Unverstandene Horaz-Zitate bei Nicolaus Copernicus als Datierungsmittel

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Krafft-Nr. 392
Sudhoffs Archiv 81 (1997), 139–157 (siehe auch: Unverstandene Horaz-Zitate bei Nicolaus Co-
pernicus [ohne Anmerkungen]. In: Beiträge zur Astronomiegeschichte 1 [1998]}, 14–31):

       Unverstandene Horaz-Zitate bei Nicolaus Copernicus
                      als Datierungsmittel

                                     Von Fritz Krafft

In seinem berühmten und sehr einflussreichen Essai über Die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen, für dessen Titel die sog. Copernicanische Revolution namengebend war,
behauptet Thomas S. Kuhn, Copernicus habe in der Vorrede zu seinem Hauptwerk De
revolutionibus schon selbst geschrieben, „daß die astronomische Tradition, die er geerbt
habe, letztlich nur ein Monstrum geschaffen habe “. Er gebe dort, sozusagen zur Bestä-
tigung der von ihm ‚entdeckten‘ Struktur, „eine der klassischen Beschreibungen eines
Krisenzustandes“ und beklage sich über die monströsen „Wucherungen von Versionen
einer Theorie“ sowie darüber, „dass zu seiner Zeit die Astronomen bei ihren Untersu-
chungen so wenig einig waren“ und – die Vorrede auszugsweise wörtlich zitierend1:
    „so im Ungewissen, dass sie die ewige Größe des vollen Jahres nicht abzuleiten und zu
    beobachten vermögen … sondern es erginge ihnen so, als wenn jemand von verschiede-
    nen Orten her Hände, Füße, Kopf und andere Körperteile, zwar sehr schön, aber nicht
    in der Proportion eines bestimmten Körpers gezeichnet, nähme und, ohne dass sie sich
    irgendwie entsprächen, mehr ein Monstrum als einen Menschen daraus zusammensetzte“.
    – „Copernicus complained that in his day astronomers were so ‘inconsistent in these
    [astronomical] investigations … that they cannot even explain or observe the constant
    length of the seasonal year.’ ‘With them,’ he continued, ‘it is as though an artist were to
    gather the hands, feet, head and other members for his images from diverse models, each
    part excellently drawn, but not related to a single body, and since they in no way match
    each other, the result would be monster rather than man.’“
    Durch seine immerhin mit ‚…‘ gekennzeichnete Kürzung manipuliert Kuhn dieses
Zitat so weit, dass Copernicus’ Beschreibung des Monstrums sich auf die Bestimmun-

1   THOMAS S. KUHN: The Structure of Scientific Revolutions. (International Encyclopedia
    of Unified Science, Vol. II, 2) Chicago/London [1962], ²1970 u.ö., S. 83; deutsch unter
    dem Titel: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. (Theorie) Frankfurt am Main
    1967; Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 [zur japanischen Ausgabe, ab-
    gedruckt in ²1970] erweiterte Auflage. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 25) Frankfurt
    am Main 1976 u. ö., S. 96 (vgl. auch S. 82 und 83). Hier belegt er das Zitat nicht etwa mit
    einer Copernicus-Ausgabe, sondern mit einem Verweis auf sein früheres Buch (T. S.
    KUHN: The Copernican Revolution: Planetary Astronomy in the Development of Wes-
    tern Thought. Cambridge, Mass. 1957 u.ö., S. 138 [richtig: 137]; deutsch: Die kopernika-
    nische Revolution. [Facetten der Physik, Bd 5] Wiesbaden 1981), in dem er diesen Ab-
    schnitt noch ohne die Auslassung zitiert hatte – wobei er in einem Einschub dort auch
    das einzige Mal den Commentariolus erwähnt, der ihm jedoch inhaltlich unbekannt geblie-
    ben war.

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gen der Jahres- und Monatslänge zu beziehen scheint. Die Trepidationstheorie des Co-
pernicus im dritten Buch von De revolutionibus liest sich denn auch tatsächlich wie eine
der von Kuhn postulierten Theorienwucherungen – nur sieht Copernicus diese selbst
als eine große Leistung an und keineswegs als ein ‚monstrum‘, und selbstverständlich
hat diese Theorie auch nichts mit der ‚Copernicanischen Revolution‘ zur Heliozentrik
zu tun, um die es Kuhn geht. {/140}
     Bei Copernicus heißt es demgegenüber nach einem „ersten“ (primum) Argument,
das sich allein auf die Jahreslänge bezog, in dem von Kuhn ausgelassenen Passus2:
    „Zweitens (deinde) wenden sie bei der Zusammensetzung der Bewegungen sowohl von
    Sonne und Mond als auch von den übrigen fünf Planeten weder dieselben Prinzipien und
    Voraussetzungen noch dieselben Beweise für die scheinbaren Umdrehungen [der Sphä-
    ren] und Bewegungen an. Die einen bedienen sich nämlich nur der konzentrischen, die
    anderen der exzentrischen und epizyklischen Kreise, ohne allerdings das Gesuchte damit
    völlig zu erhalten; denn diejenigen, die den konzentrischen Kreisen vertrauten, konnten,
    obgleich sie gezeigt hatten, dassbeliebig unterschiedliche Bewegungen aus ihnen zu-
    sammengesetzt werden können, dennoch nichts Sicheres daraus feststellen, das den Phä-
    nomenen hinreichend entspräche. Diejenigen aber, welche die Exzenter erdachten, ha-
    ben, wenn sie auch zu einem großen Teil die [Beschreibung der] scheinbaren Bewegun-
    gen dadurch numerisch zutreffend gelöst zu haben scheinen, dennoch daraufhin sehr
    vieles zugelassen, was den ersten Grundsätzen der Gleichförmigkeit der Bewegung ent-
    gegenzutreten scheint. Auch konnten sie die Hauptsache, nämlich die Gestalt der Welt
    und die tatsächliche Symmetrie ihrer Teile (rem quoque praecipuam, hoc est mundi formam, ac
    partium eius certam symmetriam), weder finden noch aus jenen berechnen. Vielmehr erging
    es ihnen so, als wenn …“
     Ein solches Monstrum entstand also in den Augen des Copernicus nicht, wie Kuhn
suggerieren will und annimmt, dadurch, dass immer wieder etwas an die ursprüngliche
Theorie angehängt wurde, das nicht mehr so recht passte, so dass die ursprünglich har-
monische Theorie sich allmählich zur Zeit des Copernicus ins Monströse ausgewach-
sen hätte, sondern nach der Meinung von Copernicus war das Monströse von Anfang
an innerhalb der mathematischen Astronomie der Exzenter und Epizykel, also bei
Ptolemaios, dem Schöpfer der ‚Ptolemaiischen Astronomie‘ selbst, angelegt. Das ‚Mon-
strum‘ steht nach Copernicus also nicht als Auswuchs und Theorienverfall am zeitli-
chen Ende der Astronomie, wie Kuhn behauptet, sondern als struktureller Fehler be-
reits an deren Anfang.
     Das wird deutlich, wenn man das ‚monstrum‘ und dessen Beschreibung bei Coper-
nicus als das erkennt, was es sein soll, nämlich als ‚Zitat‘. Copernicus ist ja entspre-
chend seiner Ausbildung insbesondere an italienischen Universitäten (neben Krakau:
Bologna, Padua, Ferrara), aber auch im Selbstverständnis (das sich schon in der Latei-
nisierung seines Namens Niklas Koppernigk zu Nicolaus Copernicus3 ausdrückt)

2   NICOLAUS COPERNICUS: De revolutionibus orbium coelestium libri VI. Nürnberg: J.
    Petreius 1543, Praefatio, p. 4, 8–18 (NOBIS). – NICOLAUS COPERNICUS: De revolutionibus
    libri sex. Besorgt von Heribert M. NOBIS und Bernhard STICKER †. (Nicolaus Coperni-
    cus-Gesamtausgabe, hrsg. von H. M. Nobis, Bd 2) Hildesheim (später Berlin: Akademie-
    Verlag) 1984.
3   Völlig verfehlt ist deshalb die hybride Schreibform ‚Kopernikus‘, die in der NS-Zeit ent-
    gegen sämtlichen damaligen und gegenwärtigen Spracheigenarten aus geopolitischen Er-

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bewusster Renaissance-Humanist; {/141} und das heißt nicht nur, dass er das genuine
Denken der Antike auch in der Ausformung zu Astronomie über die ‚dunkle‘ Phase des
Mittelalters und die Verfälschungen durch die ‚Araber‘ hinweg aus den Originalschriften
der griechisch-römischen Antike wieder zurückzugewinnen strebte4, woraus letztlich
seine Transformierung der geozentrischen Daten des Ptolemaios in ein heliozentrisches
oder vielmehr gerade daraufhin lediglich heliostatisches Planetensystem resultierte5,
sondern es heißt auch, dass er klassisch gebildet war und seine Kenntnis der griechisch-
römischen Klassiker durchaus in der Kommunikation mit gleichgesinnten zeitgenössi-
schen Gelehrten auch dokumentieren und demonstrieren wollte. Das lässt sich aber nicht

    wägungen der ‚Osterweiterung‘ heraus (nachdem „die Gefahr einer Beanspruchung des
    Polentums von Kopernikus für sich auf Grund der Schreibweise ‚Kopernikus‘ nicht mehr
    bestehe“ und „im Hinblick auf die seit dem Zusammenbruch Polens wesentlich verän-
    derten politischen Verhältnisse“) durch Erlass des Reichsinnenministeriums vom 28.12.
    1942 sanktioniert wurde; siehe HANS KOEPPEN: Die Schreibweise des Namens Copernicus.
    Betrachtungen zur Schreibung des Namens des großen Astronomen, ausgehend von der
    Kontroverse im Dritten Reich. In: FRIEDRICH KAULBACH / UDO WILHELM BARGENDA /
    JÜRGEN BLÜHDORN (Hrsgg.): Nicolaus Copernicus zum 500. Geburtstag. Köln/Wien
    1973, S. 185–234. Dieser Erlass ist bis heute nicht aufgehoben worden, so dass die normie-
    rende Duden-Redaktion sie weiterhin vorschreibt und daraufhin fast sämtliche deutsch-
    sprachigen Lexika und enzyklopädischen Handbücher ihr darin folgen; denn nur selten
    gelingt es einem um deren Herkunft kundigen Bearbeiter, eine Redaktion umzustimmen.
    {/141} Siehe meinen Artikel ‚Copernicus‘ in dem von Walther Killy herausgegebenen 2.
    Band der Deutschen Biographischen Enzyklopädie (München usw.: Saur, 1995, S. 368–370),
    während das ebenfalls von Killy herausgegebene Literatur Lexikon: Autoren und Werke
    deutscher Sprache des Bertelsmann-Lexikon-Verlages sich in Band 2 (Gütersloh/München
    1989, S. 459) immerhin schon im Anschluss an die „neunte, völlig neu bearbeitete Auflage“
    von Meyers Enzyklopädischem Lexikon (Band 6, Mannheim usw. 1972, S. 13) zu dem Verweis
    „Copernicus, Nicolaus 6 Kopernikus, Nikolaus“ durchringen konnte (der in Band 4 der
    vorangegangenen „17. völlig neubearbeiteten Auflage“ der Brockhaus Enzyklopädie, Wiesba-
    den 1968, noch fehlte) – mein Artikel dort in Band 6 (1990), S. 491–493.
4   Generell siehe zu den Naturwissenschaften in der Renaissance und im Humanismus
    FRITZ KRAFFT: Humanismus – Naturwissenschaft – Technik. Europa vor der Spaltung
    in zwei Kulturen des Geistes. In: GEORG KAUFFMANN (Hrsg.): Die Renaissance im Blick
    der Nationen Europas. (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung, Band
    9) Wiesbaden 1991, S. 355–380.
5   Siehe FRITZ KRAFFT (a): Die sogenannte Copernicanische Revolution. Das Entstehen
    einer neuen physikalischen Astronomie aus alter Astronomie und alter Physik. Physik und
    Didaktik 2 (1974), 276–290; derselbe (b): Copernicus retroversus, I: Copernicus fulfills
    Greek astronomy. In: Colloquia Copernicana III. Proceedings of the Joint Symposium of
    the IAU and the IUHPS, cosponsored by the IAHS: Astronomy of Copernicus and Its
    Background. Toruń 1973. (Studia Copernicana, XIII) Wrocław usw. 1975, S. 113–123;
    (c): Copernicus retroversus, II: Gravitation und Kohäsionstheorie. In: Colloquia Coperni-
    cana IV. Conférences des Symposia: L'audience de la théorie héliocentrique, Copernic et
    le développement des sciences exactes et sciences humaines. Toruń 1973. (Studia Coper-
    nicana, XIV) Wrocław usw. 1975, S. 63–76; (d): Progressus retrogradis. Die ‘Copernica-
    nische Wende’ als Ergebnis absoluter Paradigmatreue. In: ALWIN DIEMER (Hrsg.): Die
    Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und die Geschichte der Wissenschaften. XIII.
    Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte anläßlich ihres zehnjährigen Be-
    stehens, 8.–10. Mai 1975 in Münster. (Studien zur Wissenschaftstheorie, Band 10) Mei-
    senheim am Glan 1977, S. 20–48.

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nur damit erreichen, dass die griechisch-römischen Klassiker wörtlich oder referierend
unter Nennung des Namens offen zitiert werden, sondern auch versteckt durch bloßes
Erwähnen einzelner Begriffe und Metaphern, markanter Wortverbindungen und -folgen
sowie Bilder; denn solche andeutenden ‚Zitate‘ lassen dann indirekt als Träger oder Vehi-
kel Wortgebrauch und inhaltliches Umfeld des zitierten Originals assoziativ ebenfalls an-
klingen, so dass auch der zitierende Text inhaltlich über die als Träger benutzten Wörter
mit ihren gewöhnlichen Inhalten hinausgeht. Voll verstanden werden kann ein solcher
Text natürlich nur von jemandem, der auf eine ähnliche Bildung zurückgreifen kann, so
dass er durch die ‚Zitate‘ an dasselbe erinnert wird und Gleiches assoziiert – wie der
Autor es beabsichtigte.
    Monster der von Copernicus geschilderten Art werden nun tatsächlich von einem
bedeutenden antiken Autor beschrieben, nämlich von dem Arzt, Sühnepriester, Redner
und Magier sowie Wegbereiter rationaler Naturerkenntnis im fünften vorchristlichen
Jahrhundert Empedokles von Akragas (heute Agrigento) auf Sizilien (um 485 – um
425), auf den auch die Vorstellung zurückgeht, dass sämtliche Körper in der Natur
jeweils aus einer {/142} Mischung von vier unveränderlichen (von ihm noch für göttlich
gehaltenen und mit göttlichen Namen belegten) Elementen, Teilchen aus Erde, Wasser,
Luft und Feuer, bestehen – eine Theorie, die letztlich bis ins 17. Jahrhundert die Physik
und Chemie beherrschte. In einer Art Selektionstheorie erklärte er dann in seinem
Lehrgedicht auch, wie aus den beim Zusammenkommen und Auseinandertreten sol-
cher elementarer Partikel durch Zufall entstandenen organischen Gebilden die (über-)
lebensfähigen Lebewesen entstanden sein sollen. Die diesbezüglich bei Simplikios (6.
Jahrhundert n.Chr.) und Aelianus (um 170 – um 240) erhaltenen Verse lauten6:
    „Doch als göttliches Element mit göttlichem Element [wörtlich: Dämon mit Dämon] sich
    in größerem Maße vermischte, da trafen diese Dinge zusammen, wo sie gerade jeweils
    zusammenstießen, und außer ihnen entstanden ununterbrochen auch noch viele andere
    Dinge.“ – „Hier wuchsen viele Köpfe ohne Nacken auf, und nackte Arme irrten ohne
    Schultern umher, und einsame Augen trieben sich herum, denen die Stirn fehlte.“ – „Da
    wuchs vieles mit doppeltem Gesicht und doppelter Brust: Kuhgeschlechtliches mit
    menschlichem Gesicht tauchte auf und anderes, das umgekehrt bei menschlichem Wuchs
    mit Kuhköpfen ausgestattet war, ferner Mischlinge, die, mit schattigen Schamgliedern
    versehen, hier aus Männlichem und dort nach weiblicher Natur zusammengesetzt waren.“
   Aristoteles nimmt in seiner Physik im Zusammenhang mit der ‚Zweckursache‘
(Endursache) hierauf Bezug7:
    „Überall, wo sich nun alles so ergab, wie es gewesen wäre, wenn es um eines bestimmten
    Zwecks wegen geschehen wäre, da überlebten diese [Gebilde], die rein zufällig in geeigneter
    Weise zusammengekommen waren; wo es sich aber nicht so ergab, da gingen sie und gehen
    sie auch noch zugrunde, wie Empedokles von den ‚kuhgeschlechtlichen Gebilden mit Man-
    nesbug‘ sagt.“

6   EMPEDOKLES VON AKRAGAS: Fragmente B 59, 57 und 61, vgl. auch Frg. 60 (DIELS-
    KRANZ); Übersetzung nach: Die vorsokratischen Philosophen – Einführung, Texte und
    Kommentare von GEOFFREY S. KIRK, JOHN E. RAVEN und MALCOLM SCHOFIELD [zu-
    erst englisch: Cambridge 1957], ins Deutsche übersetzt von KARLHEINZ HÜLSER. Stutt-
    gart/Weimar 1994; hier S. 334 f.
7   ARISTOTELES: Physik. II, 8, 198b29–32.

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Der Doxograph Aëtios (um 100 n.Chr.), dessen Lehrmeinungen der Naturphilosophen
unter dem Namen des Plutarchos überliefert sind, berichtet ausführlicher8:
    „Empedokles sagt, die erste Generation der Tiere und Pflanzen sei überhaupt nicht in al-
    len Teilen komplett gewesen, sondern habe aus getrennten, nicht zusammengewachsenen
    Gliedern bestanden. In der zweiten Generation seien ihre Glieder zusammengewachsen
    gewesen, und sie hätten wie Phantasiegebilde (εÆδωλοnανεÃς) ausgesehen. Die dritte Ge-
    neration sei die der ausgewachsenen Formen gewesen …“
     Nun ist zwar durchaus möglich, dass Copernicus insbesondere diese letzte Stelle im
Auge hatte, weil er auch im Zusammenhang mit seiner neuen Schweretheorie Anregun-
gen aus einer anderen Plutarchos-Schrift (De facie in orbe lunae) erhielt und von Aristar-
chos von Samos, den er im für den Druck gestrichenen Teil seiner Vorrede als Vorgän-
ger erwähnt, nur hieraus (923 A) erfahren haben kann9; aber alle diese originalen und
referierenden Belege sind nicht markant genug, als dass sie als kommunikative Assozia-
tionsträger in Frage {/143} kämen, zumal Fragen nach dem Entstehen der Lebewesen
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch nicht aktuell waren, und auch die Dis-
kussion der ‚Zweckmäßigkeit‘ von Gottes Schöpfung, deren Annahme im Rahmen des
Christlichen Aristotelismus auch noch im 16. Jahrhundert selbstverständlich war, so
richtig erst als Reaktion auf den Reduktionismus von René Descartes und besonders
Isaac Newton auflebte, die dann in die Physikotheologie mündete10 – und Fragment-
sammlungen einzelner ‚Vorsokratiker‘ wie die von Hermann Diels existierten zur Zeit
des Copernicus natürlich noch nicht.
     Aber es gibt einen Autor, der bereits in der Antike den ihm noch vollständig zu-
gänglichen Zusammenhang bei Empedokles ohne Nennung von dessen Namen im
oben genannten Sinne ‚zitierte‘, nämlich den neben Vergilius bedeutendsten Dichter
Augusteischer Zeit und spätestens seit dem Humanismus unverzichtbaren Schulautor
Q. Horatius Flaccus (65–8 v.Chr.), dessen Epistel an die Pisonen, besser bekannt als
Ars poetica, darüber hinaus jahrhundertelang und vor allem während des Renaissance-
Humanismus Pflichtlektüre im Poetikunterricht der Gymnasien und Artistenfakultäten
der Universitäten gewesen ist, also von jedem Absolventen der Eingangsfakultät der
artes liberales gelesen, wenn nicht auswendig gelernt werden musste – und als theoreti-
sche Grundlage für eigene poetische Ergüsse benutzt wurde. Bei Copernicus war ein
Nachklang des Poetik- (und Griechisch-)Unterrichts ja immerhin die lateinische Über-
setzung der als rhetorisch-sophistische Übungsstücke gedachten Briefe des seinerzeit
noch als klassischer Autor geltenden, in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts in
Konstantinopel wirkenden Ägypters Theophylaktos Simokattes. Diese Übersetzung
erschien 1509 in einem von dem befreundeten Humanisten Laurentius Corvinus (Ra-
be) betreuten Druck11, der nicht nur die erste Druckausgabe eines klassischen Autors
in Polen überhaupt bildete, sondern neben der Dreieckslehre von 1542 das einzige
Werk des Copernicus darstellt, das noch vor seinem Todesjahr im Druck erschienen

8  EMPEDOKLES VON AKRAGAS: Frg. A 72 (DIELS-KRANZ), S. 333 f. (KIRK-RAVEN-
   SCHOFIELD).
9 Vgl. hierzu F. KRAFFT 1975 (wie Anm. 5/c), 69–72.
10 Siehe FRITZ KRAFFT: „Pharmako-Theologie“. Die Pharmazie 51 (1996), 422–426.
11 Theophilacti Scolastici Simocati Epistole morales, rurales et amatoriae, interpretatione
   latina. Krakau: J. Haller 1509.

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ist12. – Zu Beginn der Ars poetica des Horaz heißt es:
„Humano capiti cervicem pictor equinam            „Wenn ein Maler einem Menschenhaupt
iungere si velit et varias inducere plumas        einen Pferdehals anfügen, und [dem Kör-
undique conlatis membris, ut turpiter             per] buntes Gefieder auftrüge, nachdem er
     atrum                                        von überall her Gliedmaßen gesammelt
desinat in piscem mulier formosa superne,         hätte, so dass ein herrliches Weib oben
spectatum admissi risum teneatis, amici?          entstellend in einen schwarzen Fisch en-
                                                  dete, könntet Ihr, Freunde, zur Schau ge-
                                                  laden, ein Lachen unterdrücken?
credite, Pisones, isti tabulae fore librum        Glaubt mir, Pisones, einem solchen Ge-
persimilem, cuius, velut aegri somnia, va-        mälde sehr ähnlich wird ein Schriftwerk
     nae                                          sein, dessen einzelnen trügerisch schönen
fingentur species, ut nec pes nec caput uni       Glieder wie Alpträume eines Kranken er-
reddatur formae. ‘pictoribus atque poetis         dacht werden, so dass weder Fuß noch
quidlibet audendi semper fuit aequa potes-        Kopf zu einer einheitlichen Gestalt sich
     tas.’ {/144}                                 fügen werden. ‚Malern und Dichtern war
scimus, et hanc veniam petimusque da-             doch aber schon {/144} stets Unerhörtes
     musque vicissim;                             gestattet!‘ Das wissen wir, und diese Frei-
sed non ut placidis coeant inmitia, non ut        heit erbitten und geben wir gegenseitig;
serpentes avibus geminentur, tigribus             aber nicht die Freiheit, dass Zahmes mit
agni…“                                            Wildem zusammengeht, Schlangen sich
                                                  mit Vögeln paaren und Lämmer mit Ti-
                                                  gern.“

     Hier werden also die in der empedokleischen Selektionstheorie verwendeten Bilder
von nicht-lebensfähigen Monstra in Anlehnung an die Lebewesen und Rede (λόγος)
verknüpfende Analogie in Platons Phaidros13 zur Charakterisierung eines schlechten,
unvollkommenen Machwerkes in der Malerei oder Dichtkunst verwendet; und diese
Verknüpfung ist es, die Copernicus zur Charakterisierung der Situation der mathemati-
schen Astronomie seit Anbeginn (nämlich Eudoxos von Knidos mit seinen homozen-
trischen Sphären, die er ausdrücklich nennt) anklingen lässt und weiter ausschmückt:
     Sie stelle eine unorganische Zusammenstellung einzelner, als solcher aufs genaueste
durchgeformter Glieder dar, die nur ein schlechter Poet (Astronom) zu einer einheitli-
chen, geschlossenen Komposition zusammenfassen zu können meine, weil sie von
vornherein nicht aufeinander bezogen worden waren. Übertragen auf die Astronomie
bedeutet das: Jeder Planet oder gar jede einzelne Periode einer Planetenbewegung hat
zwar die ihren Bewegungen angemessene Teiltheorie erhalten – die Daten wären nu-
merisch korrekt –, doch seien die einzelnen Theorien (insbesondere die [acht] Theorien
der Planeten und der Fixsternsphäre) nicht zu einem System, zu einer physikalischen

12 Vgl. Th. Nissen: Die Briefe des Theophylaktos Simokattes und ihre lateinische Überset-
   zung durch Nicolaus Coppernicus. Byzantinisch-neugriechische Jahrbücher 13 (1937), 17–56.
13 PLATON: Phaidros, § 47, 264 C: „Aber dieses wirst du, glaube ich, doch auch bestätigen,
   dass eine Rede wie ein lebendes Wesen [also: organisch] aufgebaut sein und ihren eigen-
   tümlichen Körper haben muss, so dass sie weder ohne Kopf ist noch ohne Fuß, sondern
   eine Mitte hat und Enden, die gegen einander und gegenüber dem Ganzen in einem
   angemessenen Verhältnis gearbeitet sind.“

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Einheit zusammengefasst, in der jedes Element einer Theorie mit jedem anderen
organisch (funktional) zusammenhängt, so dass sich daraus auch keine Erkenntnisse
über die tatsächliche Gestalt des Universums gewinnen ließen.
     Genau das hatte aber Copernicus im Auge, gerade diese Fragestellung entsprach
der Renaissance-Idee der Harmonie und ‚Symmetrie‘, der ‚Zugemessenheit‘ aller Teile
eines Ganzen – so dass in der bildenden Kunst selbst ein Detail (teilweise durch
Konstruktion mittels der neu erschlossenen Perspektive) so proportioniert wurde, dass
in der Darstellung alles einander ‚zugemessen‘ (‚symmetrisch‘) war und nur den Platz
einnehmen konnte, für den es gedacht und konstruiert wurde. An der Vernachlässi-
gung der Frage nach dem Ganzen (der ‚Gestalt der Welt‘) und der Zuordnung des
Einzelnen krankte die gesamte ptolemaiische Astronomie tatsächlich – aber auch schon
die des Eudoxos, was Aristoteles ja durch seine zurückrollenden Sphären auszugleichen
versucht hatte.
     Noch deutlicher war der zweite der von Copernicus in der Vorrede zu De revolutio-
nibus angeführten Gründe in der um 1510 entstandenen ersten Skizze seines neuen
Weltsystems, im Commentariolus, dargestellt worden – in der übrigens der ‚erste‘ Grund
für ihn noch gar nicht bestand. Der entsprechende Abschnitt macht deutlich, dass der
monströse Zustand der Theorien auch in den Augen des Copernicus so alt war wie die
mathematische Astronomie selbst und nichts mit einer die ‘Revolution’ auslösenden
Kuhnschen Krise zu tun hat14: {/145}
    „Eine Vielzahl von Himmelssphären haben unsere Vorläufer, wie ich es sehe, hauptsäch-
    lich deswegen angenommen, um das Erscheinungsbild der Bewegung bei den Planeten
    unter Wahrung der Regelmäßigkeit zu retten. Es schien nämlich höchst widersinnig,
    dassein Himmelskörper mit vollkommen runder Form [nämlich eine Himmelssphäre]
    sich nicht stets gleichförmig bewege. Doch hatten sie erkannt, dasssich etwas auch
    aufgrund einer wirkungsvollen Kombination regelmäßiger [gleichförmiger] Bewegungen
    scheinbar auf andere [ungleichförmige] Weise zu einem beliebigen Punkt hin bewegen
    kann. Allerdings vermochten Kallippos und Eudoxos trotz aller Anstrengungen nicht,
    dieses mittels konzentrischer Kreise herzuleiten und mit ihrer Hilfe über alle bei den
    Planetenbewegungen vorkommenden Erscheinungen Aufschlu zu geben [… sowohl
    hinsichtlich der Bewegung in Länge und Breite als auch der Tiefenbewegung,] die Kon-
    zentrizität der Kreise am wenigsten zulät. Deshalb galt die Ansicht, dassdieses durch

14 N. COPERNICUS: Commentariolus, Einleitung. - Eine kritische zweisprachige Ausgabe
   von Copernicus' {/145} kleineren astronomischen Schriften durch den Autor ist in Arbeit
   und vorgesehen für Band 4 der Deutschen Copernicus Gesamtausgabe [nicht erschienen];
   hieraus wird oben zitiert. Auch der lateinische Text des Commentariolus (und des Wa-
   powski-Briefes) bei H. G. Zekl ist wie in allen vorangegangenen ‚Ausgaben‘ immer noch
   der 1882 (1878) von Maximilian Curtze jeweils auf der Basis der beiden damals bekannten
   Handschriften edierte: Nicolaus Copernicus - Das neue Weltbild. Drei Texte: Commenta-
   riolus, Brief gegen Werner, De revolutionibus I. Im Anhang eine Auswahl aus der
   Narratio prima des G. J. Rheticus. Übersetzt, hrsg. und mit einer Einleitung und Anmer-
   kungen versehen von Hans Günter Zekl. Lateinisch-deutsch. Hamburg 1990, S. 1-35
   (hier jedoch eine neue Übersetzung). Zur Datierung des Commentariolus siehe jetzt FRITZ
   KRAFFT: Des Nicolaus Copernicus Bemühungen um die Bestimmung der Länge des
   Tropischen Jahres. Zur Chronologie copernicanischer Astronomie. In: Bernhard Frit-
   scher / Gerhard Brey (Hrsgg.): Cosmographica et Geographica. Festschrift für Heribert
   M. Nobis zum 70. Geburtstag. (Algorismus, Heft 13) München: Institut für Geschichte
   der Naturwissenschaften, 1994, 1. Halbband, S. 255-296; hier S. 256-262.

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exzentrische Kreise und Epizykel bewirkt werde, für die bessere; und darin stimmte
    schließlich der größte Teil der Gelehrten überein. Doch schien das, was von Ptolemaios
    und den meisten anderen allenthalben diesbezüglich gelehrt worden ist, obgleich es zah-
    lenmäßig entspräche (quamquam ad numerum responderent), auch nicht wenig Zweifelhaftes
    zu enthalten; denn es reichte nur dann aus, wenn man sich zusätzlich gewisse ausglei-
    chende Kreise dachte, [so dass die Planetensphären sich weder selbst noch bezüglich des
    allgemeinen Mittelpunktes gleichförmig bewegten]. Deshalb schien mir eine Theorie
    dieser Art noch nicht genügend ausgereift und vernünftiger Überlegung nicht hinreichend
    angemessen zu sein.“
    Ohne hier auf die Einzelheiten der referierten Astronomiegeschichte eingehen zu
müssen15, besagt schon der Wortlaut des Textes, dass nach der Meinung von Coperni-
cus allein konzentrische Kreisbewegungen (Sphären) der damaligen Physik entsprechen
und sich mit ihnen durch entsprechende Kombinationen auch ‚ungleichförmig‘ er-
scheinende Bewegungen darstellen lassen, dass selbst diese Kombinationen aber nicht
die beobachteten Planetenörter ergeben hätten. Die Exzenter- und Epizykeltheorie
hätten dann zwar die Phänomene numerisch richtig wiedergegeben, doch wären hier
die physikalischen Grundsätze der Gleichförmigkeit aller Bewegungen (gemäß der
Aristotelischen Physik) verletzt worden – und hiermit ist die Astronomie und das
System des Ptolemaios gemeint, dessen nummerische Daten Copernicus auch gar nicht
verändern wollte. {/146}
    Aus dieser Diskrepanz resultierte aber in seinen Augen, wie er im Anschluss an die
von Kuhn zitierten Sätze in der Vorrede zu De revolutionibus deutlich auf den Punkt
bringt, auch der Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit bei seinen Vorgän-
gern, woraus dann auch sein eigenes Vorhaben deutlich wird – zeige sich darin doch16:
    „dass sie im Beweisgang, den man Methode nennt, entweder etwas Notwendiges über-
    gangen oder etwas Fremdartiges, das kaum zur Sache gehört, hinzugesetzt haben, was
    ihnen gewiss nicht passiert wäre, wenn sie die sicheren Prinzipien (certa principia) befolgt
    hätten. Wenn die von ihnen vorausgesetzten Grundlagen (hypotheses) nicht trügerisch
    gewesen wären, so hätte sich aber alles, was aus ihnen folgt, zweifellos bewahrheitet
    (omnia verificarentur).“
     Es wären folglich nur die „trügerischen ‚Hypothesen‘“ zu vermeiden, damit dieses
einträte – und so verfuhr Copernicus denn auch entsprechend. Er benutzt hier bewusst
das Wort hypotheses, während er zuvor von principia, ‚Grundsätzen‘, sprach. Wären sie
wie er den richtigen principia gefolgt, wäre ihnen nicht das passiert, was dann aus den
falschen, bloß als ‚Hypothesen‘ zugrundegelegten mathematischen Theorien folgte.
Numerisch und von den Beobachtungen her sei Ptolemaios nichts anzulasten – Co-
pernicus folgt ja auch weitestgehend den Daten des Ptolemaios –, aber er hätte noch
nicht die richtige Theorie aufstellen können, da er
nicht die richtigen, „sicheren“ (gewissen) principia anwendete.

15 Siehe hierzu die bereits genannte Literatur sowie FRITZ KRAFFT: Nicolaus Copernicus.
   Astronomie und Weltbild an der Wende zur Neuzeit. In: Hartmut Boockmann / Bernd
   Möller / Karl Stackmann (Hrsgg.): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom
   Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der
   Kultur des Spätmittelalters 1983 bis 1987. (Abhandlungen der Akademie der Wissen-
   schaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, Nr. 179) Göttingen
   1989, S. 282–335; dort auch weitere Literatur.
16 N. COPERNICUS: De revolutionibus, Praefatio, p. 4,21–25 (NOBIS).

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Seiner Tat lag also eine ganz andere Geisteshaltung zugrunde, als sie Kuhn von
seinem eigenen Revolutionsbegriff her Copernicus unterstellen möchte. Wenn über-
haupt, dann war Copernicus ein ‚Revolutionär‘ im Sinne des Revolutionsbegriffs seiner
Zeit des Renaissance-Humanismus; er wollte die noch physikalische, die Wirklichkeit
wiedergebende Astronomie der Zeit vor Ptolemaios wieder erneuern und die bloß hy-
pothetische mathematische Astronomie der Folgezeit und vor allem des Ptolemaios
durch eine beide ‚Astronomien‘ verknüpfende Astrophysik (natürlich noch im Sinne der
Aristotelischen Physik) ersetzen17, war insofern folglich eher ein ‚Restaurator‘ denn ein
‚Revolutionär‘, eben ein ‚Revolutionär‘ der ‚Re-naissance‘.
     Copernicus’ Äußerungen in dieser Vorrede zum Hauptwerk können also nicht als
Zeugnis für Kuhns Deutung des Entstehens der Krise der Astronomie angeführt wer-
den, aus der heraus es zu einer Erneuerung durch Copernicus gekommen wäre. Coper-
nicus will durch den Rückgriff auf den Anfang von Horazens Ars poetica vielmehr
deutlich machen, dass in seinen Augen ein solcher monströser Aufbau der (mathemati-
schen) Astronomie von Anfang an bestand und dass daraufhin diese Art, Astronomie
ohne Blick auf das Ganze zu treiben, von Anfang an und grundsätzlich zum Scheitern
verurteilt gewesen ist.
     Sieht man von einigen Auswüchsen bei den Muslimen und der Einbeziehung der
Trepidation (deren Erklärung mittels zusätzlicher riesiger Sphären für die Fixsternsphä-
re bei Copernicus höchst kompliziert wird) einmal ab, so war das ‚Ptolemaiische Sys-
tem‘ seit Ptolemaios eigentlich auch keineswegs komplizierter geworden. Komplizierter
wurde die {/147} Planetenastronomie – und allein um diese geht es für den Zusammen-
hang der Copernicanischen Wende – entgegen Kuhns Annahme erst bei Copernicus
selbst, und dann natürlich bei Tycho Brahe und anderen Geozentrikern, die sich vom
copernicanischen ‚Paradigmawechsel‘, soweit es einer im Sinne Kuhns war, nicht be-
einflussen ließen, also die Erde im Zentrum beließen, aber einerseits gegenüber Coper-
nicus dann neue und bessere Beobachtungsdaten zur Verfügung hatten und anderer-
seits die von Copernicus durch die Zusammenfassung mehrerer Bewegungselemente
der einzelnen Planeten gewonnene größere systematische Einheitlichkeit und Ökono-
mie übernahmen.
     Aber nicht nur diese angebliche ‚Krise‘ der ptolemaiischen Astronomie zur Zeit des
Copernicus war ebenso alt wie dieses System selbst, auch die Kritik an diesem System
war es, also das Krisenbewusstsein im Sinne Kuhns. Das zeigen nicht nur die Verbes-
serungen, die Ptolemaios an seinem System des Almagest in den Hypotheses planetarum
und in den sogenannten Handlichen Tafeln später selber vornahm, das zeigen auch zeit-
genössische Schriften wie etwa das Werk Über die zurückrollenden Sphären [sc. des Aristote-
les] des Peripatetikers Sosigenes18, des Lehrers von Alexandros von Aphrodisias, der

17 Hierzu siehe FRITZ KRAFFT (a): Physikalische Realität oder mathematische Hypothese?
   Andreas Osiander und die physikalische Erneuerung der antiken Astronomie durch Ni-
   colaus Copernicus. Philosophia naturalis 14 (1973), 243–275; derselbe (b): Hypothese oder
   Realität: Der Wandel der Deutung mathematischer Astronomie bei Copernicus. In: Gu-
   drun WOLFSCHMIDT (Hrsg.): Nicolaus Copernicus (1473–1543). Revolutionär wider Wil-
   len. Stuttgart (jetzt Bassum) 1994, S. 102–115.
18 Siehe hierzu MATTHIAS SCHRAMM: Ibn al-Haythams Weg zur Physik. (Boethius, Band 1)
   Wiesbaden (später Stuttgart) 1963, S. 15-63.

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198–211 in Athen als Schulhaupt wirkte, und damit eines offiziellen Repräsentanten
der aristotelischen Lehre, das heißt: der Physik. Diese Schrift ist zwar nicht erhalten,
aber ihr Inhalt ist in zahlreichen längeren Zitaten und Referaten über Alexandros von
Aphrodisias und besonders Simplikios, der dessen Kommentar exzerpierte, in die
Kommentare zu den Schriften De caelo und Metaphysik des Aristoteles eingegangen. Sie
ist von dort her deshalb der Spätantike, dem arabischen Mittelalter insgesamt und seit
dem 13. Jahrhundert auch dem lateinischen Mittelalter bekannt gewesen, nachdem die
Kommentare im Auftrage von Thomas von Aquino ins Lateinische übersetzt worden
waren. In dieser Tradition steht auch Copernicus, der die in ihr ausgesprochene Kritik
und den Ausgangspunkt des Sosigenes, nämlich die im Jahre 164 beobachtete ringför-
mige Sonnenfinsternis, die in Verbindung mit bereits bekannten totalen Finsternissen
eine Tiefenbewegung, also Exzentrizität, statt Konzentrizität der Sphären der beiden
oder eines der beiden beteiligten Gestirne erfordert, allerdings wie kaum jemand vor
ihm ernst genommen hat.
     Die gesamte vorkeplersche Astronomie basierte ja auf den durch die Physik des
Aristoteles und zusätzlich theologisch begründeten Axiomen oder vielmehr Prinzipien,
dass sämtliche Bewegungen am Himmel von riesigen sphärischen Ätherkörpern aus-
geführt werden, die sich lediglich gleichförmig rotierend bewegen können (und dieses
anfangs- und endlos tun). Alle Bewegungen und Bewegungskomponenten, die am
Himmel tatsächlich ausgeführt werden sollten, mussten also kreis- und gleichförmig
erfolgen – wobei die Kreisförmigkeit eigentlich sogar die Konzentrizität aller Kreisbe-
wegungen mit einschloss, was sie für Realbewegungen außerhalb der auf Sosigenes
zurückgehenden Tradition auch tatsächlich tat. Es gab deshalb immer wieder Versuche,
mit dem Datenmaterial des Ptolemaios die konzentrischen Sphärensysteme im An-
schluss an Averroës und Alpetragius (al-Bitruji), dessen Schrift 1531 auch in lateini-
scher Übersetzung gedruckt wurde, wiederzubeleben, insbesondere auch an italieni-
schen Universitäten durch Zeitgenossen des Copernicus selbst, so dass wir für seine
Zeit ein besonderes Theorienbewusstsein feststellen können19. {/148}
     Die Ungleichförmigkeiten in den Planetenbewegungen, die sogenannten Anoma-
lien, das Zurückschreiten und die Stillstände der Schleifenbewegungen und die un-
gleichförmigen siderischen Bewegungen, hatten aufgrund dieser Physik nur als so
erscheinend, als scheinbar aufgefasst werden können. Entsprechend der von Aristote-
les eingeführten und begründeten Rollenverteilung war es dann die Aufgabe des
Mathematikers, diese scheinbaren Bewegungen, die scheinbaren Anomalien in den
Bewegungen, auf gleichförmige Bewegungen zurückzuführen und als Kombination
verschiedener gleichförmig rotierender Kreise darzustellen. Hätte Copernicus demnach
die angeblich in eine Krise geratene Wissenschaft Astronomie, die alle Ungleichförmig-
keiten durch die Kombination von kreisförmigen Gleichförmigkeiten wiedergibt, durch

19 Giovanni Battista AMICO (1512-1536): De motibus corporum coelestium iuxta principia
   peripatetica sine eccentricis et epicyclis. Venedig 1536, 1537 und Paris 1540; Girolamo
   FRACASTORO (1478–1553): Homocentrica. Venedig 1538; Giovanni Antonio DELFINO
   (1506–1561): De coelestibus globis et motibus contra Philosophorum, et Astrologorum
   sententiam pro veritate christiana. Bologna 1559. – Auch in der Krakauer Artistenfakultät
   wurde die Realität von Exzentern und Epizykeln geleugnet von Albertus Blar von Brud-
   zew.

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einen Paradigmawechsel überwinden wollen, wie Kuhn es darstellt, so hätte er genau
dieses Axiom beseitigen oder ersetzen müssen, das Grundvoraussetzung und Axiom
für diese Astronomie war. Was er demgegenüber tat, war das genaue Gegenteil: Er hielt
sich wie kein zweiter vor ihm und seit Ptolemaios an diese Axiome. Die Geozentrizität
aufgeben zu müssen, galt Copernicus demgegenüber als das kleinere Übel, das sich
zudem nachträglich für ihn durch die größere Ökonomie und Harmonie als richtig
bestätigte. Revolution wäre in diesem Falle also das Ergebnis einer absoluten Paradig-
matreue (!) – und so würde es auch Copernicus auffassen.
     Der erste der Gründe, die Copernicus in der Vorrede zu De revolutionibus für das
Scheitern der Astronomie, wie sie bislang betrieben wurde, anführt und den T. S. Kuhn
allein zitiert, betrifft das Unvermögen, die für einen Kalender erforderliche exakte
Länge von (tropischem) Jahr und Monat zu bestimmen.
     Im Commentariolus um 1510 hatte Copernicus für die nach seiner Meinung aufgrund
der der Präzession überlagerten Trepidation nicht konstante, aber langperiodisch
schwankende Länge des Tropischen Jahres als Vergleichswert bereits den neuesten ihm
bekannten Wert gewählt, den Alfonso de Cordoba Hispalensis in dem von ihm heraus-
gegebenen Almanach perpetuum von Abraham Zacuto angibt, der am 15. Juli 1502
erschienen war (und sich in Copernicus’ Besitz befand)20. Er vertröstet hier den Leser
aber noch generell mit dem Hinweis, dass er die in der kurzen Skizze nicht angebrach-
ten mathematischen Ausführungen einem umfangreicheren Werk („maius volumen“)
vorbehalte: „Hic autem brevitatis causa mathematicas demonstrationes omittendas
arbitratus sum maiori volumini destinatas“ – und damit verweist er auf das spätere
Werk De revolutionibus, das er zu dieser Zeit also zumindest bereits geplant haben muss.
Die Druckausgabe erschien aber bekanntlich erst in Copernicus’ Todesjahr im März
1543. Die Fertigstellung des Manuskriptes erfolgte also irgendwann innerhalb dieser
mehr als dreißig Jahre. Die nähere Bestimmung erfolgt auch hier wieder durch ein
‚Zitat‘! {/149}
     Copernicus schrieb diesbezüglich am Ende der Vorrede an Papst Paul III. rück-
schauend21:
    „Mathematisches wird für Mathematiker geschrieben, und die werden, wenn meine Mei-
    nung mich nicht täuscht, einsehen, dass unsere Untersuchungen auch an dem Kirchen-
    staat mit bauen, dessen höchste Stelle jetzt Deine Heiligkeit einnimmt. Denn als vor nicht
    allzu langer Zeit unter Leo X. im lateranischen Konzil die Frage der Verbesserung des
    Kirchenkalenders erörtert wurde, blieb diese nur deshalb unerledigt, weil die Länge des

20 Der 15.07.1502 ist also absoluter terminus post quem für den Commentariolus; absoluter
   terminus ante quem ist die im folgenden genannte Aufforderung aus Rom, die Coperni-
   cus im Jahre 1515 veranlasste, eigene Beobachtungen der Äquinoktien durchzuführen, die
   dann in Buch 3 von De revolutionibus eingingen. Näheres mit entsprechenden Literatur-
   angaben bei F. KRAFFT 1989 (wie Anm. 15), 302–307, und 1994 (wie Anm. 14).
21 N. COPERNICUS: De revolutionibus. Praefatio, p. 5, 29 ff. (NOBIS). – Mit den Anfangs-
   worten „Mathemata mathematicis scirbuntur“ soll sicherlich anklingen, was über dem
   Eingang in Platons Akademie gestanden haben soll: „Wer nichts von Mathematik (Ge-
   ometrie) versteht, hat keinen Eintritt (µηδεÂς •γεωµέτρητος εÆσίτω)“ – siehe Elias
   Philosophus: In Aristotelis Categorias commentaria, edidit A. Busse. (Commentaria in
   Aristotelem Graeca, XVIII, 1) Berlin 1900, p. 118, 18.

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Jahres und Monats und die Bewegungen der Sonne und des Mondes für noch nicht hin-
    reichend bestimmt erachtet wurden. Angeregt (admonitus) durch den berühmten Herrn
    Paulus, Bischof von Fossombrone, der damals dieser Angelegenheit vorstand, legte ich
    mich seit jener Zeit darauf, diese Dinge genauer zu beobachten (his accuratius observandis
    animum intendi). Was ich nun in dieser Sache geleistet habe, das stelle ich dem Urteil be-
    sonders Deiner Heiligkeit und aller anderen gelehrten Mathematiker anheim …“
     Paul von Middelburg, seit 1494 Bischof von Fossombrone, war im Frühjahr 1514
zum Vorsitzenden der Kalenderreformkommission auf dem fünften Lateran-Konzil
bestellt worden. Seine ‚Aufforderung‘ oder die darin zum Ausdruck kommenden Be-
mühungen um eine Kalenderreform können also nicht, wie man immer wieder liest
(auch Kuhn führt sie unter den ‚externen‘ Auslösern als einziges an), die ‚Copernica-
nische Wende‘ ausgelöst haben; denn diese hatte Copernicus bereits im Commentariolus
vollbracht. Er sagt ja auch lediglich, dass ihn diese Aufforderung zu neuen Beobach-
tungen der Jahres- und Monatslänge angeregt habe – was selbst für die Sonne völlig
unabhängig davon ist, ob sie oder die Erde sich bewegt.
     Copernicus sagt aber auch ausdrücklich, dass er dadurch zu genaueren Beobachtun-
gen angeregt wurde – was voraussetzt, dass er dieses Problem schon zuvor behandelt
hatte, möglicherweise also auch schon in dem „maior volumen“. Die Einbeziehung
von Copernicus in die Aufforderung zu Vorschlägen für bessere Angaben zur Jahres-
und Monatslänge wird im Zusammenhang mit dem zweiten Breve Leos X. vom 1. Juni
1515 an alle Bischöfe, den Kaiser und andere Regenten sowie an die Universitäten des
Reiches durch Vermittlung von Bernhard Scultetis erfolgt sein, der wie Copernicus
Domherr in Frauenburg und mit ihm befreundet war und als offizieller Vertreter des
Bistums Ermland an der Römischen Kurie zum Schreiber des Konzils bestellt worden
war. Das Breve wies nämlich darauf hin, dass erste Bemühungen um die Kalenderre-
form gezeigt hätten, dass erst genauere Bestimmungen der Jahres- und Monatslängen
erforderlich seien, um die dann gebeten wurde; und dem entspricht genau die Formu-
lierung in Copernicus’ Vorrede. Das Ergebnis seiner verstärkten Bemühungen waren
jedenfalls die empirische Bestimmung des Herbstäquinoktiums des Jahres 1515 und
des Frühlingsäquinoktiums von 1516, die im dritten Buch von De revolutionibus den
Berechnungen zugrundegelegt werden22.
     Das würde bedeuten, dass zumindest eine erste Fassung des Gesamtwerkes zu
dieser Zeit bereits fertiggestellt sein musste, in die dann die neuen Berechnungen ein-
gearbeitet wurden – und das sagt eben auch Copernicus selbst, wenn auch erneut in
einem ‚versteckten‘ Zitat, {/150} wiederum in der Vorrede. Hierin schildert er, dass er
schon längere Zeit von verschiedenen Seiten gedrängt worden sei, endlich sein Werk
De revolutionibus herauszugeben23,
    „das bei mir nicht nur bis ins neunte Jahr zurückgehalten worden ist, sondern bereits bis
    ins vierte Jahrneunt versteckt war“. – [librum] qui apud me pressus non in nonum annum
    solum, sed iam in quartum novennium latitasset“.
Hier ist es die ungewöhnliche Umschreibung einer Dauer im Vergleich zu einer an-
deren, ‚wörtlich‘ zitierten, die für das Verständnis die Kenntnis der Quelle voraussetzt;

22 N. COPERNICUS: De revolutionibus, III, 13, p. 218, 1 f., bzw. III, 8, p. 218, 13 f. (NOBIS).
   Siehe dazu F. KRAFFT 1994 (wie Anm. 14), 262–281.
23 N. COPERNICUS: De revolutionibus. Praefatio, p. 3, 32 f. (NOBIS).

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und es wird kaum erstaunen, dass diese erneut die Ars poetica des Horaz ist, die ja schon
einmal in der Vorrede anklang – wodurch dann auch obiges Zitat als solches bestätigt
wird.
    Im zitierten Zusammenhang warnt Horaz die jungen Adressaten vor unbedarftem
Dichten. Ein Gedicht werde geschaffen, die Menschenherzen zu erfreuen; erreiche es
nicht ganz Spitzenqualität, so falle es völlig ab. Jeder, der in einer Sportart ungeübt sei,
hüte sich davor, diese vor vielen Zuschauern auszuüben; aber mit Gedichten gehe man
anders um24:
    „Wer vom Versbau nichts versteht, baut trotzdem tapfer seine Verse […]. Du aber wirst
    dich nicht in Wort und Werk wider Minervas Geist versündigen; dafür bürgt dein Ge-
    schmack und deine Einsicht (mens). Hast du jedoch einmal etwas geschrieben, so magst
    du es Maecius als deinem Kunstrichter und deinem Vater und mir zu Gehör bringen,
    verberge aber die Blätter [im Sinne von ‚Konzept‘] eingeschlossen und halte das Gedicht
    bis zum neunten Jahr zurück: Was du nicht herausgegeben hast, kannst du noch tilgen;
    ein herausgelassenes Wort kennt aber kein Zurück.“
                „[388] … nonumque prematur in annum
                membranis intus positis: delere licebit
                quod non edideris, nescit vox missa reverti.“
    Copernicus sagt also mit diesem wörtlichen, lediglich mit dem Verb syntaktisch
eingeordneten Zitat (pressus non in nonum annum - nonum[que] prematur in annum), dass er
mit seinem Schriftwerk sogar noch viel sorgfältiger umgegangen sei, als Horaz es nach
dem Vorbild des Neoterikers Gaius Helvius Cinna25 empfohlen hatte; denn er hätte es
nicht nur neun Jahre, sondern mehr als dreimal solange zurückgehalten, nämlich bis ins
vierte ‚Jahrneunt‘, novennium. Dieser ungewöhnliche Begriff, soweit ich sehe, ein āπαξ
λgγόµgνον, wurde hier analog zu dem bereits in der Antike (Apuleius) verwendeten
Begriff decennium gebildet, um das Horaz-Zitat stei{/151}gernd wieder aufnehmen zu
können – ohne dass Copernicus allerdings wissen konnte, dass „in nonum annum“
eigentlich bereits ‚decennium‘ meint, eine ‚Dauer von zehn Jahren‘. Wir sprechen etwa
davon, dass die Irrfahrten des Odysseus und die Belagerung von Troja ‚zehn Jahre‘

24 Q. HORATIUS FLACCUS: Ars poetica, Verse 382, 385–390.
25 Horaz ‚zitiert‘ auch hier selbst wieder auf versteckte Weise, den Inhalt des Zitierten asso-
   ziierend, diesesmal Carmen 95 des neoterischen römischen Dichters C. Valerius Catullus
   (84 bis nach 55), mit dem er das gerade erschienene Gedicht seines Freundes C. Helvius
   Cinna preist. In der Übersetzung von Otto Weinreich (Catull, Liebesgedichte und sonsti-
   ge Dichtungen. Lateinisch und deutsch. Neu übersetzt und mit einem Essay herausgege-
   ben. [Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Lateinische Literatur Band
   1] Hamburg 1960, S. 118/119) lautet es: „Meines Cinna ‘Smyrna-Gedicht’, das begonnen
   vor neun / der Sommer [Ernten], der Winter neun, kam eben endlich heraus (… nonam
   post denique messem / quam coepta est nonamque edita post hiemem), / während Hortensius [Q.
   Hortensius Hortalus (114–50)] Fünfmalhunderttausend Verse / in einem einzigen Jahr
   niederzuschreiben sich rühmt [in seinem nationalrömischen schwülstigen Epos Annales].
   / ‘Smyrna’ wird man verschicken bis hin zu des Satrachos Wellen [auf Zypern], / ‘Smyr-
   na’ schlagen noch gern graue Jahrhunderte auf. / Doch die volus’schen Annalen, sie gehn
   schon in Padua [sic! muss heißen: im Po, also in der engsten Heimat des Volusius] unter,
   / sind für Makrelen dann oft schlotterndes Einpackpapier. / Mir sei das kleinere Werk
   meines Freundes ein teures Vermächtnis, / aber den Pöbel erfreun soll des Antimachos
   [Epiker des 4. Jahrhunderts v.Chr.] Schwulst.“

                                            - 13 -
währten, während der Grieche (und Römer) zwar durchaus ebenfalls in dezimalen
Schritten denkt, aber zwischen Dauer und Abschluss unterscheidet und sagt, dass etwas
neun Jahre (Tage, Ereignisse usw.) dauere und im zehnten beendet (entschieden) wer-
de, bei einer Multiplizierung dann aber auch von dem Wert ‚neun‘ ausgeht – wie auch
wir in derselben Art davon sprechen, dass etwas ‚acht Tage‘ dauere, aber ‚eine Woche‘
(sieben Tage) meinen und bei einer Verdreifachung jener ‚acht Tage‘ auch auf 21 Tage
kommen26.
    Das ‚vierte Jahrneunt‘ beginnt mit dem (3 x 9) + 1 = 28. Jahr. Nun ist die Vorrede
nach einem Eintrag, den der Humanist und Stadtarzt in Feldkirch Achilles Pirmin
Gasser (1505–1577) in das ihm vom Drucker Johannes Petrejus im September 1543
dedizierte Copernicus-Exemplar vornahm, im Juni 1542 abgeschlossen worden:
„Datam Varmiae in Borussia mense Junio 1542“27.
    Immerhin war Gasser Freund und Gönner des aus Feldkirch gebürtigen Georg
Joachim Rhaeticus (1514–1576), der nicht ohne sein Zureden nach Frauenburg fuhr28
und dort nicht nur einen ersten Bericht über die neue Lehre in Form eines offenen
Briefes an den Nürnberger Mathematiker Johann Schöner schrieb, der 1540 ohne
Nennung des Namens erschien29 – als Gasser ein Exemplar von Rhaeticus zugeschickt

26 Siehe dazu FRITZ KRAFFT: Die Mathematisierung des Kosmos. In: KLAUS DÖRING /
   GEORG WÖHRLE (Hrsgg.): Vorträge des ersten Symposiums des Bamberger Arbeits-
   kreises ‚Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption‘ (AKAN). (Gratia – Bamberger
   Schriften zur Renaissanceforschung, Heft 21) Wiesbaden 1990, S. 33–63; hier S. 37 f.
27 Bibliotheca Vaticana, Stamp. Palat. III 103, lat. 2250 a. – Siehe zum Eintrag ENRICO STE-
   VENSON: Inventario dei libri stampati palatino-vaticani. Bd 1, Rom 1886, S. 161 (Nr.
   2250), woraufhin darauf schon verwiesen wurde bei ADOLF MÜLLER: Nikolaus Coperni-
   cus, der Altmeister der neueren Astronomie. (Stimmen aus Maria Laach, Ergänzungsheft
   72) Freiburg i.Br. 1898, S. 400. Ein entsprechender Hinweis fehlt allerdings in dem Ka-
   talog von ELMAR MITTLER (Hrsg.): Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8.
   Juli bis 2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg. 2 Bde, Heidelberg 1986; hier
   Textband, S. 402–404 [J. Telle], Bildband, S. 266 (Faksimile der Titelseite mit Dedika-
   tionsvermerk); zu Gasser siehe hier Band 1, 398–413, sowie KARL HEINZ BURMEISTER:
   Achilles Pirmin Gasser, 1505–1577. Arzt und Naturforscher, Historiker und Humanist.
   3 Bände (I: Biographie, II: Bibliographie, III: Briefwechsel), Wiesbaden 1970–1975; dort
   Band 1, S. 77 ein weiteres Faksimile des Titelblatts.
28 Am 10. November 1542 schenkte Rhaeticus Gasser ein Exemplar seines gerade bei Petre-
   jus in Nürnberg erschienenen Büchleins Orationes duae, prima de Astronomia et Geographia,
   altera de Physica (Nürnberg 1542), das dem Feldkircher Bürgermeister Heinrich Widnauer
   gewidmet ist. Im Widmungsbrief heißt es: „Ich kann sagen, dass ich weder den Aufwand
   an Geld bereue noch den langen Weg oder die sonstigen Beschwerlichkeiten; denn ich
   sehe einen großen Lohn für diese Mühen darin, dass ich den ehrwürdigen Mann mit einer
   gewissen jugendlichen Dreistigkeit dazu bewegen konnte, seine Thesen auf diesem Fach-
   gebiet der ganzen Welt zu einem früheren Zeitpunkt mitzuteilen. Alle Gelehrten werden
   sich meinem Urteil anschließen, sobald die Bücher, die wir zur Zeit in Nürnberg unter der
   Presse haben, erschienen sind.“ Zitiert nach KARL HEINZ BURMEISTER: Ein Brief des
   Georg Joachim Rhetikus an den Feldkircher Bürgermeister Heinrich Widnauer. Montfort
   16 (1964), 205– 212; hier S. 206.
29 Ad clarissimum virum D. Ioannem Schonerum, de libris Revolutionum eruditissimi viri,
   Reverendi D. Doctoris Nicolai Copernici Torunnaei, Canonici Varmiensis, per quendam
   Iuvenem, Mathematicae studiosum Narratio Prima. Danzig 1540; Nachdruck unter dem

                                           - 14 -
erhielt, veranlasste er sofort {/152} einen Neudruck unter Nennung des Namens Rhae-
ticus30 –, sondern auch gemeinsam mit Copernicus die Endfassung von De revolutionibus
erstellte und dann, wiederum nicht ohne Mithilfe Gassers31, den Druck in Nürnberg
einleitete. Gasser muss das Datum direkt von Rhaeticus erfahren haben – wohl als
dieser ihm, wie ein Eintrag in dem Buch bezeugt32, am 20. Juni 1542 in Feldkirch ein
Exemplar des von ihm herausgegebenen und Georg Hartmann gewidmeten Vor-
abdrucks der Dreieckslehre aus dem ersten Buch von De revolutionibus33 überreichte;
denn er wird mit der gerade fertiggestellten Druckvorlage von De revolutionibus direkt
aus Frauenburg gekommen sein. Das erklärte auch die im Vergleich zu Gassers ande-
ren Bucheintragungen unpräzise Angabe ‚Juni 1542‘.
     Das 28. Jahr vor diesem Termin hatte demnach im Juli 1515 begonnen; und dies
ist der späteste Zeitpunkt, zu dem Copernicus nach eigenen Angaben das Werk De
revolutionibus fertiggestellt (nicht begonnen!) hatte – ich wüsste jedenfalls keinen Grund,
warum man diese von Copernicus selbst vorgenommene Datierung anzweifeln sollte34.

     Titel: Georg Joachim Rheticus, De libris revolutionum Copernici narratio prima. With
     Epilogue by Bern Dibner. (Milliaria, 6) Osnabrück 1965. – Zu Rhaeticus siehe KARL
     HEINZ BURMEISTER: Georg Joachim Rhetikus, 1514-1574. Eine Bio-Bibliographie. 3
     Bde, Wiesbaden 1967-1968.
30   De libris revolutionum eruditissimi viri et mathematici excellentiss. Reverendi D. Docto-
     ris Nicolai Copernici Torunnaei canonici Vuarmaciensis, Narratio Prima ad clariss. virum
     D. Joan. Schonerum per M. Georgium Joachimum Rheticum, una cum Encomium
     Borussiae scripta. Basel: R. Winter 1541; Nr. 24 in der Bibliographie in Band 2 von K. H.
     BURMEISTER 1970–1975 (wie Anm. 27), der Widmungsbrief an Georg Vögeli, aus dem
     die Einzelheiten hervorgehen, ist in Bd 3, 50–55 abgedruckt und übersetzt. – Zum Ver-
     hältnis Gasser/Rhaeticus siehe ebendort Band 1, vor allem S. 72–80, sowie KARL HEINZ
     BURMEISTER: Georg Joachim Rhetikus und Achilles Pirmin Gasser. Schriften des Vereins für
     Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 86 (1968), 217–225.
31   Gasser ließ dann auch selbst eine Pestschrift (1544) und drei Prognostika (Prognosticum
     Astrologicum ad annum Christi MDXLIIII, 1543; … ad annum Domini MDXLV, 1544;
     und: … ad annum Domini MDXLVI, 1545 – dieses G. J. Rhaeticus gewidmet) bei J. Pe-
     trejus erscheinen; siehe K. H. BURMEISTER 1970–1975 (wie Anm. 27), Band 2, Bibliogra-
     phie Nr. 1 und 15–17.
32   Siehe E. STEVENSON 1886 (wie Anm. 27), Nr. 1528, sowie K. H. BURMEISTER 1970–
     1975 (wie Anm. 27), Band 1, 44 und 74–76. Ein Bucheintrag bezeugt ein weiteres ge-
     meinsames Treffen für den 18. September 1542 in Bregenz, aus dessen Anlass Rhaeticus
     Gasser die bei Petrejus in Nürnberg erschienene Perspectiva communis von Georg Hart-
     mann, der Copernicus’ Bruder Andreas kannte, schenkte.
33   NICOLAUS COPERNICUS: De lateribus et angulis triangulorum, tum planorum rectilineo-
     rum, tum sphaericorum libellus. Wittenberg 1542. Siehe E. STEVENSON 1886 (wie Anm.
     27), Nr. 1528.
34   Wurde das Horatius-Zitat erkannt, so ist es bisher als Hinweis auf den Beginn der Arbeiten
     an dem Werk De revolutionibus aufgefasst worden. A. Birkenmajer etwa meint, dass „als
     einziger chronologischer Schluss, bei dem man hier verweilen darf, offensichtlich der
     [bleibt], dass […] die Niederschrift des Werkes De Revolutionibus nicht früher als im Jahre
     1507 und nicht später als 1515 begonnen“ wurde; siehe NICOLAUS COPERNICUS, Über die
     Kreisbewegungen der Weltkörper (De revolutionibus orbium caelestium), Erstes Buch.
     Zweisprachige Ausgabe. Hrsg. und eingeleitet von GEORG KLAUS, Anmerkungen von
     ALEKSANDER BIRKENMAJER [diese zuerst in der zugrundeliegenden polnischen Ausgabe

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