Forschung im Blick 2017|2018 - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und ...

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Forschung im Blick 2017|2018 - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und ...
Forschung im Blick
2017 |2018
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Impressum
Herausgeber
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
Deichmanns Aue 31 – 37
53179 Bonn
www.bbsr.bund.de

Redaktion
Christian Schlag

Gestaltung
BlockDesign Kommunikation & Medien, Berlin

Titelmotiv
© SEB/www.sebfoto.de/stock.adobe.com

Bestellung
selbstverlag@bbr.bund.de

Druck
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung

Stand
Januar 2018

Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt
für Bauwesen und Raumordnung (BBR) ist eine Ressortforschungseinrichtung
im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktor­sicherheit. Es berät die Bundesregierung bei Aufgaben der Stadt- und
Raumentwicklung sowie des Wohnungs-, Immobilien- und Bauwesens.
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BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

Liebe Leserinnen und Leser,

geht die Preisrallye auf den Wohnungs- und Immobilienmärk-
ten weiter? Wie verändert die Digitalisierung die Stadtentwick-
lung und wie wirkt sie auf das Bauwesen? Welche Möglichkei-
ten schaffen neue, flexible Wohnformen für die Zukunft? Mit
diesen und weiteren Fragen befasst sich die neue Ausgabe
unseres alle zwei Jahre erscheinenden Berichts „Forschung im
Blick“. Das aktuelle Heft informiert Sie über Schwerpunkte und
Projekte in den Bereichen Stadt- und Regionalentwicklung,
Wohnen und Immobilien sowie Bauwesen.

Im vergangenen Jahr skizzierten zwei Berichte – der Raum­
ordnungsbericht des BBSR und der Stadtentwicklungsbericht
der Bundesregierung – demografische, wirtschaftliche und
soziale Entwicklungen in unseren Städten und Gemeinden. Der
Raumordnungsbericht zeigt am Beispiel der Daseinsvorsorge,
dass sich die Unterschiede zwischen strukturstarken und
strukturschwachen Gebieten verfestigen. Auf das Nebenein-
ander wachsender und schrumpfender Städte und Gemeinden           nicht nur neue Möglichkeiten für studentisches Wohnen aus,
geht auch der Stadtentwicklungsbericht ein. Einige der im         sondern hat schon jetzt andere Nutzungen im Blick: Die Woh-
Bericht identifizierten Trends und Treiber der Stadtentwicklung   nungen sind von Anfang an barrierefrei, damit sie mittel- bis
greift auch Forschung im Blick in seinem Schwerpunkt „Stadt-      langfristig auch Senioren oder andere Bevölkerungsgruppen
und Regionalentwicklung“ auf – und macht Beispiele städti-        nutzen können. Im Mai 2017 starteten die ersten Vorhaben in
scher Transformation anschaulich.                                 Wuppertal und Bochum. Das BBSR begleitet die Modellvor-
                                                                  haben und wertet sie wissenschaftlich aus. Im Schwerpunkt
Demografische Trends bestimmen die Entwicklungen auf den          „Bauwesen“ stellen wir Ihnen die innovativen Ansätze des
Wohnungsmärkten: Wohnungsmangel sowie weiter steigende            Programms vor.
Mieten und Preise kennzeichnen die Märkte in den Groß- und
Universitätsstädten, Leerstand und Werteverfall die Märkte in     Im Fokus unserer Forschung zum Bauwesen steht auch
strukturschwachen Räumen. Obwohl die Baufertigstellungen          das Thema Barrierefreiheit. Der in Zukunft-Bau-Projekten
deutlich zugenommen haben, ist die Lücke zwischen Angebot         entwickelte Leitfaden Barrierefreies Bauen ist inzwischen in
und Nachfrage weiterhin groß. Knappes Bauland treibt die          vierter Auflage erschienen – und seit dem letzten Jahr auch als
Kosten im Wohnungsbau am meisten. Einige Projekte des             digitale Planungshilfe abrufbar. Der Leitfaden gibt Hinweise für
BBSR befassen sich daher mit neuen Ansätzen für die Aktivie-      Planung, Bau und Betrieb öffentlicher Gebäude und Arbeits-
rung von Flächen – eine Voraussetzung für den bezahlbaren         stätten. Daneben widmet sich Forschung im Blick auch dem
Wohnungsbau. Unsere Kommunalbefragung unterstreicht:              nachhaltigen und ökologischen Bauen. Das BBSR entwickelt
Um Menschen mit geringen Einkommen mit einer Wohnung zu           seine Bewertungssysteme und Online-Praxishilfen für Planer
versorgen, braucht es vor allem die kommunalen Wohnungsun-        und Bauherren ständig weiter und setzt dabei auch auf inter-
ternehmen.                                                        nationale Vernetzung.

Studierende gehören zu den Leidtragenden des Wohnungs-            Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.
mangels in den Groß- und Universitätsstädten. Zum Winter-
semester 2017/2018 haben so viele junge Menschen wie nie
ein Studium an einer Universität aufgenommen. Um dieser
Entwicklung Rechnung zu tragen, unterstützt das Bundes-
bauministerium den Bau sogenannter „Variowohnungen“.              Dr. Robert Kaltenbrunner
Entstehen sollen kleine, bezahlbare Einheiten für Studenten       Stellvertretender Leiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt-
und Auszubildende. Das entsprechende Programm lotet aber          und Raumforschung
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                                      Inhalt

                                               Vorwort ............................................................................................................................................. 3
Scott Webb/pexels.com (CC0 Licence)

                                               FOKUS Stadt- und Regionalentwicklung

                                               Stadt- und Regionalentwicklung – eine Übersicht .......................................................................... 8
                                               Die Smart City Charta............................................................................................................... 11
                                               Nachdenken über die Stadt von übermorgen............................................................................ 14
                                               Folgen einer Scheidung – Räumliche Auswirkungen des Brexit ................................................ 17
                                               Nachhaltige Weiterentwicklung von Gewerbegebieten ................................................................ 22
                                               Wie es mit der BBSR-Raumordnungsprognose weitergeht ....................................................... 26
Tiberius Gracchus – stock.adobe.com

                                               FOKUS Wohnen/Immobilien

                                               Wohnen/Immobilien – eine Übersicht ........................................................................................... 32
                                               Wohnungsmarktakteure: Börsennotierte Wohnungsunternehmen und
                                               kommunale Anbieter ...................................................................................................................... 35
                                               Wohnungsmärkte unter Druck ....................................................................................................... 39
                                               Wege zum bezahlbaren Wohnen ................................................................................................... 43

                                               FOKUS Bauwesen
shutterstock

                                               Bauwesen – eine Übersicht ........................................................................................................... 48
                                               Vernetzung und Internationalisierung des Nachhaltigen Bauens ................................................. 50
                                               Inklusiv Planen: Digitaler Leitfaden Barrierefreies Bauen ............................................................. 52
                                               Wie das Programm „Variowohnungen“ neue Wohnformen für
                                               Studierende erprobt ....................................................................................................................... 55

                                               Ausblick: Perspektiven der Forschung zu Bau, Stadt und Raum ................................................... 58

                                               Anhang: Veröffentlichungen, Veranstaltungen.............................................................................. 63
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6 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
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                                         | STADT-
                                              | FORSCHUNG
                                                  UND REGIONALENTWICKLUNG
                                                           IM BLICK 2017/2018

Stadt- und
Regionalentwicklung

Foto: eyetronic – stock.adobe.com
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                                                                           F OK US

                                                                    Stadt- und Regionalentwicklung
                                                                           Dr. Markus Eltges

                                                                           Das BBSR hat in den vergangenen Jahren          Ein zentrales Projekt der Forschung in 2018
Isaque Pereira/pexels.com (CC0 Licence)

                                                                           intensiv an der Umsetzung und der Weiterent-    wird sich dem Thema „Stadtgrünerfassung
                                                                           wicklung seiner Forschungscluster „Grün in      und -monitoring“ widmen. Immer noch fehlen
                                                                           der Stadt“ und „Smart Cities“ gearbeitet. Das   bundesweit vergleichbare Daten zum Grün-
                                                                           „Weißbuch Stadtgrün – Grün in der Stadt –       bestand. Diese sind aber für räumlich und
                                                                           Für eine lebenswerte Zukunft“ und die „Smart    sachlich differenzierte Aussagen dringend
                                                                           City Charta – Digitale Transformation in den    nötig. Die amtliche Statistik erlaubt nur nähe-
                                                                           Kommunen nachhaltig gestalten“ sind zwei        rungsweise Berechnungen. Primär fernerkun-
                                                                           wesentliche Ergebnisse. Beide Dokumente         dungs- bzw. satellitengestützte Methoden
                                                                           sind durch die intensive wissenschaftliche      und Techniken können Abhilfe schaffen und
                                          Entwicklungen wie die Globali-   Betreuung des BBSR entstanden. Weißbuch         die Lücken der amtlichen Statistik schließen.
                                          sierung der Wirtschaft und der   und Charta bieten Bund und Ländern sowie        Es geht um einen bundesweiten Überblick
                                          Märkte, die Digitalisierung,     den Städten und Gemeinden konkrete Hilfe        über die Zu- und Abnahme bestimmter Freiflä-
                                          Migration und der Klimawan-      bei der Lösung anstehender Probleme.            chentypen und um regionale und stadttypolo-
                                          del betreffen alle deutschen                                                     gische Unterschiede der Grünausstattung. In
                                          Städte und Regionen. Welche      Das Bundesumwelt- und Bauministerium hat        dem Projekt sollen auch „Grüne Brennpunkte“
                                          Anforderungen daraus für die     2017 das neue Bund-Länder-Programm der          identifiziert und daraus Handlungserforder-
                                          Stadt- und Regionalentwick-      Städtebauförderung „Zukunft Stadtgrün“          nisse für die Kommunen abgeleitet werden:
                                          lung erwachsen, erforscht das    gestartet und stellt dafür 50 Mio. Euro im      Wo besteht ein besonderer Handlungsbe-
                                          BBSR in aktuellen Projekten.     Jahr zur Verfügung. Das Programm ist ein        darf, etwa bei der Bestandsicherung- und
                                                                           wichtiger Impuls für mehr urbanes Grün. Das     -qualifizierung, am Stadtrand oder in den
                                                                           BBSR wird das Programm fachlich-wissen-         Innenstädten?
                                                                           schaftlich begleiten, unter anderem durch
                                                                           die Betreuung einer neuen Bundestransfer-       Die Daten sollen das Informationsangebot der
                                                                           stelle. Neben Erkenntnissen aus 21 Natio-       kleinräumigen Stadt- und Raumbeobachtung
                                                                           nalen Projekten des Städtebaus sollen auch      weiter ergänzen. Auch die Kombination mit
                                                                           Ergebnisse des Forschungsfeldes „Green          lokalen Klimadaten – so genannten Testre-
                                                                           Urban Labs“ in die Begleitung einfließen. Die   ferenzjahren – kann Erkenntnisse für die
                                                                           zwölf Modellvorhaben des Experimentellen        Stadtplanung und den Städtebau der Zukunft
                                                                           Wohnungs- und Städtebaus (ExWoSt) werden        vor dem Hintergrund von Klimaveränderungen
                                                                           bis 2020 innovative Ansätze zur Sicherung       bieten. Testreferenzjahre repräsentieren einen
                                                                           und Qualifizierung von Stadtgrün erproben,      für das Jahr typischen Witterungsverlauf
                                                                           beispielsweise die Öffnung von Parkanlagen      an einem Ort. Das BBSR und der Deutsche
                                                                           für unterschiedliche Nutzungen, die Verbes-     Wetterdienst (DWD) haben die Datensätze
                                                                           serung der Umweltgerechtigkeit durch mehr       aktualisiert. Sie liegen nun für jeden Quad-
                                                                           Grünflächen in benachteiligten Quartieren       ratkilometer des Bundesgebiets vor. Beide
                                                                           und die Vernetzung von Grünräumen.              Projekte verfolgen das Ziel, Informationen für
                                                                                                                           mehr Lebensqualität in den Städten und den
                                                                                                                           Klimaschutz einzusetzen. Dabei geht es vor

                                          8 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
Forschung im Blick 2017|2018 - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und ...
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

Michael Sondermann/Bundesstadt Bonn

                                      allem auch um die digitale Vernetzung bislang      Die Verantwortlichen in den Rathäusern
                                      isolierter Informationen.                          benötigen gleichzeitig Hilfe, um die Digita-
                                                                                         lisierung produktiv für ihre Stadt zu nutzen.
                                      Digitalisierung: Städte stehen vor einem           Durch Digitalisierung können beachtliche
                                      Umbruch                                            Stadtumbaupotenziale entstehen, die Struktur
                                                                                         der Flächen- und Immobiliennachfrage kann
                                      Die Digitalisierung durchdringt Stadt- und         sich völlig verändern. Im Mobilitätsbereich
                                      Raumentwicklung immer mehr und bestimmt            können neue Systeme entstehen, die dem
                                      zunehmend das Denken und Handeln aller             Stadtraum neue Möglichkeiten geben. Nicht
                                      Akteure. Sie prägt die Arbeitswelt und hat         zuletzt sind Einflüsse auf Politik, Verwaltung
                                      das Private längst erreicht. Die Digitalisierung   und die allgemeine Handlungsfähigkeit der
                                      hat das Potenzial, alle Strukturen in Stadt und    öffentlichen Hand zu erwarten, was wiede-
                                      Raum umfassend im positiven wie auch im            rum politische Strategien und Antworten
                                      negativen Sinne zu beeinflussen und zu einer       erfordert. Es geht also um nichts weniger als
                                      bestimmenden Größe zu werden.                      die digitale Transformation unserer Städte,
                                                                                         Gemeinden und Regionen.
                                      Digitalisierung ist kein singulärer Trend, son-
                                      dern ein Evolutionsschritt. Begriffe wie Smart     In der im Juni 2017 veröffentlichten Smart
                                      City, Smart Regions, Industrie 4.0, Arbeiten       City Charta werden die Chancen und Risiken
                                      4.0 oder Open Data machen die sich abzeich-        dieser Transformation erörtert. Zu den Chan-
                                      nende Dominanz deutlich. Im Kern geht es           cen der Digitalisierung zählt die Nutzung von
                                      darum, bestehende oder neue Prozesse zu di-        neuen Datenquellen und -sätzen – auch im
                                      gitalisieren und zu vernetzen, um damit Mehr-      Verbund mit Geodaten – zur Lösung konkreter
                                      werte zu schaffen. Ziele von Effizienz oder        Probleme im Stadtraum. Um die Städte in die-
                                      Suffizienz oder gänzlich neue Marktprodukte        sem komplexen Themenfeld zu unterstützen,
                                      oder Prozesse können dabei im Vordergrund          entwickelt das BBSR derzeit das ExWoSt-For-
                                      stehen. Die Digitalisierung kann auch eine         schungsfeld „Digitale Lernlabore“. Das Projekt
                                      massive Kompetenzentwertung bedeuten.              soll den Kompetenzaufbau im Umgang mit
                                      Bereiche, die heute noch gebraucht werden,         Daten und neuen Medien in Kommunalver-
                                      können morgen schon überflüssig sein. Die          waltungen und Zivilgesellschaft unterstützen.
                                      soziale Frage kann in der Stadt dramatische        Ziel ist es, übertragbare Lösungen wie Urban
                                      zusätzliche Brisanz erhalten. Es ist kaum          Data Labs oder Citizen Data Labs zu entwi-
                                      vorhersehbar, inwieweit und wie schnell neue       ckeln und praxisorientiert zu kommunizieren.
                                      Jobs wo entstehen.

                                                                                                                                  STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG | 9
Forschung im Blick 2017|2018 - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und ...
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

                                Prognosewissen erweitern                         Nicht nur auf die Großstädte schauen

                                Die skizzierten Themen zeigen, dass das          Acht Modellvorhaben im Forschungsprojekt
                                „Nachdenken über die Stadt von übermorgen“       „Potenziale von Kleinstädten in peripheren
                                zwingend geboten ist und auch zur Kernkom-       Lagen“ entwickeln seit 2015 Zukunftskon-
                                petenz einer Ressortforschungseinrichtung        zepte in der Peripherie. Der Hochschultag der
                                gehören muss. Mit einem Projekt gleichen         Nationalen Stadtentwicklungspolitik im Mai
                                Namens setzt das BBSR die Reihe seiner           2017 in Cottbus unterstrich die Notwendig-
                                Zukunftsforschung fort. Ergebnisse, die zum      keit, solche Städte als einen eigenständigen
                                Diskurs einladen werden, sollen in der zwei-     Forschungsgegenstand zu etablieren. Ziel
                                ten Jahreshälfte 2018 vorliegen.                 sollte es sein, das Besondere dieser Städte
                                                                                 herauszuarbeiten und strategisch zu nutzen.
                                Zum Nachdenken über die Stadt und Region         Damit wäre nichts anderes verbunden als der
                                von übermorgen gehört auch die Frage,            Einstieg in eine stärker raumdifferenzierende
                                wie sich die Bevölkerung in den nächsten         Politik. Ein neues Forschungsformat der Nati-
                                Jahrzehnten entwickeln wird. Wie schwierig       onalen Stadtentwicklungspolitik soll ab 2018
                                diese Frage zu beantworten ist, hat sich an      das zum Thema machen.
                                den hohen Flüchtlingszahlen der Jahre 2014
                                und 2015 gezeigt. Dennoch sind Prognosen         Mit dem im Oktober 2017 erschienen Raum­
                                notwendig. Bleibt die Attraktivität der Städte   ordnungsbericht des BBSR zum Thema
                                bestehen und welche Konsequenzen ergeben         „Daseinsvorsorge sichern“ wurde deutlich
                                sich hieraus für den Wohnungsneubaubedarf?       gemacht, welche Handlungserfordernisse
                                Das BBSR wird daher seine Bevölkerungspro-       es jetzt und in der Zukunft gibt. Der Bericht
                                gnose weiterentwickeln müssen, methodisch,       zeigt, dass Daseinsvorsorge nicht nur ein
                                aber auch im Hinblick auf die Annahmen.          ­Thema für periphere strukturschwache ländli-
                                Besonders wichtig sind Annahmen zur              che Räume ist, sondern auch für Wachstums-
                                künftigen Höhe von Außenwanderungen aus          regionen. Hier gilt es, das Grundbedürfnis
                                EU-Staaten und anderen Staaten. Der für          nach bezahlbarem Wohnraum, Mobilität und
                                2019 beschlossene BREXIT ist dabei beson-        gesunder Umwelt sicherzustellen. Damit ist
                                ders zu würdigen.                                sowohl der Bogen zum „Grün in der Stadt“
                                                                                 geschlagen als auch zur Diskussion, was
                                Derzeit stehen vor allem die Herausforderun-     unter gleichwertigen Lebensverhältnissen
                                gen für wachsende Ballungsräume im Fokus.        verstanden werden soll. Das BBSR wird sich
                                Jenseits der Zentren bleibt auch Bevölke-        mit dieser gesellschaftspolitisch so wichtigen
Kontakt                         rungsrückgang ein Problem, den vor allem         Frage weiter beschäftigen.
Dr. Markus Eltges               Kleinststädten und Landgemeinden spüren.
Leiter der Abteilung I –
Raumordnung und Städtebau       Eine aktualisierte Bevölkerungsprognose wird
markus.eltges@bbr.bund.de       die räumlich Dimension und Betroffenheit
                                aufzeigen.

10 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

                                                                      T HEM A

                                                               Die Smart City Charta – Orientierung für
                                                               Kommunen auf dem Weg der Digitalisierung
                                                                      Stephan Günthner, Dr. Peter Jakubowski, Eva Schweitzer

                                                                      Der Begriff der Smart City ist untrennbar mit       gleich zu Beginn heraus. Die Digitalisierung bie-
Snapwire/pexels.com (CC0 Licence)

                                                                      der digitalen Transformation unserer Städte         tet Städten, Kreisen und Gemeinden Chancen
                                                                      verbunden. Technik und Wissenschaft entfalten       auf dem Weg der nachhaltigen Entwicklung und
                                                                      ebenso wie Märkte gerade bei der Digitalisie-       kann ressourcenschonendere, bedarfsgerech-
                                                                      rung gewaltige Kräfte. Wichtig ist deshalb,         tere Lösungen für zentrale Herausforderungen
                                                                      diese Kräfte im Sinne einer nachhaltigen und        der Stadtentwicklung unterstützen. Gleichzeitig
                                                                      integrierten Stadtentwicklung auszubalancieren      kann die Digitalisierung aber auch selbst eine
                                                                      und zu nutzen. Politik und Verwaltung stehen        Herausforderung für die Stadtentwicklung sein,
                                                                      – wie Saskia Sassen es formuliert hat – vor der     wenn es um die Herausbildung von Digital-­
                                                                      Aufgabe, „die Technologien zu urbanisieren“.        Kompetenzen, um neue Kooperationsformen mit
                                    Mit seinem Forschungscluster      Die „Smart City Charta: Digitale Transforma-        der Wirtschaft, aber auch um die Vermeidung
                                    zu Smart Cities hat das BBSR      tion in den Kommunen nachhaltig gestalten“          einer weiteren digitalen Spaltung unserer
                                    die fachliche Basis für die       unterstützt Kommunen bei dieser Aufgabe. Die        Gesellschaft geht. Um die Chancen für mehr
                                    Smart City Charta für Deutsch-    Charta versteht sich als Impulsgeber und Wer-       Nachhaltigkeit, Bürgernähe aber auch Effizienz
                                    land gelegt. Sie formuliert       tekompass auf dem Weg in die digitale Zukunft       zu nutzen und Risiken vorzubeugen, empfiehlt
                                    Leitlinien und Handlungsemp-      unserer Städte.                                     die Charta, auf breiter gesellschaftlicher
                                    fehlungen für die nachhaltige                                                         Basis kommunale Digitalisierungsstrategien
                                    Gestaltung der digitalen Trans-   Die Charta ist das zentrale Ergebnis der            zu erarbeiten, die Anwendungsfelder für die
                                    formation unserer Städte.         Dialogplattform Smart Cities. Die Dialogplatt-      Digitalisierung zu identifizieren, aber auch
                                                                      form setzte sich zusammen aus 70 Personen           Organisationsfragen in den Kommunen selbst
                                                                      aus Städten, Kreisen und Gemeinden, ver-            zu adressieren. Digitalisierung solle „sowohl im
                                                                      schiedenen Bundesressorts, den kommunalen           sozialen, ökologischen als auch ökonomischen
                                                                      Spitzenverbänden, Städtebauministerien der          Sinne nachhaltigen Zielen dienen und darf
                                                                      Länder sowie aus Wissenschaft, Wirtschaft und       diesen nicht entgegenwirken“. Diesen bewuss-
                                                                      Zivilgesellschaft. In intensiven Diskursen, mit     ten Umgang mit Digitalisierung bezeichnet die
                                                                      fachlichen Inputs aus dem Forschungscluster         Charta als „digitale Transformation“.
                                                                      des BBSR sowie Szenarien-Arbeit wurden vier
                                                                      Leitlinien und zwölf Handlungsempfehlungen          Die digitale Transformation wird nur gelingen,
                                                                      für die digitale Transformation unserer Städte      wenn Transparenz, Teilhabe und Mitgestaltung
                                                                      erarbeitet: Das BBSR hat die Dialogplattform        sowie Integration als wichtige Imperative die-
                                                                      Smart Cities durch sein Forschungscluster zu        ses Wandels ernst genommen werden. Technik
                                                                      Smart Cities fachlich geprägt und organisato-       darf eben nicht als Selbstzweck missverstanden
                                                                      risch unterstützt.                                  werden, sie muss zum Wohle der Menschen
                                                                                                                          entwickelt werden, was dann auch dazu bei-
                                                                      Digitalisierung im Sinne der nachhaltigen           trägt, die kommunale Demokratie zu stärken.
                                                                      und integrierten Stadtentwicklung steuern
                                                                                                                          Inwieweit Kommunen digitale Chancen tatsäch-
                                                                      „Smart Cities sind nachhaltiger und integrierter    lich werden nutzen können, hängt entscheidend
                                                                      Stadtentwicklung verpflichtet“, stellt die Charta   vom kontinuierlichen Ausbau der relevanten In-

                                                                                                                                                SMART CITY CHARTA | 11
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                                                                frastrukturen ab. Und dies gilt gleichermaßen    mit Daten, neuen Technologien und neuen
                                                                für urbane Zentren wie für ländliche Räume.      Medien. Ihre Nutzung bietet viele Potenziale:
                                                                Je mehr sich bisher nebeneinander stehende       So sind schon heute beispielsweise digitale
                                                                Infrastrukturen vernetzen, desto wichtiger       Geodaten aus der räumlichen Planung längst
                                                                werden Fragen der Sicherheit und dauer­          nicht mehr wegzudenken. Die Geodaten-
                                                                haften Funktionsfähigkeit dieser Systeme.        portale der Länder und Kommunen machen
                                                                                                                 vielfältige Daten leicht zugänglich. In der
                                                                In der Stadt der Zukunft werden Daten in         Verknüpfung neuer und bestehender Daten-
                                                                allen Lebensbereichen eine herausragende         bestände schlummern neue Erkenntnisse
                                                                Bedeutung haben. Die Charta gibt hierzu          für die Stadtentwicklung. Um sie nutzen zu
                                                                eine Reihe von Empfehlungen, die auf einen       können, bedarf es aber neuer Kompetenzen,
                                                                verantwortungsvollen Umgang mit neuen            Strukturen und Ressourcen. Gleiches gilt für
                                                                Daten sowie eine möglichst breite kommu-         die kritische und konstruktive Nutzung neuer
                                                                nale Datenhoheit zielen. Oberstes Ziel ist       Medien und Informationstechnik sowohl
                                                                es, einerseits die Privatheit des Einzelnen zu   innerhalb der Verwaltung als auch in der
                                                                bewahren, andererseits die Selbstbestim-         Zivilgesellschaft.
                                                                mung und Handlungsfähigkeit der Kommunen
                                                                aufrechtzuerhalten.                              Neues Forschungsfeld „Smart Cities –
                                                                                                                 Digitale Lernlabore“
                                                                Damit die Digitalisierung in den Kommunen
                                                                in diesem Sinne gestaltet werden kann, wird      Das BBSR verknüpft die Nutzung von Daten,
                                                                es darauf ankommen, dass die Städte und          neuen Medien und die dafür erforderlichen
                                                                Gemeinden zu Akteuren der Digitalisierung        Kompetenzen im neuen Forschungsfeld
                                                                werden. Die Smart City Charta unterstreicht      „Smart Cities – Digitale Lernlabore“. Hier
                                                                die Bedeutung von Kompetenzen im Umgang          werden die Potenziale von großen und neuen

                                12 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

Datenbeständen für städtische Belange sowie       erfüllen. Das bedeutet auch, dass die Städte
die Rahmenbedingungen ihrer Nutzung unter-        Wege finden müssen, Digital-Kompetenzen
sucht. Mit Hilfe von Data Analytics sollen aus    für ihre Verwaltungen aufzubauen. Teil einer
dem „Rohstoff Daten“ neue Erkenntnisse für        jeden Smart-City-Strategie wird es sein,
die nachhaltige Stadtentwicklung gewonnen         Kooperationen zwischen Wissenschaft,
werden. Zur Stärkung digitaler Kompetenzen        Wirtschaft, Stadtverwaltung und Zivilgesell-
entwickeln die Forscher zielgruppenspezifi-       schaft aufzubauen, um gemeinsam sinnvolle
sche, quartiersbezogene und niederschwellige      Lösungen für die Stadt zu entwickeln. Und
Ansätze der Medienbildung in der Zivilgesell-     hier sollten alle staatlichen Ebenen unterstüt-
schaft. Hierzu ist es erforderlich, übertragba-   zen. Nicht zuletzt bedarf es zur erfolgreichen
re Ansätze zu entwickeln und praxisorientiert     digitalen Transformation einer angemessenen
zu kommunizieren.                                 Finanzausstattung der Städte und Gemein-
                                                  den. Denn die Entwicklung nachhaltiger
Für die beiden Aufgabenbereiche könnten           Lösungen für unsere Städte hängt von einer
Data Labs mögliche Lösungen innerhalb und         engagierten und kompetenten Beteiligung
außerhalb der Verwaltung sein. Mit diesen         von Bund, Ländern und Kommunen ab.
experimentellen Labs und ihrer Auswertung
wird das BBSR zusammen mit dem BMUB die           Nur selbstbestimmte und handlungsfähige
Umsetzung der Smart City Charta unterstützen.     Städte können die Digitalisierung und das
                                                                                                    Kontakt
                                                  Verhältnis von Stadt und Wirtschaft ziel­
                                                                                                    Referat I 5 – Digitale Stadt,
Quintessenz                                       gerichtet im Sinne einer nachhaltigen Trans-      Risikovorsorge und Verkehr
                                                  formation gestalten. Künftige Forschungen         Dr. Peter Jakubowski
                                                                                                    peter.jakubowski@bbr.bund.de
Wir brauchen ein konkretes Bild von Prozes-       des BBSR werden hier ansetzen.
                                                                                                    Eva Schweitzer
sen, Tools, Apps oder Plattformen, die sich                                                         eva.schweitzer@bbr.bund.de
dazu eignen, kommunale Aufgaben besser zu

                                                                                                         SMART CITY CHARTA | 13
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

                                                                       T HEM A

                                                                Nachdenken über die Stadt
                                                                von ­übermorgen
                                                                       Dr. Marion Klemme, Dr. Lars Wiesemann

                                                                       Langfristige Entwicklungen in den Blick           langfristige Entwicklungen in den Blick neh-
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                                                                       nehmen                                            men will, dann müssen Stadtentwicklungsak-
                                                                                                                         teure aller politischen Ebenen den Mut haben,
                                                                       In den vergangenen Jahren ist die Zukunft der     unter Bedingungen der Unsicherheit und des
                                                                       Städte zum Gegenstand vieler Forschungs-          Unvorhersehbaren weiter zu denken.
                                                                       aktivitäten und zu einem allgegenwärtigen
                                                                       Topos in öffentlichen Debatten geworden.          Be prepared!
                                                                       Viele unterschiedliche Akteure haben ihre
                                                                       Aktivitäten und Diskussionsbeiträge zur           Mit dem Forschungsvorhaben „Nachdenken
                                                                       Zukunft der Städte ins Gespräch gebracht.         über die Stadt von übermorgen“ betreibt
                                      In dem BBSR-Forschungs­          Entstanden ist ein recht unübersichtliches        das BBSR ein Stück Zukunftsforschung. Die
                                      projekt „Baukulturatlas          Feld von Zukunftserzählungen, das kaum            Forscherinnen und Forscher widmen sich zen-
                                      Deutschland 2030/2050“ wur-      noch Orientierung bieten kann. So manches         tralen Trends und ihren Treibern. Im Kern geht
                                      de mit zahlreichen Expertinnen   scheint für die Zukunft relevant zu sein. Auch    es um ein tiefergehendes Verständnis für das
                                      und Experten erörtert, wie wir   zahlreiche Städte streben an, sich robust         Zusammenspiel ökonomischer, ökologischer,
                                      in Zukunft leben wollen. Die     für die Zukunft aufzustellen. Und so werden       sozialer und technischer Entwicklungen in der
                                      Frage nach möglichen Zukünf-     Zukunftswerkstätten zu einzelnen Themen           Stadt. Diese wirken im städtischen Kontext
                                      ten wird in einem aktuellen      veranstaltet, Stadtentwicklungskonzepte,          zusammen, kollidieren oder befördern sich
                                      BBSR-Forschungsprojekt für       Masterpläne, Stadtperspektiven und vieles         und können weitreichende Veränderungen für
                                      verschiedene Stadtfunktionen     mehr entworfen. Dabei richtet sich der Blick      das Leben in der Stadt mit sich bringen.
                                      und Raumtypen in Deutsch-        in erster Linie auf das Morgen: ein Zeitraum,
                                      land weitergedacht.              der für Stadtentwicklungspolitik noch über-       Im Projekt wird eine umfassende Trend-
                                                                       schaubar und relevant scheint.                    sammlung entwickelt, in der die wichtigsten
                                                                                                                         Trends beschrieben und auf ihre zeitliche und
                                                                       Weniger im Fokus steht dagegen die Frage,         räumliche Wirkung hin geordnet werden.
                                                                       welche Auswirkungen bereits heute ab-             Dabei interessieren besonders die möglichen
                                                                       sehbare oder erst in den nächsten Jahren          Ursache-Wirkungsketten: Welche Folgen
                                                                       aufkommende Trends auf die langfristige           haben die Trends für das urbane Gefüge? Was
                                                                       Entwicklung von Städten haben werden – uns        sind ihre Konsequenzen für die verschiedenen
                                                                       also im Übermorgen beschäftigen. Auch wenn        städtischen Funktionen (Arbeit, Wohnen,
                                                                       in Zeiten enormer Entwicklungsgeschwindig-        Mobilität, Bildung, Kommunikation etc.)?
                                                                       keiten und Veränderungsdynamiken nicht alle       Und wie wirken sie sich in unterschiedlichen
                                                                       Rahmenbedingungen von übermorgen jetzt            Raumtypen aus (global agierende Metropole,
                                                                       schon absehbar sind, so gilt es dennoch, sich     langfristig schrumpfende Groß- und Mittel-
                                                                       schon heute durch eine umfassende Betrach-        stadt, erfolgreiche diversifizierte Mittelstadt,
                                                                       tung relevanter Trends auf mögliche Zukünfte      suburbane Pendlerkommune, periphere
                                                                       vorzubereiten. Wenn Stadtentwicklungspoli-        Kleinstadt u.a.)?
                                                                       tik nicht nur kurzfristig agieren, sondern auch

                                      14 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

                                                       Neue Formen
                                                       des Gärtnerns
                               Ehrenamt 2.0

                                                  Collaborative
                    Optimierung                     Living
                    der Freizeit

                                                                               Inklusion

                   Systemlösungen
                      auf dem                                                      Durchbruch               Gleichberechtigung
                   Wohnungsmarkt                 Urbanisierung –                   der Toleranz                der Frauen
                                                Vielfalt städtischer
                                                  Lebensstile

                                     Berufs-
                                     “Multi“-
                                    Graphien
                                                                       Individualisierung
                                                      Kulturelle               2.0
                                                                                                            Zeitalter des globalen
                                                    Pluralisierung                                           Statusvergleichs –
                                                      der Stadt                                               Seht was ich bin
                               Multilokalität

                                                                                            Digitale Lebensstile
                                                                                              & „always on“

                                                                                                        New Work –
                                                                                                        Bewegung

Dabei geht es selbstverständlich nicht darum,              Weise ihre Kopplung wiederum im städti-                               Hypervielfalt: Die weitere Ausdifferen-
vollständige Zukunftskonzepte zu entwerfen,                schen Raum wirken kann.                                               zierung führt zu einer Zunahme der
die jenen Trends Rechnung tragen. Vielmehr                                                                                       Vielfalt von Lebensstilen, kulturellen
werden verschiedene Entwicklungspfade                      Die Grafik zeigt dazu ein Beispiel: Zum Thema                         Prägungen und Rollen/Rollenverständ-
und Gestaltungsmöglichkeiten skizziert, um                 „Hypervielfalt“ stellt sich die Frage, wie                            nissen.
Akteuren der Stadtentwicklungspolitik Orien-               sich eine weitere gesellschaftliche Ausdif-
tierungshilfe zu bieten. „Be prepared“ könnte              ferenzierung auf das Zusammenleben in der
das Motto lauten.                                          Stadt auswirken kann. Es kommt zu einer
                                                           Vervielfältigung von Lebensstilen, soziokul-
Vom Trend zum Trendmolekül                                 turellen Praktiken und Rollenverständnissen.
                                                           Individuen sind mit dem was sie haben, und
Die Energiewende und der Klimawandel,                      vor allem mit dem was sie sind, online immer
Digitalisierung, neue Mobilitätsformen und                 und überall sichtbar („always on“). Wir treten
gesellschaftliche Integration beschäftigen                 mehr denn je in das Zeitalter der digitalen
uns bereits heute. Bleiben diese Herausfor-                Lebensstile und des globalen Statusvergleichs
derungen bestehen? Welche neuen kommen                     ein. Dabei geht es nicht nur um das Besitzen,
hinzu oder lösen andere ab? Und wie spielen                sondern auch um das Sein: Was hat man
einzelne Trends zusammen? Um dieser Frage                  erreicht, wen kennt man, wo ist man gewesen
nachzugehen, erarbeiten die Forscher ver-                  usw. Zudem hat die „Individualisierung 2.0“
schiedene „Trendmoleküle“. Sie veranschau-                 Auswirkungen auf Konsumgewohnheiten.
lichen, wie bestimmte Trends miteinander in                Neben der global organisierten Massenpro-
Verbindung stehen können und auf welche                    duktion entwickeln sich für Konsumgüter

                                                                                                                            DIE STADT VON ÜBERMORGEN | 15
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

Jan Becke/Fotolia.com

                                                         zusehends die Produktionsprozesse hin zur          der Ausdifferenzierung und Entgrenzung von
                                                         „Losgröße 1“ und einem direkten Kontakt zum        Arbeitsverhältnissen, Polarisierungen inner-
                                                         Verbraucher. Multikanal-Marketing und Big          halb und zwischen Städten, internationalen
                                                         Data ermöglichen eine hoch individualisierte       Migrationsbewegungen, der Verschiebung
                                                         Kundenansprache. Mit weiteren Konsequen-           von Entscheidungsmacht u.v.m.
                                                         zen für Handel und Logistik in der Stadt: Die
                                                         Anforderungen an Produkte und Dienstleis-          Im weiteren Projektverlauf wird es darum ge-
                                                         tungen werden vielfältiger und individueller.      hen, noch genauer zu differenzieren, welche
                                                         Dabei können saubere, leise und hochtech-          Auswirkungen die Trends in unterschiedlichen
                                                         nisierte Produktionen wieder näher an und          Raumtypen auf konkrete Stadtfunktionen
                                                         in die Ballungsräume rücken. Gleichzeitig          haben können. Die illustrativ und narrativ
                                                         erhöht sich der Druck auf die Entwicklung          aufbereiteten möglichen Entwicklungen
                                                         agiler, schneller, effizienter und kleinteiliger   sollen im Rahmen lokaler Zukunftslabore auf
                                                         logistischer Prozesse. Insgesamt steigen           konkrete Gegebenheiten vor Ort bezogen
                                                         die Nutzungsansprüche an den städtischen           und mit lokalen Akteuren diskutiert werden.
                                                         Raum.                                              Abschließend wird zu reflektieren sein, wie
                                                                                                            auf Bundesebene das stadtentwicklungspo-
                                                         Mögliche Zukünfte im Blick                         litische Übermorgen weiterhin in den Blick ge-
                                                                                                            nommen werden kann. Die Ergebnisse können
                        Kontakt                          Das war nur ein kurzer Auszug zu einer             wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung
                        Referat I 2 – Stadtentwicklung   möglichen Ursache-Wirkungskette eines              von Instrumenten und Programmen bieten.
                        Dr. Marion Klemme                Trendmoleküls, viele andere lassen sich
                        marion.klemme@bbr.bund.de
                                                         ergänzen. Das Projektteam befasst sich auch        → Internet
                        Dr. Lars Wiesemann
                        lars.wiesemann@bbr.bund.de       mit der virtuellen Durchdringung der Realität,       Studie „Nachdenken über die Stadt von
                                                         der Algorithmisierung städtischer Systeme,           übermorgen“: http://bit.ly/2xzXBWq

                        16 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

                                                                T HEM A

                                                          Folgen einer Scheidung –
                                                          Räumliche Auswirkungen des Brexit
                                                                Volker Schmidt-Seiwert

                                                                Grundsätzlich hängen die wirtschaftlichen und     — Bei der Kohäsionspolitik geht es ers-
Pixelbliss – stock.adobe.com

                                                                sozialen Folgen des Brexit davon ab, ob es ein      tens um die Frage, wie sich der deutlich
                                                                für beide Seiten erfolgreiches und akzeptables      reduzierte Finanzrahmen der Union auf die
                                                                Austrittsabkommen geben oder ob es auf ein          regionalpolitischen Instrumente auswirken
                                                                ungeregeltes Ende der Mitgliedschaft hinaus-        wird und wie sich hierdurch gegebenen-
                                                                laufen wird. Wie bei Scheidungen üblich, geht       falls die Förderkulissen der EU-Struktur-
                                                                es bei den Austrittsverhandlungen erstens           fonds verändern könnten. Denn mit dem
                                                                ums Geld, also um das Haushaltbudget der            Austritt des wohlhabenden Großbritanni-
                                                                Union und zu leistende Zahlungen der Parteien.      ens wird die EU im Durchschnitt ärmer, da
                                                                Zweitens um die Trennung der Güter. Dahinter        der zur Berechnung der Förderfähigkeit der
                               Der Austritt Großbritanniens     steht die Frage der künftigen Zusammenarbeit        Regionen verwendete EU-Durchschnitt des
                               aus der EU ist nicht nur eine    und der Teilnahme an EU-Programmen. Drittens        Bruttoinlandsproduktes sinken wird. Regio-
                               Frage der europäischen Iden-     geht es um das Sorgerecht für die Kinder: Wie       nen im Schwellenbereich könnten dann bei
                               tität. Mit dem Austritt werden   halten es die Parteien beispielsweise mit der       gleicher Wirtschaftskraft rein statistisch
                               auch räumliche Konsequenzen      Freizügigkeit und den Rechten der im eigenen        gesehen jedoch wohlhabender werden und
                               verbunden sein.                  Territorium lebenden Bürgerinnen und Bürger         Fördermöglichkeiten verlieren.
                                                                der anderen Partei?
                                                                                                                  — Der zweite Aspekt ergibt sich aus den
                                                                Mit dem Austritt Großbritanniens wird sich die      möglichen Konsequenzen für die Wande-
                                                                Union zweifellos verändern, schließlich wird        rungen innerhalb der EU. Großbritannien
                                                                eines der wirtschaftlichen Schwergewichte die       war und ist das Ziel vieler Bürgerinnen und
                                                                EU verlassen. Die EU verliert mit dem Ausschei-     Bürger insbesondere aus osteuropäischen
                                                                den bezogen auf das Jahr 2016 rund 13 % ihrer       EU-Staaten. Was passiert, wenn Groß-
                                                                Bevölkerung und − gemessen in Euro − knapp          britannien nach dem Austritt eine strikte
                                                                18 % des Bruttoinlandsproduktes (Eurostat).         Einwanderungspolitik betreiben wird?
                                                                                                                    Inwieweit würden sich Zielorte und das
                                                                Der Austritt wird Lücken in den EU-Haushalt         Ausmaß der Wanderungen verändern?
                                                                reißen. Großbritannien steuerte im Durchschnitt
                                                                der Jahre 2010 bis 2015 12 % des EU-Budgets       — Der dritte Aspekt ergibt sich aus der
                                                                bei. Das entspricht dem viertgrößten Anteil         Frage, wieviel EU im Vereinigten König-
                                                                (Deutschland: rund 20 %, Frankreich: 17 %,          reich und umgekehrt wieviel Vereinigtes
                                                                Italien:13 %). Neben Deutschland ist Großbri-       Königreich in der EU steckt. Darin zeigt
                                                                tannien der wichtigste Nettozahler der Union:       sich in unterschiedlichen thematischen
                                                                2015 lag es absolut betrachtet mit 11,5 Mrd.        Ausrichtungen der Grad der regionalen
                                                                Euro hinter Deutschland mit 14,3 Mrd. an            Betroffenheit. Es geht insbesondere um die
                                                                zweiter Position der EU-Staaten (Europäische        Aufrechterhaltung bzw. um die Anpassung
                                                                Kommission: Haushalt in Zahlen).                    von zusammengewachsen Strukturen und
                                                                                                                    Beziehungen und deren Auswirkungen auf
                                                                Die zu erwartenden räumlichen Aspekte lassen        die regionalen Entwicklungen.
                                                                sich unter drei Gesichtspunkte fassen:

                                                                                                                               AUSWIRKUNGEN DES BREXIT | 17
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

                                                                                                                                                   Canarias
                                                                                                                                                                          Guyane

                                                                                                                                                   Guadeloupe
           Reykjavik

                                                                                                                                                   Martinique

                                                                                                                                                    Réunion

                                                                                                                                                    Mayotte
                                                                                                       Helsinki

                                                                      Oslo                                                                          Madeira     Acores
                                                                                Stockholm                      Tallinn

                                                                                                                                                       Moskva
                                                                                                                  Riga

                                                                       København                              Vilnius
                                                                                                                               Minsk
                       Dublin

                                                                             Berlin                   Warszawa
                                               Amsterdam
                                                                                                                                            Kyiv
                                  London

                                           Bruxelles/Brussel

                                                    Luxembourg
                                                                                   Praha

                                            Paris                                                Bratislava                            Kishinev
                                                                                       Wien
                                                                                                  Budapest

                                                               Bern
                                                                                       Ljubljana
                                                                                             Zagreb                            Bucuresti

                                                                                                           Beograd
                                                                                                Sarajevo
                                                                                                                             Sofiya
                                                                                                              Prishtina
                                                                                                                                                                   Ankara
                                                                                                Podgorica
                                                                                Roma                                Skopje
                         Madrid                                                                            Tirana
  Lisboa

                                                                                                                                 Athinai

                                                                                                                                                                    Nicosia

                                                                                           Valletta
       500 km

Potenzielle EU-Strukturfondsregionen und Auswirkungen des Brexit
Bruttoinlandsprodukt in Kaufkraftstandards             Regionen, die durch den Brexit und den                     Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung Europa,
zu laufenden Preisen in Prozent des Durch-             resultierenden niedrigeren, dann EU 27                     Eurostat REGIO
wertes der EU 28 von 2013, 2014 und 2015               Durchschnitt die Einstufung ändern                         Geometrische Grundlage: GfK GeoMarketing, Regionen NUTS 3
                                                                                                                  Bearbeitung: V. Schmidt-Seiwert, P. Golzio
     bis unter 75 – weniger entwickelte Regionen               von weniger entwickelter Regionen                  © BBSR (2017)
                                                               in Übergangsregion
     75 bis unter 90 – Übergangsregionen
                                                               von Übergangsregion
     90 und mehr – entwickelte Regionen
                                                               in entwickelte Region
     keine Daten

18 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

Brexit beeinflusst Regionalförderung              Arbeitsteilige Prozesse und Lieferketten be-
                                                  nötigen ein geregeltes wirtschaftspolitisches
Die Abgrenzung der im Rahmen der Struktur-        Umfeld, wie es der Binnenmarkt in dieser
fonds förderfähigen Regionen erfolgt gegen-       Hinsicht bietet.
wärtig anhand des EU-Durchschnittswertes
des Bruttoinlandsproduktes in Kaufkraftstan-      Einen Einstieg in die Analyse gegenseitiger
dards je Einwohner (BIP in KKS). Weniger          Verflechtungen im britisch-europäischen
entwickelte Regionen haben zum Beispiel           Kontext bietet die regionale Betrachtung der
einen entsprechenden regionalen BIP-Wert          gegenseitigen Unternehmenskontrollen. Das
unter 75 % des EU-Durchschnitts.                  Ergebnis zeigt die Bedeutung Europas für die
                                                  britische Wirtschaft.
Unter Verwendung letztverfügbarer Angaben
für das BIP für die Jahre 2013 bis 2015 ergibt    Aber zuerst ein Blick auf den europäischen
sich für die EU 28 ein Durchschnittswert von      Kontinent mit den zukünftig verbleibendenden
rund 27.800 KKS. Wenn die Berechnung der          27 Mitgliedsstaaten: Hier finden sich rund
Förderfähigkeit der Regionen zukünftig auf        38.900 Unternehmen mit einer Konzernmutter
gleichem Wege erfolgen würde wie bisher,          bzw. mindestens einem Mehrheitsanteilseig-
wird sich durch den Austritt des Vereinigten      ner mit Sitz im Vereinigten Königreich. Die
Königreiches der dann EU 27-Wert um rund          Benelux-Staaten sowie Nordrhein-Westfalen
500 KKS verringern. Von dieser Verschiebung       bilden neben den nationalen Wirtschafts-
der Referenzwerte sind natürlich nur die          zentren und den Hauptstadtregionen einen
Regionen an der Schwelle der Förderfähigkeit      eindeutigen Schwerpunkt. In einer eher
betroffen. Obwohl es in diesem Falle nur          auf das verarbeitende Gewerbe gerichteten
wenige Regionen treffen dürfte, ginge damit       Perspektive gewinnen auch die Regionen au-
ein Verlust von Förderfähigkeit bei gleichblei-   ßerhalb der Metropolen an Bedeutung. Diese
bender regionaler Wirtschaftskraft einher.        Unternehmen erzielen einen Umsatzerlös von
Umso wichtiger ist es also, über neue Wege        rund 985 Mrd. Euro, was einem Anteil am
der regionalen Abgrenzung für die EU-Förder-      Bruttoinlandprodukt in Euro (2016) von rund
programme ab 2020 nachzudenken.                   8 % entspricht.

Gegenseitige Kontrolle hält Europa                In Großbritannien und Nordirland gibt es
zusammen                                          insgesamt 65.200 Unternehmen mit Besitzer
                                                  oder mehrheitlichem Anteileigner aus einem
Die Wirtschaft verfolgt den Verlauf der Bre-      der EU-Länder. Die Konzentration auf London
xit-Verhandlungen in gespannter Erwartung.        und Südostengland ist eindeutig und nicht
Ein ungeregelter Brexit würde die hochgradig      nur im Dienstleistungssektor erkennbar. Der
vernetzten Besitz- und Produktionsstruk-          Umsatz dieser Unternehmen beträgt rund
turen erschüttern. Unternehmen brauchen           800 Mrd. Euro. Das entspricht einem Drittel
Sicherheiten für ihr wirtschaftliches Handeln.    der Wirtschaftsleistung des Landes.

                                                                                                  AUSWIRKUNGEN DES BREXIT | 19
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

                                                                                                                                                         Canarias
                                                                                                                                                                               Guyane

                                                                                                                                                         Guadeloupe
             Reykjavik

                                                                                                                                                         Martinique

                                                                                                                                                          Réunion

                                                                                                                                                          Mayotte
                                                                                                          Helsinki

                                                                         Oslo                                                                             Madeira     Acores
                                                                                   Stockholm                      Tallinn

                                                                                                                                                             Moskva
                                                                                                                     Riga

                                                                          København                              Vilnius
                                                                                                                                  Minsk
                         Dublin

                                                                                Berlin                   Warszawa
                                                 Amsterdam                                                                                        Kyiv
                                    London

                                             Bruxelles/Brussel

                                                      Luxembourg
                                                                                      Praha

                                              Paris                                                 Bratislava                               Kishinev
                                                                                          Wien
                                                                                                     Budapest

                                                                 Bern
                                                                                          Ljubljana
                                                                                                Zagreb                            Bucuresti

                                                                                                              Beograd
                                                                                                   Sarajevo
                                                                                                                                Sofiya
                                                                                                                 Prishtina
                                                                                                                                                                         Ankara
                                                                                                   Podgorica
                                                                                   Roma                                Skopje
                           Madrid                                                                             Tirana
    Lisboa

                                                                                                                                    Athinai

                                                                                                                                                                         Nicosia

                                                                                              Valletta
         500 km

 Gegenseitige britisch-europäische Kontrolle und Umsatz der Unternehmen
 Umsätze in britisch bzw. umgekehrt in durch                            Summe der Umsatzerlöse der in der                                Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung Europa,
 EU-Länder (ohne Großbritannien) kontro-                                NUTS3-Region gelegenen Unterneh-                                 Datengrundlagen: Bureau van Dijk, AMADEUS
 llierten Unternehmen nach NUTS3-Regionen                               men in 1.000 Euro (letztverfügbares                              Datenbank
                                                                                                                                         Geometrische Grundlage: GfK GeoMarketing,
                                                                        Jahr 2014 – 2016)                                                Regionen NUTS 3
      Britische Unternehmen mit Sitz der Konzern-
                                                                                                                                         Bearbeitung: V. Schmidt-Seiwert
      mutter oder mind. einem ausländischen                                                    100.000
      Gesellschafter mit mind. 50,01 % Anteil in                                              1.000.000                                  © BBSR (2017)
      den anderen EU-Mitgliedstaaten und
      EFTA-Ländern                                                                         10.000.000
      Unternehmen in den EU-Mitgliedstaaten
      ohne UK und den EFTA-Ländern mit Sitz
      der Konzernmutter oder mind. einem aus-
      ländischen Gesellschafter mit mind. 50,01 %                                         100.000.000
      Anteil im Vereinigten Königreich

20 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

Blackosaka – stock.adobe.com

                               Forschungsnetze

                               In keinem Bereich wird das innereuropäische    land 6,5 Mrd. Euro. Im Vereinigten Königreich
                               Verwobensein so deutlich wie in den For-       sind es insbesondere die Universitäten, die
                               schungsnetzen des Horizont-2020-Programms      von dem Programm profitieren.
                               der EU. In diesem Programm forschen Univer-
                               sitäten, Institute und andere wissenschaft-    Die britische Hochschulkonferenz hat im
                               liche Einrichtungen gemeinsam mit privaten     Juni 2017 der Politik ein Papier vorgelegt,
                               Unternehmen an grundsätzlichen Themen der      das die Bedeutung der Teilnahme an diesem
                               Gesellschaft.                                  Programm für die Wissenschaft und die
                                                                              Hochschulen des Landes unterstreicht (Policy
                               Bisher (Stand April 2017) laufen rund 11.100   priorities to support universities to thrive
                               Forschungsprojekte mit knapp 48.700 Projekt-   post-exit, June 2017). Die Zusammenarbeit in
                               beteiligungen, davon 46.600 aus den Staaten    Forschungsnetzwerken und die gegenseitige
                               der Europäischen Union und der EFTA. Der       Nutzung von Forschungsergebnissen sichert
                               EU-Beitrag umfasst rund 21 Mrd. Euro. Mit      und unterstützt demnach nicht nur das euro-       Kontakt
                               6.250 Beteiligungen ist Großbritannien vor     päische Wissens- und Innovationpotenzial, sie     Referat I 3 – Europäische
                                                                                                                                Raum- und Stadtentwicklung
                               Deutschland mit 6.225 Teilnahmen in Europa     trägt auch dazu bei, die jeweiligen wissen-
                                                                                                                                Volker Schmidt-Seiwert
                               am stärksten involviert. Nach Großbritannien   schaftlichen Standorte in den Regionen zu         volker.schmidt-seiwert@bbr.bund.de
                               flossen bisher 6,1 Mrd. Euro, nach Deutsch-    sichern.

                                                                                                                              AUSWIRKUNGEN DES BREXIT | 21
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

                                                    T HEM A

                                             Nachhaltige Weiterentwicklung von
                                             ­Gewerbegebieten – Forschungs- und
                                            ­Entwicklungsbedarf
                                                    Bernd Breuer, Mechthild Renner

                                                    Seit 2016 führt das BBSR das Forschungs-        wirtschaft. Das produzierende Gewerbe
Bernd Breuer/BBSR

                                                    feld „Nachhaltige Weiterentwicklung von         hatte 2015 in Deutschland immerhin einen
                                                    Gewerbegebieten“ im „Experimentellen            Bruttowertschöpfungsanteil von 25,9 % (707
                                                    Wohnungsbau- und Städtebau“ (ExWoSt)            Mrd. Euro, Quelle: Statistisches Bundesamt
                                                    durch. Das Projekt der wissenschaftlichen       2017). Trotz Automatisierung und Rationali-
                                                    Politikberatung setzt im Schnittbereich von     sierung hat dieser Wirtschaftsbereich immer
                                                    städtebaulicher Forschung, Praxis und Politik   noch große Bedeutung für die erwerbsmäßige
                                                    an. Nachdem eine Vorstudie den vermuteten       Beschäftigung. Der Erwerbstätigenanteil des
                                                    Forschungsbedarf bestätigt hatte, folgte ein    produzierenden Gewerbes lag im Bundesge-
                                                    Projektaufruf. Daraus sind städtebauliche       biet 2015 bei 18,7 % (ca. 8 Mio. Menschen,
                    Ältere Gewerbegebiete stehen    Modellvorhaben hervorgegangen, mit denen        Quelle: Statistisches Bundesamt 2017).
                    vor komplexen Erneuerungs-      neun Kommunen Ansätze für eine nachhaltige
                    aufgaben. Anhand von städ-      Entwicklung bestehender Gewerbegebiete          In den Kommunen trägt das produzierende
                    tebaulichen Modellvorhaben      erproben. Die Modellvorhaben werden bis         Gewerbe wesentlich zu den Steuereinnah-
                    untersucht das BBSR Möglich-    Ende 2018 fachlich begleitet und ausgewer-      men bei. Es ist damit ein wichtiger Faktor
                    keiten und Bedingungen für      tet. Im Fokus stehen Stadträume, die in den     für die Leistungsfähigkeit des kommunalen
                    eine nachhaltige Entwicklung    1960er bis 1980er Jahren ausgeprägt wurden.     Gemeinwesens. Zugleich spielt produzieren-
                    bestehender Gewerbegebiete.     In diesen Gewerbegebieten offenbart sich        des Gewerbe eine beachtliche Rolle in der
                                                    zum Ende ihres ersten Entwicklungszyklus        kommunalen Flächennutzung. Die Flächenin-
                                                    umfangreicher Erneuerungsbedarf. Die            anspruchnahme durch Gewerbe und Industrie
                                                    Modellvorhaben repräsentieren insgesamt ein     hat bundesweit von 3.164 km² im Jahr 2004
                                                    breites Spektrum an strukturellen Konstel-      auf 3.443 km² in 2015 zugenommen (Quelle:
                                                    lationen und städtebaulichen Aufgabenstel-      Statistisches Bundesamt 2017). Der Anteil
                                                    lungen.                                         gewerblich-industrieller Flächennutzungen an
                                                                                                    den bundesweiten Gebäude- und Freiflächen
                                                    Urbane Produktion gewinnt an                    liegt bei rund 13,7 % (2015).
                                                    ­Bedeutung für die Stadtentwicklung
                                                                                                    Angesichts der Relevanz urbaner Produk-
                                                    Stadträume urbaner Produktion haben ele-        tion sind die Kommunen auf städtebaulich
                                                    mentare Bedeutung für „gesunde Arbeits-         integrierte Gebiete für verarbeitendes
                                                    verhältnisse“ und die Lebensqualität in der     Gewerbe angewiesen. Solche Stadträume
                                                    Stadt. Urbane Produktion prägt die Bedin-       sind entscheidend für die Beschäftigungs-
                                                    gungen und Perspektiven für eine sozial- und    und Versorgungsmöglichkeiten und damit für
                                                    umweltverträgliche sowie wirtschaftlich         die soziale Kohäsion einer Stadtgesellschaft.
                                                    tragfähige Stadtentwicklung.                    Dort finden relevante Weichenstellungen für
                                                                                                    Flächen- und Ressourceneffizienz sowie für
                                                    Trotz Tertiarisierung und Digitalisierung hat   Art und Ausmaß unverträglicher Emissionen
                                                    die physische Güterproduktion nach wie          statt. Nicht zuletzt prägen Gewerbegebiete
                                                    vor einen hohen Stellenwert in der Gesamt-      funktionale und ästhetische Qualitäten für

                    22 | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG
BBSR | STADT- UND REGIONALENTWICKLUNG

Thorsten Becker

                  die gesamte Stadt. Vor diesem Hintergrund       Zugleich bergen bestehende Gewerbegebiete
                  gewinnen die Stadträume urbaner Produktion      Defizite für eine nachhaltige Stadtentwick-
                  an Bedeutung für eine nachhaltige Stadtent-     lung. So sind Möglichkeiten für kompakte
                  wicklung. Im Rahmen gesamtstädtischer           Stadtstrukturen, energetische Optimierung,
                  Aufgabenteilung spielen vor allem die beste-    Klimafolgenanpassung, Ressourcen- und
                  henden Gewerbegebiete eine wichtige Rolle.      Flächeneffizienz sowie Mobilitätsverbesse-
                                                                  rungen und sozialen Zusammenhalt nicht
                  Räumliche und funktionale Probleme              ausgeschöpft. Nicht zuletzt ist eine stadtbau-
                  ­bestehender Gewerbegebiete sind                kulturelle Reintegration solcher „vergessenen
                   komplex                                        Stadtteile“ von Belang.

                  Die Probleme in Gewerbebestandsgebieten         Diese Probleme führen oft dazu, dass die Ge-
                  sind umfassend: Nutzungskonflikte und Eng-      werbebestandsgebiete ihre Rolle im stadtre-
                  pässe in der Flächenverfügbarkeit einerseits,   gionalen Zusammenspiel der Gewerbestand-
                  Leerstände bzw. Mindernutzungen anderer-        orte nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass sich
                  seits. Hinzu kommen Umweltbelastungen,          viele Kommunen lange auf die Erschließung
                  Modernisierungsrückstände an Gebäuden und       neuer Gewerbeflächen konzentrierten. Neue
                  Anlagen, Mängel in der Freiraumgestaltung       Gewerbegebiete an den Siedlungsrändern
                  und Verkehrserschließung. Oft kumulieren        ziehen aber auch Betriebe aus innerstädti-
                  Funktions- und Gestaltungsprobleme derart,      schen Bestandsgebieten an. Andererseits
                  dass sich Gebäudeleerstände oder Brachflä-      stoßen weitere Flächenausweisungen immer
                  chen manifestieren.                             öfter an umweltrechtliche Grenzen und auf
                                                                  gesellschaftliche Widerstände.

                                                                                                WEITERENTWICKLUNG VON GEWERBEGEBIETEN | 23
BBSR | FORSCHUNG IM BLICK 2017/2018

                                Bestehende Industrie- und Gewerbegebiete         Vor diesem Hintergrund sind auch die
                                sind also mit vielfachen Herausforderungen       Gewerbebestandsgebiete an veränderte
                                konfrontiert. Die Problemlagen sind kom-         Anforderungen von Betrieben, Beschäftig-
                                plex, die Handlungserfordernisse vielfältig,     ten und Stadtgesellschaft anzupassen. Für
                                die Entwicklungshemmnisse beträchtlich           diesen Anpassungsprozess zeichnet sich eine
                                und die Akteurskonstellationen heterogen.        Diversifizierung räumlicher Strukturen und
                                Somit bergen diese Stadträume erheblichen        technischer Ausstattungen ab. Dementspre-
                                Forschungs- und Entwicklungsbedarf.              chend groß ist auch das Spektrum an Hand-
                                                                                 lungsansätzen in den Modellvorhaben. Sie
                                Städtebauliche Potenziale nachhaltiger           reichen von baulicher und technischer Mo-
                                Gewerbebestandsentwicklung entfalten             dernisierung einzelner Gebäude und Anlagen
                                                                                 bis zur infrastrukturellen und städtebaulichen
                                Mit zunehmender Sensibilität für eine            Gebietserneuerung. Ihr Repertoire umfasst
                                nachhaltige Entwicklung rücken die Potenzia­     Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschafts-
                                le bestehender Gewerbegebiete stärker ins        struktur und sozialer Einrichtungen ebenso
                                Blickfeld der Stadtplanung. Technologische       wie Ansätze der Flächen- und Ressource-
                                Entwicklungen wie die digitale Vernetzung        neffizienz. Viele Modellvorhaben setzen auf
                                und Roboterisierung eröffnen Optionen für        verkehrliche und energetische Maßnahmen,
                                eine nachhaltige Weiterentwicklung dieser        andere haben Schwerpunkte in den Berei-
                                Stadträume. Mit dem technischen Wandel ent-      chen Abfallentsorgung bzw. Stoffkreisläufe,
                                stehen erweiterte Spielräume für flexible und    Abwassernutzung oder Hochwasserschutz.
                                dezentrale Formen urbaner Produktion. Darin
                                liegen wiederum Chancen für mehr räumliche       Ungeachtet ihrer Projektvielfalt verbinden die
                                Nähe zwischen den verarbeitenden Betrieben,      Modellvorhaben übergreifende Zielsetzungen;
                                ihren Dienstleistern und Zulieferern.            es geht um

                                Technische Neuerungen im Anlagenbau und          — eine ganzheitliche Entwicklung beste-
                                fortschreitende Elektrifizierung im Transport-     hender Gewerbegebiete,
                                wesen können zu mehr Ressourceneffizienz         — das Zusammenwirken städtebaulicher
                                und weniger Emissionen beitragen. So               Erneuerung mit betrieblicher Modernisie-
                                ent­stehen günstigere Voraussetzungen für          rung,
                                ein Zusammenrücken von bislang getrennten        — die Synergieentfaltung aus Anlagenbau,
                                Funktionen. Räumliche Nähe von Produktion,         Städtebau, Klima- und Umweltschutz,
                                Kunden und Beschäftigten kann wiederum           — eine Sensibilisierung und Kooperation für
                                kürzere Wege, geringeren Transport- und            nachhaltige Gebietsentwicklung.
                                Lageraufwand bedeuten. Derart veränderte
                                Funktionsbeziehungen ermöglichen generell        Bei aller Vielfalt der materiellen Maßnahmen
                                engere Verbindungen zwischen Arbeiten,           ist den Modellvorhaben gemein, dass sie in
                                Wohnen, Versorgen und Erholen.                   der Prozessgestaltung auf Kommunikation,

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