehr. Für den
                 aus allen Teilen der Welt in unseren Städten. Lokale            Zusammenhalt vor Ort ist es daher bedeutend,
                 Kulturen, Lebensstile und Alltagspraktiken, die sonst           den Dialog zu suchen, die Stadtgesellschaft für die
                 geografisch und zeitlich weit voneinander entfernt              notwendigen Integrationsleistungen zu sensibi-
                 sind, vermischen sich in den städtischen Räumen und             lisieren und gemeinsam zu verhandeln, wie ein
                 prägen das Zusammenleben vor Ort. Im Jahr 2015 hat              Zusammenleben in Vielfalt gelingen kann. Dabei
                 das nächste Kapitel in den Migrationsgeschichten                geht es um Fragen von Teilhabe, Partizipation,
                 unserer Städte begonnen. Seitdem sind über eine                 Chancengerechtigkeit und Zugehörigkeit.
                 Million Menschen nach Deutschland gekommen, um
                 Zuflucht vor Krieg, Verfolgung und Not zu finden.               Perspektiven verändern
                 Diese Zuwanderung hat die deutsche Gesellschaft in                    Die Bemühungen vor Ort sollten insgesamt
                 Bewegung versetzt und besonders unsere Städte und               von einem integrationspolitischen Verständnis
                 Gemeinden vor vielfältige Aufgaben gestellt.                    geleitet sein, das auf einen gleichberechtigten
                                                                                 Zugang zu zentralen Bereichen des gesellschaft-
                             Integration ermöglichen                             lichen Lebens abzielt. In diesem Verständnis geht
                                   Für die Kommunen in Deutschland ist           es auch darum, die Kompetenzen und Fertig-
                             Integration keine neue Aufgabe, vor allem nicht     keiten der Menschen in den Fokus zu rücken
                             für die größeren Städte, die über langjährige       und nicht in eine rein defizitorientierte Haltung
                             Erfahrungen in der Integrationsarbeit verfügen      zu verfallen, die Integration ausschließlich auf
                             und grundlegende Strukturen für eine erfolg-        den Status einer dauerhaften sozialen Fürsorge
                             reiche Integrationspolitik aufgebaut haben.         reduziert. Vielmehr gilt es, die Kompetenzen
                             In zahlreichen Kommunen ist Integration             und Fertigkeiten der Menschen in den Fokus zu
                             als Politikfeld verankert. Sie haben eigene         rücken und entsprechend nicht nur die Probleme,
                             Integrationskonzepte erarbeitet und ihr Engage-     sondern auch Potenziale zum Ausgangspunkt
                             ment in diesem Aufgabenbereich verbindlich und      von Maßnahmen zu machen. Genauso braucht
                             nachhaltig gestaltet. Zudem bestehen vielerorts     es eine diversitätsbewusste Perspektive. Gruppen
                             bereits etablierte Netzwerke in der Integrations-   von Personen mit Migrationshintergrund werden
                             arbeit, in denen Akteure aus Politik, Verwaltung    oftmals als eine in sich geschlossene kulturelle
                             und lokaler Zivilgesellschaft gemeinsam aktiv       Einheit angesehen. Doch innerhalb dieser
                             sind. Doch wenngleich in vielen Kommunen            Gruppen besteht eine außerordentliche Diversität
                             weitreichende Erfahrungen im Umgang mit             hinsichtlich sozialer Lage, Bildung, familiärer
Foto: empirica

                             Migration vorliegen, so stellt die Integration      Situation, Lebensstil, religiöser Bindung, Aufent-
                             der Geflüchteten schon allein aufgrund ihrer        haltsstatus oder sonstiger Merkmale. Strategien

                                                                                                                                  5
Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
und Maßnahmen zur Integration müssen dies            einzubeziehen, ihre Kompetenzen und Potenziale
    berücksichtigen und sich an der tatsächlichen        für die Gestaltungsprozesse vor Ort zu nutzen und
    Vielfalt orientieren. Integrationspolitisches        somit eine Perspektive einzunehmen, die Migra-
    Handeln sollte sich zudem nicht nur einseitig auf    tion als Ressource der Stadtentwicklung versteht.
    Migrantinnen und Migranten beziehen, sondern
    Teilhabemöglichkeiten für alle Bürgerinnen und       Ankunftsstadt als Referenz
    Bürger eröffnen, sodass insgesamt ungleiche                Die Idee der „Ankunftsstadt“ geht auf den
    Zugangschancen und strukturelle Ausschlüsse          kanadischen Journalisten Doug Saunders zurück.
    verringert werden.                                   Er veröffentlichte im Jahr 2013 das Buch „Die neue
                                                         Völkerwanderung – Arrival City“, sprach 2015 auf
    Strategien entwickeln                                dem Bundeskongress der Nationalen Stadtent-
          Das Thema Migration und Integration bringt     wicklungspolitik, prägte den deutschen Beitrag
    also eine Fülle von Aufgaben für unsere Städte und   „Making Heimat. Germany, Arrival Country“ zur
    Gemeinden mit sich, stellt immer wieder neue         Architekturbiennale in Venedig im Jahr 2016 und
    Anforderungen und verlangt ein fortwährendes         wurde in der Folge auch auf stadtpolitischer Ebene
    Überprüfen bestehender Narrative, Praktiken und      von Entscheidungstragenden rezipiert.
    Strategien. Um die aktuellen Aufgaben zu lösen             Anhand von internationalen Beispielen
    und die sich bietenden Entwicklungsmöglich-          aus Istanbul, Shenzhen, Rio de Janeiro, Berlin,
    keiten auszuschöpfen, gilt es, das Wissen und die    Nairobi, Mumbai, Toronto oder Los Angeles
    Instrumente der integrierten Stadtentwicklung zu     beschreibt Saunders was passiert, wenn Men-
    nutzen, vorhandene Ansätze weiterzuentwickeln,       schen migrieren und in Großstädten ankommen.
    aber auch neue unerprobte Wege zu gehen.             Als Gemeinsamkeit dieser Migrationsprozesse
          Nach einem Projektaufruf zum Thema             beschreibt er, dass sich in all diesen Städten
    „Stadtentwicklung und Migration“ hat die             bestimmte Orte des Ankommens herausbilden,
    Nationale Stadtentwicklungspolitik zehn Pilot-       die für die Ankommenden von zentraler
    projekte ausgewählt, die sich mit der Integration    Bedeutung sind. Diese Ankunftsquartiere
    von Zugewanderten im Rahmen integrierter             zeichnen sich nach Saunders vor allem dadurch
    Stadt­entwicklung auseinandersetzen und hier         aus, dass niedrige Eintrittsschwellen für den
    innovative Ansätze erproben. Die Pilotprojekte       Zugang zu Erwerbsstrukturen und soziale Netz-
    waren über ganz Deutschland verteilt und             werke bestehen, die ein wirkliches Ankommen
    umfassten Städte verschiedener Größenordnung –       überhaupt erst möglich machen.
    angefangen von der Metropolregion bis hin                  Mit seinen Beispielen lädt er dazu ein, diese
    zum ländlichen Raum. Allen Pilotprojekten war        Orte des Ankommens nicht als Problemfälle,
    gemeinsam, dass sie Stadtentwicklung als eine        sondern als dynamische Orte einer Stadt zu ver-
    Gemeinschaftsaufgabe verstanden. Sie arbeiteten      stehen. Durch soziale, ökonomische und politische
    bei ihren Vorhaben mit verschiedenen Ver-            Netzwerke sowie durch Eigeninitiative der
    waltungseinheiten zusammen, vernetzten sich          Ankommenden entstehen dort Innovation und
    mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, banden die     Emanzipation. Dem in seinem Buch als einziges
    Bürgerschaft über Dialogprozesse ein und regten      deutsches Beispiel vertretenen Berlin-Kreuzberg
    zu Eigeninitiative und Selbstorganisation an.        sowie daraus abgeleitet der gesamten bundes-
    Immer war es das Ziel, die Zugewanderten aktiv       deutschen Migrationspolitik stellte Saunders noch

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Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
2013 ein schlechtes Zeugnis aus: „Die deutsche         stehen. So ist die starke Fluchtwanderung in einer
Politik schien von Anfang an darauf ausgerichtet,      Phase hoher Marktanspannung und Wohnraum-
eine gescheiterte Ankunftsstadt hervorzubringen,       verknappung in den wachsenden Städten erfolgt.
deren Bewohner sich weder am Zielort auf               Dies hat preiswerten Wohnraum zu einer Mangel-
sinnvolle Weise fest einrichten noch realistische      ware gemacht hat. Viele Stadtteile sind zwar gut
Erwartungen auf eine endgültige Rückkehr in            mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar.
ihre Dörfer hegen konnten.“ Doch hat sich dies in      Doch für die am Stadtrand gelegenen Gemein-
Folge der starken Flucht-Migration ab 2015 schritt-    schaftsunterkünfte, in denen viele Geflüchtete
weise geändert. Die „Ankunftsstadt“ wird von           untergebracht wurden, gilt dies sicher nicht.
verschiedenen Akteuren in Deutschland nun als          Und der Zugang zu Arbeitsplätzen ist selbst unter
ein stadtplanerisches Instrument fokussiert. Von       den Bedingungen hohen Fachkräftebedarfs für
niedrigschwelligen Zugängen zu Wohnungen und           Ankommende mit hohen Hürden versehen, wie
zum Arbeitsmarkt sowie von gemischt genutzten          das Pilotprojekt Fachwerktriennale schmerzhaft
Straßenzügen und der Aneignung öffentlicher            erfahren musste. Ganz zu schweigen von den
Räume sind viele deutschen Städte jedoch noch          (fehlenden) Möglichkeiten für informelle Aktivi-
immer weit entfernt.                                   täten und Selbsthilfe am Bau, wie am Standort
      Auch mehrere der 2016 gestarteten Pilot-         Erfurt des Pilotprojekts ArrivalStadtLand augen-
projekte aus dem Projektaufruf „Stadtentwicklung       fällig wurden. Wenn Saunders feststellt, es helfe,
und Migration“ haben den Begriff „Ankunftsstadt“       „wenn es in Städten Gebiete gibt, an denen die
als Referenz und zugleich als Herausforderung          Flächennutzungsplanung gelockert wird, sodass
gewählt und in ihre Projekttitel aufgenommen.          die Bewohner solcher Stadtteile selber bestimmen
Die Spanne reicht von der Ankunftsstadt Hanau          können, ob ein bestimmter Ort als Wohnraum,
über die Ankunftsregion Rhein-Main bis zu              „Suq“, Einzelhandels- oder Gewerbeeinheit genutzt
einem ArrivalStadtLand (IBA Thüringen). In ihren       werden soll“ (Nationale Stadtentwicklungspolitik,
Projekten haben sie auf ganz unterschiedliche          2017), dann ist er damit zwar nah an den Vor-
Weise versucht, die von den Kuratierenden des          stellungen des Informellen Urbanismus, aber weit
deutschen Biennale-Beitrags gemeinsam mit Doug         entfernt von der deutschen Wirklichkeit.
Saunders entwickelte „Anleitung zur Ankunfts-                 Gerade die Überlagerung der von Saunders
stadt“ (vgl. Seite 17) kreativ zu interpretieren und   formulierten Thesen mit der deutschen Projekt-
auf die konkreten Herausforderungen anzu-              wirklichkeit zeigt eine Vielzahl von Heraus-
wenden – in einer Thüringer Kleinstadt oder in         forderungen, vor denen deutsche Städte immer
einem Zentrum im Ballungsraum Rhein-Main.              noch stehen, wenn sie tatsächlich Ankunftsstädte
      Auf den ersten Blick mögen einige der hier       werden wollen. Die Pilotprojekte haben hier
aufgeführten Charakteristika in deutschen Städten      durch mutige Experimente eine Vorreiter-
als gegeben gelten: Verfügen wir nicht über            rolle übernommen und wichtige Erfahrungen
gut ausgebaute öffentliche Infrastrukturnetze?         gesammelt, aus denen wir lernen sollten.
Sind unsere Schulen nicht gut ausgestattet? Bei
näherem Hinsehen – und gerade bei der kon-             Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
kreten Erprobung in den Pilotprojekten – zeigte
sich recht schnell, warum wir bei der Gestaltung       Stephan Willinger und
von Ankunftsstädten noch vor großen Aufgaben           Katharina Hackenberg

                                                                                                       7
Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
Ankunftsstädte und
                          Ankunftsquartiere in
                          Deutschland

                             Deutschland als Einwanderungsland                  Wanderungsgewinne durch EU-Ost­
                                    Deutschland ist mit den verschiedenen       erweiterung und Fluchtwanderungen
                             Phasen der Zuwanderung in den vergangenen                Mit Beginn der vollen Arbeitnehmerfrei-
                             Jahrzehnten zu einem Einwanderungsland             zügigkeit im Jahr 2011 für die Staaten der EU-Ost-
                             geworden. Die Auslandszuwanderungen der            erweiterung 2004 und im Jahr 2014 für die Staaten
                             1950er bis Anfang der 1970er Jahre infolge der     der EU-Osterweiterung 2007 wuchs die Auslands-
                             Anwerbeabkommen mit den Herkunftsstaaten           wanderung wieder an. Hinzu kam ein starker
                             der „Gastarbeiter“ (erstes Anwerbeabkommen         Zuzug aus den ökonomischen Krisenstaaten
                             mit Italien 1955) wurde noch als temporäre         der EU. Von 2011 bis 2015 ist die Zahl der nach
                             Zuwanderung verstanden. Nach dem Anwerbe-          Deutschland gekommenen geflüchteten Personen
                             stopp 1973 war die geringere Zuwanderung aus       stark angestiegen, zunächst noch häufig aus den
                             dem Ausland durch nachziehende Familien-           Westbalkanländern sowie später überwiegend
                             angehörige der „Gastarbeiter“ geprägt, die         aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran und Eritrea.
                             letztlich auch zu dem dauerhaften Status der       Nach 2015 hat sich die Zahl der nach Deutschland
                             Einwanderung gegenüber der zuvor temporären        gekommenen geflüchteten Personen bis auf
                             Zuwanderung geführt hat.                           unter 150.000 im Jahr 2019 reduziert (Statistisches
                                    Ende der 1980er Jahre folgte eine starke    Bundesamt 7.8.2020).
                             Phase der Auslandszuwanderung, die durch
                             ausgesiedelte Personen aus den ehemals kommu­      Ohne Wanderung würde Deutschland
                             nistischen Staaten Ost- und Südosteuropas          schrumpfen
                             geprägt war. Parallel erhöhte sich die Zahl der          Der Auslandswanderungssaldo liegt im
                             Asylsuchenden bis 1992, insbesondere aus Ost-      langjährigen Durchschnitt seit den 1960er Jahren
                             und Südeuropa sowie der Kontingentflüchtlinge      bei rd. 245.000 Personen pro Jahr. Ohne die Netto-
                             aus der ehemaligen Sowjetunion. Hinzu kamen        auslandszuwanderung wäre die Bevölkerungs-
                             Anfang der 1990er Jahre Kriegsflüchtlinge aus      entwicklung aufgrund der Sterbeüberschüsse
                             dem ehemaligen Jugoslawien. In den folgenden       in Deutschland bereits seit Jahrzehnten rück-
Foto: Stadt Saarbrücken

                             2000er Jahren sank die Auslandszuwanderung bis     läufig. Das Statistische Bundesamt geht in der
                             hin zu einem (statistisch) negativen Wanderungs-   14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung
                             saldo 2008 und einem historisch niedrigen Niveau   auch langfristig von Wanderungsgewinnen
                             (Statistisches Bundesamt 7.8.2020).                der Auslandswanderung aus. Gegenüber der

                                                                                                                                  9
Ankunftsstädte gestalten - Impulse aus den Pilotprojekten - BBSR
Auslandswanderungssaldo Deutschland
nach Kontinenten 1964 bis 2018

1.200.000

1.000.000

 800.000                                                                                                    Staatenlos,
                                                                                                            unbekannt,
                                                                                                            ungeklärt,
 600.000                                                                                                    ohne Angabe

                                                                                                            Australien und
 400.000                                                                                                    Ozeanien

                                                                                                            Amerika
 200.000

                                                                                                            Asi en
        -
                                                                                                            Afrika

-200.000                                                                                                    Europa

-400.000

            2006

            2009
            2000

            2004

            2008
            2005
            2002
            2003

            2007
            1966

            1969

            1996

            1999
            1990
            1964

            1994
            1968

            1998
            1965

            1995
            1992

            2016
            2001

            2010
            1993

            2014

            2018
            2015
            2012
            1976

            1979

            1986

            1989
            1967

            1997

            2013
            1970

            1980
            1974

            1984
            1978

            1988
            1975

            1985
            1972

            1982

            2017
            1973

            1983
            1977

            1987

            1991

            2011
            1971

            1981

Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis) 2020, eigene Darstellung

                       aktuellen Entwicklung werden etwas geringere       Anders als bei der Arbeitsmigration bzw. der
                       Wanderungsgewinne erwartet, die je nach            EU-Freizügigkeit erfolgt bei der Fluchtmigration
                       Variante bis 2030 auf etwa 110.000 bis 300.000     die räumliche Wohnortentscheidung gesteuert
                       Personen zurückgehen. Der Anteil der Menschen      durch Zuweisungen in Erstaufnahmeein-
                       mit Migrationshintergrund ist im Zeitverlauf       richtungen. In den Bundesländern werden
                       gestiegen: mehr als jeder vierte Mensch in         geflüchtete Menschen nach festgelegtem Ver-
                       Deutschland hat einen Migrationshintergrund.       fahren auf die Kommunen verteilt, sodass sich
                                                                          zunächst in etwa eine bevölkerungsproportionale
                       Zuzüge sind regional nicht gleichverteilt          Verteilung geflüchteter Menschen ergibt. Durch
                             Neu zugwanderte Menschen, die etwa im        die Wohnsitzregelung 2016 sind Schutz- und
                       Rahmen der EU-Freizügigkeit Deutschland als        Bleibeberechtigte unter bestimmten Voraus-
                       Zielland gewählt haben, ziehen nicht gleich-       setzungen verpflichtet, für die Dauer von drei
                       mäßig verteilt in alle Städte und Regionen.        Jahren nach Schutzanerkennung ihren Wohnsitz
                       Die Zuwanderung erfolgt vielmehr verstärkt         in demjenigen Bundesland zu nehmen, in das sie
                       in städtische Zentren mit einem breiteren          im Rahmen des Asylverfahrens zugeteilt wurden.
                       Arbeitsplatzangebot sowie dorthin, wo bereits      Nach der räumlich zunächst gleichmäßigeren
                       individuelle Kontakte bestehen. Die Chancen,       Verteilung ist erkennbar, dass Menschen mit
                       dass bereits Kontakte bestehen, sind wiederum      Fluchthintergrund im Zuge weiterer Umzüge,
                       dort höher, wo bereits viele Migrantinnen und      der Sekundärmigration, jeweils größere Zentren
                       Migranten wohnen, sodass sich daraus ein Selbst-   und Städte bevorzugen. In dem Maße, wie die
                       verstärkungseffekt ergibt.                         Geflüchteten sich in bestehende Netzwerke

10
Picknick am laufenden Meter –
                   organisiert vom Netzwerk
                   ANKOMMEN, PatchWorkCity-
                   Team und Staatstheater
                   Foto: Stadt Saarbrücken

integrieren, suchen sie die Nähe anderer           diskriminierende Mechanismen der Wohnungs-
Netzwerkmitglieder und Wohnraum in den             vergabe) die räumliche Konzentration in weniger
bestehenden Ankunftsquartieren der Großstädte.     nachgefragten Quartieren. Die Angewiesenheit
                                                   auf preiswerten Wohnraum trifft sowohl auf
Kleinräumige Konzentration mit höheren             die Haushalte zu, die im Leistungsbezug des
Anforderungen                                      SGB II sind, als auch auf Haushalte mit geringem
      Kleinräumig werden die Umzugsent-            Einkommen und daraus resultierender geringer
scheidungen der Migrantinnen und Migranten,        Wohnkaufkraft. Die residentielle Segregation geht
die auf preiswerten Wohnraum angewiesen            somit einher mit einer sozialen Segregation.
sind, am stärksten durch die lokalen Wohnungs-           Aufgrund der hohen Konzentration an neu
märkte gelenkt. Die Konzentration preiswerter      hinzuziehenden Migrantinnen und Migranten
Mietangebote besteht oft in Quartieren mit         erfordern diese Zuzugsquartiere vergleichsweise
höheren Anteilen an Wohnungsbeständen der          mehr unterstützende Aufmerksamkeit, um die
Wiederaufbauphase bis hin zu den größeren          Teilhabe der neuen sowie gleichzeitig der alten
Siedlungserweiterungen der 1970er Jahre bzw.       Bewohnerschaft in allen gesellschaftlichen
den Plattenbaugebieten in Ostdeutschland. Bei      Bereichen zu ermöglichen. Dazu gehören z. B. der
der Suche nach preiswerten Wohnungen in            Spracherwerb, Ausbildungs- und Arbeitsmarkt-
stärker nachgefragten Stadtlagen stehen neu        zugänge, Bildung und Betreuung oder Gesund-
zuziehende Migrantinnen und Migranten in Kon-      heit. Damit übernehmen diese Quartiere eine
kurrenz zu anderen Wohnungssuchenden. Hier         wichtige Rolle, wenn es um Teilhabechancen aller
verstärken Marktzugangshemmnisse (etwa durch       Bevölkerungsgruppen geht.

                                                                                                       11
Positive Segregation akzeptieren und                 Quartiersentwicklung als Schlüssel
negative Effekte verhindern                                Die Quartiersebene als Handlungsebene hat
       Bislang galt in der Stadtentwicklung das      sich in den vergangenen zwanzig Jahren – ins-
Ziel, räumliche Konzentrationen von Gruppen          besondere durch die Erfahrungen des Städte-
von Personen mit Migrationshintergrund bzw.          bauförderprogramms Sozialen Stadt – als sehr
Segregationsprozesse zu vermeiden. Aufgrund der      erfolgreich erwiesen, um Unterstützungsaufgaben
bisher damit verbundenen negativen Effekte, ­etwa    vor Ort zu organisieren. Auf Quartiersebene kann
der Stigmatisierung, aber auch der Überforderung     der Zugang zu Bewohnerinnen und Bewohnern
von Kommunen im Umgang mit den konzen-               leichter geschaffen werden aber auch Akteure,
trierten sozial-integrativen Anforderungen,          wie Träger sozialer Arbeit, Einrichtungen der
zählt die Vermeidung von Segregationseffekten        sozialen Infrastruktur sowie lokale Unter-
fast durchgängig zum Zielkanon der Stadtent-         nehmen können sich im Quartier zielgerichteter
wicklungspolitik. Doch seit Jahrzehnten gelingt      vernetzen. Die Initiierung und Moderation
es nicht oder nur sehr begrenzt, Segregations-       lokaler Netzwerke und Kooperationen in vor-
prozesse zu vermeiden. Auch mit der jüngsten         handenen Quartiersstrukturen durch Quartiers-
Phase der Auslandszuwanderung haben sich nach        managements ermöglicht vor Ort integrierte
bisherigen empirischen Befunden kleinräumige         Herangehensweisen, um die verschiedenen
Segregationsprozesse noch verstärkt. Im Zeit­        Teilhabedimensionen von Sprache über Bildung
verlauf ändert sich zudem die Wahrnehmung von        und Gesundheit bis Zugang zum Arbeitsmarkt zu
Segregation. In den Quartieren, in denen sich        bearbeiten.
„Communities“ herausgebildet und organisiert
haben, werden zunehmend positive Effekte             Segregierte Zuwanderungsstadtteile zu
wahrgenommen.                                        Ankunftsquartieren formen
       Es ist nicht die kleinräumige Segregation           Wenn auf Quartiersebene die Grundlagen
selbst, sondern die bislang fehlenden Konzepte       und Kooperationsstrukturen geschaffen werden,
für einen konstruktiven Umgang mit diesem            bestehende Einrichtungen und Räume qualifiziert
Phänomen, die problematisch waren. Segregation       werden und Ressourcen und Kapazitäten für die
gehört in ihren unterschiedlichen Ausprägungen       räumlich konzentrierten Aufgaben bereitgestellt
zur Realität der Stadtentwicklung. Und nur wenn      werden, können segregierte Zuwanderungs-
die positiven Effekte der Segregation erkannt und    quartiere systematisch zu Ankunftsquartieren
akzeptiert werden, können systematisch Instru-       weiterentwickelt werden. Die Bündelung von
mente entwickelt werden, Segregation gerade mit      Unterstützungsangeboten in Ankunftsquartieren
Blick auf die Aufgaben der Integration strategisch   sorgt nicht nur dafür, dass negative Effekte der
zu nutzen.                                           räumlichen Konzentration vermieden werden.
                                                     Sie sichert auch einen effizienten Einsatz knapper
                                                     Ressourcen durch gute Zugänge zu Zielgruppen,
                                                     Synergieeffekte und Mehrfachnutzungen von
                                                     Räumen.

12
Doug Saunders: Empfehlungen für                 Es ist wichtig, Orte der Begegnung zu schaffen.
Ankunftsstädte in Deutschland                   In englischsprachigen Ländern erfüllen Biblio-
                                                theken diese Funktion. Manche Menschen
Ankunftsstadtteile entstehen organisch, weil    mögen zunächst nur wegen des kostenlosen
Menschen mit Migrationshintergrund sich an      WLANs oder der Nutzung von Computern
den Plätzen niederlassen, an denen sie am       kommen, nutzen dann die öffentliche Biblio-
einfachsten ankommen können. Diese Orte         thek aber als Ort, um mit anderen ins Gespräch
zeichnen sich durch drei Dinge aus: Es gibt     zu kommen. Gerade weil die Wohnsituation
bezahlbaren Wohnraum, Beschäftigungs-           von Zugewanderten und Geflüchteten oftmals
möglichkeiten und Netzwerke von Menschen,       isoliert und beengt ist, nutzen sie solche multi-
die die gleiche Sprache sprechen und einen      funktionellen Orte als Wohnzimmer.
ähnlichen kulturellen Hintergrund haben.
Bezahlbarer Wohnraum ist noch am ehesten        Ankunftsstadtteile zu verhindern, heißt auch
zu vernachlässigen, weil Menschen mit           Menschen davon abzuhalten, gemeinsam
Migrationshintergrund einfach zusammen-         zu leben. Bestehende Ängste vor Ankunfts-
rücken. Aber wenn ein Stadtteil nicht die       stadtteilen können nur überwunden werden,
anderen zwei Voraussetzungen erfüllt, wird er   wenn sie sich von gefürchteten in attraktive
als Ankunftsstadtteil scheitern.                Orte verwandeln, die Menschen anziehen.
                                                Politik sollte daher Ressourcen für die
An diesem Punkt kommt die Stadtplanung          Existenzgründung bereitstellen. Ein Großteil
ins Spiel. Sie sollte Flucht- und Migrations­   der Zugewanderten und Geflüchteten wird
bewegungen antizipieren und von erfolg-         nicht Angestellte oder Angestellter, sondern
reichen Integrationsquartieren lernen.          Arbeitgeberin oder Arbeitgeber. Sie eröffnen
Verwaltung kann z. B. das Ankommen vor Ort      kleine Geschäfte oder Restaurants. Menschen
erleichtern, wenn es Gebiete gibt, an denen     bei der Firmengründung zu unterstützen, z. B.
die Planungsvorgaben gelockert werden,          durch Kredite – das hilft wirklich. Vielleicht
sodass die Bewohnerschaft selbst bestimmen      kann auch ein städtisches Budget zur Ver-
kann, ob ein bestimmter Raum als Wohnraum       fügung gestellt werden, im Sinne von „so
oder etwa als „Suq“, Einzelhandels- oder        kannst du dein kleines Café in ein Brasserie-
Gewerbeeinheit genutzt werden soll. Auch        Style Straßencafé umwandeln, sodass es auch
Nutzungsmischungen in einem Haus können         den europäischen Erwartungen an ein Café
helfen. Wenn die Nutzung von Orten organisch    entspricht.“ Dann ist auch das Phänomen wie
entsteht, kann Integration viel besser funk-    in Kreuzberg zu sehen – ein Ankunftsstadtteil
tionieren und Stadtteile verwandeln sich in     wird zum hippen In-Viertel. (Nationale Stadt-
attraktive Orte, die Menschen gerne besuchen.   entwicklungspolitik 2017a: 16f)

                                                                                                    13
Ankunftsstädte
                           und Ankunftsquartiere
                           gestalten

                              Deutschland ist über die vergangenen Jahrzehnte zu einem Einwanderungsland
                              geworden. Die jüngste Einwanderungsphase mit ihrem Höhepunkt im Jahr 2015
                              war Anlass für den 6. Projektaufruf der Nationalen Stadtentwicklungspolitik
                              zum Thema „Stadtentwicklung und Migration“. Aus einem breiten Feld an
                              Bewerbungen wurden zehn Pilotprojekte ausgewählt, die zwischen 2016 und
                              2019 innovative interdisziplinäre Ansätze für Ankunftsstädte und Ankunfts­
                              quartiere erprobten.

                              Zwar ist insgesamt unumstritten, dass Ankunfts-     • Wie verändern sich die Städte durch
                              quartiere eine wichtige Rolle in unserer              Zuwanderung und Vielfalt?
                              Gesellschaft übernehmen und damit auch einer        • Wie können Städte und Quartiere gestärkt
                              besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung           werden, um ein erfolgreiches Ankommen zu
                              bedürfen. Doch weil sich deutsche Städte erst         ermöglichen? Wie kann ein Zusammenleben in
                              nach und nach als Ankunftsstädte verstehen, fehlt     Vielfalt gelingen?
                              es an fundiertem Wissen darüber, wie wir diese      • Was können Kommunen unternehmen, um
                              Quartiere sowohl für Zuziehende als Durchgangs-       innerhalb der Verwaltung und gemeinsam
                              quartiere gestalten können und ihnen Möglich-         mit der Stadtgesellschaft offene Dialoge und
                              keiten zum gesellschaftlichen Aufstieg bieten         konstruktive Prozesse zur Gestaltung der
                              als auch für die, die bleiben, als qualitätsvolle     Ankunftsquartiere zu initiieren?
                              Wohnquartiere mit zufriedenstellenden Lebens-       • Welche Themen haben besondere Relevanz
                              bedingungen. Neue Wege im Umgang mit diesen           und welche Kooperationen braucht es zu deren
Foto: Maskot@gettyimages

                              Herausforderungen zu finden, war die Aufgabe          Stärkung, um zum Gelingen einer erfolgreichen
                              der zehn Pilotprojekte.                               Ankunftsstadt beizutragen, so wie sie von den
                                    Die Fragen, die zu dieser Zeit Akteure aus      Kuratoren des deutschen Biennale-Beitrags
                              allen gesellschaftlichen Gruppen in den Städten       gemeinsam mit Doug Saunders entwickelten
                              beschäftigten, waren:                                 wurden.

                                                                                                                               15
Anleitung

            Anleitung zur Ankunftsstadt (Arrival City)
            aus: Making Heimat. Germany, Arrival Country

            1.   Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt: Einwandernde
                 Personen suchen ihre Chancen in städtischer Dichte.

            2.   Die Arrival City ist bezahlbar: Günstige Mieten sind eine
                 Voraussetzung für die Attraktivität einer Stadt.

            3.   Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit: Arbeits-
                 plätze entstehen dort, wo es bereits Arbeitsplätze gibt. Ein
                 gutes öffentliches Verkehrsnetz ist unverzichtbar.

            4.   Die Arrival City ist informell: Die Tolerierung nicht gänzlich
                 rechtskonformer Praktiken kann sinnvoll sein.

            5.   Die Arrival City ist selbst gebaut: Selbsthilfe beim Bau
                 von Wohnraum wäre nötig und darf nicht durch zu hohe
                 Anforderungen verhindert werden.

            6.   Die Arrival City ist im Erdgeschoss: Ob kleinteilige Geschäfts-
                 räume im Erdgeschoss verfügbar sind, bestimmt die Qualität
                 des öffentlichen Raums.

            7.   Die Arrival City ist ein Netzwerk von einwandernden Personen:
                 Keine Angst vor ethnisch homogenen Vierteln: Sie ermöglichen
                 Netzwerke.

            8.   Die Arrival City braucht die besten Schulen: Die besten
                 Schulen sollten in den schlechtesten Vierteln sein, um die
                 Kinder zu qualifizieren.

                                 (Herausgeber: Peter Cachola Schmal et al., 2016)

16
Je nach Maßstab und Konstellationen der Akteure       den Ankommenden. Hierzu bedarf es vor allem
wurden in den Pilotprojekten unterschiedliche         einer zielgerichteten Kommunikation: Austausch-
Ansätze erprobt. Diese reichen vom Aufbau eines       formate, Dialoge im kleinen Rahmen und parti-
Bürgerhauses als Kristallisationsort in einer         zipativen Formen können Vertrauen stärken und
kleinen Gemeinde bis zur Erarbeitung von Ent-         zur Mitgestaltung von Nachbarschaft anregen.
wicklungskonzepten, partizipativen Ansätzen und       Mehrere Kommunen haben hier beispielhafte
Kampagnen auf Quartiers- oder gesamtstädtischer       Ansätze entwickelt!
Ebene. In den Pilotprojekten trafen unterschied-             Die in dieser Publikation dargestellten
liche Gruppen aufeinander, Ehrenamtliche und          Erfahrungen und erprobten Beispiele zur
Hauptamtliche, Alteingesessene und Neubürger-         Gestaltung von Ankunftsquartieren sollen
schaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft.             anregen, mit einem integrierten, kooperativen
      Die Pilotprojekte zeigen, dass die Gestaltung   und partizipativen Ansatz auf die besonderen
von Ankunftsstädten und Ankunftsquartieren            Herausforderungen in diesen Quartieren zu
ein Gemeinschaftswerk ist, das nur mit Hilfe          reagieren. Sie soll dazu inspirieren, unter
einer integrierten und fachübergreifenden             jeweils individuellen Ausgangs- und Rahmen-
Herangehensweise zu meistern ist. Dabei wurde         bedingungen jeder einzelnen Kommune
deutlich, dass in der Praxis noch nicht für alle      das Instrumentarium für die Gestaltung von
Themen und in allen Handlungsfeldern passende         Ankunftsquartieren weiterzuentwickeln.
Lösungen bereitstehen. Gänzlich neu war in vielen            Nach einem einführenden Kapitel werden
Pilotprojekten die intensive Beschäftigung mit        in sieben Abschnitten die Ergebnisse der
stadtgesellschaftlichen Dialogen, mit neuen Leit-     Pilotprojekte bezogen auf verschiedene Hand-
bildern und Narrativen zur Vielfalt in der Stadt.     lungsfelder vorgestellt. Dabei erfolgte auch der
      Die Erfahrungen aus den Pilotprojekten          Blick über den Tellerrand sowohl auf weitere
zeigen auch, dass Stadtentwicklung sehr               Kommunen bundesweit als auch international,
grundlegend ansetzen muss, um zu nachhaltig           u. a. auf Toronto, Kopenhagen oder Wien. Das
wirksamen Lösungen zu kommen. So war in               Hauptaugenmerk liegt dabei jeweils auf der mög-
mehreren Projekten der sensible Umgang mit            lichen Übertragbarkeit von Herangehensweisen,
inneren Konflikten und Ängsten ein wichtiger          Instrumenten und Maßnahmen auf andere Städte,
Schritt beim Ankommen in deutschen Städten.           um mit viel Ideenreichtum und Innovationskraft
Die Fragen der Menschen „Wer zieht in meine           den Aspekten zum Gelingen einer erfolgreichen
Nachbarschaft? Wie verändert sich mein Quar-          Ankunftsstadt, so wie sie von den Kuratierenden
tier?“ sind dabei genauso einzubeziehen, wie          des deutschen Biennale Beitrags gemeinsam mit
der Umgang mit den Traumata der Flucht oder           Doug Saunders entwickelten wurden, Rechnung
der Hoffnung auf sichere Bleibeperspektiven bei       zu tragen.

                                                                    Am Ende der folgenden Kapitel sollen Checks
                                                                    dabei unterstützen, die eigenen Ansätze zu
                                                                    überprüfen und ggf. durch neue Anregungen
                                                                    zu erweitern. Konkrete Fragen sollen Lücken
                                                                    aufzeigen und zur Diskussion über die
                                                                    Möglichkeiten zur Gestaltung von Ankunfts­
                                                                    städten anregen.

                                                                                                                  17
London,
                                                                      Großbritannien

Piloten, Satelliten und Sterne                                                                                  Kopenhagen,
Das Projekt-Universum                                                                                           Dänemark

„Stadtentwicklung und Migration“

     Vernetzung gestalten in Bocholt
     • Willkommenskultur nachhaltig stärken – Ehren­
       amtliches Engagement vor Ort in themen­bezogenen
       Arbeitsgruppen zusammen­f ühren
     • Konkrete Angebote zum Ankommen entwickeln –
       Fußball Akademie, Begegnungshaus und mehr
     • Geflüchtete begleiten – von der Erstunterbringung
       bis zur Integration in Nachbarschaften

         Toronto,
         Kanada

     Arrival Hanau – Ankommen in der Metropolregion                                        Altena
     gestalten
     • Planen für die Arrival City – Erarbeitung eines Hand­
       lungskonzeptes „Ankunftsstadt“
     • Flexibel reagieren, neue Nutzungskonzepte
       umsetzen – Pop-up-Wohnen oder urbane Gärten auf
       Konversionsflächen erproben
     • Strategische Blaupause für Ankunftsstadt entwickeln
       – Ansätze aus Hanau in die Region übertragen

     Kaiserslautern – Integration findet Stadt
     • Im Dialog zum Erfolg – Bürgerschaft wird durch                                                        Frankfurt
       verschiedene Beteiligungsformate selbst zum Akteur
       und gestaltet Integration                               Barcelona,
     • Grundlagen erarbeiten – Quartierstypen ermitteln        Spanien
       und ihre spezifischen Integrationsbedarfe und
       -potentiale systematisieren
     • Nachhaltigkeit garantieren – ein Bündnis für Inte­
                                                                Tübingen – Nachbarschaft und Vielfalt:
       gration begleitet die Erarbeitung des Integrations­
                                                                • strategische Wohnraumentwicklung für Geflüchtete
       konzeptes über das Projekt hinaus
                                                                • Innovative Wohnraumkonzepte – das Modell der
                                                                  Konzeptvergabe auf die Realisierung von Wohnraum
                                                                  für Flüchtlinge erweitern
     PatchWorkCity – Saarbrücken entwickelt Vielfalt            • Lebendige Quartiere schaffen – Einbindung der neuen
     • Fachkonzepte überprüfen – bestehende Konzepte zu           Bauvorhaben und ihrer Bewohner in die jeweiligen
       Integration und Stadtentwicklung an neue Gegeben­          Nachbarschaften mit partizipativen Verfahren
       heiten anpassen                                          • Potenzial „Öffentlicher Raum“ – in Konzepten öffent­
     • Verwaltung sensibilisieren – das Thema Vielfalt            liche Räume als Orte für ein integratives Miteinander
       über verschiedene Formate verwaltungsintern                mitdenken
       diskutieren und implementieren
     • Erprobung im Quartier – in einem Ankunfts­quartier
       mit der Stadtgesellschaft erarbeitete Maßnahmen
                                                                                            Johannesburg,
       umsetzen
                                                                                            Südafrika
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Gestalte Deine Stadt. Osnabrücks Zukunft kennt                     Fachwerktriennale 2019: Integration und Qualifika-
                               keine Herkunft                                                     tion von Migranten in Fachwerkstädten
                               • Wissen schaffen – von amtlicher Statistik bis                    • Ressourcen der Flüchtlinge mit Leerstand
                                 zur Erfassung von Einstellungen und Wert­                           zusammenbringen – ländliche Fachwerkstädte
                                 vorstellungen von Migranten                                         werden zum Lebensraum für Migranten
                               • Begegnung organisieren – Teilhabe eröffnen und                   • Qualifizierung ermöglichen – im Bau- und
                                 das Wissen der Zugewanderten für die zukünftige                     Zimmerhandwerk sollen Flüchtlinge an „Übungs­
                                 Stadtentwicklung nutzen                                             immobilien“ qualifiziert werden
                               • Gestaltung möglich machen – Projektideen von                     • Wohnraum schaffen – selbständiges Herrichten
                                 Migranten gemeinsam mit der Stadtgesellschaft                       von Häusern durch Flüchtlingsfamilien
                                 umsetzen

                                                                                                  Leipzig – Integration durch Initiativmanagement
                                                                                                  • Gemeinsame Zielrichtung – Ämterübergreifende
                                                                                                    Zusammenarbeit zur Erarbeitung ganzheitlicher
                                                                                                    Konzepte
                                                                                                  • Quartiere ohne Förderkulisse stärken – Ent­w ick­
                                                                                                    lung neuer Ansätze zum Aufbau integrierender
                                                                                                    Nachbarschaften in benachteiligten Quartieren
                                                                                                  • Netzwerke fördern – Akteure vor Ort sollen durch
                                                                                                    intensive Kooperationen gestärkt werden

                                                                                                  Arrival Stadtland Thüringen
                                                                                                  • Ländlicher Raum im Fokus – Aktives Gestalten
                                                                                                    von Migration als Impuls der integrierten
                                                                                                    Stadtentwicklung
                                                                                                  • Einzelprojekte wirken in die Stadt – in vier
                                                                                                    Modellstädten sollen Leerstand, neue Nutzer und
                                                                                                    öffentlicher Mehrwert zusammengeführt werden
                                                                                                  • Projekte im Prozess coachen – die IBA Thüringen
                                                                                                    begleitet die Modellprojekte bei Initiierung und
                                                                                                    Umsetzung

                            Mannheim
                                             Nürnberg                                             Daheim in Pegnitz!
                                                                                                  • Vom Einzelprojekt zur Stadtentwicklung –
                                                                                                    Errichtung eines Integrationshauses als Anlauf­
                                                                                                    stelle für alle rund um das Thema Integration
                                                                                                  • Zivilgesellschaft mitnehmen – Akteure vor Ort
                                                                                                    werden unter Federführung des Bürgermeisters
                                                                                                    eingebunden
                                   Pilotprojekte: Neue Wege gehen – Mutige Akteure bei realen     • Mitmachen erwünscht – Aktive Einbeziehung
                                   Experimenten begleiten.                                          der Stadtgesellschaft, von Neuzugewanderten und
                                                                                                    Einheimischen, in allen Phasen des Projektes
                                   Satelliten: Erfolge weitergeben und Impulse setzen – Von
                                   erfolgreichen Kommunen im Themenfeld Integration und
                                   Stadtentwicklung lernen.
Illustration: Mia Sedding

                                   Sterne: Über den Tellerrand schauen – Innovative Ansätze im
                                                                                                             Wien,
                                   Ausland in den Blick nehmen und als „lessons learned“ in den
                                   Prozess einbinden.                                                        Österreich

                                                                                                                                          Hume,
                                                                                                                                          Australien

                                                                                                                                                        19
„Ankommen“ als
                                Dimension von Stadt-
                                entwicklung

                                   „Ankommen“ heißt Perspektiven haben                  integriertes Verständnis von Stadtentwicklung
                                         Ankommen hat viele Facetten, die weit          schafft viele Perspektiven und erleichtert das
                                   mehr beinhalten als das rein physische Erreichen     Ankommen von Migrantinnen und Migranten.
                                   eines Ankunftszieles. Damit aus dem Erreichen
                                   eines Ankunftszieles auch ein Ankommen und           Ankommen im Fokus – der Blick nach Kanada
                                   Weiterkommen wird, brauchen Zuziehende am                   Wenn es um die strategische Ausrichtung
                                   neuen Wohnstandort individuelle Perspektiven:        der Stadtpolitik auf das Thema Ankunft geht,
                                   Ankommen braucht mehr als nur Wohnraum, es           dann lohnt ein Blick nach Kanada: Die kanadische
                                   braucht Teilhabe. Für den einen ist es der Sprach-   Großstadt Toronto begreift sich seit Langem als
                                   kurs, um sich möglichst schnell verständigen         Ankunftsstadt. Von ihr kann gelernt werden, wie
                                   zu können, für die andere ist es das gemein-         die Kommune das Ankommen und die Teilhalbe
                                   schaftliche Miteinander im Yoga-Kurs. Beim           auf sehr vielen Ebenen unterstützen kann. Um
                                   Ankommen geht es um Sprache, Qualifizierung,         den Zugang zu Einrichtungen und städtischen
                                   Arbeitsmarkt und Einkommenssicherung sowie           Dienstleistungen wie Schulen, Bibliotheken,
                                   um die Betreuung und Bildung der Kinder, es          Schwimmkursen etc. für alle Personen zu gewähr-
                                   geht um seelsorgerische, gesundheitliche oder        leisten, verfolgt Toronto beispielsweise die
                                   kulturelle Teilhabe. Letztlich braucht Ankommen      Initiative Access Toronto, eine „Don’t ask, don’t
                                   persönliche Perspektiven, die sukzessive eine        tell“-Politik. Bei Inanspruchnahme von Leis-
                                   gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.              tungen wird nicht nach einem Aufenthaltsstatus
                                                                                        gefragt, sondern lediglich nach dem Namen und
                                   Stadtentwicklung kann das Ankommen                   der Adresse. Dadurch wird Neuankommenden in
                                   erleichtern                                          Toronto Teilhabe ermöglicht.
                                         Je nach individuellem Hintergrund ver-                In Toronto haben etwa 80 % der Bevölkerung
                                   läuft das Ankommen in ganz unterschiedlichem         einen direkten Bezug zur Migration, da sie
Foto: fotografixx@gettyimages

                                   Tempo. Ankommende sind jedoch immer auf              entweder selbst oder ein Elternteil außerhalb
                                   die lokalen Voraussetzungen angewiesen, die          Kanadas geboren wurde. Ressourcen, die der
                                   Teilhabe leichter oder schwerer machen können.       Integration von Einwanderern dienen, stehen in
                                   Wie Stadtentwicklung von der Kommune selbst          Toronto umfassend zur Verfügung:
                                   verstanden und gestaltet wird, ist ein wichtiger     • In „Newcomer Services Kiosks“, die von der
                                   Baustein für gelingendes Ankommen: Ein breites,        Stadt in Kooperation mit den jeweils fachlich

                                                                                                                                         21
zuständigen kommunalen Einrichtungen               Neben einem multikulturellen Flair und Offenheit
                 bereitgestellt werden, erhält jede Person          bringt die Vielfalt Torontos auch einen wirtschaft-
                 Informationen und Beratung zu Themen wie           lichen Wettbewerbsvorteil: In einer globalisierten
                 Bildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Schule        Welt erleichtert sie die Erschließung neuer Märkte
                 und gemeinnützigen Einrichtungen (vgl.             im Ausland sowie ethnische Nischen im kana­
                 Toronto 07.10.2020).                               dischen Markt (Allahwala 16.10.2020). Diversität
               • Um die Arbeitsplatzsuche qualifizierter            wird deshalb in Toronto als Stärke beschrieben
                 Zugewanderten zu erleichtern, hat die Stadt-       und ist bereits seit 1998 offizielles Aushängeschild
                 verwaltung zusammen mit dem Toronto Region         der Stadt: „Diversity, Our Strength“!
                 Immigrant Employment Council das Pro-
                 gramm „Profession to Profession – Mentoring        Sensibilität für Aufgaben und Chancen ­
                 ­Immigrants“ ins Leben gerufen. In dem Pro-        der Vielfalt
                  gramm werden Migrantinnen und Migranten                 In Toronto ist Diversität ein selbstbewusstes
                  mit Mentorinnen und Mentoren der gleichen         Motto und damit die Integration von Neuan-
                  Branche zusammengebracht, um ihnen in             kommenden selbstverständlich. Auch in Europa
                  einem Zeitraum von drei bis vier Monaten die      sind Kommunen auf dem Weg dahin und
                  Geschäftskultur Kanadas zu vermitteln. Darüber    bemühen sich, über unterschiedliche Ansätze für
                  hinaus werden Sprachkurse, Kinderbetreuung,       das Thema zu sensibilisieren. So wird in Wien
                  Kultur- und Freizeitprogramme angeboten.          in der Verwaltung z. B. jährlich ein „Diversity
               • Jährlich wird der Toronto Newcomer Day             Check“ wiederholt und seitens der Pilotprojekte
                  gefeiert. Er dient dazu, Migrantinnen und         hat sich die Stadt Saarbrücken mit dem Thema
                  Migranten über kommunale Unterstützungsan-        auseinandergesetzt.
                  gebote zu informieren und die Vielfalt Torontos         Diversitätsmanagement steht nicht mehr
                  zu feiern.                                        nur bei größeren Unternehmen auf der Tages-
                                                                    ordnung. „Wer sind unsere Zielgruppen?“ oder
                                                                    „Passt unsere Kommunikation zu unseren
                                                                    Kunden?“ Dies sind nur zwei der Fragen, die sich
                                                                    alle Dienststellen der Stadt Wien im Zuge des
                                                                    jährlichen Diversity Checks stellen. Die Vielfalt
                                                                    der Stadtgesellschaft wird zum Ausgangspunkt,
                                                                    um die eigenen Angebote und Dienstleistungen zu
                                                                    überprüfen und diversitätsbewusst auszurichten.
                                                                    Die Strategien sind vielfältig: Neben der Optimie-
                                                                    rung der Produkte und Dienstleistungen

     Begrüßung von Zuwanderern durch den Bürgermeister
     beim Newcomer Day 2017 in Toronto
     Foto: City of Toronto

22
(z. B. Informationsblätter/Ausfüllhilfen in zum
Teil über 20 Sprachen oder interkulturelle
Kalender) werden bewusst Mitarbeitende mit
unterschiedlicher Herkunft eingestellt, kosten-
lose Weiterbildungen für Schlüsselpersonen und
Ehrenamtliche durchgeführt, Führungskräfte
für das Thema sensibilisiert und Schulungen für
Mitarbeitende angeboten.                                       Osnabrück – Grundlagenwissen schaffen
       In dem Pilotprojekt in Saarbrücken setzt sich
die Verwaltung intensiv mit dem Thema „Viel-                   In Osnabrück war es Zielsetzung von Politik und Verwaltung, in
falt in der Stadt(teil)entwicklung“ auseinander.               einem ersten Projektbaustein die Wissensgrundlagen über das
Eine ganze Reihe von städtischen Ämtern sowie                  Leben von Migrantinnen und Migranten in Osnabrück zu ver-
Verwaltungseinheiten des Regionalverbandes                     bessern. Dazu wurde eine Online-Befragung in sieben Sprachen
Saarbrücken arbeiten in Workshops und                          durchgeführt. Rund 620 Fragebögen konnten ausgewertet
Veran­staltungen gemeinsam an dem Thema.                       werden und gaben breite Informationen: zum Lebensgefühl der
Unterstützt von externen Fachkundigen, wurde                   Migranten in Osnabrück, zu ihrer Verbundenheit und Integration
eine Fortbildung zum Thema „Internationales                    in Bezug auf die Gesamtstadt und den Stadtteil, in dem sie leben,
Saarbrücken: Mehr wissen über Migration in                     Informationen zur Wohnsituation, zum Freizeitverhalten oder zur
Geschichte und Gegenwart“ durchgeführt. Der                    Mobilität. Parallel wurden Gesprächsrunden mit verschiedenen
städtische „Kompetenzpool Bürgerbeteiligung“                   Migrantenorganisationen durchgeführt und statistische Grund-
organisiert Erfahrungsaustausche zur Bürger-                   lagendaten aufbereitet. Im Ergebnis zeigt sich, dass der Alltag
beteiligung und ein Workshop zum Thema                         und die Wünsche von Migrantinnen und Migranten sehr ähnlich
„Kommunales Integrationsmanagement“ hat                        zu denen der Gesamtgesellschaft sind. Gerade im Hinblick auf
Vertreterinnen und Vertreter der Stadtverwaltung,              stadtentwicklungspolitische Erfordernisse verlaufen Unter-
des Regionalverbandes, der Gemeinwesenprojekte                 schiede eher zwischen sozialen Gruppen bzw. Altersklassen als
und Quartiersmanagements zusammengebracht.                     zwischen herkunftsbezogenen Merkmalen. Diese Ergebnisse
       Darüber hinaus wurde eine Hochschule                    bestätigen eine post-migrantische Perspektive, die Unter-
damit beauftragt, bestehende städtische Konzepte               schiede weniger zwischen ethnischen als zwischen sozialen
unter dem Gesichtspunkt der Migration und                      Gruppen sucht. Die Befragung macht ebenfalls sichtbar, dass
Integration zu analysieren, um hier Weiter-                    ein großer Anteil der befragten Migrantinnen und Migranten
entwicklungspotenziale aufzuzeigen. Die Ergeb-                 Diskriminierungserfahrungen, z. B. bei der Wohnungssuche,
nisse sind zunächst in die Weiterentwicklung und               gemacht hat. Herkunftsbezogene Merkmale spielen demnach
Neufassung des Integrationskonzeptes der Stadt                 keine besondere Rolle in Bezug auf Wünsche und Verhalten, aller-
Saarbrücken eingeflossen.                                      dings führen sie umgekehrt zu Zuschreibungen und Vorbehalten.

Die Ergebnisse wurden in drei Bänden veröffentlicht. Sie dienen als Grundlage
für den weiteren Stadtentwicklungsprozess (Stadt Osnabrück 2018a/b/c).

                                                                                                                             23
Integration als Querschnittsaufgabe der               die Stadtgrenze sowie Wanderungsbewegungen
     Stadtentwicklung                                      innerhalb der Stadt (aus/in andere statistische
           Die Stadt Osnabrück betrachtet das Thema        Bezirke).
     Integration als Querschnittsthema in allen                   Insgesamt wurden in Saarbrücken auf dieser
     strategischen Zielen der Stadtentwicklung. Damit      Grundlage 19 Gebiete identifiziert. Auch wenn
     geht das Ziel einher, Osnabrück als lebenswerte       diese Gebiete in der Stadtverwaltung aus unter-
     Stadt für alle in Osnabrück lebenden Menschen         schiedlichen Gründen schon bekannt waren, so
     zu gestalten. Um diesem Anspruch gerecht zu           hilft die kleinräumige Bestimmung der „Ankunfts-
     werden, war es notwendig, zunächst vertiefendes       quartiere“ Schwerpunkte zu setzen und gezielt
     Wissen zu generieren, um Aufgaben besser              angepasste Strategien zu erarbeiten.
     zu erkennen und auf verschiedene Personen-
     gruppen, die sich z. B. in Vereinen organisiert       Quartiersentwicklung – der Schlüssel für
     haben, besser zugehen zu können. Die Ver-             das Ankommen
     waltung hat sich im Rahmen des Projektes der                 Der Einzug in die eigene Wohnung gehört
     Nationalen Stadtentwicklungspolitik „Gestalte         zu den zentralen Schritten des Ankommens. Bei
     deine Stadt. Osnabrücks Zukunft kennt keine           der Zuwanderung von Geflüchteten ist es meist
     Herkunft“ das Ziel gesetzt, Migrantinnen und          der Schritt aus einer Gemeinschaftseinrichtung
     Migranten viel stärker in kommunale Zukunfts-         in die eigene Wohnung. Mit allen Schwierigkeiten
     dialoge einzubinden: Ihre Kompetenzen sollen für      der Wohnungssuche, gerade in angespannten
     die gesellschaftliche, bauliche und wirtschaftliche   Wohnungsmärkten sowie durch Marktzugangs-
     Entwicklung der Stadt genutzt werden.                 hemmnisse, wird mit dem Einzug auch die
                                                           künftige Nachbarschaft und die Infrastruktur im
     Ankunftsquartiere erkennen                            Umfeld sowie die Rahmenbedingungen für die
           Im Pilotprojekt Saarbrücken hat ein Sozial-     Organisation des Alltags festgelegt. Damit werden
     wissenschaftler durch Auswertung kleinräumiger        auch nachbarschaftliche Kontaktmöglichkeiten
     Daten der amtlichen Statistik Ankunftsquartiere       und letztlich die Verfügbarkeit vorhandener
     identifiziert. Insgesamt sieben Indikatoren           Angebote sozialer und privater Infrastruktur
     wurden dazu in einer Faktoren- und Clusterana-        in Wohnortnähe beeinflusst. Die Stadt- bzw.
     lyse zusammengefasst, um die beiden Faktoren          Quartiersentwicklung trägt somit dort, wo
     „Segregation“ und „Fluktuation“ auf der Ebene         Wohnraum für neu hinzuziehende Migrantinnen
     der statistischen Distrikte und Bezirke Saar-         und Migranten erschwinglich und zugänglich
     brückens abzubilden. Als Indikatoren wurden           ist, eine Verantwortung für die Gestaltung des
     herangezogen: SGB II-Quote (soziale Segregation),     Ankommens. Das Ankommen in den Quartieren
     Anteil von Personen aus dem Ausland (ethnische        und die Gestaltung der Rahmenbedingungen für
     Segregation), Anteil unter 18-Jähriger (demo-         neu zuziehende Migrantinnen und Migranten,
     grafische Segregation) und für die Fluktuation        aber auch für die bestehende Nachbarschaft
     („Durchlauffunktion“) der Gebiete die folgenden       sind somit erweiterte Versorgungsaufgaben,
     vier Indikatoren: anteilige Wanderungs-               die unmittelbar an die Wohnraumversorgung
     bewegungen (Zu- und Abwanderungen) über               geknüpft sind.

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Ankommen im Quartier – Strukturen für
Ankunftsquartiere
       Stabile Strukturen, die die sozialräumliche
Integration im Blick haben, erleichtern das
Ankommen. Aber auch die Qualifizierung der
Mitarbeitenden in sozialen und kulturellen Ein-
richtungen, Vereinen und Initiativen im Stadtteil
ist sinnvoll, um Integrationsaufgaben gerecht
zu werden. Die Stadt Leipzig hat den Versuch
unternommen, die Akteure in einem Ankunfts-
quartier durch den Aufbau eines Netzwerkes und
die Qualifizierung von Mitarbeitenden zu stärken.
Der Prozess war erfolgreich, weil die einzelnen
Einrichtungen einen Mehrwert für sich erkannt
haben: gemeinsame Weiterbildungen, Aktivitäten
im Quartier, Kooperationen von Einrichtungen
sowie neue Unterstützungsstrukturen durch die
Stadt Leipzig (Bürogemeinschaft Gauly & Volg-
mann 2020). Durch das lokale Engagement und
das gemeinsame Handeln konnte neben neuen
Strukturen, wie einem regelmäßigen Arbeitskreis
mit thematischen Projektgruppen, ein Quartiers-
fonds etabliert werden.

                                                               Mockauer Sommer in Leipzig
                                                               Foto: Mahmoud Dabdoub

                                    Leipzig – ein Verfügungsfonds für das Quartier

                                    In Leipzig wurde ein fraktionsübergreifender Antrag zur „Etablierung eines Ver-
                                    fügungsfonds im Rahmen der Stadterneuerung in Mockau“ vom Rat der Stadt
                                    beschlossen. Da Leipzig-Mockau nicht in einer Förderkulisse der Städtebauförderung
                                    liegt, wird der Fonds zu 100 % aus dem kommunalen Haushalt finanziert. Die formale
                                    und inhaltliche Prüfung der Anträge hinsichtlich fördertechnischer Voraussetzungen
                                    erfolgt durch das Amt für Wohnungsbau und Stadterneuerung. Nach formaler Prüfung
                                    wird der Antrag an das lokale Entscheidungsgremium übergeben. Jährlich können
                                    20.000 Euro als Zuschüsse an Vereine, Initiativen, Institutionen und Einzelpersonen
                                    vergeben werden. Förderfähig sind alle Projekte, die zur Aufwertung und Belebung des
                                    Stadtteils beitragen. Die Bandbreite bisheriger Projekte ist weit: Gefördert wurden
                                    z. B. Aktivitäten im Zusammenhang mit dem „Bunten Mockauer Sommer“, einem
                                    jährlich wiederkehrenden, temporären Begegnungsort von Jung und Alt im Quartier,
                                    eine Coachingreihe für Beteiligte zu Themen wie „Gelingende Integration“, „Konflikt-
                                    management“ oder „Religionskunde“ sowie ein Kunstprojekt, das die Geschichte
                                    eines Geflüchteten erzählt.

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