Arbeitslos - autolos - chancenlos? Regionale Mobilität und aktivierende Arbeitsmarktpolitik
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FORSCHUNG AKTUELL Arbeitslos – autolos – chancenlos? Regionale Mobilität und aktivierende Arbeitsmarktpolitik Mit dem Schlagwort vom Fördern und Fordern ist in Deutschland eine grundlegende Umorientierung von der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik verknüpft. Im Zentrum steht dabei eine Arbeitsmarktausgleichspolitik, die Arbeitslosen hinsichtlich beruflicher und regionaler Mobilität sowie Entgeltsenkungen mehr zumutet und mehr Eigeninitiative einfordert (Fordern), sie soll aber zugleich durch eine kompetente Arbeits- vermittlung sowie den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente die Arbeitsuche unterstützen (Fördern). Insbesondere das Fördern ist in ländlichen Regionen schwierig, weil z. B. die regionale Mobilität nicht unterstellt werden kann, sondern erst hergestellt werden muss. Das Projekt „Arbeitslos – autolos – chancenlos? – Mobilität und Arbeits- vermittlung im ländlichen Raum“ entwickelte einen Lösungsvorschlag für eine Touris- musregion, der auch für andere periphere Regionen relevant ist.1 LISA HAUSER, JULIA LEUPOLD, CARSTEN WIRTH zusammenhängen wie z. B. der Familie, zu einem erhöhten 1. Stellenbesetzungsprobleme trotz Einarbeitungsaufwand und einer immer nur befristeten Arbeitslosigkeit Arbeitsaufnahme. Bestenfalls werden die Arbeitskräfte in der nächsten Saison wieder eingestellt (zur Wiedereinstel- Stellenbesetzungsprobleme, also die verzögerte Besetzung lung: Hense et al. 2009). Aus der Perspektive der Kommune einer Vakanz oder der Abbruch der Suche, treten insbeson- können höhere Kosten entstehen, weil überbetrieblicher dere in Hochkonjunkturphasen auf (Noll et al. 2009). Im Wohnraum für Saisonarbeitskräfte geschaffen und verwaltet Bereich „einfacher“ Dienstleistungsarbeit können Unterneh- werden muss. Aus Sicht der Arbeitsverwaltung erfolgt durch Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung (gewerbliche Vervielfältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffent- mungen mit geeigneten Strategien in der Regel auf passende diese Personalstrategien keine nachhaltige Integration in Arbeitskräfte zurückgreifen. Dies gilt auch für das Hotel- und Erwerbsarbeit. Bei Wiedereinstellungen erfolgt zudem eine Gaststättengewerbe (Hiermig et al. 2005). In dieser Branche unerwünschte Subvention des Hotel- und Gaststättengewer- werden Personalbeschaffungsprobleme häufig durch die An- bes aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung. werbung ausländischer Arbeitskräfte oder durch die zeitlich Da diese typischen Personalbeschaffungsstrategien im befristete Migration innerhalb Deutschlands aus Gebieten Hotel- und Gaststättengewerbe (Voswinkel et al. 1996) für mit sehr hohen Arbeitslosenquoten gelöst. Während die seine Stakeholder Nachteile aufweisen, wurde im Projekt erste Strategie ein Potenzial ungenutzt lässt, die Arbeitslosig- „Arbeitslos – autolos – chancenlos? – Mobilität und Arbeits- lichung online oder offline) sind nicht gestattet. keit im Inland und die damit verknüpften wirtschaftlichen vermittlung im ländlichen Raum“ ein Konzept entwickelt, und sozialen Kosten zu senken, führt die zweite Strategie wie die offenen Stellen in einer typischen bayerischen dazu, dass aus der Perspektive der Unternehmungen Fluk- Tourismusregion mit Arbeitslosen aus der Region besetzt tuation entsteht, betriebsspezifisches Wissen immer wieder werden können.2 Mit unserer grundlegenden Hypothese verloren geht, das jeweilige Etablissement an Authentizität © WSI Mitteilungen 2013 einbüßt („sächselnde Beschäftigte in Trachten in oberbaye- rischen Hotels“), Kosten für Unterkunft entstehen oder es 1 Wir danken Susanne von Zimmermann für ihre Initiative, werden – bei einer Unterbringung im Hotel – die Kapazitä- ohne die dieses Projekt nicht zustande gekommen wäre. ten reduziert etc. Aus der Perspektive der (Saison)Beschäf- 2 Das Projekt wurde von der Arbeitsagentur Kempten initi- tigten entstehen weniger Bindungen an den jeweiligen Ar- iert sowie materiell und logistisch unterstützt. Organisato- beitgeber. Es entwickelt sich weniger Humankapital und es rische Hilfestellung erhielten die Projektbearbeiterinnen kommt zu (unerwünschten) Trennungen von Beziehungs- auch vom Jobcenter des Landkreises Oberallgäu. 606 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 8/2013 gehen wir davon aus, dass eine zentrale Herausforderung klassische Matching-Ansatz (Scheller 2008) beachtet vor für den Arbeitsmarktausgleich die fehlende Mobilität der allem die Beschaffenheit von Arbeitsnachfrage und -an- Arbeitskräfte ist, die sich als Beschäftigte im Niedriglohn- gebot im Rahmen eines Profilings und versucht, diese (mit sektor Hotel- und Gaststättengewerbe (Kalina/Weinkopf Unterstützung durch arbeitsmarktpolitische Instrumente) 2010) keinen PKW leisten können. Sie sind deshalb auf den zusammenzuführen. Das auf der Job-Search-Theorie öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angewiesen, der basierende „Talentmarketing“ (Egle/Bens 2004) macht Ta- sich aber an den Interessen von Touristen und nicht an lente zum Ausgangspunkt einer Selbstvermarktung der denen der Erwerbspersonen und der Arbeitgeber im Hotel- Ware Arbeitskraft und gibt Hinweise zur Gestaltung von und Gaststättengewerbe ausrichtet. Deshalb wurde für eine Bewerbungen, zur Nutzung von Bewerbungswegen und Tourismusregion eruiert, welche konkreten Arbeitszeiten zum „impression management“ in Auswahlverfahren. Der auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite gewünscht sind Zugang zu Arbeit über personale Netzwerke (Wirth 2006) und wie diese Wünsche mit dem existierenden ÖPNV re- oder organisationale Netzwerke (Wirth 2007) nutzt die alisiert werden können. Da sich insbesondere in den Rand- „strength of weak ties“ (Granovetter 1973) bzw. die Bezie- zeiten, d. h. früh am Morgen und nach Arbeitsende am hungszusammenhänge von Organisationen (im Feld der späten Abend sowie am Wochenende und an Feiertagen, Arbeitsförderung) für die Arbeitsvermittlung. Lücken im Angebot des ÖPNV auftun, wurde in einem Die oben referierten Ansätze weisen – trotz gewichtiger weiteren Schritt ein Mobilitätskonzept entwickelt und sei- Argumente – jeweils spezifische Begrenzungen auf. Wäh- ne (Re)Finanzierung durch Einsparungen beim Arbeits- rend der klassische Matching-Ansatz z. B. von einer sozialen losengeld (ALG)-Bezug (ALG-I und ALG-II) überprüft. Einbettung in personale Beziehungen à la Granovetter Dabei zeigt sich, dass lediglich ein (!) zusätzlicher Arbeits- (1985) abstrahiert und keine Einbettung in umfassendere loser mit einem durchschnittlichen regionalen Arbeits- soziale Systeme thematisiert bzw. thematisieren kann losengeldsatz in Arbeit integriert werden müsste, um das (Wirth 2011), fehlt beim Talentmarketing aufgrund seiner Mobilitätskonzept mit einer branchenbezogenen Arbeits- suchtheoretischen Basis eine realistische Arbeitsmarktper- kräfte- und Arbeitgeberorientierung zu „refinanzieren“. Da spektive: Dieser Ansatz unterstellt – ganz in der Tradition die Kosten und der Nutzen aufgrund der „Versäulung“ des neoklassischer Ökonomie – offene Stellen, die durch ein Sozialversicherungssystems in unterschiedlichen Organi- entsprechendes Marketing in eigener Sache „nur“ richtig sationen anfallen, ist des Weiteren eine sozialräumliche adressiert werden müssen. Zudem kann eingewandt werden, und kooperative Perspektive der involvierten Akteure er- dass diese Form der Selbstvermarktung eine fehlende Per- forderlich, damit derartige Projekte – trotz überzeugender sonalabteilung und/oder fehlende professionelle Auswahl- ökonomischer Argumente – nicht im Umsetzungsprozess verfahren voraussetzt, da die Argumentation mit Talenten, scheitern. Das bedeutet gleichzeitig, dass eine aktivierende die angeboren sind, nicht überzeugen kann. Wegen seiner Arbeitsmarktpolitik, wenn sie auch ermöglichend sein soll, institutionellen Voraussetzungen kommt dieser Ansatz vor auf „soziales Kapital“ (Bourdieu 1983) und öffentliche In- allem für Bewerbungen in kleinbetrieblich organisierten vestitionen eines „social investment state“ (Giddens 1998) Branchen infrage. Echte Personalentwicklung oder umfas- angewiesen ist. Dies beschränkt sich nicht nur – dies zeigen sender: „Arbeitskräfteentwicklung“ (Wirth 2010, S. 113) weitere empirische Ergebnisse – auf die Koordination von durch Erwerbstätigkeiten, Ehrenämter und andere Aktivi- Mobilität. täten wird beim Talentmarketing nicht ernsthaft mitgedacht, Unser Argument entwickeln wir wie folgt: Im zweiten sondern lediglich als Marketingargument verwandt. Dieser Abschnitt skizzieren wir in gebotener Kürze unsere konzep- Ansatz passt somit – so kann man ideologiekritisch anmer- tionellen Überlegungen und im dritten Abschnitt unser ken – sehr gut zu einer Reduktion der öffentlich geförderten Forschungsdesign. Im vierten Abschnitt präsentieren wir beruflichen Bildung (Bosch 2009, S. 101) im Zuge der Um- unsere wichtigsten empirischen Ergebnisse. Der fünfte Ab- setzung einer „fordernden Aktivierung“ (Schütz 2009, schnitt ist Schlussfolgerungen vorbehalten. S. 173). Die Nutzung personaler und/oder organisationaler Netzwerke im Rekrutierungsprozess leistet – je nach insti- tutionellem Setting – einen wichtigen, aber keinen umfas- senden Beitrag zur Erklärung von Rekrutierungsentschei- dungen. Nach Arbeitgeberbefragungen werden in 2. Eine strukturationstheoretische Deutschland ca. 25 % (Dietz et al. 2011) und nach Arbeit- Perspektive auf Arbeitsvermittlung nehmerbefragungen 40 % der Stellen (Brenke/Zimmer- mann 2007), aber ca. 60 % der Stellen in den USA (Grano- Arbeitsvermittlung wird unterschiedlich konzeptualisiert. vetter 1995) unter Einbeziehung von Netzwerken besetzt. Gemäß der Legaldefinition des Sozialgesetzbuch, Drittes Eine genauere Analyse der Rekrutierung jenseits der Netz- Buch (SGB III) versteht man unter ihr „alle Tätigkeiten, werkrekrutierung erfolgt in diesen Studien aber nicht. die darauf gerichtet sind, […] Arbeitsuchende mit Arbeit- Eine Integration der produktiven Elemente dieser un- gebern zur Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses terschiedlichen Ansätze ermöglicht die strukturations- zusammenzuführen“ (§ 35 Absatz 1 Satz 2 SGB III). Der theoretische Perspektive auf Arbeitsvermittlung https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 607 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
FORSCHUNG AKTUELL (grundlegend dazu Giddens 1984; Windeler 2001; mit Bezug zur Arbeitsvermittlung Wirth 2011), die kognitive, norma- 3. Forschungsdesign und Methoden tive und machtbezogene Aspekte genauso berücksichtigt wie die Einbettung des Rekrutierungsprozesses in Organi- Um das Mobilitäts- und das dazugehörige Finanzierungs- sationen, in Netzwerke, in Regionen, in Branchen und Ge- konzept zu entwickeln und seine Validität abzusichern, sellschaft. Damit kann Personen wie auch den Kontexten, wurde für die Untersuchung ein spezifisches Methodenset in denen die Akteure interagieren und die sie zugleich angewandt, das quantitative und qualitative Befragungs- reproduzieren (Dualität von Handlung und Struktur, vgl. methoden mit der Auswertung von Literatur, Verbands- Giddens 1984), Rechnung getragen werden. und Presseveröffentlichungen sowie eine Validierung durch Ein Intermediär, hier als Vermittler bezeichnet, ver- die Präsentation der Ergebnisse und durch Studienteilneh- gleicht Anforderungen und Arbeitsbedingungen eines Ar- merfeedback kombiniert. Basierend auf den Ergebnissen beitsplatzes sowie die damit assoziierten Sicht- und Legiti- der Literaturauswertung wurde zunächst ein quantitativ mationsweisen mit den Handlungskompetenzen und den orientierter Fragebogen entwickelt, der den in der Region kognitiven und normativen Strukturen (einschließlich der ansässigen relevanten Hotel- und Gastronomiebetrieben Vorstellungen zu Arbeitsregulationen) einer Arbeitskraft. zugesandt wurde. Als relevant wurden zunächst solche Er oder sie versucht (evtl. unter Einsatz arbeitsmarktpoliti- Hotel- und Gastronomiebetriebe klassifiziert, die Personal scher Instrumente und/oder eines von ihm induzierten beschäftigen. Die Auswahl dieser Betriebe erfolgte anhand Wandels der Arbeitsorganisation) diese ab- und anzuglei- einer internen Datenbank der Arbeitsagentur. Die Betriebs- chen sowie Arbeitsuchende und Beschäftiger zusammen- größe schwankt zwischen einem und mehr als 50 Beschäf- zuführen. Dieser Prozess wird einerseits von Handlungs- tigten. Die Rücksendung der Fragebögen war per Post oder kompetenzen des Intermediärs und andererseits von der Fax möglich. Um die Rücklaufquote zu erhöhen, wurden sozialen Einbettung in umfassendere soziale Systeme, z. B. die Beschäftiger sechs Wochen nach dem Versand der in eine Region, geprägt. Fragebögen nochmals kontaktiert und auf die laufende In den Interaktionen und sozialen Beziehungen werden Befragung hingewiesen. Insgesamt wurden 97 Fragebögen die Sets von Regeln und Ressourcen eines sozialen Systems ausgegeben und 25 verwertbare Antwortbögen zurück- hervorgebracht und, indem sich die Akteure auf diese be- gesandt. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 25,8 %. ziehen, reproduziert oder verändert. Das betrifft auch die Schließt man allerdings die reinen Familienbetriebe sowie untersuchte Region, die als Tourismusregion mit einem Kleinstbetriebe mit höchstens einem Mitarbeiter aus, so doppelten Fokus koordiniert wird: erstens mit Bezug zum erhöht sich die Rücklaufquote auf 64,1 %.3 Der Fragebogen Geschäftsfeld Tourismus und zweitens mit Bezug zu einem fokussierte neben den Merkmalen des Betriebs die Rekru- bestimmten Gebiet. Dabei werden die Kontexte in das Han- tierungsprobleme und bisherigen Rekrutierungsstrategien, deln einbezogen, und indem dies geschieht, werden diese die Mobilitätsbedarfe aus Arbeitgebersicht, die Arbeitszei- reproduziert oder verändert. ten und Arbeitszeitmodelle. Die soziale Einbettung in eine Region ermöglicht und Parallel dazu wurden im Zeitfenster von November 2010 begrenzt Arbeitsvermittlung. Das in einer Region existie- bis Januar 2011 Arbeitslose aus den Leistungskreisen SGB II rende System des ÖPNV als ein Element sozialer Einbettung und SGB III schriftlich befragt. Die Ausgabe der Fragebögen generiert beispielsweise die (Nicht)Erreichbarkeit von Ar- erfolgte zum einen an Arbeitsuchende im Rahmen von eigens beitsplätzen für Arbeitsuchende. Diese Form sozialer Ein- anberaumten, aber nicht sanktionsbewehrten Gruppen- bettung bringen die Akteure rekursiv hervor, indem sie sich informationsterminen. Sie erfolgte zum zweiten an von Ar- im Prozess der Strukturation an den Sets von Regeln und beitslosigkeit bedrohte Beschäftigte und an Arbeitslose mit Ressourcen eines sozialen Systems orientieren. Und indem einer Wiedereinstellungszusage, die nach Einschätzung der sie diese Sets von Regeln und Ressourcen aufgreifen, repro- Arbeitsvermittler und persönlichen Ansprechpartner folgen- duzieren sie diesen Kontext der Arbeitsvermittlung und die de Kriterien erfüllten: Wohnort in der Region, Erfahrung im Region. Oder sie verändern diese. Dazu bedarf es anschluss- Hotel- und Gaststättengewerbe und Eignung für eine Tätig- fähiger Sicht-, Handlungs- und Legitimationsweisen auf keit in dieser Branche. Zusätzlich wurden über das interne mehreren Ebenen: auf der individuellen und organisatio- Verwaltungsprogramm der Arbeitsagentur VerBis weitere nalen Ebene, im Netzwerk, in der Region, in der Branche geeignete Arbeitslose ausgewählt sowie Teilnehmer einer sowie in der Gesellschaft, damit ein reflexiver Eingriff in Weiterbildungsmaßnahme für SGB-III-Leistungsempfänger das soziale System Region gelingen kann. Das hier vorge- (Kurs: Kompetenzen im Tourismus) angeschrieben. Gefragt stellte Projekt entwickelt dementsprechend ein Mobilitäts- wurde insbesondere nach Erfahrungen im Hotel- und Gast- konzept, das als ein Element reflexiver Regionalentwicklung interpretiert werden kann. Wie wir dabei vorgegangen sind, fassen die nun folgenden methodischen Ausführungen zu- 3 Eine Bestimmung der größeren Betriebe konnte vorge- sammen. nommen werden, weil die Möglichkeit der freiwilligen Namensangabe gegeben war und die Unternehmungen diese Gelegenheit in der Regel nutzten. 608 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 8/2013 stättengewerbe und nach dem Interesse, darin zu arbeiten, ihnen haben einen PKW. Sie sind also in besonderem Maße den Mobilitätsmöglichkeiten und -restriktionen, den (mög- auf den ÖPNV angewiesen. Im Vergleich dazu besitzen 84 % lichen) Arbeitszeiten und den soziodemografischen Merk- der Beschäftigten und Wiedereinsteller einen Führerschein malen der befragten Personen. Insgesamt wurden 172 Fra- und haben in 69 bzw. 59 % der Fälle einen PKW. Der Zugang gebögen an diesen Personenkreis ausgeteilt, von denen 64 zu Arbeit erhöht also die Mobilität und sichert – auch bei (35 SGB III- und 29 SGB-II-Leistungsempfänger) verwertbar wiederkehrender friktioneller Arbeitslosigkeit – die Mobili- abgegeben wurden. Dies entspricht einer Rücklaufquote von tät ab, die wiederum die Integrationschancen erhöht und – 31,3 %. Nach der Verteilung der Fragebögen an Arbeitslose umgekehrt – exkludiert fehlende Mobilität. Dies ist insbe- mit Wiedereinstellungszusage und von Arbeitslosigkeit be- sondere bei Arbeitslosen der Fall. Sie stehen dem Arbeitsmarkt drohte Personen (z.T. über die Arbeitgeber) und per E-Mail nur formal zur Verfügung und können praktisch nicht inte- in zwei typischen Hotels in der Region kam es zu einem griert werden, weil elementare Voraussetzungen fehlen. Dem- Rücklauf von weiteren 49 verwertbaren Fragebögen. Da auf entsprechend unzufrieden sind viele (potenzielle) Nutzer des diese Weise unklar blieb, wie viele Personen einen Frage- ÖPNV. Unter Einbeziehung aller Befragten, also einschließ- bogen erhielten, kann in diesem Fall keine Rücklaufquote lich der Beschäftigten, geben sogar 84 % an, dass sie auf den berechnet werden. Insgesamt wurden also 113 Personen, die ÖPNV angewiesen sind, aber insbesondere zu den Rand- für eine Erwerbstätigkeit im Hotel- und Gaststättengewerbe zeiten, d. h. frühmorgens (6 bis 8 Uhr) und spätabends (ab infrage kommen, in die Untersuchung einbezogen. 20 Uhr), mit dem Angebot in der Region unzufrieden sind. Um die in der Arbeitgeberbefragung gewonnenen Daten Gleiches gilt für Wochenende und an Feiertagen sowie in zu validieren und zu differenzieren, führten wir ein Exper- den Schulferien. Sie wünschen sich – wenig überraschend – teninterview (Meuser/Nagel 2009) mit einem erfahrenen eine Erweiterung des Angebots. Gefragt nach den Verkehrs- Hotelier aus der Region, der auch im Verband eine heraus- trägern, die für eine Erweiterung des Angebots gewünscht gehobene Position einnimmt und über diese Funktion im werden, präferieren die Befragten Fahrgemeinschaften und Verband die Problemlagen und Lösungsansätze anderer eine Ausweitung des Linienbusverkehrs. Betriebe aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe in der Aus der Perspektive der Arbeitskräfte, insbesondere von Region kennt. In diesem Interview gingen wir auf die Zu- weiblichen, fehlen zudem Kinderbetreuungseinrichtungen, sammenhänge von ÖPNV und Stellenbesetzung, Weiter- die über Öffnungszeiten verfügen, die an die Arbeitszeiten entwicklungsmöglichkeiten des ÖPNV und dessen Finan- im Hotel- und Gaststättengewerbe angepasst sind. Insge- zierung, alternative Transportmöglichkeiten sowie sonstige samt monierten 11 % der Befragten ungeeignete Kinderbe- Herausforderungen ein. Um die Basis der Einschätzungen treuungseinrichtungen. 91 % der Befragten, die diese Frage noch weiter zu verbreitern, wurde eine Gruppendiskussion mit Ja beantworteten, waren Frauen. Dies legt zugleich eine (Liebig/Nentwig-Gesemann 2002, S. 141ff.) unter Beteili- traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der gung einer Mitarbeiterin aus dem Arbeitgeberservice der Region nahe. zuständigen Agentur für Arbeit mit vier prototypischen, Die Befragung der Arbeitgeber bringt ähnliche Ergeb- d. h. mittelständischen Unternehmern aus dem Hotel- und nisse hervor, die zudem durch die Aussagen im Experten- Gaststättengewerbe durchgeführt. Neben der weiteren Va- gespräch und in der Gruppendiskussion untermauert lidierung der Ergebnisse diente die Gruppendiskussion der werden. So geben 60 % der befragten Arbeitgeber an, dass Vorstellung und Diskussion von möglichen Lösungsvor- sie Probleme bei der Personalrekrutierung haben, weil Ver- schlägen. Abschließend wurden die Ergebnisse der Unter- bindungen des ÖPNV zu relevanten Zeiten fehlen. Auch suchung und das vorgeschlagene Mobilitätskonzept den von ihnen werden – wie von den Arbeitskräften – die „Rand- Stakeholdern präsentiert und mit ihnen diskutiert. Insofern zeiten“ als Problemfälle benannt,4 die zuweilen durch die betreibt das Projekt „Arbeitslos – autolos – chancenlos? – Wetterverhältnisse im Winter verschärft werden. Regionale Mobilität und Arbeitsvermittlung“ Aktionsfor- Wie die Arbeitskräfte sind die Arbeitgeber des Hotel- und schung (Fricke 2010), die zu einem auf wissenschaftlichen Gaststättengewerbes in der Region darüber hinaus bereit, Erkenntnissen basierenden Eingriff in die regionale Ent- eine Ko-Finanzierung für die Ausweitung der Mobilität auf- wicklung führen soll. Die Resultate der Studie werden im zubringen. So ist fast die Hälfte der befragten Arbeitslosen Folgenden in gebotener Kürze vorgestellt. zur Zahlung von 0,50 bis 2 € Fahrtkosten pro Wegstrecke bereit. 31 % der befragten Arbeitnehmer würden sogar 4 Eine Änderung der Arbeitszeitmodelle wird – wie so häu- 4. Zentrale empirische Ergebnisse fig (Wirth 2011) – von den Arbeitgebern gegenwärtig nicht angedacht. Dabei könnten sie durch Innovationen in der Die Befragungsergebnisse unterstützen die These eines engen Arbeitsorganisation ihr Rekrutierungsproblem verringern und eine „Beschäftigungsberatung“ (Kommission für Zusammenhangs zwischen Mobilität und (möglicher) Ar- Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 2002, S. 234) beitsvermittlung. So geben 62 % aller befragten Arbeitslosen durch die Arbeitsverwaltung könnte dazu beitragen, dass an, über einen Führerschein zu verfügen. Aber nur 33 % von Arbeitslose in Arbeit integriert werden. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 609 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
FORSCHUNG AKTUELL mehr als 2 € beisteuern. Beinahe 50 % der Arbeitgeber geben dieser Variante erfolgte auf Basis von Angeboten von Bus- an, dass sie einen finanziellen Beitrag von 1 bis 3 € pro Ar- unternehmen, die in der Region aktiv sind. beitskraft für Hin- und Rückweg leisten würden. Eine Gegenüberstellung der Kosten der Ausweitung des Vor dem Hintergrund dieser aus der Arbeitskraft- und ÖPNV und der Einsparungen an ALG I durch die Integra- der Beschäftigerperspektive eher kompatiblen Anforderun- tion von Arbeitslosen mit einem durchschnittlichen Ar- gen wurden unterschiedliche Lösungsvorschläge entwickelt beitslosengeldsatz zeigt, dass eine (!) erfolgreiche zusätzliche und zumindest mit den Arbeitgebern im Rahmen der Grup- Integration alle sechs Monate die Kosten der Mobilitätsaus- pendiskussion erörtert. Diese wurden vor dem Hintergrund weitung amortisiert (Abbildung 1). der Anforderungen der Zielgruppen, der Region und ihrer Im Regelungskreis SGB II mit seinen niedrigeren Ent- Finanzierbarkeit für einen sechsmonatigen Probezeitraum geltersatzleistungen plus Kosten der Unterkunft und Heizung konzipiert. Den Kosten eines Ausbaus des ÖPNV werden ergibt sich ein anderer break-even-point. Ab drei Leistungs- deshalb die Einsparungen bei ALG I oder ALG II sowie die beziehern, die für mindestens sechs Monate integriert sind, Senkung der Kosten für Unterkunft und Heizung durch die amortisiert sich der Ausbau des ÖPNV durch Einsparungen Integration von Arbeitslosen gegenübergestellt. Bei der Be- in der Grundsicherung für Arbeitsuchende und belegt noch- rechnung des break-even-points gingen wir aus Gründen mals die Wirtschaftlichkeit der Ausweitung des ÖPNV. der Vereinfachung und angesichts fehlender alternativer Eine erfolgreiche Umsetzung des Projekts generiert wei- Zahlen von durchschnittlichen regionalen Entgeltersatzleis- tere positive Effekte. Die Relevanz der Teilhabe am Erwerbs- tungen aus. leben für ein menschenwürdiges Leben und die inklusiven Der von den Arbeitslosen präferierte Ausbau des Lini- Effekte von Erwerbsarbeit bleiben bei einer ökonomisch enverkehrs scheidet aus Kostengründen aus, weil dafür ein verengten Perspektive unberücksichtigt. Darüber hinaus zusätzlicher Bus eingesetzt werden müsste, im Moment verschafft sich die Arbeitsverwaltung zusätzliche Legitimi- jedoch alle Kapazitäten ausgelastet sind und somit ein neu- tät, indem sie sich in der Regionalentwicklung proaktiv er Bus angeschafft werden müsste. Das von den Beschäftig- einbringt, Ressourcen beisteuert und relativ stabile Bezie- ten mit PKW auch stark gewünschte Fahrgemeinschafts- hungen in der Region aufbaut, die in anderen Projekten, bei modell lässt sich eher als Ergänzung nutzen, da durch anderen Herausforderungen wieder aufgegriffen werden Krankheit, Arbeitszeitverschiebungen etc. selbst bei einem können. Dadurch sinken zudem die Transaktionskosten in Pool von Teilnehmern kaum verlässliche Transportmög- der Region, was wiederum die Problembearbeitung erleich- lichkeiten entstehen können. Aus diesen Gründen wurde tert. Möglicherweise trägt dieses Projekt zum Ausbau eines den Akteuren in der Region vorgeschlagen, Montag- bis regionalen Institutionengefüges bei und es ermöglicht den Sonntagabend um 22 Uhr einen zusätzlichen Kleinbus ein- Hotel- und Gastronomiebetrieben – wie die Unternehmer zusetzen. Am Wochenende und an Feiertagen ist darüber betonen – ein von den Kunden geschätztes höheres Maß an hinaus eine zusätzliche Anruf-Sammeltaxi-Linie einzuset- Authentizität, weil sie Arbeitskräfte aus der Region beschäf- zen, die – wie der erste Bus unter der Woche – morgens um tigen. Sie können darüber hinaus ihre Beziehungen zur 6 Uhr am Busbahnhof abfährt. Die Berechnung der Kosten Arbeitsverwaltung pflegen, mit der sie in der Vergangenheit eng zusammenarbeiteten. Trotz anschlussfähiger Sichtweisen bei unterschiedlichen ABB. 1 Akteuren gilt es, die Umsetzung zu beobachten und auszu- werten. Wie wirken sich Niedriglöhne in der Branche auf die Einsparungen beim Arbeitslosengeld und Bereitschaft aus, Arbeit anzunehmen? Wie klappt das Zusam- Kosten des zusätzlichen ÖPNV menspiel der Akteure? Wie erfolgt die Verteilung der Kosten, Angaben in Euro der Einsparungen vor dem Hintergrund der Logiken der je- Einsparungen nach SGB III* Kosten Kleinbus weiligen Organisation? Und wie beeinflussen machtvolle Ak- teure in den Organisationen das Geschehen? Diese und an- 70.000 dere Fragen wären in einer Längsschnittbetrachtung im Zuge 64.456 60.000 einer Evaluation des Projekts zu untersuchen. Bevor es dazu 56.399 50.000 48.342 kommen kann, sollen abschließend einige Schlussfolgerungen 40.000 40.285 für die Praxis und die Wissenschaft entwickelt werden. 32.228 30.000 24.171 20.000 16.114 10.000 8.057 7.665 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 zusätzlich integrierte Arbeitslose 5. Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis *im Zeitraum von sechs Monaten. Mitteilungen Quelle: Berechnung und Darstellung der Autoren. Die Studie zeigt, dass die Ausgangshypothese der fehlenden regionalen Mobilität als Integrationshemmnis bestätigt wer- 6 10 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 8/2013 den kann. Dieses Eingliederungshemmnis kann zu ver- (1) Eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist ökonomisch(er), gleichsweise geringen Kosten durch eine Modifikation des wenn sie berufliche Beratung und angemessene Qualifi- ÖPNV-Angebots in der untersuchten Region beseitigt wer- zierungen fördert. Sie erleichtert den Ausstieg aus dem den. Erst dieser Eingriff in Form einer reflexiven Regional- Niedriglohnsektor, senkt die Kosten für aufstockende SGB- entwicklung ermöglicht aktivierende Arbeitsmarktpolitik. II-Leistungen und begegnet den sich abzeichnenden Knapp- Andreß/Krüger (2006, S. 130f.) argumentieren in ihrer Stu- heiten an qualifizierten Arbeitskräften – zumindest ein die ähnlich, zeigen aber, dass derartige Praktiken eher die Stück weit – präventiv. Ausnahme sind, weil eine restriktive Form aktivierender Arbeitsmarktpolitik, die fordernde Aktivierung, dominiert. (2) Die Ergebnisse verweisen auf regionale Besonderheiten Auch der Vorwurf, „faule Arbeitslose“ verweigerten die und Branchenspezifika, die erfolgreiche aktivierende Ar- Arbeitsaufnahme, kann für die von den Arbeitsvermittlern beitsmarktpolitik berücksichtigt. Deshalb sind eine Dezen- und persönlichen Ansprechpartnern vorselektierten Ar- tralisierung der Arbeitsmarktpolitik und Budgets wie die beitslosen nicht bestätigt werden. Sie sind – wie die Arbeits- frühere „freie Förderung“ (§ 10 SGB III a.F., § 16f SGB II losen in der Studie von Andreß/Krüger – aktiv, kooperieren n.F.) erforderlich, um diese kontextuellen Anforderungen und sind bereit, eine Niedriglohnbeschäftigung anzuneh- zu berücksichtigen. Die Organisationen brauchen also einen men. Insofern können die Akteure der Arbeitsförderung Handlungsspielraum, den die „neue Regelsteuerung in der und die Arbeitgeber in der Untersuchungsregion auf einen deutschen Arbeitsverwaltung“ (Schütz 2009) wegen ihrer Pool von motivierten Arbeitskräften trotz vergleichsweise Orientierung an Konzeptkonformität meist nicht bietet. niedriger Arbeitslosigkeit zurückgreifen. Dabei wäre eine Vielfalt arbeitsmarktpolitischer Strategien Um den Arbeitsuchenden die Chance zu geben, das notwendig, die der jeweiligen regionalen Problemlage Rech- Niedriglohnsegment zu verlassen, bedarf es beruflicher Be- nung trägt. ratung und beruflicher Weiterbildung, die aber selten in der erforderlichen Qualität angeboten werden (Hielscher/Ochs (3) Die Ergebnisse sind auch für andere Regionen relevant, 2009; Bosch 2009; Mohr 2009), weil z. B. die Förderung der weil dort ähnliche Herausforderungen für die Arbeitsver- beruflichen Weiterbildung häufig nur eine „Vermittlungs- mittlung, Arbeitsuchende und Beschäftiger existieren. Die förderung“ (Bosch 2009, S. 95) ist. Ergänzend müsste jedoch Möglichkeit von Mobilitätshilfen, z. B. nach § 45 SGB III a.F. auch die Kinderbetreuung durch Kindertagesstätten oder bzw. § 44 SGB III n.F., die langjährige Praxis der Mobilitäts- innovative Tagesmütter-Konzepte, die räumlich nahe am förderung (dazu Bogedan et al. 2009, S. 10) und empirische Weg des Shuttle-Busses liegen, ihre Dienstleistungsangebo- Untersuchungen (z. B. Seibert 2008) belegen, dass regiona- te an die branchenspezifischen Arbeitszeiten anpassen, da- le Mobilität gefördert wurde und werden muss, weil Mobi- mit Arbeitskräften die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im litätsprobleme in ländlichen Regionen existieren. Hotel- und Gaststättengewerbe ermöglicht wird. Gesellschaftlicher Wandel (z. B. mehr alleinerziehende (4) Die Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten Erwerbspersonen) und die Branchenspezifika des Hotel- und der Industriespezifika bei der Konstitution öffentlicher und Gaststättengewerbes lösen einen erhöhten Bedarf an Dienstleistungsangebote erfordert ein Netzwerk von öffent- öffentlichen oder öffentlich finanzierten Dienstleistungen lichen Verwaltungen, Verbänden und Gewerkschaften, Un- aus, deren Produktion den regionalen Besonderheiten (hier ternehmungen, Selbsthilfegruppen etc., die von einem einer Tourismusregion) angepasst werden muss. Zugleich Broker – ähnlich wie im Zuge einer „reflexiven Netzwerk- weist dies auf die Bedeutung von Gender-Fragen für eine entwicklung“ (Sydow/Windeler 2003) oder der care work aktivierende Arbeitsmarktpolitik hin, weil immer noch im Rahmen eines „beschäftigungsorientierten Fallmanage- eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Beziehungen, ments“ (Göckler 2012) – moderiert werden. Nur so entsteht Erwerbsarbeit und Gesellschaft vorherrscht. Die emanzi- das soziale Kapital, das anschlussfähige Praktiken und einen patorischen Aspekte aktivierender Arbeitsmarktpolitik Vertrauensvorschuss bei riskanten Reziprozitäten ermög- berücksichtigen Praktiker häufig noch zu wenig (Rudolph licht. Dies ist von zentraler Bedeutung, weil in diesen Be- 2007), weil sie – wie andere Studien zeigen – mit institu- ziehungszusammenhängen nicht immer aktuell ein Aus- tionalisierten und organisationalen Widersprüchen kon- gleich von Kosten und Nutzen zwischen den Akteuren frontiert sind (Jaehrling 2009) oder etablierte Praktiken erfolgen kann. Dies erfordert zugleich ein „thinking in pfadabhängig fortgeschrieben werden (Dingeldey 2011). networks“ (Mattson 1987) sowie ein entsprechendes Clus- Des Weiteren lässt sich schlussfolgern, dass Konzepte ak- termanagement, in dem regionalisierte Bedarfe identifiziert tivierender Arbeitsmarktpolitik in der Regel geschlechts- und bearbeitet werden (Duschek et al. 2010). und raumlos sind und unbedingt durch eine geschlech- tersensible und sozialräumliche Perspektive erweitert wer- (5) „Projektnetzwerke“ (Sydow/Windeler 1999), in denen den müssten. projektbezogen und projektübergreifend zusammengear- Diese Befunde haben eine Reihe von praktischen Im- beitet wird sowie Praktiken der Kooperation entwickelt und plikationen für die Arbeitsmarktpolitik und die Akteure im institutionalisiert werden, sind eine geeignete Koordinati- Feld der Arbeitsförderung: onsform für eine reflexive Regionalentwicklung. Sie https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 6 11 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
FORSCHUNG AKTUELL ermöglichen mittels des Zugriffs auf einen Pool von Organisationen „Fle- menspiel mit Arbeitsvermittlung ermöglicht. Die eingesetzten Methoden xibilität durch Stabilität“ (Sydow 2000) und damit eine Anpassung an un- erweisen sich als adäquat. Sinnvoll wäre aber die Ergänzung um eine qua- terschiedliche Anforderungen. Diese regionalisierten Projektnetzwerke litative und quantitative Längsschnittuntersuchung, mit der die Umsetzung generieren also eine „strategische Flexibilität“ (Sydow 1992, S. 114). und die Ergebnisse dieses Projekts evaluiert werden könnten. (6) Die Kooperation zwischen Unternehmungen und öffentlichen Verwal- tungen in der Region ist auf anschlussfähige Sicht-, Handlungs- und Legi- timationsweisen auf mehreren Ebenen angewiesen. Würde beispielsweise LITERATUR eine für das Gelingen wichtige Organisation eine eher kurzfristige Kosten- Andreß, H.-J./Krüger, A. (2006): Ausstiege aus dem unteren Einkommensbe- senkungsperspektive verfolgen, wären Investitionen, die sich ökonomisch reich. Institutionelle Hilfe, individuelle Aktivitäten und soziale Netzwerke, Ber- nur langfristig amortisieren können, und der Aufbau von Sozialkapital, z. B. lin in Form von „eingespielten Beziehungen“ in der Region, auf die zu einem Bogedan, C./Bothfeld, C./Sesselmeier, W. (2009): Arbeitsmarktpolitik in der so- späteren Zeitpunkt im Projektnetzwerk wieder zurückgegriffen werden zialen Marktwirtschaft – Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III. Eine Einleitung, in: Bothfeld et al., a.a.O., S. 7 – 18 kann, nahezu unmöglich. Genauso könnten einzelne, sehr machtvolle Per- Bosch, G. (2009): Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009: Ent- sonen wirken und damit eine Organisations-, Netzwerk- und Regionalent- wicklung und Reformoptionen, in: Bothfeld et al., a.a.O., S. 94 – 111 wicklung be- und sogar verhindern. Mit anderen Worten: Die Anschluss- Bothfeld, S./Sesselmeier, W./Bogedan, C. (Hrsg.) (2009): Arbeitsmarktpolitik in fähigkeit der Praktiken der jeweiligen Akteure auf unterschiedlichen der sozialen Marktwirtschaft. Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetz- buch II und III, Wiesbaden Ebenen (Individuum, Organisation, Netzwerk, Region, Branche und Ge- Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, sellschaft) muss vorhanden sein bzw. hervorgebracht werden, damit der- in: Kreckel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2 artige Projekte erfolgreich abgeschlossen werden können. Göttingen, S. 183 – 198 Brenke, K./Zimmermann, K. F. (2007): Erfolgreiche Arbeitssuche weiterhin meist über informelle Kontakte und Anzeigen, Wochenbericht des DIW 74 (20), (7) Eine produktive aktivierende Arbeitsmarktpolitik stellt spezifische An- Berlin forderungen an das Personal. Von den Beschäftigten werden betriebswirt- Dietz, M./Röttger, C./Szameitat, J. (2011): Betriebliche Personalsuche und schaftliche und rechtliche Kenntnisse erwartet. Sie können strategisch Den- Stellenbesetzungen: Neueinstellungen gelingen am besten über persönliche Kontakte, IAB-Kurzbericht 26/2011, Nürnberg ken, sind offen und sozial kompetent, stellen sich Genderfragen und Dingeldey, I. (2011): Der aktivierende Wohlfahrtsstaat. Governance der Arbeits- reflektieren über Sozialräume. Deshalb interagieren sie in Beziehungszu- marktpolitik in Dänemark, Großbritannien und Deutschland, Frankfurt a. M./ sammenhängen konstruktiv und zielorientiert. Sie verfügen über Metho- New York denkompetenzen und sind in der Lage, empirische und mikropolitische Duschek, S./Lerch, F./Sydow, J. (2010): Netzwerkberatung in Clustern, in: Gruppendynamik & Organisationsberatung 41 (2), S. 125 – 143 Analysen durchzuführen. In ihrer Arbeit steuern sie sich selbst anhand von Egle, F./Bens, W. (2004): Talentmarketing, Wiesbaden Zielen. Insofern sind für eine derartige Arbeitsmarktpolitik akademisch Fricke, W. (2010): Fallstudienforschung als Aktionsforschung, in: Pongratz, H. qualifizierte Arbeitskräfte oder begabte Praktiker erforderlich. Dies wiede- J./Trinczek, R. (Hrsg.): Industriesoziologische Fallstudien. Entwicklungspotenzi- ale einer Forschungsstrategie, Berlin, S. 233 – 256 rum hat Konsequenzen für die Auswahlkriterien und für die Personalent- Fritsche, M. (2010): Mikropolitik im Quartier, Wiesbaden wicklung, die die Kompetenzen der Beschäftigten durch ein „Fordern und Giddens, A. (1984): The constitution of society. Outline of the theory of struc- Fördern“ (Rohde et al. 2011) hervorbringt. Herausfordernde, aber ange- turation, Cambridge messene Aufgaben und ein hohes Maß an Unterstützung und Vertrauen Giddens, A. (1998): Equality and the social investment state, in: Hargreaves, I./ Christie, I. (Hrsg.): Tomorrow’s politics: The Third Way and beyond, London, sind für die Personalentwicklung unerlässlich. S. 25 – 40 Göckler, R. (2012): Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement. Praxisorien- (8) Die reflexive Regionalentwicklung ist – ähnlich wie die Stadtentwicklung tierte Betreuung und Vermittlung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Fritsche 2010) – ein politischer Prozess, in den unterschiedliche Interessen (SGB II). Eine Einführung, Regensburg Granovetter, M. (1973): The strength of weak ties, in: American Journal of So- involviert sind. Diese entstehen z. B. durch unterschiedliche Logiken von ciology 78 (6), S. 1360 – 1380 Organisationen, Traditionen, pfadabhängige Entwicklungen, unterschied- Granovetter, M. (1985): Economic action and social structure: The problem of liche (Wahrnehmungen von) Kosten-Nutzen-Verteilungen, unterschiedli- embeddedness, in: American Journal of Sociology 91 (3), S. 481 – 510 Granovetter, M. (1995): Getting a job. A study of contacts and careers, che Sichtweisen, Legitimationserfordernisse sowie Interessen etc. Infolge- Chicago/London dessen ist schon in der Projektentwicklung, aber auch in der Durchführung, Hense, A./Liebig, S./Elsner, J. (2009): Die zeitweise Entlassung von Arbeits- ein hohes Maß an politischem Geschick unerlässlich. Diese mikropolitischen kräften als Flexibilisierungsstrategie, Forschungsbericht für die Hans-Böckler- Fähigkeiten sind in der Umsetzung der Projektergebnisse, die in dieser Stiftung, Düsseldorf Hielscher, V./Ochs, P. (2009): Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öf- Studie nicht mehr untersucht wurde, noch bedeutsamer, weil die Akteure fentlichen Arbeitsverwaltung, in: Bothfeld et al., a.a.O., S. 178 – 190 die Umsetzung von Konzepten vor dem Hintergrund ihrer divergierenden Hiermig, B./Jaehrling, K./Kalina, T./Vanselow, A./Weinkopf, C. (2005): Stellen- Interessenlagen begleiten. Darin kann ein Grund für das Scheitern auch besetzungsprozesse im Bereich „einfacher“ Dienstleistungen, Berlin Jaehrling, K. (2009): Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft sehr einsichtiger Projekte liegen. Insofern sind mikropolitische Fähigkeiten oder Stiefschwestern?, in: Bothfeld et al., a.a.O., S. 147 – 160 und Analysen von zentraler Bedeutung für das Gelingen und das Verständ- Kalina, T./Weinkopf, C. (2010): Der Niedriglohnsektor in Ost- und Westdeutsch- nis des Erfolgs oder des Scheiterns reflexiver Regionalentwicklung. land, Bonn Aus einer wissenschaftlichen Perspektive hat sich die Verwendung der Struk- Kommission für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (2002): Moderne Dienstleistungen für den Arbeitsmarkt. Bericht der Kommission, Berlin turationstheorie bewährt, weil sie die unterschiedlichen Ansätze der Ar- Liebig, B./Nentwig-Gesemann, I. (2002): Gruppendiskussion, in: Kühl, S./ beitsvermittlung zu integrieren vermag und kontextsensitiv ist, was die Strodtholz, P. (Hrsg.): Methoden der Organisationsforschung. Ein Handbuch, Berücksichtigung und Analyse reflexiver Regionalentwicklung im Zusam- Reinbek bei Hamburg, S. 141 – 174 612 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2013-8-606 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 16.10.2021, 09:18:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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