Appenzeller Bräuche und Traditionen - Appenzellerland Tourismus AI

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Appenzeller Bräuche und Traditionen.
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Inhalt
Im A p p e n z e l l e rl a n d wer de n Br ä uc he und ­Tra di t i o nen      Silvesterkläuse.................................. 2
                                                                               Fasnacht.......................................... 4
n o c h a k ti v g e l e b t. B i s he ut e pr ä gen da s s e nni s c he
                                                                               Funkensonntag................................. 6
u n d d a s k i rc h l i c h e Bra uc ht um den Le be ns a l l t a g im        Landsgemeinde................................ 8
                                                                               Stosswallfahrt.................................10
A p p e n z e l l e rl a n d .
                                                                               Alpfahrt.........................................12
Mit S to l z z e i g e n wi r Ihne n di e Sc hö nhei t de r La nd-             Betruf............................................14
                                                                               Alpwirtschaft..................................16
sc h a f t, m i t H i n g a b e er k l ä r en wi r Ihne n uns e r e Bräu-
                                                                               Appenzeller Tierrassen....................18
c h e un d m i t Fre u d e ve r we i s e n wi r a uf e i n r e i c he s kul-   Fronleichnam..................................20
                                                                               Alpstobede.....................................22
t u r e l l e s A n g e b o t.
                                                                               Appenzeller Musik..........................24
«Ch ö n d z o n i s. »                                                         Rugguusseli, Schölleschötte,
                                                                               Talerschwingen...............................26
                                                                               Trachten.........................................28
                                                                               Berggottesdienste...........................30
                                                                               Markttage......................................32
                                                                               Viehschau......................................34
                                                                               Weihnachtsbräuche........................36
                                                                               Räuchle ond Omsinge.....................38
                                                                               Appenzeller Handwerk....................40
                                                                               Bauernmalerei................................42
                                                                               Handstickerei..................................44
                                                                               Gebetsheilen..................................46
                                                                               Sprachführer...................................48
Das Appenzellerland, ein Ort zum Sein.                                         Glossar..........................................49
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Silvesterkläuse
    Wenn am 31. Dezember oder am 13. Januar, dem alten Silvester nach Julianischem        Dorf- und Bauernleben dargestellt sind, umrahmt von tausenden bunten Perlen
    Kalender, das erste Tageslicht die verschneiten Hügel blau schimmern lässt, hört      und Spiegelchen. In der Dunkelheit werden sie beleuchtet – ein magisches Licht-
    man im Urnäscher Tal von weit her den rhythmischen Schellenklang der Silvester-       spiel. Die «Wüeschte» (hässlichen) tragen Fratzen aus Knochen, Tierzähnen,
    kläuse. Prächtig kostümiert ziehen sie von Hof zu Hof. Vor dem Bauernhaus stellen     Papiermaché und Hörnern und wild zerzauste Kleider aus Reisig, Stroh, Hobel­
    sie sich im Kreis auf, um zu «chlausen». Sie schellen und rollen nach überlieferter   spänen, Stechlaub und Heu. Die «schö-wüeschte» Wald- und Naturkläuse gestal-
    Choreografie und stimmen ein «Zäuerli» an, den Ausserrhoder Naturjodel ohne           ten ihr Gewand mit Ornamenten aus Tannzapfenschuppen, Moosen, Rinden,
    Worte. Danach wünschen sie dem Hausherrn und seiner Familie ein gutes neues           Schneckenhäusern, Bucheckern und Eicheln. Manchmal tragen auch sie Hauben
    Jahr. Die Silvesterkläuse erhalten dafür Geldgeschenke und etwas zu trinken. Dann     mit szenischen Darstellungen.
    ziehen sie in der typischen Reihenfolge weiter.
                                                                                          Das Silvesterklausen ist im Appenzellerland Männersache. Vereinzelt sind auch
    Ein «Schuppel», eine Gruppe Silvesterkläuse, wird vom «Vorrolli» angeführt, in der    Bubengruppen und Mädchen unterwegs. Man müsse das Klausen im Blut haben,
    Mitte gehen die «Schelli» und zuletzt der «Noerolli» (Nachrolli). «Vor- und Noe­      sagen die Einheimischen.
    rolli» tragen an Ledergurten über Schultern, Rücken und Brust 13 grosse runde,
    geschlitzte Rollen. Die andern vier haben sich Kuhschellen in unterschiedlichen       Bis zum Mittag treffen die Klausengruppen auf ihren Strichen (Routen) in den
    Grössen auf Bauch und Rücken geschnallt. Mit rhythmischem Wiegen, mit Hüpfen,         ­Dörfern ein, erwartet von Scharen von Schaulustigen. Vor und in den Wirtschaften
    Trippeln und Schütteln und beim Gehen bringen sie sie zum Klingen.                     klausen sie bis in die Nacht hinein.

    Die «Schöne», die Rollenweiber, tragen Frauenkleider und eine Larve, die dem
    Gesicht einer Porzellanpuppe gleicht. Die «Mannevölcher» tragen bunte Samt-
    trachten und eine bärtige Maske. Auf dem Kopf prangen eigenhändig hergestellte
    mächtige Hauben und Hüte, rechteckig oder radförmig, auf denen Szenen aus dem

2       Ort: Appenzeller Hinterland bis ins Mittelland. Zeit: Am «neuen» Silvester, 31. Dezember und am alten Silvester nach dem Julianischen Kalender am 13. Januar.
    Fällt das Datum auf einen Sonntag, wird am Samstag davor geklaust.
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Das Klausen muss man im Blut haben.
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Fa s n a c h t
    Am Vorabend des Schmutzigen Donnerstag galoppieren Schimmel, Rappen, Füch-            Der Brauch der «Botzerössli» stammt ursprünglich wohl aus dem süddeutschen
    se, Braune und Gescheckte durch die Gassen von Appenzell. Im Rhythmus, den die        Raum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen Reiter in Militäruniformen
    Tambouren vorgeben, traben sie ausgelassen hierhin und dorthin, so dass die           derbe Sprüche vorgetragen haben.
    Glöckchen am Zaumzeug in wilder Fröhlichkeit bimmeln.
                                                                                          Heute leben die «Botzerössli» nur noch in Appenzell Innerrhoden. Kurz bevor sie
    Die Fasnacht im Innerrhoder Hauptort beginnt mit dem traditionellen «Ommetrom-        ausgestorben sind, hat der Fasnachtsverein alte Exemplare restauriert. Heute tra-
    mere». Dazu versammeln sich die kleinen und grossen Trommler und die «Botze-          ben wieder Scharen von «Botzerössli» aller Farben und Grössen als Vorhut dem
    rössli» am späten Mittwochnachmittag auf dem Landsgemeindeplatz.                      grossen Fasnachtsumzug am Samstag voraus und machen beim Kinderumzug am
                                                                                          Donnerstagnachmittag ihre Spässe. Die Mädchen und Buben und die Erwachsenen
    Die närrische Rasse der «Botzerössli» sind Holzpferdchen. Reiter in Uniform stülpen   tragen alte Feuerwehruniformen und schminken sich Schnauzbärte, Sommerspros-
    sich diese durch das ausgesägte Loch im Rumpf über. Der menschliche Oberkörper        sen und rote Wangen ins Gesicht.
    ragt aus dem Pferd heraus, das mit Lederriemen über die Schultern des Reiters
    befestigt ist. Die Beine der Reiter sind unter einem farbigen «Rock» am Pferdeleib
    versteckt. Ross und Reiter erschrecken in ihrem Übermut gerne die Zaungäste und
    manches Tier bekommt Durst und muss am Brunnen getränkt werden.

4      Ort: Appenzell und Aussengemeinden.        Zeit: Schmutziger Donnerstag (und Vorabend) bis Aschermittwoch.
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Eine vom Aussterben bedrohte Rasse.
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F u n ke n s o n n t a g
    Einen Spitzenplatz in der Hitliste der Innerrhoder Bräuche belegt bei Kindern und        Brauch. Es gibt einen Funkenverein; am Fasnachtsumzug traten die Mitglieder frü-
    Jugendlichen der Funkensonntag. Höhenfeuer zum Frühlingsbeginn haben ihre                her mit wechselnden Sujets auf und lärmten mit verbeulten Blecheimern.
    Anfänge wohl in altheidnischen Bräuchen, die den Winter vertreiben und die
    Fruchtbarkeit der Felder beschwören sollten.                                             Der lokalpatriotische Anlass ist für die «Riedler» ein Höhepunkt im Jahr. Auf der
                                                                                             Kuppe oberhalb des Quartiers, in der Nähe des Ortes wo bis 1874 der Galgen
    Kaum sind die letzten Guggenmusikfanfaren der Fasnacht verklungen, sammeln die           stand, wird eine 15, früher bis 25 Meter hohe Pyramide aus Brennholz aufgebaut.
    Schulkinder in Appenzell und in den Aussengemeinden eifrig brennbares Material.          Beim Einbruch der Dunkelheit ziehen Gross und Klein mit brennenden Fackeln und
    Seit einigen Jahren dürfen sie nur noch unbehandeltes Holz zusammentragen.               wilden Rufen – «Ried lebede hoch, dreimal hoch» – zum Funkenplatz. Auf ein Zei-
    Beliebt sind die verdorrten Christbäume, die extra für die Funkenbuben aufbewahrt        chen hin werfen alle ihre Fackeln in den Feuerstoss; ein grandioses Feuerwerk wird
    werden. Früher schichtete man alles auf, was schön brannte: Ausgediente Pneus,           gezündet. Traditionsgemäss glimmt in manchem Kindermund die erste Zigarette
    Matratzen, Möbel, Paletten, Schaltafeln.                                                 oder ein Stumpen. Die «Funkebaabe» explodiert und der Funken lodert stunden-
                                                                                             lang – oft glüht und raucht der Rest noch am Montag.
    Vor dem Laetaresonntag, dem vierten Sonntag der Fastenzeit, wird das Brenn­
    material mit Hilfe von Erwachsenen an gut sichtbaren Stellen aufgeschichtet.
    Auf den Gipfel setzt man die mit Feuerwerkskörpern gefüllte «Funkebaabe». Sie
    steht für den Winter, dem man den Garaus machen will. Unter den Appenzeller
    Quartieren entbrannte früher ein Wettstreit um den höchsten, schönsten Funken –
    den Hehrfunken.

    Am intensivsten pflegt in Appenzell der südliche Dorfteil Ried, ein ehemaliges
    Armenquartier mit spannender Sozialgeschichte und eigener Verwaltung, den

6      Ort: Appenzell und Aussengemeinden.        Zeit: Vierter Sonntag in der Fastenzeit.
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Die schönste Nacht für die «Riedler».
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Landsgemeinde
    Nie wird deutlicher als am Landsgemeindesonntag: Die Staatsgewalt liegt beim          Wenn die grosse Glocke vom Kirchturm verstummt, eröffnet der regierende
    Volk. Die Landsgemeinde ist der Inbegriff der lebendigen, direkten Demokratie. Seit   Landammann die Versammlung mit einer Ansprache. Nach der Wahl schwören
    1403 findet sie einmal im Jahr unter freiem Himmel am letzten Sonntag im April        zuerst der regierende Landammann und danach die stimmberechtigten Frauen und
    statt. An diesem Tag werden die sieben Mitglieder der Standeskommission (Kan-         Männer den Landsgemeinde-Eid.
    tonsregierung) und die Kantonsrichter gewählt oder bestätigt, und es wird über
    Sachgeschäfte wie Verfassungs- und Gesetzesvorlagen oder Kredite abgestimmt.          Vor den Abstimmungen über Sachgeschäfte werden Bestätigungs- oder Neu-
                                                                                          wahlen für die Mitglieder der Standeskommission und des Kantonsgerichts vorge-
    Nach dem festlichen Landsgemeindegottesdienst in der Pfarrkirche ziehen die           nommen sowie alle vier Jahre für den Ständerat. Die Regierung legt Rechenschaft
    Regierungsräte und die Mitglieder des Kantonsgerichts im Radmantel (genannt           ab über ihre Tätigkeit und die Staatsrechnung. Dabei und bei Sachvorlagen haben
    «Liichemaantl»), begleitet von Ehrengästen, punkt zwölf Uhr mittags vom Rathaus       die Stimmberechtigten die Möglichkeit auf den Stuhl zu treten und für oder gegen
    zum Versammlungsplatz. Ihnen voran schreitet der Landweibel mit dem Zepter. Der       ein Geschäft zu argumentieren, eine Anregung anzubringen oder eine Einzelinitia-
    Ratschreiber trägt das silberne Landbuch zum Landsgemeindestuhl, einer zweistu-       tive einzureichen. Dazu fordert der Landammann auf mit der Formel: «S’Woot ischt
    figen Holztribüne, auf der die Landammänner sowie Säckelmeister, Statthalter,         frei». Gewählt und abgestimmt wird mit offenem Handmehr.
    ­Landeshauptmann, Bauherr und Landsfähnrich (Departementsvorsteher) und die
     Kantonsrichter ihre Stehplätze einnehmen. Angeführt wird der Zug von der Musik­      Nach der Landsgemeinde feiert das Volk ein ausgelassenes Dorffest.
     gesellschaft Harmonie, die seit dem 19. Jahrhundert den langsamen Landsgemein-
     demarsch spielt.

8      Ort: Appenzell.     Zeit: Letzter Sonntag im April, 12.00 Uhr.
«S’Woot ischt frei…»
S t o s s wa l l f a h r t
     Noch vor dem Morgengrauen weckt die grosse Glocke der Pfarrkirche St. Mauritius         Auf halbem Weg, beim historischen Sammelplatz, verliest der Ratschreiber den
     die Gläubigen. Das «Schreckläuten» am zweiten oder dritten Sonntag im Mai ist           Fahrtbrief. Darin wird das legendäre Schlachtgeschehen im Zuge der Appenzeller
     um halb fünf Uhr morgens fast im ganzen Kanton zu hören und erinnert an das             Befreiungskriege geschildert und die gefallenen Appenzeller werden aufgezählt –
     Gelöbnis der Appenzeller: Nach der siegreichen Schlacht am Stoss im Juni 1405           unter ihnen der Held Ueli Rotach. Für sie werden fünf Vaterunser gebetet.
     gelobten sie, immer am Fest des hl. Bonifatius (14. Mai), noch vor der Heuet also,
     zum Schlachtfeld zu wallfahren um Dank zu sagen für die errungene Freiheit und          Das Land Appenzell war, als es sich von fremden Vögten und vom Diktat des Abtes
     um der Gefallenen zu gedenken. Die Stosswallfahrt gehört zu den ältesten und            von St. Gallen befreite, noch ungeteilt. Die Landteilung in einen katholischen und
     urtümlichsten Traditionen im Appenzellerland.                                           einen reformierten Halbkanton erfolgte 1597, dank geschickter Vermittlung durch
                                                                                             sechs andere Kantone, ohne Blutvergiessen.
     Um sechs Uhr setzt sich bei der Pfarrkirche St. Mauritius in Appenzell die Prozession
     zum neun Kilometer entfernten Stoss in Gang. Aus jedem Haus soll ein ehrbarer           Ein grosser Teil des Pilgerwegs führt heute über Ausserrhoder Boden. Auf Teilen
     Mann daran teilnehmen, lautete einst das Versprechen. Für die Mitglieder der            der Wegstrecke – je nach Witterung entlang der Strasse oder über die Wiesen –
     Standeskommission und des Kantonsgerichts sowie die Innerrhoder Bezirkshaupt-           beten 300 bis 500 Wallfahrende den Rosenkranz. Nach der Ankunft bei der
     leute ist die Wallfahrt Pflicht. Voraus gehen Polizei und Fahnenträger; ihnen folgen    Schlachtkapelle wird im Freien der feierliche Gottesdienst abgehalten, umrahmt
     Ministranten und die Geistlichkeit, danach die Regierungsmitglieder und zum             von der Musikgesellschaft Harmonie Appenzell. Nach einer kurzen Rast fahren die
     Schluss Studenten und Bevölkerung, seit 1991 auch Frauen und Mädchen.                   Pilger mit Extrazügen wieder zurück nach Appenzell.

10      Ort: Appenzell.     Zeit: Sonntag nach 14. Mai, 6.00 Uhr.
«Aus jedem Haus ein ehrbarer Mann...»
Alpfahrt
     Je nach dem wie hoch das Gras steht, wird im Mai oder Juni «öberegfahre». Die         Trifft der Alpfahrtszug auf der Alp ein, tragen die Sennen die Schellen in gleich­
     Alpfahrt ist für viele Bauernfamilien der schönste Tag im Jahr.                       mässigem Schritt zur Hütte. Während das Vieh auf die Weide getrieben wird,
                                                                                           ­singen sie «Rugguusseli».
     Die Tiere werden eingereiht und vielleicht der Lediwagen mit allen Sennereigeräten
     beladen. Der Senn geht den Schellenkühen voran. Er trägt die Festtagstracht und       Acht bis zehn Wochen bleibt das Vieh auf den Alpen. Spätestens am 30. Septem-
     über der linken Schulter den Fahreimer. Die drei aufeinander abgestimmten Schel-      ber ist Alpabfahrt. Sie verläuft nach dem gleichen Muster wie der Aufzug.
     len am Hals der Tiere sind wohl die einzigen Instrumente auf der Welt, die von
     Kühen gespielt werden.                                                                Im Gegensatz zu Appenzell Ausserrhoden, wo die Sennen der Alpen am Fuss des
                                                                                           Säntis an einem einzigen Tag Alpabtrieb feiern, verkünden in Innerrhoder Dörfern
     Angeführt wird der Alpaufzug von Appenzeller Ziegen. Kinder halten sie im Zaum.       im Spätsommer an vielen Nachmittagen Schellenklänge und Naturjodel das Ende
     Dahinter folgen die Kühe, Rinder und Kälber und manchmal ein Stier. Am Schluss        der Alpzeit.
     geht der stolze Besitzer der Viehherde begleitet vom treuen «Bläss». Der Appen-
     zeller Sennenhund gibt Acht, dass kein Tier vom Weg abkommt.

     Die wichtigste Aufgabe der vier Sennen hinter den Schellenkühen ist das Singen
     und Zauren (Jauchzen). Auch sie sorgen dafür, dass die Herde beisammen bleibt.
     Stärkung für den mehrstündigen Alpauftrieb erhalten sie unterwegs: Bei vielen Wirt-
     schaften wird «usekhäbed», d.h. den Vorbeiziehenden werden Getränke angeboten.

12      Ort: Überall an den Zugängen zu den Alpgebieten.       Alpauffahrten: Von Mitte Mai bis Juni.      Alpabfahrten: Mitte August bis Ende September.
Der schönste Tag im Bauernjahr.
Betruf
     Die Bergflanken glühen im letzten Sonnenlicht. Kuhglocken und Tierstimmen ver-      kommt mit fünf Tönen aus und erinnert an Gregorianik; die halb gesprochene, halb
     stummen. Nach dem harten Tagwerk stellt sich der Senn auf eine Erhebung auf         gesungene Form verleiht dem Alpsegen seinen volkstümlichen Charakter. Manchen
     seiner Alp, führt den geschnitzten Holztrichter zum Mund und ruft den Alpsegen.     Herrgottswinkel der Alphütten ziert ein Pergament, auf dem der Betruf in schöner
     Ein anrührender Moment der Andacht.                                                 Schrift festgehalten ist.

     Auf mehreren Innerrhoder Alpen wird während der Sömmerungszeit allabendlich         Erforscher des Betrufs sind der Ansicht, der Betruf werde stellvertretend für das im
     der Alpsegen gerufen. Wer ihn hört, wird an Klänge aus dem Mittelalter erinnert.    Tal übliche Betläuten («Betlüüte») angestimmt. Wie dieses soll auch der über die
     Archaisch ist auch der Text – halb im Dialekt, halb im «altmöödege» Schrift-        Alp gerufene Segen Schutz und Schirm für die Nacht gewähren. Er soll im ban-
     deutsch – vorgetragen. Tief religiöses, uraltes katholisches Brauchtum kommt        nenden Kreis alles, was dem Schutz anbefohlen wird, vor zeitlichem und ewigem
     hier zum Ausdruck.                                                                  Feuer, vor Hagel, Blitz, Steinschlag und Seuchen, vor Hunger und Krieg bewahren.

     Älteste Quellen erwähnen eine Art Sennengebet bereits im 15. Jahrhundert für        Bis vor kurzem war der Betruf auf Innerrhoden Alpen Männersache. Unterdessen
     die Weiden im Alpsteingebiet, damals auch als «Ave-Singen» oder «Ave-Maria-         pflegen auch Frauen diesen schönen Brauch.
     Rufen» bezeichnet. Zwischenzeitlich geriet der Brauch in Vergessenheit.

     Der heute gebräuchliche Innerrhoder Betruf ist nicht sehr alt: Anlässlich des
     Appenzeller Landifestspiels 1939 gelangte ein «Innerrhoder» Alpsegen auf die
     Bühne. Melodie und Text waren aus anderen Regionen entlehnt, was für manche
     Innerrhoder beschämend war. So liess man von den Kapuzinerpatres Erich Eberle
     und Ekkehard Högger im Jahre 1946 einen eigenen Betruf schreiben. Nach Textan-
     passungen wird seit 1948 diese Version gerufen. Die litaneiartig geführte Melodie

14      Ort: Auf mehreren Alpen.      Zeit: Während der Alpzeit, beim Einnachten.
«Bhüets Gott ond ehaalts Gott...»
Alpwirtschaft
     Vom Tagesanbruch bis zum Einnachten hat der Senn auf grossen Alpen alle Hände        Manche Bauern pendeln heute dank der Erschliessung der Alpen mit Fahrwegen
     voll zu tun: Melken, käsen, buttern, Tiere füttern, Klauen pflegen, Weiden ausräu-   zwischen Berg- und Talbetrieb. Die Landschaftspflege durch das Bestossen der
     men, Holz hacken, kochen, Tiere einfangen, die sich verstiegen haben.                Alpen hat auch touristisch an Bedeutung gewonnen. Und einige Sennen verdienen
                                                                                          sich mit der Bewirtung und Unterbringung von Gästen einen Zustupf.
     Auf den 3'792 ha Innerrhoder Weiden auf 1‘000 bis 2‘200 m ü. M. werden von
     Mitte Mai bis September Kühe, Jungvieh, auch Ziegen und Schafe gesömmert.            Auf einer Appenzeller Alp stehen meist drei getrennte Holzbauten: Die Sennhütte,
     Schon 1071 wird das Bestossen der Alpen im Alpstein erwähnt. Gemein- und             der Stall und ein kleiner Schweinestall. In der dreiräumigen Alphütte betritt man
     Genossenschaftsalpen werden von mehreren Bauern bestossen.                           direkt die Küche; dort hing früher das «Chääschessi» über dem offenen Feuer. Die
                                                                                          einfachen Mahlzeiten kochen die Bewohner auf dem Holzherd oder dem Gasko-
     Die Alpwirtschaft dient der Zucht von widerstandsfähigen und wirtschaftlichen Tie-   cher. Unter der Küche liegt der gemauerte Käsekeller. Die Hütten sind selten mit
     ren. Gleichzeitig wird durch die Sömmerung der Futterbestand im Tal geschont.        Elektrizität ausgerüstet; fliessendes Wasser spendet der Brunnen draussen.
     Früher wurde vor allem Käse produziert. Heute nehmen regionale Milchverwer-
     tungsbetriebe den Sennen die Milch ab, um Spezialitäten herzustellen. Einen Auf-
     schwung erlebte in den letzten Jahren die Direktvermarktung von Alpkäse.

16      Ort: Auf mehreren Alpen.      Zeit: Während der Alpzeit.
Im Einklang mit dem Lauf der Sonne.
A p p e n z e l l e r Ti e r ra s s e n
     Er sei oft noch angriffiger als sein Meister, behaupten böse Zungen über den Appen-     bärtchen. Jährlich gibt sie etwa 700 Kilogramm gut verträgliche fettarme Milch.
     zeller «Bläss» und den schlagfertigen Innerrhoder. Der Appenzeller Sennenhund, der      Die Produkte daraus – Frischkäsli, Milch, Kosmetikprodukte und Heilsalben gegen
     zu den gefährdeten Rassen gehört, geht auf die Bauernhunde zurück, die früh als         Rheuma – erfreuen sich wieder grösserer Beliebtheit. Gitzibraten und «Gitzi­
     Hüte-, Trieb- und Wachhunde eingesetzt wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts              chüechli» sind zur Osterzeit in vielen Innerrhoder Familien Tradition.
     begann man eine reine Rasse des mittelgrossen dreifarbigen Tieres zu züchten.
                                                                                             Geradezu exotische Schönheiten sind die Appenzeller Spitzhauben-Hühner und -Gockel.
     Sein Wesen ist geprägt von der jahrhundertelangen Verwendung im Alpengebiet. Er         Das Federkleid gefällt mit seinen schwarzen Tupfen auf silberweissem oder goldblon-
     ist temperamentvoll und ausdauernd. Der «Bläss» ist ein schlauer Beobachter, ein        dem Grund. Adrett wippt die Federhaube auf ihrem Kopf. Ebenfalls zu den seltenen
     unkomplizierter, wetterfester, wenig krankheitsanfälliger und treuer Begleiter. Frem-   Hühnerrassen gehören die Appenzeller Barthühner. Stolz tragen sie ihr schwarzgrün
     den gegenüber zeigt er sich gern misstrauisch. Der «Bläss» ist der geborene Wäch-       glänzendes Gewand, den Rosenkamm auf dem Kopf, Kinn- und Backenbart.
     ter und Beschützer von Haus und Familie. Immer öfter ist er auch als Begleithund
     beliebt; sogar als Blinden-, Lawinen- und Katastrophenhund wird er geschätzt.

     Besonders liebenswert, aber auch eigensinnig ist die Appenzeller Ziege. Auch sie
     gehört zu den gefährdeten Tierrassen in der Schweiz. Sie ist vor allem Milch- und
     Fleischlieferantin. Viele Bauern halten Appenzeller Ziegen heute aus reiner Liebhabe-
     rei. Sie ist eine so genannte «Motschgääss», das heisst, durch genetische Verände-
     rung kommt sie meist hornlos zur Welt. Sie hat weisses langes Haar und ist eine gute
     Berggängerin. Typisch sind die Zottel am Unterkiefer, die «Mingeli», und das Ziegen-

18
Der treuste Begleiter.
Fr o n l e i c h n a m
     Frühmorgens wecken Kanonenschüsse die Gläubigen. Fronleichnam ist für die           In Appenzell begleiten Herrgottsgrenadiere in napoleonischen Uniformen die
     katholischen Innerrhoderinnen und Innerrhoder «Ösehegottstag». Seit dem Hoch-       Monstranz bis zum Schlusssegen zwei Stunden später in der Kirche. Pfarrer und
     mittelalter wird das hohe kirchliche Fest zur Verehrung des heiligen Altarsakra-    Allerheiligstes werden vom prunkvollen Baldachin beschirmt, den Mitglieder des
     ments zehn Tage nach Pfingsten gefeiert. In Appenzell und den Aussengemeinden       Kirchenrats tragen. Ihnen folgen Bannerträger kirchlicher und weltlicher Gruppen,
     werden die prächtigsten Prozessionen des Kirchenjahres abgehalten.                  dahinter wehen die Rhodsfahnen. Andächtig schreiten Behördenvertreterinnen und
                                                                                         -vertreter, der Kirchenchor, Angehörige des Pfarreirats und des Seelsorgeteams,
     Schon morgens um sechs Uhr ist ein emsiges Treiben im Dorfkern von Appenzell        Ministranten, Erstkommunikanten, die Pfadfinder, die Fronleichnamsschützen und
     und in den Aussengemeinden. Die Bewohner und Bewohnerinnen schmücken ihre           die Musikgesellschaft durch die Gassen. Die klare Ordnung gilt seit Generationen.
     Häuser mit frischem Buchenlaub; Heiligenbilder und -figuren und Blumenschmuck
     werden platziert.                                                                   Ihren besonderen Glanz erhält die Prozession durch die bis zu hundert Frauen in
                                                                                         der Festtagstracht und die 15 «Täfelimeedle». Diese jungen Frauen in der schwarz-
     Der Festtagsgottesdienst wird bei schönem Wetter um 9.00 Uhr unter freiem Him-      weissen Tracht der Unverheirateten tragen bemalte Holztafeln mit den 15 Geheim-
     mel im Innenhof des Gymnasiums St. Antonius zelebriert. Dann zieht die farben-      nissen des freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Rosenkranzes.
     prächtige Prozession zu den zwei üppig geschmückten Segensstationen auf dem
     Landsgemeindeplatz und beim Schulhaus Chlos. Dort werden jeweils – angezeigt
     durch weiteren Kanonendonner – kurze Andachten mit Lesungen gehalten sowie
     der eucharistische Segen erteilt. Auf den Wegstrecken dazwischen wird der Rosen-
     kranz gebetet.

     Die Fronleichnamsprozession hat in jeder Pfarrei ihre Besonderheiten. Im Zentrum
     steht das Allerheiligste, das vor Prozessionsbeginn in der Kirche abgeholt wird.

20      Ort: Appenzell und Gonten, kleinere Prozessionen auch in anderen Innerrhoder Gemeinden.    Zeit: Donnerstag, 10 Tage nach Pfingsten, Vormittag.
«Ösehegottstag».
Alpstobede
     Mitten im Alpsommer laden die Sennen auf grösseren Gemeinalpen zur «Alpstobe-         Einzig an vier Tagen pro Jahr war in alter Zeit das Tanzen in Innerrhoden offiziell
     de» ein. Zum Teil unter freiem Himmel spielt eine Appenzeller Musikformation auf;     erlaubt. So ist es nicht erstaunlich, dass bis anfangs des 20. Jahrhunderts die
     Volkstanzgruppen und das Publikum drehen sich auf der Holzbühne im Kreis.             «Alpstobede» äusserst beliebt waren: Hier fanden, fernab der wachsamen Augen
     ­Männer sorgen mit der Tanzfigur «Mölirad» für Furore; ein Trachtenpaar tanzt den     von Staat und Kirche, vergnügliche Anlässe statt. In Appenzell Ausserrhoden wur-
      «Hierig», einen pantomimischen Paartanz. Es wird gejodelt und es werden «Ratz-       den 1726 die «Alp- und Weidstuberten» endgültig verboten.
      liedli» gesungen.

     Dort wo Bergwirtschaften stehen, wird auch bei schlechtem Wetter oder am Abend
     gefeiert. Die Sennen der Umgebung nehmen in der Tracht daran teil; Landwirte aus
     dem Tal besuchen die Sommerfeste und heute auch viel anderes Volk.

     Mit «Stobede» war ursprünglich eine Zusammenkunft in der Stube gemeint. «Zo
     Stobede goh» bedeutet noch heute, jemanden in seinem Wohnraum besuchen, mit
     ihm reden. Der Begriff wurde auf die geselligen Zusammenkünfte der Sennen über-
     tragen – eben «Alp-Stobede», früher auch «Weidstobede» genannt. Sie hängen mit
     den Alpbesuchen zusammen, welche Angehörige der Sennen und die Viehbesitzer
     alljährlich unternahmen. Der sportliche Teil – Steinstossen, Schwingen, «Hoselopf»,
     «Hööggle» – ging unterdessen verloren. Eine Neuauflage von «sennischen Wett-
     kämpfen» wurde 2006 beim Gasthaus «Mesmer» gestartet. 2012 wurde in der
     Bollenwees während der «Stobede» erstmals ein «Bollewöffe» veranstaltet.

22      Ort: Auf verschieden Alpen und in diversen Berggasthäusern.     Zeit: Um die Mitte des Alpsommers (Juni bis August).
Das Sommerfest der Sennen.
Appenzeller Musik
     Unverkennbar ist der Klang der typischen Appenzeller Musik. Das Hackbrett rhythmi-       Um die Zukunft der Appenzellermusik aller Sparten zu sichern, wurde im Jahre
     siert die Kompositionen, füllt die Lücken mit schillernden Tonkaskaden. Das klassische   2003 die Stiftung Zentrum für Appenzellische Volksmusik gegründet. Im «Root­
     Quintett setzt sich zusammen aus zwei Geigen, Cello, Hackbrett und Streichbass.          huus» in Gonten wird seit 2007 das einmalige Kulturgut gefördert, gesammelt und
                                                                                              dokumentiert.
     Die Streichmusik tritt seit 1892 in Quintettbesetzung auf, nachdem früher nur mit
     Geige und Hackbrett, später dann im Trio und Quartett gespielt worden war. Paral-        Das trapezförmige Hackbrett gehört zu den Kastenzithern. Die mehrchörig gebün-
     lel zur Formationsentwicklung entstand auch das entsprechende Repertoire mit             delten Saiten werden mit zwei Ruten (Schlägern oder Klöppeln) angeschlagen. Je
     Walzer, Schottisch, Polka, Marsch, Ländler, Mazurka, Galopp. Schon um 1900               nach Beschaffenheit der Ruten klingen die Saiten silbrig hell oder samtig weich.
     ­komponierten Appenzeller Musikanten Stücke, die bis heute gespielt werden.              Seit dem Mittelalter hat das persische Santur im Lauf der Jahrhunderte den Weg
      ­Zahlreiche Werke sind harmonisch sehr anspruchsvoll, enthalten überraschende           über den Balkan nach Europa gefunden. Beim alpenländischen Appenzeller Hack-
       Wendungen und oft eigenwillige Modulationen. Ein typisches Merkmal der                 brett sind die Saiten zur Hälfte durch einen Steg in Quinten und Sexten aufgeteilt
       «schlääzigen» Tänze sind die abrundenden Schlusstakte.                                 und chromatisch angeordnet.

     Eine neue Generation gut ausgebildeter Musikerinnen und Musiker verleihen heute
     der Appenzeller Musik neue Impulse; sie wagen Experimente und Grenzüberschrei-
     tungen. Der Streichmusik in Originalbesetzung begegnet man meist nur noch an kon-
     zertanten Auftritten. Für Tanzmusik wird anstelle von Cello und zweiter Geige gerne
     die Handorgel eingesetzt. Sie bringt einen speziellen «Zoog» in die Appenzellermusik.
     Auch Besetzungen mit Klavier oder mit zwei Handorgeln sind anzutreffen. Was aber
     allen Appenzellerformationen eigen ist: Sie spielen ein typisches Repertoire.

24      Ort: Im Appenzellerland.      Zeit: Ganzjährig.
Das Hackbrett ist der heimliche Star.
R u g g u u s s e l i , S c h ö l l e s c h ö t t e, Ta l e r s c h w i n g e n
     Die Männer stehen im Kreis. Völlig auf sich selbst und den Ton konzentriert, die      Gesang oft als schwermütig. Man hört sie an zahlreichen Konzerten, an der
     Hände in den Hosentaschen. Der Vorsänger stimmt eine Klangfolge an, einer nach        «Alpstobede», im Wirtshaus und natürlich zur Alpfahrt.
     dem andern stimmt ein. Gesungen wird nach Gefühl. Kaum ein anderer Jodel klingt
     so anrührend wie das Innerrhoder «Rugguusseli» und das Ausserrhoder «Zäuerli».        «Schölleschötte» und Talerschwingen
                                                                                           «Schölleschötte» – grosse Kuhschellen erklingen durch rhythmisches Schwingen –
     «Rugguussele» oder «zäuerle» bedeuten, mehrstimmige textlose Naturjodel aus           ist eine eigenständige musikalische Aufführung; das «Rugguusseli» dazu ist Beiga-
     klingenden Vokalen und Silben singen. Typisch für die erste Stimme ist der schnelle   be. Anders verhält es sich beim Talerschwingen: Hier steht im Vordergrund der
     Wechsel von der Brust- in die Kopfstimme (Falsett), bezeichnet als Kehlkopfschlag.    Naturjodel, und der Beckendreiklang liefert dazu den Bordun. Es existiert keine
     Die Melodie des «Voozaurers» wird gestützt durch eine improvisierte Mehrstim-         vorgegebene Becken-Stimmung, am beliebtesten ist aber jene mit Intervallen wie
     migkeit von mehreren Sängern, was mit «graadhäbe» bezeichnet wird.                    bei den Schellen (E-G-A) oder in Dreiklang-Terzen.

     Die Begriffsherkunft ist nicht geklärt; bereits in einer Schrift von 1606 begegnet    «Ratzliedli»
     man dem Ausdruck von «sauren» und «rungusen» als Lockrufe (Alfred Tobler in:          In fröhlichen Runden singen die Appenzeller gern. Und manchmal werden sie
     «Kuhreihen», 1890). «Zaure» ist eine der typischen Kommunikationsformen spe­          übermütig. Einer singt die erste Strophe eines «Ratzliedli», eine weitere folgt, und
     ziell im Alpenraum. Es ist ein Jauchzer, ein Lebenszeichen, ein Ausdruck von Freude   noch eine und noch eine. Witzige, freche, spottende, kokette oder banale Zeilen
     an Klang und Echo.                                                                    reimen sich auf die einfachen – manchmal von bekannten Volksliedern entlehnten –
                                                                                           Melodien. In den gejodelten Refrain stimmen alle ein. Die ganze Wirtschaft wird
     In Innerrhoden waren es ursprünglich die Sennen, welche den Jodel sangen, doch        zum Jodelchor. Der Name «Ratzliedli» charakterisiert mit dem Wortteil «ratz» die
     um 1900 wurde er weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht durch             Art der Lieder im Sinne von «zom Tratz», will heissen: Necken, scherzen, hänseln.
     Solojodlerinnen. «Rugguusseli» und «Zäuerli» sind schlichte, langsame Melodien.       Die Texte werden zum Teil seit Generationen überliefert, aber immer wieder auch
     Melodien in Moll existieren nicht, und trotzdem empfinden Aussenstehende den          neu erfunden – sie sind pure Volkspoesie!

26      Ort: Im Appenzellerland.     Zeit: Ganzjährig.
Jodel ohne Worte und freche Lieder.
Tra c h t e n
     Für die Innerrhoder Trachtenträgerinnen und -träger ist die Tracht einfach das          Männertrachten:
     schönste Kleid. Die aufwändige Herstellung in Handarbeit machen sie zu einer der        Am häufigsten sieht man Appenzeller Männer im braunen wollenen Beinkleid mit
     schmucksten und vielgestaltigsten Trachten in der Schweiz.                              Hosenladen zum kurzärmeligen, bestickten weissen Sennenhemd. Darüber wird
                                                                                             das rote «Liibli», eine Weste aus seidenbesticktem rotem Wollstoff mit quadra-
     Frauentrachten:                                                                         tischen Silberknöpfen getragen. Schmuckstücke sind die beschlagenen Hosen­
     Beeindruckend ist die prunkvolle Festtagstracht der Innerrhoderin. Zum feinplissier-    träger und die Uhrenkette am Hosenbund.
     ten knöchellangen Rock wird eine Schlottenjacke getragen, darunter über der
     gestärkten Bluse ein Samtmieder mit silbernen Filigranspangen und einem reich           Typisch für Appenzeller ist der schlangenförmige goldene Ohrring. An Festtagen
     bestickten Brustblätz. Über dem Rock schimmert die lange mit Hohlsaum und               oder für Auftritte wird darin das goldene «Schüefli» (eine winzige Rahmschöpf­
     Glasperlen verzierte Damastschürze. Aus dem selben Stoff ist das goldbestickte          kelle) eingehängt.
     «Brüechli» gefertigt. Wunderschön sind der gefältelte, handbestickte weisse
     Schlottenkragen und die dazu passenden Stulpen. Der Kopfputz ist eine schwarze          Bei Alpfahrten und an der Viehschau tragen die Sennen die gelb angemalten,
     Flügelhaube mit seitlichen Rosen, mit einer weissen Spitzenhaube, Goldkäppi und         ledernen Kniebundhosen. Die Hosenbeine werden über weissen, gestrickten Knie­
     karmesinroter Seidenschleife zwischen den Tüllflügeln. Wertvolle Zier sind die fili-    strümpfen mit beschlagenen Riemen festgehalten. Über dem Hemd wird auch die
     granen Trachtenschmuckstücke, die oft über Generationen vererbt werden.                 rote kragenlose Weste getragen. Über die Hüfte schlingt der Senn ein buntes zum
                                                                                             Dreieck gefaltetes Tuch; auf dem Kopf trägt er den flachen, mit Bändern und Blumen
     Viel öfter tragen die Innerrhoderinnen die Werktagstracht. Mieder, Vorstecker,          geschmückten schwarzen Hut. Nicht mehr jeder Trachtenträger schmaucht die
     «Brüechli» und Schürze sind ähnlich wie bei der Festtagstracht, aber weniger reich      typische Pfeife, das mit Silber beschlagene «Lendaueli» mit seinem Klappdeckel.
     geschmückt. Dazu wird keine Jacke getragen und in der Regel kein Kopfputz. Der
     Rock ist wadenkurz, der Schmuck einfacher gehalten. Weitere Trachtenformen sind
     diejenige der «Täfelimeedle», die «Bareemeltracht», Rock und Jacke und die
     Kranzrocktracht, die nach altem Vorbild wieder neu gestaltet wurde.

28       Ort: Appenzell Innerrhoden.       Zeit: In Appenzell Innerrhoden wird oft die Tracht getragen, nicht im Alltag, sondern zu besonderen Anlässen: An hohen katholischen
     Feier­tagen, zu Familienfesten, «Stobeden», beim «Öberefahre» und an der Viehschau.
Unser schönstes Kleid.
Berggottesdienste
     Die Verbundenheit von kirchlichem und weltlichem Leben zeigt sich in Appenzell       Aufschwung in Verbindung. Das Angebot an Gottesdiensten und Andachten in den
     Innerrhoden deutlich in den katholischen Festtagen wie Fronleichnam, Mariä Emp-      Bergen ermöglichte sowohl den Alphirten als auch den Wanderfreunden den sonn-
     fängnis, dem «Augschthäligtaag» (15. August, Mariä Himmelfahrt) und in den tra-      täglichen Messebesuch.
     ditionellen Berggottesdiensten.
                                                                                          Bei etlichen der kleinen Heiligtümer werden regelmässig Rosenkranzgebete abge-
     Die Bergkapellfeste im Plattenbödeli und in der Bollenwees, das Fest Maria zum       halten. Die Marienverehrung spielt in Appenzell Innerrhoden eine grosse Rolle.
     Schnee auf der Meglisalp, die Messen in der Wallfahrtskapelle im Ahorn, das Geden-
     ken an Bruder Klaus auf Seealp und die Jakobifeier auf dem Kronberg besuchen         Neben den Gipfelkreuzen und Bildstöcken findet man im Berggebiet zahlreiche
     neben den Sennen und ihren Angehörigen viele gläubige Berggänger. Die Feiern         christliche Erinnerungszeichen an verstorbene und verunglückte Sennen und
     werden unter freiem Himmel abgehalten. Als Höhepunkt gilt das Schutzengelfest bei    Berggänger. Jedes dieser Zeichen der Volksfrömmigkeit hat seine eigene – oft
     der Höhlenkapelle Wildkirchli, der wohl berühmtesten Kapelle im Alpstein.            leidvolle – Geschichte.

     Das anschliessende gemütliche Zusammensein in den Bergwirtschaften, meist mit
     Musik, Tanz und Gesang, gehört selbstverständlich zum Festtag.

     Das Innerrhoder Alpsteingebiet und die Hügel und Täler zu seinen Füssen sind
     geradezu übersät mit Kapellen, Bergkreuzen und Bildstöcken. Die Errichtung der
     ersten Bergheiligtümer geht auf das frühe 17. Jahrhundert zurück, als man im
     katholischen Halbkanton glaubte, den Katholizismus gegenüber den «vom rechten
     Glauben abgefallenen» Protestanten sichtbar machen zu müssen. Der Grossteil der
     gegen 50 Kirchlein, Kapellen und Bildstöcke steht jedoch mit dem touristischen

30      Ort: Im Alpstein.    Zeit: Während der Sommerzeit.
Volksfrömmigkeit unter freiem Himmel.
Markttage
     Wenn der Sommer sich zu Ende neigt, locken süsse Düfte, Schiessbuden, Karussel-        woch im Dezember ist die Gelegenheit, Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
     le und Marktstände die Innerrhoder in die Dörfer. Anfangs August beginnt der Rei-      Geschenke kaufen nennt man im Innerrhoder Dialekt denn auch «chläusele». Seit
     gen der «Chölbene» in Oberegg, wenig später organisiert eine «Dorfkommission»          einigen Jahren veranstaltet ein Verein am zweiten Sonntag im Dezember einen
     die «Stenegge Chölbi». Am zweiten Sonntag im September werden auf dem                  Weihnachtsmarkt auf dem Postplatz. Die zauberhafte Adventsstimmung mit
     Betriebsgelände des Appenzeller Alpenbitter in Appenzell seit 1972 von einem Ver-      Leuchtsternen und Weihrauchschwaden und die an den Adventssonntagen geöff-
     ein eine altertümliche «Riitschuel», eine nostalgische Schifflischaukel, eine histo-   neten Geschäfte locken Scharen von Besucherinnen und Besuchern an.
     rische Orgel und der «Hau den Lukas» aufgestellt. An der «Schwender Chölbi»
     wird traditionell ein Steinstoss-Wettbewerb durchgeführt. Anfang und Mitte Sep-        An Bedeutung verloren hat der Mittwoch, der früher auch Bauernsonntag genannt
     tember haben auch Gonten und Haslen ihre «Chölbi» im kleinen Rahmen.                   wurde. An diesem Tag war in vergangener Zeit traditionell Markttag – daher das
                                                                                            Dialektwort «Mektig». Man sah die Landwirte und Viehhändler an den Wirtshaus-
     Die grösste Attraktion ist die «Hofer-Chölbi» in Appenzell. Traditionell findet sie    tischen jassen oder in Gruppen in den Gassen stehend diskutieren, Besorgungen
     am Wochenende nach dem Festtag des Landespatrons St. Mauritius (22. Septem-            erledigen und Geschäfte machen.
     ber) statt. Spektakuläre Fahrgeschäfte, dröhnende Musik, blinkende Lichter,
     Zuckerwatte, Magenbrot, Raclette und Bratwürste begeistern Jung und Alt. Am
     Montag lockt der grosse Warenmarkt; sogar ein kleiner Viehmarkt wird abgehalten.

     Appenzell, bis 1597 Hauptort des ungeteilten Landes Appenzell, ist seit 1353 mit
     dem Marktrecht ausgestattet. Seit jeher sind hier Markttage an bestimmten Tagen
     festgelegt: Am ersten Mittwoch im Mai füllen sich die Gassen mit den Ständen des
     Maimarktes. Am «Chölbimeentig» (Montag) drängt sich das Volk am Warenmarkt
     im Dorfkern und auf dem Landsgemeindeplatz. Der «Chlöösler» am ersten Mitt-

32
Ein Reigen an bunten Vergnügen.
Vi e h s c h a u
     Die Kühe, Ziegen und Stiere sind geputzt und gestriegelt. Die Sennen tragen ihre   Aufregend ist das «Abloo» zur Vesperzeit. Im Minutentakt verlassen die Viehher-
     Festtagstracht. Unter Singen und Zauren, mit Schellenklang ziehen sie morgens      den den Schauplatz, begleitet von heftigem Schellenklang und fröhlichem Natur­
     aus allen Himmelsrichtungen kommend unter dem mit Tannengrün und Blumen            jodel. Am Abend treffen sich Viehbesitzer und Begleitsennen wieder zum traditio-
     geschmückten «Triumphbogen» hindurch auf den Brauereiplatz in Appenzell. Am        nellen Schauanlass im Hotel Säntis am Landsgemeindeplatz. Dann werden im
     ersten Dienstag im Oktober zeigen sie hier alljährlich ihre Zuchterfolge.          feierlich-volkstümlichen Rahmen die Auszeichnungen der Schönheits- und Leis­
                                                                                        tungskonkurrenz vergeben. Die Viehschau ist für die Viehzüchter und ihre Familien
     Nach Alter und Geschlecht geordnet werden die Tiere an langen Kettenreihen         ein wichtiger Tag im Jahr.
     angebunden. Die Leiber dampfen nach der Auffuhr in der noch kühlen Morgenluft;
     hie und da bringt ein kläffender Bläss eine verwirrte Kuh zur Vernunft. Wo nötig   Die Appenzeller Viehschau wird seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt. In
     werden verkotete Flanken und zerzauste Schweife der Kühe schnell mit Stroh         der Exklave Oberegg wird eine eigene Schau abgehalten. Im Gegensatz zu Inner­
     abgerieben oder mit einem Schwamm gewaschen.                                       rhoden finden in Ausserrhoden die Viehschauen ab Mitte September gemeindewei-
                                                                                        se statt.
     Strenge Experten beurteilen Kühe, Rinder und Stiere nach Schönheit und Leistung.
     Entsprechend der Rangierung werden die Tiere wieder an die Kettenhäge gebun-       An den beiden Tagen nach der Rind-Viehschau locken in Appenzell auf demselben
     den. Das dauert bis in den Nachmittag hinein. Die besten und schönsten bekom-      Platz nach demselben Muster zuerst die Ziegen- und dann die Schafschau Interes-
     men einen Kranz aus Papierblumen. Früher wurden diese in Frauenklöstern ange-      sierte an.
     fertigt. Die grossen Senntumschellen und Fahreimer der Sennen werden auf
     Holzgestellen zur Schau gestellt. Es wird viel gesungen an diesem Tag. Und die
     Jugend darf straffrei rauchen.

34      Ort: Appenzell.     Zeit: Erste Oktoberwoche.
Innerrhoder Schönheitskonkurrenz.
We i h n a c h t s b r ä u c h e
     Die Weihnachtszeit in Appenzell Innerrhoden ist ein Fest für alle Sinne. Sie beginnt    Die «Chlausebickli» wurden früher den Kindern ab November von Patinnen und
     eigentlich schon an Allerheiligen, am 1. November: Dann werden die neuen «Chlau-        Paten oder den Grosseltern geschenkt. Sie stellten sie zwischen die doppelten Fens­
     sebickli» in die Schaufenster der Konditoreien gestellt. Seit Beginn des 20. Jahrhun-   terscheiben, dort waren sie hübsch anzusehen und blieben weich. Je nach Famili-
     derts stellen die Innerrhoder Konditoren die ungefüllten Honiglebkuchen von Hand        entradition wurde ab Weihnachten oder ab Neujahr die imposante Lebensmittel­
     her. Viele der handbemalten Zuckerbilder darauf haben Kunstmaler entworfen.             pyramide Stück für Stück verspeist – am liebsten mit viel «Schmaalz» (Butter) und
     «Bickli» kommt von bicken im Sinn von ausstechen, von ins Auge stechen. Das Wort        «Steendlihung», einem speziellen Kunsthonig. Heute werden «Chlausebickli» und
     «Bickli» wurde früher allgemein für etwas Hübsches, Wertvolles verwendet.               «Dewiisli» nicht mehr aufgegessen sondern wie Kunstwerke aufbewahrt und über
                                                                                             Jahre wieder verwendet.
     Die Bäcker flechten im Advent überlieferte Formen von Zopfgebäck: «Tafel Vögl»,
     «Tafel Zöpf», «Filering» und «Filebrood».                                               Nachdem sie fast verschwunden waren, erfreuen sich «Bechüe» neuerdings wieder
                                                                                             grosser Beliebtheit: Vom abgeräumten Christbaum wird im Januar der Stamm zwi-
     Das Prachtstück jeder weihnachtlichen Stube ist der «Chlausezüüg». Noch bis vor         schen Astgabeln in Stücke gesägt. Zwei Abzweigungen sind die Vorderbeine.
     wenigen Jahrzehnten traf man ihn genauso oft an wie den Christbaum. Damals              Mancher Bastler hängt der «Beechue» ein Glöckchen um und klebt ihr Lederohren
     bestand der «Züüg» aus symbolträchtigen Gebildebroten, die kegelförmig auf              an. Aber sie ist auch ohne Zutaten ein herrlich archaisches Spielzeug.
     einem mit Nüssen und gedörrten Birnen gefüllten Milchnapf aufgeschichtet wur-
     den. Heute wird eine fünfeckige Holzpyramide mit «Chlausebickli» und «Dewiisli»
     bestückt. Das sind kleine Schmuckbildchen, ähnlich den Anis-Springerle aus
     Zuckerteig. Dazwischen steckt man rotbackige Äpfel. Das Gestell versteckt man
     hinter Flitterfransen. Auf die Spitze – früher von Biberfladen gebildet – kommt ein
     künstliches Tannenbäumchen zu stehen.

36      Ort: Appenzell Innerrhoden.      Zeit: Weihnachtszeit.
«Züüg ond Bickli».
Räuchle ond Omsinge
     Für viele Innerrhoderinnen und Innerrhoder ist erst Weihnachten wenn die bläu-          Omsinge
     lichen Schwaden des Weihrauchs ihre Nase kitzeln. An Heiligabend, am Altjahr­           Sporadisch wurde in Eggerstanden und wird nun auch wieder in verschiedenen
     abend (Silvester) und am Vorabend zum Fest der heiligen drei Könige wird an vie-        Quartieren Appenzells und in einzelnen Aussengemeinden um den Jahreswechsel
     len Orten ein altes Schutzritual für Mensch, Tier, Heim und Stall ausgeübt. In einer    der Brauch des «Omsinge» gepflegt. Er ist angelehnt an das Neujahrssingen, das
     «Räuchlipfanne» werden auf glühender Holzkohle Weihrauchkörner und ein seit             in Varianten vielerorts im deutschsprachigen Raum seit Jahrhunderten praktiziert
     Palmsonntag aufbewahrter gesegneter Zweig abgebrannt. Die Wölkchen – und                wird. Die von kleinen Gruppen oder Chören vorgetragenen Lieder sollen Freude
     damit der Segen – ziehen beim Umgang mit der qualmenden Pfanne in alle Winkel           und für das neue Jahr Segen und Glück bringen.
     des Hauses und des Stalls.

     Im Dorf Appenzell gehen an Heiligabend – auf Bestellung – Ministranten mit
     Rauchfass und «Schiffli» durch Wohnungen und Häuser. Auf dem Land «räuchled»
     meist der Hausherr; mancherorts beten derweil die Familienangehörigen in der
     Stube. Als passendes Gebet wurde früher der kleine Psalter gegen «Öbel ond
     Oofall» (Übel und Unfall) gesprochen.

38      Ort: Appenzell Innerrhoden.      Zeit: Weihnachten, Altjahrabend, Dreikönigsabend.
Segen für Hof und Stall.
Appenzeller Handwerk
     Innerrhoderinnen und Innerrhoder bringen ihre Liebe zur Heimat gern in schönen         Eine Zeitlang war Haarschmuck in Innerrhoden begehrt. Zuerst von Trachtenträge-
     Dingen zum Ausdruck. Im kleinen Land erblühte über die Jahrhunderte eine eigen-        rinnen, dann auch über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus. Berühmtheit in
     ständige Handwerkskultur. Sie ist vom Leben und Arbeiten geprägt.                      der Fertigung der Schmuckstücke aus menschlichem Haar erlangte Elisabeth Signer
                                                                                            (1824-1908), die diese besondere Schmuckherstellung in England erlernt hatte.
     Zum Beispiel die Weissküferei: Ab dem 18. Jahrhundert, im Zug des wirtschaftli-        Erst seit kurzem widmen sich der filigranen symbolträchtigen Flechtkunst wieder
     chen Aufschwungs dank der Molkenkuren, wurden die Sennereigerätschaften mit            einzelne Freizeit-Kunsthandwerker. Ähnlich wie beim Klöppeln werden Bündel von
     Kerbschnitzerei verziert. Sie wurden zu Zierstücken des bäuerlichen Brauchtums         einigen wenigen Haaren, die beschwert an einem ringförmigen Flechtstock hän-
     und bald einmal zu Sammelobjekten. Aus feinem weissen Ahorn- und Tannenholz            gen, kunstvoll verschlungen, so dass spinnwebzarte Bänder, «Rölleli», Kugeln und
     fertigt der Weissküfer Fahreimer, Butterfässer, das «Suurfass», Näpfe, Schottenkü-     «Röhrli» entstehen. Diese werden in Edelmetall gefasst zu Ohrgehängen, Arm-,
     bel, Butterbretter und Milchtansen. Verziert sind sie mit stern- und rautenförmigen    Hals- und Uhrenketten.
     Ornamenten, mit stilisierten Pflanzenmotiven, mit Bändern aus eingekerbten
     Punkt-, Strich- und Halbrund-Formen.                                                   Nur noch wenige Goldschmiede verstehen sich auf das Gestalten von Trachten-
                                                                                            schmuck. Die mit Edel- und Halbedelsteinen besetzten Filigranstücke aus Gold und
     Die Sennensattlerei: Die frühesten Messingarbeiten waren gegen Ende des 18. Jahr-      Silber erinnern in ihrer Pracht an Rokoko-Zier. Eine Zeit lang waren bei Trachtenträ-
     hunderts Schmuckelemente für Pferderiemen. Seither werden Messingstücke aus-           gerinnen Kamee-Broschen und -Ohrschmuck beliebt, und winzige Hinterglasbildchen
     gesägt und ziseliert, die Schellenriemen, Hosenträger und allerlei traditionelle und   (Gläslischmuck) wurden zu Broschen, Medaillons und Ohrgehängen verarbeitet.
     moderne Lederwaren zieren. Die Riemen der Senntumsschellen werden vom Sen-
     nensattler mit unterlegten Messingbeschlägen, Wollfransen und Stickereien aus          Zu den Kunsthandwerkern der Region zählen auch Hackbrettbauer, Drechsler, Trach-
     farbigen Lederbändern geschmückt. Auf den kunstvoll bearbeiteten Messingplat-          tenschneiderinnen und Silberschmiede, auch die Herstellerinnen der «Dewiisli» für
     ten finden sich Darstellungen aus dem Sennenleben, oft Besitzerinitialen.              den «Chlausezüüg». Zu den berühmtesten Vertretern des überlieferten Handwerks
                                                                                            gehören die Handstickerinnen und die Bauernmaler und -malerinnen.

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Qualität aus Tradition.
Bauernmalerei
     Die Liebe der Bewohnerinnen und Bewohner des Alpsteins zum Schönen zeigt sich        aus Herisau sein. Das Bemalen der Fahreimer-Böden kam auf und Sennenstreifen
     in den leuchtenden Farben der Bauernhäuser, in kunstvoll geschnitzten Möbeln, in     auf Holz oder Papier bildeten den ganzen Besitz des Bauern ab.
     Details wie Messingbeschläge der Sennentracht oder filigranem Trachtenschmuck.
                                                                                          Auf den Tafelbildern standen zwar immer noch die Tiere, vor allem die Alpfahrten,
     Eine besondere Stellung hat die Bauernmalerei. Älteste Zeugnisse stammen aus         im Mittelpunkt, nun kamen jedoch Liegenschaften, Menschen und die Umgebung
     dem 16. Jahrhundert. Zuerst wurden repräsentative Räume, später Möbel mit            sowie die imposanten Bergkulissen hinzu. Richtig Erfolg hatten die Bauernmaler
     Ornamenten aus der Tier- und Pflanzenwelt bemalt. Im 18. Jahrhundert waren alle-     damit ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Selten waren Malerinnen dabei.
     gorische Szenen beliebt, Jagdgeschichten, Darstellungen des höfischen Lebens         Technik, Stil und Motive änderten sich seither kaum mehr. Heute erwerben vor
     oder aus der Bibel. Die meisten Möbelmaler blieben unbekannt. Man vermutet,          allem Liebhaber und Sammler die Werke der zeitgenössischen Bauernmaler und
     dass trotz des später eingebürgerten Begriffs Bauernmalerei sie selten Landwirte     -malerinnen, die ganz selten Bauern sind. Die Sujets sind nicht mehr auf das bäu-
     waren. Viel eher handelte es sich wohl um Wandermaler. Wie bei der Kirchendeko-      erliche Leben beschränkt, sondern erzählen vom Alltag, von Festen und Bräuchen.
     ration, bei der Innerrhoder Tracht und bei etlichen Bräuchen ist auch in der Bau-
     ernmalerei in ihrer Entstehungszeit eine Verbindung zur süddeutschen und öster-
     reichischen Kultur auszumachen.

     Ende des 18. Jahrhunderts verbanden Maler aus der Region die barocken Ele-
     mente mit dem was sich in ihrem Alltag abspielte. Die Möbelmalerei wurde zur
     Volkskunst. Als deren Begründer gilt der Gontner Conrad Starck (1769 – 1817); er
     hat wahrscheinlich als erster einen Alpaufzug dargestellt – das Hauptmotiv für die
     spätere Senntumsmalerei. Wegbereiter für die Tafelbilder, die nach dem Rückgang
     der Möbelmalerei in Mode kamen, dürfte Bartholomäus Lämmler (1809 – 1865)

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Von barocker Möbelmalerei zur Volkskunst.
H a n d s t i c ke r e i
     «D Fraue ond d Saue erhaaltid s Land», lautete das geflügelte Wort zur Hochblüte     Textilfabriken, die sich auf die Herstellung von Taschentüchern und Foulards ver-
     der Appenzeller Handstickerei. Aufgekommen ist das gewerbsmässige Verzieren          legten, als die Handstickerei weniger gefragt war. Heimarbeiterinnen übernahmen
     von Textilien – zuerst mit Grob- und Kettenstickerei – um 1800. Bis 1914 lebte ein   das Roulieren (Handsäumen) der Stücke.
     Drittel der berufstätigen Bevölkerung Innerrhodens davon. Gestickt wurde aller-
     dings nicht für den Eigengebrauch und selten für Einheimische. Die aufwändig         «Weltwunder der weiblichen Geschicklichkeit» wurde die Innerrhoder Handstickerei
     bestickten Kostbarkeiten waren teuer und weltberühmt.                                genannt. Die mit weissem oder zartblauem feinen Garn auf Baumwollbatist gestick-
                                                                                          ten Motive und Ornamente haben Stickereizeichner und oft Künstler entworfen.
     Mit Sticken verdiente manche Innerrhoderin den Lebensunterhalt für die Familie.
     Eine Zeit lang war die Handstickerei für den Kanton überlebenswichtig. Die Mäd-      Manche Innerrhoder Unternehmerin und einige Fabrikanten eröffneten in Schwei-
     chen lernten schon im Primarschulalter die ersten Stiche und halfen nach dem         zer und ausländischen Nobelkurorten Stickereigeschäfte.
     Schulunterricht und in den Ferien mit, die Aufträge zu erfüllen.
                                                                                          Mit dem Aufkommen der Maschinenstickerei und vor allen als ab den 30er-Jahren
     Stundenlang sass die Stickerin am Stickstock am Fenster; in der Dämmerung            aus Asien billigere Stickereien Europa überfluteten, war die wertvolle Handarbeit
     beleuchteten mit Wasser gefüllte Glaskugeln die Arbeit. Mit Platt-, Stepp- und       vom Aussterben bedroht. Heute sticken noch einige wenige Frauen in Innerrhoden
     Figurenstichen, mit Hohlsäumen und feinen Durchbrucharbeiten zauberte sie eine       im privaten Rahmen.
     Vielfalt von Motiven auf Taschentücher, Trachtenkragen, Unterwäsche und Aus­
     steuerwäsche – sogar für Königshäuser.                                               Das Museum Appenzell beherbergt eine international beachtete Stickereisammlung.

     Die Stickerei florierte derart, dass ganze Geschäftszweige daraus entstanden wie
     die Ferggerei (Händlerinnen und Händler und Lieferanten der Rohware) und später

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