Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...

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Jugendsektion und
                                                  Sektion für Landwirtschaft
                                                            am Goetheanum

                                    Atmen mit
                                der Klimakrise
                        ökologisch – sozial – spirituell

Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021
                                                                               1
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Inhalt                                                         Impressum
Editorial                                                  3   Herausgeber: Freie Hochschule für Geisteswissenschaft –
                                                               Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum und Jugendsektion
Ueli Hurter
                                                               www.sektion-landwirtschaft.org / www.youthsection.org
Vom Klimawandel zum Klimabruch                             4   Veranstaltungsorganisation: André Hach
Hans-Ulrich Schmutz                                            Redaktion: Verena Wahl
                                                               Titelsignet: Rudolf Steiner
Vom Individuum zur Gesellschaft – eine ganzheitliche
Perspektive für den Klimawandel finden                     6   Fotos: Christoph Arni: S. 18; Charlotte Fischer: S. 9, 16, 22, 24; Sun-
                                                               deep Kamath: S. 3 li; Xue Li: S. 7; Anet Spengler: S. 20; Paul Stender:
Lin Bautze und Adrian Müller
                                                               Titelbild, S. 3 re, 11, 21, 27-29; Jugendsektion: S. 13.
                                                               Grafiken im Text: wenn nicht anders angegeben von den jeweiligen
Die Erde ist die Substanz unseres Schicksals               9
                                                               Autoren
Constanza Kaliks und Ueli Hurter
                                                               Satz und Layout: Johannes Onneken
Spiritualität für unsere Erde                             14   Rechtliches: Mit der Übergabe des Vortragsmanuskriptes an den
Clement Vincent                                                Herausgeber stimmt der Autor und Inhaber des Urheberrechtes der
                                                               vollständigen oder teilweisen Veröffentlichung zu. Für die korrekte
Atmosphärisches Bewusstsein                               15   Bezeichnung geschützter Namen wird keine Haftung über-
Johannes Kronenberg, Petra Derkzen, Jean-Michel Florin,        nommen. Ungekennzeichnete Abbildungen sind zur Verfügung
                                                               gestellt. Nachdruck und Übersetzung bedürfen der Erlaubnis von
Ioana Viscrianu und Anet Spengler
                                                               Autor und Redaktion.
Michaelbrief «Von der Natur zur Unternatur»               16   Druck: WBZ, Reinach
Petra Derkzen, Johanna Lamprecht und Jakob Bergsma             Bezugsadresse: Sektion für Landwirtschaft, Hügelweg 59,
                                                               4143 Dornach, Schweiz, landwirtschaft@goetheanum.ch
Wie Kühe zu Partnerinnen werden                           20   und als PDF auf unserer Website: www.sektion-landwirtschaft.org
Anet Spengler und Ronja Eis                                    Copyright: Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft,
                                                               Dornach, Schweiz
Die lebendige Erde                                        22
                                                               Zitierhinweis: Sektion für Landwirtschaft (Hrsg.) (2021):
Charles Eisenstein                                             Wege zum Geistigen in der Landwirtschaft – Dokumentation zur
                                                               Tagung 2021 der Sektion für Landwirtschaft und der Jugendsektion
Future Labs                                               25   am Goetheanum in Dornach (CH)

Die digitale Tagung – Gespräch                            27

Der digitale Aufmerksamkeitsraum – Kommentar              29

Jahresthema 2021/2022                                     30
Die Qualität von biodynamischen Produkten
und was sie für die Erde und den Menschen bedeutet

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Vedisches Feuerritual während der Tagung in Indien                      Das Goetheanum im Schnee während der Tagung

Haben wir zu Atem gefunden an der Tagung und durch          Wir sind nicht alleine – die Kühe helfen uns. Im Beitrag
die Tagung? Denn das war die Hoffnung, die wir durch        von Anet Spengler wurde der Atem sichtbar, der pulsiert
den Titel «Atmen mit der Klimakrise» formuliert haben.      zwischen Kohlenstoff einatmenden Pflanzen und Kohlen-
Und das war auch als Anspruch gemeint, indem wir die-       stoff ausatmenden Tieren. Diese Symbiose ist klimaför-
sen möglichen Atem in drei Dimensionen gesucht haben:       dernd, nicht das Gras ohne die Kuh oder die Kuh ohne das
ökologisch, sozial, spirituell.                             Gras. Die wechselseitige Bezüglichkeit von Pflanzen und
Ja, es gab sie, die Momente des freien Atems an dieser      Tieren bringt erst das voll atmende Leben, erst so kann
Tagung. Für mich lebte ein tiefer Atem in dem Moment,       man berechtigt von Carbon Farming sprechen.
wo Clement Vincent aus Südindien sagte: «Nein, ich gehe     Wir haben einen Atem der Generationen entdeckt. Die
nicht weg aus dieser trockenen, unfruchtbaren Gegend.       Jungen sind gerade daran, sich einzuatmen in die Erdver-
Denn wenn ich wegginge, der Boden bleibt doch da, er        hältnisse, sie suchen den Boden, in dem sie biografisch
kann nicht weg. Wir gehören aber zusammen, der Boden        Wurzeln schlagen können. Die älteren Bauern und Bäue-
und ich, die Erde und wir Menschen.» Spirituell atmen       rinnen müssen lernen, den gesenkten Blick zu heben und
in der Klimakrise heisst: Ja zu sagen zu meiner scheinbar   zu einem atmosphärischen Bewusstsein zu kommen.
schwierigen Situation, denn sie bedeutet die volle Geis-    Eine Mutfrage für beide – aber der andere ist ja schon da,
tigkeit. Wo bin ich, wer bin ich, mit wem lebe ich, wohin   wo man selber hinwill.
gehe ich am Ende meines Lebens?                             An der Tagung war das öfter das Erlebnis – der andere
Durch die Tagung wehte auch ein Zukunft tragender           ist schon da, wo man selber hinstrebt. So kommt man
Atemhauch – die Erde ist ein Lebewesen. Zum Beispiel        vorwärts, jeder für sich und alle zusammen. Die Tagung
beim Beitrag von Hans-Ulrich Schmutz wurde durch die        schafft einen Atemraum und die digitale Form der Klima-
Tabellen und Grafiken hindurch spürbar: Hier atmet ein      tagung 2021 hat einen erdumspannenden Atmungsraum
Lebewesen. Es atmet schon lange, seit Jahrmillionen. Es     mit und für viele Menschen ermöglicht, die sich sonst
ist diesem Lebewesen gelungen, einen CO2 -Gehalt in der     nicht begegnet wären. Wir hoffen, in dieser Tagungsdo-
Atmosphäre herzustellen, der Leben vielfältigster Art       kumentation atmet etwas von diesem Geschehen.
ermöglicht. Helfen wir diesem atmenden Lebewesen,           Für das Team der Jugendsektion
seinen planetarischen Atemrhythmus wiederzufinden.          und der Sektion für Landwirtschaft
Diese Aufgabe ist zu schaffen und sie geht uns gemein-
                                                            Ueli Hurter
sam an, Junge und Landwirte.

                                                                                                                         3
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Die Zeichnung veranschaulicht die verschiedenen Geschwindigkeiten des Kohlenstoffwechsels in diesen vier Bereichen:
                            Erdkruste, Ozeane, Atmosphäre und durchlichtete Schicht der Oberfläche der Ozeane.

    Vom Klimawandel zum Klimabruch
    Hans-Ulrich Schmutz

    Das Phänomen, dem wir heute gegenüberstehen, ist mit               In der Rückschau auf die atmosphärischen Verhältnisse
    Klimawandel nicht mehr richtig zu bezeichnen. Das                  der Erde entdeckt man verschiedene Rhythmen, und das
    Klima war stets rhythmischen Wandlungen unterwor-                  ist wesentlich, um den heutigen Klimabruch zu verste-
    fen, aber mit denen hat die heutige Menschheit gebro-              hen. Drei grosse Rhythmen, die sich aus der Beziehung
    chen. Ein Bruch, für den man sich interessieren und                von Erde und Sonne ergeben, hat Nikolaus Kopernikus
    den man heilen muss.                                               bereits dargestellt. Zum Tages- und Jahresrhythmus
    Wer die Vergangenheit nicht würdigt, hat Schwierig-                gesellt sich der dritte, ganz langsame Rhythmus: dasje-
    keiten, die Zukunft zu gestalten. Darum ist es hilfreich,          nige, was wir als das Platonische Weltenjahr bezeichnen.
    die langen Entwicklungsphasen der Erde der letzten 500             Weiter wirken die langsamen Rhythmen: die Drehung
    Millionen Jahre zurückzuverfolgen, um das Heute zu                 der Absidenlinie, die Variation der Stellung der Drehach-
    verstehen. Man kann erkennen, dass die Erde trotz unter-           se und die Exzentrizität der Erd-Sonnen-Bahn. All diese
    schiedlichster Vegetation und Tierwelt stets eine Wärme-           Rhythmen überlagern sich gegenseitig. Man kann durch
    autonomie hatte, in der die Schwankungen der mittleren             die Messungen an Eisbohrkernen und Meeressedimenten
    Temperatur fünf Grad Celsius mehr oder weniger betru-              erkennen, wie sich diese Rhythmen vollzogen haben,
    gen. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre war jedoch              wenn auch eher musikalisch und nicht mechanisch
    vor 500 Millionen Jahren viel höher und sank dann rapi-            gleich: Auf jede grosse Eiszeit folgte ein sehr schneller
    de bis zur sogenannten grossen Lebenskrise auf der Erde            Temperaturanstieg in eine Warmzeit und dann in vier
    vor ca. 250 Millionen Jahren. Danach entwickelten sich             beweglichen Stufen ein rhythmischer Temperaturabfall
    erstmals Säugetiere und später die Blütenpflanzen.                 in die nächste Eiszeit. Vor ca. 10.000 Jahren begann die
                                                                       letzte Warmzeit. Die Werte des im Eis eingeschlossenen

4
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Kohlendioxids begleiten dieses An-
steigen und Absteigen der Temperatur
in einem parallelen Verlauf mit relativ
kleinen Schwankungen.
Aufgrund dieser Rhythmen hat die
Erde bereits vor einigen Hundert
Jahren den Impuls für eine neue Eis-
zeit erhalten. Das ist dokumentiert
in der sogenannten kleinen Eiszeit,
die bis 1850 andauerte. Es ist nicht
ein Ursache-Wirkungs-, sondern ein
Beziehungsdenken in Rhythmen, mit
dem man das verstehen kann. Diese
grossen, kosmischen Rhythmen ver-
ursachen die Eis- und Warmzeiten
nicht, sondern sie impulsieren sie. Für
das Zustandekommen des impulsier-
ten Wechsels braucht es noch andere
                                                   Darstellung der globalen Temperaturveränderung der letzten 10.000 Jahre
Bedingungen auf der Erde selbst.
                                                                 aus Marcott, S. A. (2013): Science 339, 8.3.2013
Über mehrere Hundert Millionen Jah-
re wurde Kohlendioxid in der Erden-
tiefe in Kohle, Gas und Erdöl verwan-                        Dabei zeigen die kosmischen Rhythmen in die Richtung
delt und somit aus der Atmosphäre entfernt. Diese Stoffe     einer Tendenz der Abkühlung. Das ist der Klimabruch.
sind in einer vergleichsweise rasanten Geschwindigkeit
                                                             Brüche können geheilt werden, wenn man sich Mühe gibt
zu einem Drittel zutage gefördert und verbrannt worden
                                                             und sich für das Brechen interessiert. Wir haben also die
und somit ist der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre
                                                             Aufgabe, uns für die Stellen, die zum Klimabruch geführt
wieder stark angestiegen.
                                                             haben, zu interessieren. Das gilt auch für andere Bereiche
Der langsamste Rhythmus des Kohlenstoffwechsels              wie zum Beispiel für das aktuelle Artensterben, das heute
auf der Erde wurde durch die massive Ausbeutung der          etwa 10.000-mal schneller abläuft als frühere Artenster-
fossilen Brennstoffe in den letzten 150 Jahren gebrochen.    ben in der Erdgeschichte. Wir bräuchten neue Formen
Wir haben heute Kohlendioxidwerte, die so hoch sind          der denkenden Zuwendung zur Erde. Wir müssten vom
wie zuletzt vor sieben Millionen Jahren. Während durch       intellektuellen, maschinellen Denken wegkommen hin
Atomkraft, Solarenergie und Energiesparen die Um-            zu einem Denken, das bewegte Begriffe wie Rhythmus,
wandlung fossiler Brennstoffe in den letzten 30 Jahren       Metamorphose, Leben und Entwicklung bildet. Dieses
zwar weniger schnell angestiegen ist, steigt der Kohlen-     bewegliche Denken ist die Quelle für die Einsicht in die
dioxidgehalt in der Atmosphäre und in den Weltmeeren         Notwendigkeiten und das daran anschliessende Han-
immer noch dramatisch an. Denn seit etwa 1985 gibt es        deln. Ohne bewegliches Denken haben wir keine Chance;
wegen des zunehmenden Eintrags von Kohlendioxid und          technische Lösungen sind nur vorübergehende Symp-
damit einer zunehmenden Versauerung des Wassers              tombekämpfungen. Denn Beweglichkeit des Denkens
einen Umschwung in den Meeren. Die Lebensverhältnis-         führt zur Beweglichkeit des Fühlens und Wollens. Ich
se für das Plankton und die Mikroben wurden schlechter       hoffe, dass wir aus diesen menschlichen Kräften die Mög-
und somit die Umwandlung von Kohlendioxid in Biomas-         lichkeit haben, die Wende zu schaffen. Der Klimabruch
se gehemmt.                                                  ist die Aufforderung an den Menschen, zu einer neuen
Die schnelle Erwärmung der Erde kann nicht natürlich         Beziehung zur Erde zu gelangen und sich zu wandeln. Es
erklärt werden, denn die kosmischen Rhythmen zeigen          gibt viel zu tun, packen wir es an!
eine neue Eiszeit an – die Erwärmung ist menschenge-
macht. Auf einer Grafik der Temperaturentwicklung der
letzten 10.000 Jahre wechselt der Kurvenverlauf in den
letzten 100 Jahren von einer auf- und absteigenden Welle
zu einem senkrechten Anstieg.

                                                                                                                             5
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Vom Individuum zur Gesellschaft
    eine ganzheitliche Perspektive für den Klimawandel finden
    Lin Bautze und Adrian Müller

    Das Klima in einer globalisierten Welt                      Dies stellt jedoch nicht das gesamte Bild dar. Indirekte
                                                                Emissionen aus der Produktion von Agrochemikalien wie
    In den letzten Jahren und angesichts der Covid-19-Pan-
                                                                Düngemitteln, Pestiziden und Herbiziden sowie Emissio-
    demie wird uns mehr denn je bewusst, dass wir in einer
                                                                nen aus Transport, Heizung, Maschineneinsatz, Land-
    globalisierten Welt leben. Wir sind auf vielen Ebenen
                                                                nutzung, Landnutzungsänderung und Lagerung sowie
    miteinander verbunden: durch das Klima, die Atmosphä-
                                                                Emissionen aus dem Verbrauch und der Verschwendung
    re, unsere Böden, die biologische Vielfalt, unsere Wirt-
                                                                von Lebensmitteln werden im Agrarsektor nicht berück-
    schaft und die Menschen, die in dieser Welt leben. Leider
                                                                sichtigt.
    haben wir die natürlichen Ressourcen, von denen wir ab-
    hängig sind, in hohem Masse übernutzt und ausgebeutet.      Wenn man diese integriert, trägt der Anteil der globalen
    Neben ausgelaugten landwirtschaftlichen Böden, einem        Emissionen aus Lebensmittelproduktion, -verarbeitung,
    stetigen Rückgang der Artenvielfalt und einer zuneh-        -lagerung und -konsum einen viel grösseren Anteil zu
    menden Verschmutzung von Gewässern hat auch unsere          den globalen Emissionen bei als die alleinigen Emissio-
    Atmosphäre einen grossen Anteil an unseren nicht nach-      nen aus der landwirtschaftlichen Produktion. Daher ist
    haltigen Bewirtschaftungspraktiken auffangen müs-           es unerlässlich, die verschiedenen indirekten Emissions-
    sen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die globalen    quellen des Lebensmittelsystems zu integrieren, um zu
    Temperaturen steigen. Dies hat unterschiedliche, aber       erkennen, wo und wie Emissionen in Zukunft reduziert
    meist negative Auswirkungen auf die landwirtschaftli-       werden können.
    che Produktion, die Infrastrukturen und die menschliche     Gleichzeitig ist es wichtig, den Blick auf die Nachhaltig-
    Gesundheit. Auch wenn das Ausmass der Auswirkungen          keit über die Emissionsreduktionsziele hinaus zu erwei-
    von Region zu Region unterschiedlich sein wird, werden      tern. Die Anpassung an den Klimawandel, der Aufbau
    die Folgen für unsere Ernährungssysteme lokal und glo-      von Resilienz, die Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit und
    bal herausfordernd sein, wenn wir nicht jetzt reagieren     die Steigerung der Biodiversität sollten neben einem
    und das aktuelle System ändern.                             gerechten und gleichberechtigten sozialen, wirtschaftli-
    Wir erkennen zunehmend, dass die Trennung von der Na-       chen und politischen System gleichrangige Ziele werden.
    tur, wie sie in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu     Daher müssen eine nachhaltige Landwirtschaft und ein
    beobachten war, keine Lösung mehr für unsere mensch-        nachhaltiges Lebensmittelsystem der Zukunft die ver-
    liche Gesellschaft sein kann. Wir müssen erkennen, dass     schiedenen Dimensionen der allgemeinen ökologischen
    wir nicht unabhängig von den Ressourcen der Natur sind.     Nachhaltigkeit und der wirtschaftlichen und sozialen
    Stattdessen sollten wir drastisch und schnell die mensch-   Gerechtigkeit umfassen.
    lichen Kapazitäten zur Heilung der Erdatmosphäre, der
    Natur um uns herum und unseres sozialen Klimas als          Biodynamische Landwirtschaft und
    Menschen investieren, um das derzeitige System zu ver-      Nachhaltigkeitsentwicklungsziele
    bessern.                                                    Auf den ersten Blick scheint die Kombination dieser ver-
                                                                schiedenen Nachhaltigkeitsdimensionen eine komplexe
    Reicht die Landwirtschaft als Perspektive aus?              Herausforderung zu sein. Glücklicherweise ist es wissen-
    Wenn wir das laufende Gefüge verändern wollen, müssen       schaftlich erwiesen, dass die biologische und biodynami-
    wir uns zunächst klarmachen, wie das derzeitige System      sche Landwirtschaft Emissionen reduziert und gleichzei-
    beschaffen ist. Bisher werden global und lokal die Emis-    tig die Bodenfruchtbarkeit erhöht, die Biodiversität und
    sionen der landwirtschaftlichen Produktion vor allem        die Gewässer schützt und einen fairen Preis für landwirt-
    auf die Treibhausgasemissionen aus der Tierhaltung und      schaftliche Güter unterstützt.
    der Bodenbewirtschaftung zurückgeführt.                     Die ökologische und biologisch-dynamische Landwirt-
                                                                schaft reduziert die energie- und damit kohlenstoff-

6
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Lin Bautze und Adrian Müller während des Vortrags

intensive Produktion und den Einsatz von künstlichen          wirtschaft bereits existieren, stellt sich die Metafrage:
Stickstoffdüngern. Gleichzeitig wird die Anzahl der           Warum nutzen wir nicht bereits Ansätze, die nicht schäd-
gehaltenen Tiere durch gesetzliche Zertifizierungsstan-       lich und nachweislich erfolgreich für die Nachhaltigkeit
dards weltweit verringert. Weiterhin haben Vergleichs-        unserer Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sind?
studien von Langzeitversuchen mit konventionellen,            Dieses ganzheitliche Denken kann einerseits unsere
ökologischen und biodynamischen Praktiken gezeigt,            Sichtweisen herausfordern. Es fordert uns zu einer ge-
dass biodynamische Produktionssysteme mehr Kohlen-            meinsamen Anstrengung und Verantwortung in einer
stoff im Boden binden und über Landschaftselemente            kurzen Zeit auf. Diese Perspektive geht weg vom indivi-
(zum Beispiel Hecken) und Agroforstsysteme mehr               dualistischen Denken, hin zu einem kollaborativen An-
Kohlenstoff in Biomasse assimilieren. Auch Ideen der          satz. Sie fordert uns auf, individualistisch aus unserem
Kreislaufwirtschaft werden zusammen mit emissions-            freien Willen heraus zu handeln, aber gleichzeitig global
reduzierenden Praktiken unterstützt, wie beispielsweise       zu denken und zu fühlen, um die ganze Welt in unser
die Förderung saisonaler und regionaler Produktions-          Denken und Handeln einzubeziehen.
und Konsummuster.
                                                              Auf der anderen Seite brauchen wir vielleicht Beispiele
Die Forschung sagt uns aber auch, dass das Potenzial          von Menschen, die das vorhandene Wissen in konkrete
ökologischer und biologisch-dynamischer Produktions-          Strategien, Pläne und Handlungen bringen beziehungs-
systeme nicht alleine für den Wandel stehen kann. Um          weise gebracht haben. Menschen, die uns dabei helfen, zu
eine nachhaltige Zukunft zu erreichen, muss sich jede*r       visualisieren, wie Veränderung möglich ist und welche
Einzelne von uns auf dieser Welt engagieren. In einigen       Erfolge und Misserfolge sie auf dem Weg der Umsetzung
Teilen der Welt brauchen wir drastische Veränderungen         hatten.
in der Ernährung hin zu einem viel geringeren Anteil an
                                                              Aus diesem Grund wurde das Projekt Living Farms von
Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs und wir benöti-
                                                              der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum initi-
gen eine deutliche Reduzierung der globalen Nahrungs-
                                                              iert. Hier wird ein Portfolio verschiedener biologisch-
mittelverschwendung. Wenn wir die Welt mit biologi-
                                                              dynamischer Orte aus der ganzen Welt vorgestellt. Ihre
schen und biodynamischen Lebensmitteln ernähren
                                                              Ideen für eine nachhaltige Landwirtschaft in der nahen
wollen, können wir es uns nicht leisten, weiterhin 30
                                                              Zukunft werden über kurze Dokumentationsvideos zu-
Prozent der produzierten Lebensmittel im globalen Mass-
                                                              sammen mit der Vielfalt der Anbausysteme visualisiert.
stab zu verschwenden.
                                                              Damit helfen diese Personen, Wissen in konkrete Hand-
Vom Wissen in die Transformation                              lungen zu übertragen. Handlungen, die auf Höfen oder
                                                              als Individuen in unserer Gesellschaft anwendbar sind.
Wenn man erkannt hat, dass eine globale Bemühung
                                                              Unabhängig von der Lage, den aktuellen Betriebssyste-
notwendig ist, um die oben genannten Ziele zu erreichen,
und dass Lösungen wie die biologisch-dynamische Land-

                                                                                                                          7
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Landnutzung

                                                  Pestizide                                                       Entwaldung

                                         Wasser                                                                               Treibhausgas
    Unser globales Ernährungs-                                                                                                Emissionen
    sytem produziert ohne Ver-
    änderungen bis 2050 zu viele
    Treibhausgasemissionen (rote
    Linie). Konventionelle Landwirt-
    schaft (blaue Linie) und organi-
    sche Landwirtschaft (gelbe Linie)
    können die Emissionen reduzie-         Energie                                                                         N - Stickstoff
    ren. Dafür müssen Lebensmittel-
    abfälle reduziert werden (-50%)
    und der Kraftfuttereinsatz im kon-
    ventionellen Landbau komplett
    eingestellt werden.                                       Erosion                                P - Phosphor                  Muller et al. 2017*

    men oder von der Frage, wo der Mensch in der Debatte um             oder Ihre Weltanschauung Sinn ergeben. Bleiben Sie
    Klimawandel und Resilienz steht.                                    bei Ihren Überzeugungen, aber testen Sie neue Dinge
    Einige der — bis jetzt — gelernten Erfahrungen von die-             auf eine angemessene, wirtschaftlich sinnvolle Weise.
    sen Höfen sind:                                                     Tun Sie lieber jeden Tag etwas Kleines, anstatt gar
                                                                        nichts zu tun. Testen Sie zum Beispiel eine neue Kul-
    • Beobachten, reflektieren und anpassen! Nehmen Sie
                                                                        turpflanze auf zehn Prozent der Fläche.
      Ihre Landschaft, Ihren Betrieb oder Ihre Person wahr.
      Wo stehen Sie? Was sehen Sie? Was hat sich mit der           • Kommunizieren Sie und teilen Sie Ihre Geschichte!
      Zeit verändert? Wenn Sie es lieben, bleiben Sie dabei.         Teilen Sie Ihre Erfolge und auch die Fehlschläge. Las-
      Wenn Sie das Gefühl haben, dass eine Veränderung               sen Sie andere an dem Prozess teilhaben, um gemein-
      notwendig ist, dann tun Sie das. Wenn Sie es nicht än-         sames Wissen zu entwickeln, wie wir unser laufendes
      dern können, lassen Sie es los und lassen Sie es gehen.        System verbessern können.*
      Das kann bedeuten, dass Sie Ihr Leben, Ihre landwirt-        • Engagieren Sie sich mit anderen zusammen! Organi-
      schaftlichen Entscheidungen und Ihre Organisations-            sieren Sie sich mit Gleichgesinnten, um Unterstützung
      strukturen an Ihre Bedürfnisse und die Ihrer Umge-             von Netzwerken oder Gemeinschaften um Sie herum
      bung anpassen müssen.                                          zu erhalten. Dies hilft Ihnen, Ihre soziale, ökologische
    • Bewegen Sie sich ausserhalb Ihrer Komfortzone!                 und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.
      Treten Sie in Kontakt mit Menschen ausserhalb Ihrer          Einige dieser Lektionen lassen sich leicht in unserem All-
      eigenen Arbeitsfelder. Lassen Sie sich von ihnen in-         tag anwenden, während andere vielleicht Zeit brauchen,
      spirieren und nutzen Sie dadurch die Chance, sich oder       um auf individueller und gesellschaftlicher Ebene umge-
      Ihren Betrieb weiterzuentwickeln.                            setzt zu werden. Wenn wir jedoch diesen kollaborativen
    • Seien Sie neugierig! Nutzen Sie Ihre angeborene              Ansatz wählen, um unsere Verantwortung für die globa-
      Neugierde und testen Sie neue Dinge, Methoden und            len Herausforderungen zu übernehmen, können wir aus
      Systeme.                                                     dem laufenden Schema herauswachsen, hin zu einem
                                                                   gesunden Lebensmittelsystem mit gesunden Atmosphä-
    • Seien Sie mutig, aber bleiben Sie vernünftig! Manch-
                                                                   ren, Böden und Gesellschaften. Um in der Postklimakrise
      mal werden Sie Veränderungen vornehmen müssen,
                                                                   endlich wieder durchatmen zu können.
      die für den Rest der Gesellschaft sehr ungewohnt sind,
                                                                   * Muller, A., Schader, C., El-Hage Scialabba, N. et al. Strategies for feeding the
      aber aus einer breiteren Perspektive für Ihren Betrieb         world more sustainably with organic agriculture. Nat Commun 8, 1290 (2017).
                                                                     https://doi.org/10.1038/s41467-017-01410-w

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Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Erde und Himmel

Die Erde ist die Substanz unseres Schicksals
Constanza Kaliks und Ueli Hurter

Der Dialogvortrag hatte polare Ausgangspunkte – Ueli       noch eine Frage: Meinst du, es ist der Klimawandel? So ist
Hurter startet als Landwirt bei der Gebundenheit an        es heute klar: Es ist Klimawandel.
den Erdenboden, Constanza Kaliks als Vertreterin der       Der gesenkte Blick hebt sich. Wenn von oben nichts mehr
Jugend nimmt den Ausgangspunkt im noch nicht Irdi-         oder Zerstörendes kommt, muss ich den Blick heben.
schen, im Kommenden. Im mittleren Beitrag begegnen         Denn dann kommt der landwirtschaftliche Ertrag nicht
sich beide Gesten in der sozialen Dimension des The-       mehr vom Boden, sondern vom Himmel. Wir müssen
mas. In den dritten Voten, die die spirituelle Dimension   lernen, durch Erfahrungen, durch Schäden, durch Nach-
ansprechen, findet die Jugend die Entscheidung zur         denken. Die Bilder stimmen nicht mehr, ich muss sie
Erdenteilhabe und die Landwirtschaft entdeckt das          revidieren und mir neue schaffen.
Atmosphärische als das geistig Fruchtbare.
                                                           Altes Bild: Die Pflanze wächst von unten nach oben.
                                                           Neues Bild: Die Pflanze wächst von oben nach unten.
Auf der Erde sein – den Himmel suchen.
                                                           Das kann ich nicht sehen, trotzdem ist es wahr. Ich kann
Vom Landwirt zum Klimawirt                                 schrittweise mein Verständnis erweitern: Aus Licht, Luft
                                                           und Wärme bildet die Pflanze durch die Assimilation
Ueli Hurter: Als Bauer ist mein Blick abwärtsgerichtet.
                                                           ihren grünen Leib und bildet Zucker und Stärkesubs-
Ich arbeite mit der Erde. Die Früchte des Bodens sind
                                                           tanzen. Sie wächst wörtlich von oben nach unten. Dann
mein Ertrag. Auf diesem Boden bin ich verwurzelt. Die
                                                           schickt sie diesen Substanzstrom nach unten. Ein erheb-
Geschichte dieses Stücks Erde ist auch meine Geschichte.
                                                           licher Teil davon wird durch die Wurzelhaare ausgeschie-
Jahr für Jahr und Generationen zurück haben wir diesen
                                                           den. Die süssen Lichtsubstanzen der Pflanzen erwecken
Boden gepflegt, aufgebaut, fruchtbar gemacht.
                                                           den Boden zum Leben. Dieses Bodenleben löst Substan-
Jetzt erlebe ich im Frühjahr 2017, dass der Boden ausge-   zen wie Kalium oder Calcium aus dem Mineralboden und
dörrt ist, dass die Sonne ihn nicht wärmt, sondern aus-    stickstoffhaltige Proteine aus dem Bodenhumus. Diese
brennt, dass schon im April eine Staubwolke aufsteigt,     salzigen Erdsubstanzen werden von den Wurzeln auf-
wenn die Kühe auf die Weide gehen. Schon vorher musste     genommen und nach oben geschickt. Durch die Pflanze
ich erleben, im Frühsommer 2016, dass der Boden im         können das Erdige und Wässerige ins Leben gerufen
Kartoffelfeld abgeschwemmt wurde durch einen Starkre-      werden, denn sie ist eine himmelgeborene und die Erde
gen. Das sind keine Ausnahmefälle. Auf unseren Reisen      hat sie angenommen. Ich lerne, den Blick zu heben – die
in viele Regionen unserer Erde erzählen uns die Bauern     Pflanzen wachsen von oben nach unten.
und Bäuerinnen Ähnliches. War es vor ein paar Jahren

                                                                                                                        9
Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
Das ist ein neuer Blick für mich als Bauer, als Landwirt.      Die Erde wollen – zur Erde kommen. Gewollt sein
     Ich lerne: Ab jetzt ist Landwirtschaft auch Klimawirt-
                                                                    Constanza Kaliks: Auf dieser Erde werden die Bedin-
     schaft. Zu soundsoviel Hektar Boden gehört auch ein Teil
                                                                    gungen gefunden werden müssen, zu sein. Hier, in diese
     Wetter, gehört auch Klima, gehört auch Himmel. Damit
                                                                    vom Menschen transformierte Erde und ihr Klima wird
     bin ich genauso verbunden wie mit dem Boden. Aber
                                                                    sich mein Schicksal einschreiben. Klimajugend: Wird die
     Sonne, Wolken und Winde gehören nicht mir wie der Bo-
                                                                    Erde imstande sein, zu erlauben, dass sich mein Schicksal
     den, ich bin aber genauso verantwortlich für sie wie für
                                                                    in sie einschreibt? Bedingungen des Seins schaffen, Be-
     meinen Boden. Ich werde vom Bodenwirt zum Klimawirt.
                                                                    dingungen für die Realisierung von Potenzialität.
     Und wie ist es mit meinen lieben Kühen? Wie kann ich sie
                                                                    Das Eintreten in das Leben ist uns als Menschengattung
     neu sehen? Wenn die Herde da liegt auf der Weide, fried-
                                                                    nur möglich durch die Fürsorge der Umgebung. Auf die
     lich und verträumt und stundenlang wiederkäut, dann
                                                                    Erde kommen ist eintreten im Raum des Angewiesen-
     habe ich als Klimawirt scheinbar ein Problem, denn eine
                                                                    Seins – es ist ein ökologischer Akt. Wir brauchen die
     Wolke von Methangas dampft auf von der Kuhherde und
                                                                    Hülle des Anderen, wir müssen gewollt sein, geliebt sein.
     schlägt negativ zu Buche in der Klimabilanzrechnung.
     Selbst unsere Kollegen von WWF und Greenpeace sind             Dieses Empfangen derjenigen, die auf die Erde kommen,
     der Überzeugung: Die Kühe sind klimanegativ. Und wenn          ist ein ständiger Auftrag an die Gesellschaft. Sind wir
     man mit heutigen Normzahlen rechnet, dann hat die              imstande, diesem Auftrag zu entsprechen?
     einzelne Kuh eine negative Klimabilanz.                        Es ist die Frage an die unmittelbare Umgebung – aber
     Mit meinem neuen Blick kann ich sehen, dass die Kuh            auch die Frage an die Gegenwart. Welche Verantwortung
     eigentlich ganz leicht ist. Sie trägt ja die von oben gebil-   übernehmen wir als Gesellschaft dafür, dass diejenigen,
     dete pflanzliche Himmelssubstanz in sich. Sie trägt den        die auf die Erde kommen, ihren Erneuerungsimpuls,
     Himmel in ihrem grossen Bauch. Sie fliegt fast davon.          durch den sich die Welt erhält und nicht zerfällt, diese
     Darum muss sie das Methan ablassen, damit sie auf dem          Kraft des Kommenden, des Werdenden, Bedingungen
     Boden bleibt, damit sie in ihrem Mist für die Erde die         finden, die ihnen erlauben, das noch nicht Dagewesene in
     Humusbildekraft verdichten kann. Sie erwirkt mit ihrer         das Werden der Welt hineinzubringen, es in die Wirklich-
     Kreislaufkraft, über Futter, Verdauung, Mist, Kompos-          keit hineinzuweben?
     tierung, Boden, Pflanzenwachstum, dass wir überhaupt           Erziehung vollzieht sich immer in der Spannung zwi-
     am Ort sesshaft sein können. Ohne die Kuh müssten wir          schen Erhaltung, Konservation und Verwandlung, Trans-
     alle Nomaden sein, Jäger und Sammler. Das ist man auch,        formation. Wir erzählen das Gewordene, das Gewordene
     wenn man jung ist. Aber wenn man Wurzeln schlagen              zu lernen ist sich einschreiben im Werden des Menschen.
     will, dann braucht man eine Kraft, die die ganze Welt an       Kann dieses sich Einschreiben so vollzogen werden, dass
     einem Ort zusammenzieht. Der eine Ort wird zum Reprä-          es eine Handreichung ist zu dem, was noch nicht erzähl-
     sentanten der ganzen Erde. Dazu ist die Kuh die grosse         bar, weil eben neu eintretend ist?
     Helferin. Sie bringt den ganzen Himmel auf einen Punkt
                                                                    Diese schon gewordene Welt ist für das Neugeborene
     und in den Boden. Und damit entsteht ein Ort, wo ich Ich
                                                                    wie eine Hülle – eine physische Hülle, aber auch eine
     sein kann, weil eine Lebenshülle mich hält und trägt.
                                                                    seelische Umhüllung. Von Anfang an ist die Tatsache,
     Eine tätige Klimaökologie braucht Orte, die eine Hülle         dass andere Menschen sind, dasjenige, was das eigene
     haben, wo das grosse Verhältnis von Erde und Klima sich        Menschwerden und Menschsein erlaubt. Hülle ist Wär-
     örtlich gestaltet im Sinne eines Genius Loci.                  me, ist Bejahung der Existenz des Anderen, ist liebende
     Klimawirt sein heisst, das grosse Erdenklima am einzel-        Hinwendung.
     nen Ort, wo ich tätig bin, auf einem Stück Boden hinein-       Diese ist immer konkret: Sie wendet sich diesem einen
     strömen zu lassen, einzuatmen in das Lebensgeschehen           Unverwechselbaren zu.
     des Hofes, um es nicht zu verbrauchen, sondern mit
                                                                    Wenn Millionen Kinder heute hungern, wenn Millionen
     neuen Lebenskräften versehen wieder auszuatmen. Als
                                                                    Kinder heute nicht in die Schule gehen können, weil sie
     Klimawirt habe ich die Aufgabe, einen Regenerations-
                                                                    arbeiten müssen oder weil die Umgebung es ihnen nicht
     ort zu bewirtschaften für das Klima. Und ich frage, liebe
                                                                    erlaubt, wenn Millionen Kinder mit auf der Flucht sind,
     junge Generation, könnt ihr uns helfen, dieses neue Bild
                                                                    so ist unsere Hülle nicht gegeben.
     zu realisieren?
                                                                    Die Hülle schaffen ist die Ökologie im umfassenden Sinn.
                                                                    Die Bedingung des Seins, die punktuell auf dieses Kind

10
Constanza Kaliks während des Vortrags

sich bezieht, ist von Beginn an eine ökologische Frage:                             Frage: Wie werden die Kinder, die jungen Menschen ge-
Dass dieses eine Kind die Hülle nicht bekommen kann,                                sehen, wahrgenommen, gehört? Wer sieht mich und zwar
dass es nicht erfahren kann, dass es gewollt wird, ist                              so, dass ich wissen kann, dass ich bin?
durch alle Umstände unserer Gegenwart bedingt.                                      Millionen von Kindern und jungen Menschen können
                                                                                    jetzt nicht zur Schule gehen – und haben nicht einmal die
Auf der Erde leben – sehen lernen –                                                 Möglichkeit, in digitalen Formen zu erleben, dass man
gesehen werden                                                                      um sie weiss. Für das Bewusstsein der Institution, die
«Kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich;                            den Auftrag der Gesellschaft bekommen hat, die Kinder
jedes Seiende soll von jemand wahrgenommen werden.                                  die Schönheit, die Vielfalt der Welt sehen zu lernen, sind
Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern                                   Millionen von Kindern unsichtbar. Sie wissen sich nicht
Menschen. Die Mehrzahl (Pluralität) ist das Gesetz der                              gesehen.
Erde.»*                                                                             Und nicht nur Kinder sind unsichtbar. Millionen von
Wächst das Neugeborene, so kommt es in das Kindheits-                               Menschen sind tagtäglich betroffen von existenziellen
alter. Jetzt ist die Bedingung seines Seins auch, gesehen                           Entbehrungen. Die Armut, die Vereinzelung in allen
zu werden, wahr- und ernst genommen zu werden in                                    Formen macht Menschen unsichtbar.
dem, wie es ist, wie es sich zeigt. Und es lernt, zu sehen.                         Junge Menschen weltweit stehen vor einer Zukunft mit
Zu sehen, dass es eine grosse Welt gibt, reich an allen Er-                         sehr geringen Hoffnungen: Dadurch, dass sie nicht zur
scheinungsformen, eine Welt, für die man lernen möch-                               Schule gehen, wird ihnen die Möglichkeit, arbeiten zu
te, für die man zu sein lernen will. Eine Welt, die mich                            können, sehr wahrscheinlich verschlossen bleiben.
staunen lässt – in ihrer Vielfalt, in ihrer unwahrschein-
                                                                                    Diese Menschen sind die ersten Betroffenen durch Klima-
lichen Schönheit, in ihren immer neu zu entdeckenden
                                                                                    katastrophen, die ersten Betroffenen im Schulausfall, der
Horizonten und auch in den sich öffnenden und offenba-
                                                                                    ja für Millionen von Kindern auch bedeutet, die täglichen
renden Abgründen.
                                                                                    Mahlzeiten, die sie nur in der Schule bekommen, nicht
Können wir noch staunen? Versetzt uns die Wirklich-                                 mehr zu haben.
keit in Staunen, ein Staunen, das uns die Wirklichkeit
                                                                                    Audrey Azoulay, Generaldirektorin der UNESCO, sagte
wünschen lässt, das in uns die Sehnsucht, für und mit
                                                                                    am 25. März 2020 in einer Ansprache, in der jetzigen
der Wirklichkeit der Welt zu sein, immer erneut erleben
                                                                                    Situation sei eine weltweite Koalition für die Erziehung
lässt?
                                                                                    gefordert, in der Innovation, Partnerschaft und Solidari-
Hat die Klimakrise die Frage ins Zentrum gestellt, ob der                           tät notwendig seien.
Raum existieren wird, der das Gewolltsein ermöglicht,
                                                                                    Die Erziehung ist eine soziale Frage – das war vor 100
so stellen die Pandemie und ihre Folgen der Isolation die
                                                                                    Jahren Rudolf Steiners Ausgangspunkt für seinen päd-
* Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 29. «Die Pluralität ist das Gesetz der Erde».   agogischen Ansatz. Das Hineinkommen in die Vielfalt

                                                                                                                                                 11
der Welt ist eine Frage an die Gesellschaft – sie muss es      ten sie durch das grosse Land zurück in ihr Dorf. Wieso?
     verantworten, dass ein jeder sich gesehen weiss.               Weil dort – wenigstens der Hoffnung nach – Land ist. Ein
     Findet das nicht statt, stockt der Atem.                       Stück Erde gibt mir meine Menschenwürde. Was bin ich
                                                                    schon als Mensch, ohne Zugang zur Erde, zum Boden?
     Wie können wir sozial atmen?                                   Gegenüber dem Boden sind wir einzeln – gegenüber dem
     Hurter: Ja, der soziale Atem stockt. Ja, das soziale Klima     Klima, dem grossen Erdklima und dem pandemischen
     stockt. Können wir es halten oder entgleitet uns der so-       Virenklima, sind wir gemeinsam. Wie können wir das
     ziale Zusammenhalt? Gerade zwischen uns als ältere und         realisieren im Sozialen?
     jüngere Generationen?                                          Das Essen kommt von der Erde einerseits, ist eine Him-
     Ich bin ein älterer Bauer. Und ich habe Sympathien mit         melsgabe andererseits, das Geschenk eines gesunden
     der Klimajugend. Wenn ich genauer hinhöre, heisst es:          Klimas. Und für das Klima sind wir gemeinsam verant-
     «Es gibt eine ultimative Notwendigkeit für Notmassnah-         wortlich. Können wir das? Finden wir zu diesem gemein-
                                       men gegen den Klima-         samen Willen? Wir brauchen einen neuen «contrat soci-
                                       kollaps. Die Wissenschaft    al», so hat Jean-Jacques Rousseau das genannt. Er meinte
   Die Konferenz öffnete
                                       hat das bewiesen.» In        damit eine soziale Willenskraft, von allen und für alle.
      mir die Augen für
                                       dieser Weise spricht Greta   Aber das Essen kommt auch vom Boden. Gegenüber dem
     eine neue Welt des                Thunberg und viele mit       Boden sind wir nicht alle gleich. Die einen haben Boden,
    landwirtschaftlichen               ihr. Damit habe ich Mühe.    die anderen nicht, die einen haben viel, die anderen we-
 Handelns. Ich bin genährt             Rennen wir so nicht gera-    nig, die einen haben guten Boden, die anderen schlech-
                                       dewegs in einen sozialen     teren Boden ... So wie wir vor dem Klima gleich sind, so
   von den Vorträgen, in
                                       Kollaps? Sollen wir das      sind wir vor dem Boden ungleich. Zwischen Himmel und
   denen es um die Kraft               soziale Klima vergewalti-    Erde, zwischen Klima und Boden entsteht die Nahrung.
  der Menschen ging, um                gen, um das ökologische      Aber die Nahrung entsteht nicht für alle, sondern für
 die Verbindung zwischen               Klima zu retten? Ich         jeden. Wir sind viele Einzelne gegenüber der Nahrung.
   Mensch und Kosmos,                  weiss, das ökologische       Habe ich den Apfel gegessen, ist er weg. Aber alle Äpfel
                                       Klima kann nicht warten,     wachsen und reifen unter demselben Himmel in dem-
     unabhängig von der
                                       aber das soziale Klima       selben Klima. Sozial brauchen wir einen neuen Atem
            Religion.                  ist auch fragil. Jeder ist   zwischen dem, wo wir verschieden sind, und dem, wo wir
              Luong                    für sich eine Welt, jede     gleich sind.
                                       Gruppe hat ihre Prioritä-
     ten, jede hat für sich recht. Wie können wir diese Vielfalt    Entscheidung zur Teilhabe: Die Erde ist die
     akzeptieren, schützen, fördern und gleichzeitig gemein-        Substanz meines Schicksals
     sam wollen?
                                                                    Kaliks: Jetzt kommen wir zu dem, was die Bedingung ist
     Das ist eine echte Frage. Ich habe keine Antwort. Aber ich
                                                                    des Seins in diesem Raum, in dem wir verschieden sind
     weiss, dass man im Sozialen immer atmen können muss.
                                                                    und gemeinsam.
     «Atmen mit der Klimakrise» hiess unsere Tagung. Atmen
                                                                    Konnte das Neugeborene sich gewollt, sich geliebt wissen,
     heisst einatmen – ausatmen. Heisst zuhören – sprechen.
                                                                    das Kind sich gesehen fühlen, so wird der junge Mensch
     Heisst nehmen – geben. Heisst du und ich. Heisst jeder at-
                                                                    die Bedingung seines Auf-der-Erde-Seins finden, indem
     met, aber wir haben eine gemeinsame Luft. Wie können
                                                                    er sich erkannt erleben kann. Ich, der ich bin und der ich
     wir gemeinsam wollen als Menschen, so, dass wir dabei
                                                                    werde in der Begegnung mit den Anderen und der Welt,
     sozial atmen können?
                                                                    ich, als unverwechselbare Realität, werde erkannt. Daran
     Viele Menschen wurden in der Pandemie heimatlos. Es
                                                                    lerne ich zu erkennen, wer ich bin – und für wen ich bin.
     hat mich erschüttert, die Bilder zu sehen aus Indien, wo
     Millionen von Wanderarbeiter*innen durch den Lock-             Wer bin ich? Für wen bin ich? – sind zwei Fragen, die nicht
     down über Nacht zu Erwerbslosen und Heimatlosen                zu trennen sind.
     geworden sind. Das Sozialgefüge der Städte hat sie aus-        2014 publizierte der französische Sozialwissenschaftler
     gespuckt und auf die Landstrasse geworfen. Und da keine        Alain Touraine einen Artikel, in dem er dies betrachtet:
     Züge und Busse mehr fuhren, haben sie den Weg unter            Wie kann eine Gesellschaft sein, in der nicht die Gleich-
     die Füsse genommen, um in ihre Heimatdörfer zurückzu-          stellung aller Individuen im öffentlichen Raum auf der
     kehren. Hunderte und Tausende von Kilometern wander-           einen Seite und die Isolation im privaten Raum auf der

12
Jugendtagung 2019

anderen stehen, sondern in der die Gleichwertigkeit und          raum kommen mit unserem Bewusstsein, um von dem
die Differenz als zwei Aspekte des Menschen selbst ver-          Ganzen aus ins Einzelne denken, fühlen und wollen zu
standen und gelebt werden können? «Can we live toge-             können.
ther, equal and different?» – ist die Frage, die uns jeden       Der Blick hebt sich bis zur Ähre, die auf dem Halm wiegt,
Tag die Gesellschaft stellt, die ich mir stelle, die die Zeit    er schweift über den Saum der Baumwipfel bis zu den
uns stellt.                                                      Höhen der fernen Berggipfel. Weiter hebt sich der Blick
Der Ruf, der vom Anderen kommt, mahnt mich zur Ver-              zu den Wolken in die Bläue des Himmels mit der Sonne
antwortung. Der Andere ist der andere Mensch, ist die            als Tagesgestirn. Und noch höher geht der Blick bis zu
Natur angesichts der anderen Menschen, ist die Natur             Saturn und den Ruhesternen dahinter. Bis dahin kann
angesichts ihrer Zukunft.                                        das Bewusstsein noch mit. Das Ich in der Zwölfheit des
Der Andere fragt mich – ich verantworte. Da webt sich            Tierkreises kann als innere Geste noch gehalten werden
Verbundenheit, da ereignet sich Schicksal. Geteiltes             und anstatt es jetzt ins Unendliche zerstieben zu lassen,
Schicksal. Wir verdanken die Gleichzeitigkeit, mit den           kann es sich wenden und Halt finden in der Mitte, der
Anderen zu leben, der Erde. Sie wird, in der Annahme             Erde, die jetzt erscheint, nicht als gegenüber des Ich – als
unserer Verantwortung, zur Substanz unseres Schick-              Nicht-Ich, als nur Umwelt –, sondern die erscheint in dem
sals.                                                            Ich als aufgehoben in dem sphärischen Ichbewusstsein.
                                                                 Die Erde gehört zu mir. Zu meiner eigenen kulturel-
Die Erde braucht meinen Fussabdruck                              len oder spirituellen Dimension. Das wissen die alten
                                                                 Schöpfungsmythen aller Kulturen und Länder, zu denen
Hurter: Wir leben auch in einem spirituell-kulturellen
                                                                 wir gehören, und wir wissen es mit den Verstorbenen,
Klima. Unsere Kultur ist auf das Ich gebaut. Das Ich als
                                                                 die vor uns die Erde fruchtbar gemacht haben und denen
zentrischer Punkt ist der feste Boden, von dem aus in die
                                                                 wir begegnen im sphärischen Bewusstsein. Und aus der
Umwelt geschaut wird. Geht der Blick in die Weite, wird
                                                                 Zukunft geahnt – zusammen mit allen Ungeborenen, mit
das Ich mitbestimmt durch die vielen anderen Ich. Es
                                                                 allen denen, die erst noch Erdenkinder sein werden, um
kommt zum Ich und Du. Das Ich ist im ständigen Dialog
                                                                 an den Anfang deiner Ausführungen anzuknüpfen Cons-
mit dem und den anderen, es ist wandelbar, einatmend,
                                                                 tanza – gehört die Erde, unsere Erde mit dem Boden, den
ausatmend. Geht der Blick in die Höhe – löst sich da das
                                                                 Pflanzen und den Tieren und ihrem Klima zu meinem
Ich nicht auf? Kann ich zu einem atmosphärischen, zu
                                                                 Ich. Sie ist nicht Nicht-Ich, sie ist auch Ich. Und aus die-
einem peripheren Icherlebnis kommen? Von allen Einzel-
                                                                 sem Bewusstsein ruft sie uns nicht zu: Ich kann deinen
punkten der Erd-Ich-Bewusstsein aus können wir das
                                                                 Fussabdruck nicht ertragen, bleibe fern. Sie ruft jedem
Klimaproblem und viele andere Herausforderungen, die
                                                                 von uns zu: Ich warte auf deinen Fussabdruck. Und meine
unsere Zeit uns stellt, nicht lösen. Mit Addition und Sub-
                                                                 Antwort kann sein: Ich will auf der Erde gehen und mei-
traktion können wir unser Erdenschicksal nicht mehr
                                                                 nen Beitrag leisten für unsere gemeinsame Zukunft. Die
meistern. Wir müssen wie aus dem Raum in den Gegen-
                                                                 Erde ist die Substanz unseres Schicksals.

                                                                                                                                13
Spiritualität für unsere Erde
     Clement Vincent

     Clement Vincent arbeitet                                       Auch wenn die Klimakrise global ist, müssen wir im
     seit 30 Jahren mit der Land-                                   Lokalen mildern. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen
     bevölkerung Südindiens                                         Mikro- und Makrokosmos. Die Betätigung in der Land-
     zusammen, als Gründer                                          wirtschaft muss jedem helfen, sich zu ernähren, wenn
     von Muhil-Bewegung für                                         auch nur in kleinen Parzellen. Das hat mit Spiritualität
     allgemeine Gesundheits-                                        zu tun: Wo bin ich, wer bin ich, mit wem lebe ich, wohin
     integration und Befreiung.                                     gehe ich am Ende meines Lebens? Unsere Realität ist,
     Er ist katholischer Priester                                   dass die Geistigkeit unsterblich und ewig ist und es er-
     und Verantwortlicher der                                       laubt, das Leben dynamisch anzupacken. Die Spirituali-
     biodynamischen Assozia-                                        tät wird zur Wirklichkeit, wenn wir sie zur Wirklichkeit
     tion in Indien.                                                machen.
     Spiritualität erinnert uns an Kirche und Gott, doch wenn
     wir jenseits dieser Bilder schauen, dann ist sie eine globa-
                                                                    Lebenskontinuum
     le Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die mich mein ganzes       Wir stehen in dem großen kosmischen Feld, und doch
     Leben begleitet. Als katholischer Priester teile ich nur       geht es darum, dass ich im Hier und Jetzt und an dem Ort
     mit drei Prozent der indischen Bevölkerung den Glauben,        handle, wo ich bin. Wo ich lebe, ist es sehr trocken. Die
     doch in allen Kulturen, geht es doch um den Umgang mit         Menschen fragen mich, warum ich nicht umziehe und an
     den Elementen der Erde, vom Boden bis zum Feuer, und           einen Ort gehe, wo der Boden besser ist. Ich kann weg-
     all diese Elemente haben eine kosmische Seite. Der Phy-        ziehen, aber den Boden kann ich nicht verschieben. Wir
     siker Stephen Hawking fragt in seinem Buch ‹The Grand          leben dort, wo wir uns befinden, und das machen wir zu
     Design› nach dem Willen im Kosmos. Im Kosmos gibt es           unserem Heim. Wir müssen die Natur mit einbeziehen
     dabei zwei Prinzipien: Eines ist die Unsterblichkeit, das      und sie befreien. Wie nutzen wir da unsere Menschen-
     andere die Ewigkeit, und von beiden ist in allen Religio-      kraft gut? Wenn man an einem Wasserfall lebt, kann
     nen die Rede. In Indien sprechen wir von der kosmischen        man Wasserkraft nutzen. Wenn Millionen Menschen um
     Energie ‹Shakti›. Wir tragen diese Kraft in uns und um         mich sind, muss man die Macht der ‹people power› an-
     uns. Sie ist der Boden der Spiritualität und die weibliche     erkennen. Wir brauchen keine Traktoren, sondern müs-
     ewige Kraft im Kosmos. Die Wirklichkeit dieser Kraft und       sen die Menschen hier beschäftigen und zusammenfüh-
     ihre Dynamiken sind es, mit denen wir in der biodynami-        ren, ihre Energie gemeinsam verstärken. Spirituelle Kraft
     schen Landwirtschaft umgehen. Die männliche Seite die-         nutzt man, wenn man etwas tut, was für alle Menschen
     ser Kraft ist der Gott ‹Shiva›. Was man in Europa ‹Anima›      da ist. Man muss die Dinge sagen, sodass sie bedeut-
     nennt, die Seele, dem entspricht in Indien ‹Atma›, sie ist     sam werden, sodass sie weitergesagt werden. Ich bringe
     die kosmische Kraft, die in allem Leben individualisiert       Menschen zusammen, die voneinander lernen und mit-
     ist. Wir bauen unsere Umgebung, unsere Gesellschaft aus        einander teilen möchten. So kommen wir in eine neue
     diesen Seelenkräften auf. In der biodynamischen Land-          Zukunft. Das wird zu einem Erlebnis für junge Menschen.
     wirtschaft teilen wir diese Kräfte und sie werden zu einer     Wenn ich mehr und mehr authentisch Mensch bin, bewe-
     gemeinsamen Kraft, zu ‹people power›, zur Menschen-            ge ich mich von der materiellen zur geistigen Welt. Was
     kraft, die nicht gleichzusetzen ist mit einer politischen      ich identifiziere als ‹Ich bin›, liegt in einem Kontinuum.
     Kraft. Diese Kraft bringt uns weiter, gemeinsam. In der        Der göttliche Geist wird zum menschlichen Geist. Der
     Klimakrise müssen wir zusammen unternehmen.                    Ort dafür ist die Umwelt, und mein Verhältnis zu Go%
     Bei Muhil haben wir begonnen, mit Heilkräutern, speziell       ist sozial, ökologisch und geistig. Die Unterbrechung des
     Gräsern, für die Gesundheit zu arbeiten. Wir haben es          Kontinuums durch die Pandemie ist global. Alles ist zum
     gemeinsam entwickelt und damit den Boden gerettet. Die         Stillstand gebracht. Wir sind geschichtlich eine wichtige
     Idee dahinter ist, uns von innen heraus zu verlebendigen.      Generation. Wir müssen sehr verantwortungsvoll sein,
     Wir müssen Frieden im Innern und auch um uns schaf-            wie wir neu anfangen. Wir sind aufgefordert, eine neue
     fen. Es ist eine innere Ruhe, aber auch eine dynamische        Geschichte zu entwickeln, eine neue Zukunft zu gestal-
     Bewegung.                                                      ten – vor allem die jungen Menschen. Text: Wolfgang Held

14
Atmosphärisches Bewusstsein
Johannes Kronenberg, Petra Derkzen, Jean-Michel Florin, Ioana Viscrianu und Anet Spengler

Johannes Kronenberg (Jugendsektion) sprach mit               und auch liebt. Der Herzbereich muss mit einbezogen
Petra Derkzen, Jean-Michel Florin, Ioana Viscrianu           werden in unser Denken.
und Anet Spengler über den Wandlungswillen der
Jugend und den Gestaltungswillen der Landwirte und           Jeder Mensch ist ein*e Landwirt*in
Landwirtinnen in der Klimakrise.                             Die kleinen Bewegungen haben sehr wohl eine Macht,
Klimakrise ist ein Sammelbegriff, der nicht nur die At-      beschreibt Anet Spengler an der Entstehung der solida-
mosphäre betrifft, sondern auch die sozialen und kultu-      rischen Landwirtschaft. Das ist ‹people power›. In Indien
rellen Felder. Bereits vor 50 Jahren sind Berechnungen       protestieren Bauern gegen die schlechten Wirtschafts-
zum Umweltschutz und Gefahrenwarnungen gemacht               bedingungen. Die dortige Biodynamische Assoziation
worden. Schon in den 80er-Jahren, erzählen Petra Derk-       unterstützt das, indem sie den Protesten andere Dimen-
zen und Anet Spengler, haben Jugendliche, wie auch sie       sionen hinzustellt, wie das Soziale, den Umweltschutz.
selbst, die konventionelle Landwirtschaft und die Mas-       Junge Menschen kehren dort aufs Land zurück, weil die
sentierhaltung als Schmerz erlebt, weil alles nur von der    Städte sie nicht mehr ernähren. Durch die Biodynamik
                                                             kriegen sie wieder ein Verhältnis zur Spiritualität.
Wirtschaftlichkeit her angeschaut wird. Aber man
sprach wenig darüber. Die Bauern fühlten sich ange-          «Wir müssen aus unserer Komfortzone austreten und uns
griffen, wenn man von ihnen eine Haltungsänderung            engagieren, handeln und dann sehen, wie es funktioniert
forderte. Gleichzeitig sind die Menschen in die Städte       hat. Ich kann als Bauer nicht so viel theoretisch ausden-
gezogen. In ihrem Heimatland Rumänien, erzählt Iona          ken und dann erst umsetzen, ich muss interagieren mit
Viscrianu, galten Bauern als jene, die es nicht geschafft    der Wirklichkeit und den sich ständig wandelnden Um-
hatten. Als in den 70er Jahren das Bewusstsein auftauch-     ständen», sagt Jean-Michel. Der Konsument ist auch mit
te, dass man die Natur schützen müsse, stand die moder-      dem Bauern verbunden. Die Jugend hat Bewusstsein für
ne Menschheit bereits mit einem Fuß im Glauben an ein        die Fragen: Wen unterstützen wir mit dem Kauf von Pro-
Wirtschaftswachstum, das mehr auf Quantität denn auf         dukten? «Wenn Essen eine landwirtschaftliche Tätigkeit
Qualität setzte. Man fragte nicht mehr, ob etwas gut sei,    ist, muss ich wissen, woher mein Essen kommt. Wenn ich
sondern ob es mehr werden könne. Der Beziehungsver-          ‹Konsumentin› bin, bin ich schon in der wirtschaftlichen
lust zur Natur sei aber auch als Befreiung von der Natur     Denkweise. Wenn aber da mein Bauer ist, der mein Essen
zu verstehen, verdeutlicht Jean-Michel Florin. Sie führe     produziert, handle ich anders und verantwortungsvoller
dazu, dass wir heute selbst entscheiden müssen, was wir      mit und für ihn, als ich es bisher als Konsumentin getan
mit der Freiheit anfangen wollen. Er als biodynamischer      habe», sagt Petra Derkzen.
Landwirt hat sich entschieden, das Verhältnis zwischen
den Bereichen Erde, Pflanze, Tier und Mensch zu verbes-      Praktische Zukunft
sern, was auch heißt, ein ‹Klima› zu schaffen, das gesund    Johannes Kronenberg berichtet von einem jungen Land-
ist, das Freude macht.                                       wirt, der das Problem sehe, dass die älteren Bauern ihre
                                                             Höfe nicht übergeben wollen an jüngere Menschen. Wie
Klima fühlen                                                 können wir zusammen lernen? Wie können die jungen
Wenn ein Pferd in Jean-Michels Dorf seine Äpfel auf die      Menschen Fähigkeiten entwickeln, die Atmosphäre zu
Straße fallen lässt, regen sich Leute über den Geruch auf.   schauen? «Wir lernen, dass wir uns auf die Dinge fokus-
Sie merken aber nicht mehr, dass die Autos stinken. Zu       sieren sollen. Aber wir müssen lernen, zwischen die Din-
sehen, was um mich ist, ist der Beginn des Klimas, meint     ge zu sehen: zwischen die Menschen, zwischen die Tiere
er. Insofern ist die Frage nach dem Atmen in der Klima-      und Pflanzen, zwischen Himmel und Erde, ein atmosphä-
krise auch eine Frage an unsere Fähigkeit, mit unserem       risches Bewusstsein entwickeln», sagt Jean-Michel. •
Fühlen wieder an die Welt anzuschließen. Um aus der
                                                             Wir lernen immer, dass wir uns auf die Dinge fokussieren
Wirklichkeit heraus zu arbeiten, brauche es eine humani-
                                                             sollen. Wir müssen lernen, zwischen die Dinge zu sehen,
sierte Wissenschaft, meint Ioana, sodass man die For-
                                                             ein atmosphärisches Bewusstsein zu entwickeln.
schungsgegenstände, mit denen man zu tun hat, kennt
                                                             Text: Wolfgang Held

                                                                                                                         15
Präparate spritzen

     Michaelbrief «Von der Natur zur Unternatur»*
     Petra Derkzen, Johanna Lamprecht und Jakob Bergsma

     Tag 1 *                                                             «Damit aber kennzeichnet sich das Mechanische als das
                                                                         rein Irdische. Denn das Naturgesetzmäßige, in Farbe, Ton
     Über unseren Atem sind wir zutiefst mit der Atmosphäre
                                                                         und so weiter ist im Irdischen aus dem Kosmos zugeflos-
     verbunden. Wir atmen ein, und aus, wir atmen die Klima-
                                                                         sen. Erst im Erdenbereich wird auch dem Naturgesetzmä-
     krise ein und müssen mit ihr leben – irgendwie. Wir sind
                                                                         ßigen das Mechanische eingepflanzt, wie ihm der Mensch
     selbst dann mit ihr verbunden, wenn wir versuchen, den
                                                                         mit seinem eigenen Erleben erst im Erdenbereich gegen-
     Gedanken an sie zu verbannen.
                                                                         übersteht.»
     Was sagt uns der letzte Michaelbrief aus der von Rudolf
                                                                         Während wir in der Lage sind, technisch zu denken, sind
     Steiner geschriebenen Reihe? Rudolf Steiner schreibt darü-
                                                                         wir nicht mehr in derselben Weise mit dem anderen Pol
     ber, wie wir zutiefst mit den irdischen Kräften verbunden
                                                                         verbunden, dem Kosmos. Das Technische kommt als
     sind nur dadurch, dass wir auf der Erde in einem physi-
                                                                         natürliche Tatsache zu uns, es ist einfach vorhanden. In
     schen Körper geboren worden sind, mit dem wir laufen,
                                                                         früheren Stadien der menschlichen Evolution sahen wir es
     stehen und uns bewegen können. Diese irdischen Kräfte
                                                                         auch als selbstverständlich an, in der Lage zu sein, das Spi-
     bringen ein Gefühl des Technischen zu unserer Funktion
                                                                         rituelle in allem um uns herum zu fühlen und zu sehen. Es
     als Menschen. Wir sind mit der Macht der Schwerkraft
                                                                         war einfach da, so wie unsere derzeitige Art und Fähig-
     konfrontiert, mit dem Gleichgewicht, mit Geschwindig-
                                                                         keit, technisch denken zu können, immer noch da ist. Das
     keit. Wir können auf einem Fahrrad sitzen und sehen, wie
                                                                         Wirken der Elementarwesen war einfach offensichtlich für
     sich das Rad in Verbindung mit der Kette dreht und wie
                                                                         uns da, so wie wir heute das Fahrradfahren durch die Stadt
     uns dieser Mechanismus durch die Stadt fahren lässt. In
                                                                         erleben. Dadurch, dass wir dies verloren haben, wurden
     der Lage zu sein, sich in einer mechanischen, technischen
                                                                         wir einseitig, auf natürliche Weise nur mit dem irdischen
     Weise zu entwickeln und so zu denken, ist ein natürlicher
                                                                         Pol verbunden.
     Bestandteil davon, in einer physischen Welt geboren wor-
     den zu sein, sagt Rudolf Steiner.                                   «In der Zeit, in der es eine von der eigentlichen Natur un-
                                                                         abhängige Technik noch nicht gab, fand der Mensch den
                                                                         Geist in der Naturanschauung. Die sich unabhängig ma-
     *   Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze. GA 26.

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