Atmen mit der Klimakrise - ökologisch - sozial - spirituell - Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 - Agriculture ...
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Jugendsektion und Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum Atmen mit der Klimakrise ökologisch – sozial – spirituell Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung und Jugendtagung 2021 1
Inhalt Impressum Editorial 3 Herausgeber: Freie Hochschule für Geisteswissenschaft – Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum und Jugendsektion Ueli Hurter www.sektion-landwirtschaft.org / www.youthsection.org Vom Klimawandel zum Klimabruch 4 Veranstaltungsorganisation: André Hach Hans-Ulrich Schmutz Redaktion: Verena Wahl Titelsignet: Rudolf Steiner Vom Individuum zur Gesellschaft – eine ganzheitliche Perspektive für den Klimawandel finden 6 Fotos: Christoph Arni: S. 18; Charlotte Fischer: S. 9, 16, 22, 24; Sun- deep Kamath: S. 3 li; Xue Li: S. 7; Anet Spengler: S. 20; Paul Stender: Lin Bautze und Adrian Müller Titelbild, S. 3 re, 11, 21, 27-29; Jugendsektion: S. 13. Grafiken im Text: wenn nicht anders angegeben von den jeweiligen Die Erde ist die Substanz unseres Schicksals 9 Autoren Constanza Kaliks und Ueli Hurter Satz und Layout: Johannes Onneken Spiritualität für unsere Erde 14 Rechtliches: Mit der Übergabe des Vortragsmanuskriptes an den Clement Vincent Herausgeber stimmt der Autor und Inhaber des Urheberrechtes der vollständigen oder teilweisen Veröffentlichung zu. Für die korrekte Atmosphärisches Bewusstsein 15 Bezeichnung geschützter Namen wird keine Haftung über- Johannes Kronenberg, Petra Derkzen, Jean-Michel Florin, nommen. Ungekennzeichnete Abbildungen sind zur Verfügung gestellt. Nachdruck und Übersetzung bedürfen der Erlaubnis von Ioana Viscrianu und Anet Spengler Autor und Redaktion. Michaelbrief «Von der Natur zur Unternatur» 16 Druck: WBZ, Reinach Petra Derkzen, Johanna Lamprecht und Jakob Bergsma Bezugsadresse: Sektion für Landwirtschaft, Hügelweg 59, 4143 Dornach, Schweiz, landwirtschaft@goetheanum.ch Wie Kühe zu Partnerinnen werden 20 und als PDF auf unserer Website: www.sektion-landwirtschaft.org Anet Spengler und Ronja Eis Copyright: Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, Dornach, Schweiz Die lebendige Erde 22 Zitierhinweis: Sektion für Landwirtschaft (Hrsg.) (2021): Charles Eisenstein Wege zum Geistigen in der Landwirtschaft – Dokumentation zur Tagung 2021 der Sektion für Landwirtschaft und der Jugendsektion Future Labs 25 am Goetheanum in Dornach (CH) Die digitale Tagung – Gespräch 27 Der digitale Aufmerksamkeitsraum – Kommentar 29 Jahresthema 2021/2022 30 Die Qualität von biodynamischen Produkten und was sie für die Erde und den Menschen bedeutet Spenden an die Sektion für Landwirtschaft EUR-Konto in der Schweiz USD-Konto Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, Postfach, 4143 Dornach, Schweiz Postfach, 4143 Dornach, Schweiz IBAN: CH71 8080 8001 0200 5131 1 IBAN: CH23 8080 8001 7896 7636 5 Raiffeisenbank Dornach, 4143 Dornach, Schweiz Raiffeisenbank Dornach, 4143 Dornach, Schweiz SWIFT-BIC: RAIFCH22 SWIFT-BIC: RAIFCH22 Vermerk: «Spende Sektion für Landwirtschaft 1150» Vermerk: «Spende Sektion für Landwirtschaft 1150» und, soweit möglich, mit Ergänzung der Anschrift und, soweit möglich, mit Ergänzung der Anschrift CHF-Konto Für Spenden mit steuerlich wirksamer Spendenbescheinigung Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, aus Deutschland Postfach, 4143 Dornach, Schweiz Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland IBAN: CH54 8080 8001 1975 4658 2 IBAN: DE13 4306 0967 0010 0845 10 Raiffeisenbank Dornach, 4143 Dornach, Schweiz GLS Gemeinschaftsbank eG, Christstraße 9, DE-44789 Bochum SWIFT-BIC: RAIFCH22 BIC: GENODEM1GLS Vermerk: «Spende Sektion für Landwirtschaft 1150» Vermerk: «Spende Sektion für Landwirtschaft 1150» und, soweit möglich, mit Ergänzung der Anschrift und, soweit möglich, mit Ergänzung der Anschrift
Vedisches Feuerritual während der Tagung in Indien Das Goetheanum im Schnee während der Tagung Haben wir zu Atem gefunden an der Tagung und durch Wir sind nicht alleine – die Kühe helfen uns. Im Beitrag die Tagung? Denn das war die Hoffnung, die wir durch von Anet Spengler wurde der Atem sichtbar, der pulsiert den Titel «Atmen mit der Klimakrise» formuliert haben. zwischen Kohlenstoff einatmenden Pflanzen und Kohlen- Und das war auch als Anspruch gemeint, indem wir die- stoff ausatmenden Tieren. Diese Symbiose ist klimaför- sen möglichen Atem in drei Dimensionen gesucht haben: dernd, nicht das Gras ohne die Kuh oder die Kuh ohne das ökologisch, sozial, spirituell. Gras. Die wechselseitige Bezüglichkeit von Pflanzen und Ja, es gab sie, die Momente des freien Atems an dieser Tieren bringt erst das voll atmende Leben, erst so kann Tagung. Für mich lebte ein tiefer Atem in dem Moment, man berechtigt von Carbon Farming sprechen. wo Clement Vincent aus Südindien sagte: «Nein, ich gehe Wir haben einen Atem der Generationen entdeckt. Die nicht weg aus dieser trockenen, unfruchtbaren Gegend. Jungen sind gerade daran, sich einzuatmen in die Erdver- Denn wenn ich wegginge, der Boden bleibt doch da, er hältnisse, sie suchen den Boden, in dem sie biografisch kann nicht weg. Wir gehören aber zusammen, der Boden Wurzeln schlagen können. Die älteren Bauern und Bäue- und ich, die Erde und wir Menschen.» Spirituell atmen rinnen müssen lernen, den gesenkten Blick zu heben und in der Klimakrise heisst: Ja zu sagen zu meiner scheinbar zu einem atmosphärischen Bewusstsein zu kommen. schwierigen Situation, denn sie bedeutet die volle Geis- Eine Mutfrage für beide – aber der andere ist ja schon da, tigkeit. Wo bin ich, wer bin ich, mit wem lebe ich, wohin wo man selber hinwill. gehe ich am Ende meines Lebens? An der Tagung war das öfter das Erlebnis – der andere Durch die Tagung wehte auch ein Zukunft tragender ist schon da, wo man selber hinstrebt. So kommt man Atemhauch – die Erde ist ein Lebewesen. Zum Beispiel vorwärts, jeder für sich und alle zusammen. Die Tagung beim Beitrag von Hans-Ulrich Schmutz wurde durch die schafft einen Atemraum und die digitale Form der Klima- Tabellen und Grafiken hindurch spürbar: Hier atmet ein tagung 2021 hat einen erdumspannenden Atmungsraum Lebewesen. Es atmet schon lange, seit Jahrmillionen. Es mit und für viele Menschen ermöglicht, die sich sonst ist diesem Lebewesen gelungen, einen CO2 -Gehalt in der nicht begegnet wären. Wir hoffen, in dieser Tagungsdo- Atmosphäre herzustellen, der Leben vielfältigster Art kumentation atmet etwas von diesem Geschehen. ermöglicht. Helfen wir diesem atmenden Lebewesen, Für das Team der Jugendsektion seinen planetarischen Atemrhythmus wiederzufinden. und der Sektion für Landwirtschaft Diese Aufgabe ist zu schaffen und sie geht uns gemein- Ueli Hurter sam an, Junge und Landwirte. 3
Die Zeichnung veranschaulicht die verschiedenen Geschwindigkeiten des Kohlenstoffwechsels in diesen vier Bereichen: Erdkruste, Ozeane, Atmosphäre und durchlichtete Schicht der Oberfläche der Ozeane. Vom Klimawandel zum Klimabruch Hans-Ulrich Schmutz Das Phänomen, dem wir heute gegenüberstehen, ist mit In der Rückschau auf die atmosphärischen Verhältnisse Klimawandel nicht mehr richtig zu bezeichnen. Das der Erde entdeckt man verschiedene Rhythmen, und das Klima war stets rhythmischen Wandlungen unterwor- ist wesentlich, um den heutigen Klimabruch zu verste- fen, aber mit denen hat die heutige Menschheit gebro- hen. Drei grosse Rhythmen, die sich aus der Beziehung chen. Ein Bruch, für den man sich interessieren und von Erde und Sonne ergeben, hat Nikolaus Kopernikus den man heilen muss. bereits dargestellt. Zum Tages- und Jahresrhythmus Wer die Vergangenheit nicht würdigt, hat Schwierig- gesellt sich der dritte, ganz langsame Rhythmus: dasje- keiten, die Zukunft zu gestalten. Darum ist es hilfreich, nige, was wir als das Platonische Weltenjahr bezeichnen. die langen Entwicklungsphasen der Erde der letzten 500 Weiter wirken die langsamen Rhythmen: die Drehung Millionen Jahre zurückzuverfolgen, um das Heute zu der Absidenlinie, die Variation der Stellung der Drehach- verstehen. Man kann erkennen, dass die Erde trotz unter- se und die Exzentrizität der Erd-Sonnen-Bahn. All diese schiedlichster Vegetation und Tierwelt stets eine Wärme- Rhythmen überlagern sich gegenseitig. Man kann durch autonomie hatte, in der die Schwankungen der mittleren die Messungen an Eisbohrkernen und Meeressedimenten Temperatur fünf Grad Celsius mehr oder weniger betru- erkennen, wie sich diese Rhythmen vollzogen haben, gen. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre war jedoch wenn auch eher musikalisch und nicht mechanisch vor 500 Millionen Jahren viel höher und sank dann rapi- gleich: Auf jede grosse Eiszeit folgte ein sehr schneller de bis zur sogenannten grossen Lebenskrise auf der Erde Temperaturanstieg in eine Warmzeit und dann in vier vor ca. 250 Millionen Jahren. Danach entwickelten sich beweglichen Stufen ein rhythmischer Temperaturabfall erstmals Säugetiere und später die Blütenpflanzen. in die nächste Eiszeit. Vor ca. 10.000 Jahren begann die letzte Warmzeit. Die Werte des im Eis eingeschlossenen 4
Kohlendioxids begleiten dieses An- steigen und Absteigen der Temperatur in einem parallelen Verlauf mit relativ kleinen Schwankungen. Aufgrund dieser Rhythmen hat die Erde bereits vor einigen Hundert Jahren den Impuls für eine neue Eis- zeit erhalten. Das ist dokumentiert in der sogenannten kleinen Eiszeit, die bis 1850 andauerte. Es ist nicht ein Ursache-Wirkungs-, sondern ein Beziehungsdenken in Rhythmen, mit dem man das verstehen kann. Diese grossen, kosmischen Rhythmen ver- ursachen die Eis- und Warmzeiten nicht, sondern sie impulsieren sie. Für das Zustandekommen des impulsier- ten Wechsels braucht es noch andere Darstellung der globalen Temperaturveränderung der letzten 10.000 Jahre Bedingungen auf der Erde selbst. aus Marcott, S. A. (2013): Science 339, 8.3.2013 Über mehrere Hundert Millionen Jah- re wurde Kohlendioxid in der Erden- tiefe in Kohle, Gas und Erdöl verwan- Dabei zeigen die kosmischen Rhythmen in die Richtung delt und somit aus der Atmosphäre entfernt. Diese Stoffe einer Tendenz der Abkühlung. Das ist der Klimabruch. sind in einer vergleichsweise rasanten Geschwindigkeit Brüche können geheilt werden, wenn man sich Mühe gibt zu einem Drittel zutage gefördert und verbrannt worden und sich für das Brechen interessiert. Wir haben also die und somit ist der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre Aufgabe, uns für die Stellen, die zum Klimabruch geführt wieder stark angestiegen. haben, zu interessieren. Das gilt auch für andere Bereiche Der langsamste Rhythmus des Kohlenstoffwechsels wie zum Beispiel für das aktuelle Artensterben, das heute auf der Erde wurde durch die massive Ausbeutung der etwa 10.000-mal schneller abläuft als frühere Artenster- fossilen Brennstoffe in den letzten 150 Jahren gebrochen. ben in der Erdgeschichte. Wir bräuchten neue Formen Wir haben heute Kohlendioxidwerte, die so hoch sind der denkenden Zuwendung zur Erde. Wir müssten vom wie zuletzt vor sieben Millionen Jahren. Während durch intellektuellen, maschinellen Denken wegkommen hin Atomkraft, Solarenergie und Energiesparen die Um- zu einem Denken, das bewegte Begriffe wie Rhythmus, wandlung fossiler Brennstoffe in den letzten 30 Jahren Metamorphose, Leben und Entwicklung bildet. Dieses zwar weniger schnell angestiegen ist, steigt der Kohlen- bewegliche Denken ist die Quelle für die Einsicht in die dioxidgehalt in der Atmosphäre und in den Weltmeeren Notwendigkeiten und das daran anschliessende Han- immer noch dramatisch an. Denn seit etwa 1985 gibt es deln. Ohne bewegliches Denken haben wir keine Chance; wegen des zunehmenden Eintrags von Kohlendioxid und technische Lösungen sind nur vorübergehende Symp- damit einer zunehmenden Versauerung des Wassers tombekämpfungen. Denn Beweglichkeit des Denkens einen Umschwung in den Meeren. Die Lebensverhältnis- führt zur Beweglichkeit des Fühlens und Wollens. Ich se für das Plankton und die Mikroben wurden schlechter hoffe, dass wir aus diesen menschlichen Kräften die Mög- und somit die Umwandlung von Kohlendioxid in Biomas- lichkeit haben, die Wende zu schaffen. Der Klimabruch se gehemmt. ist die Aufforderung an den Menschen, zu einer neuen Die schnelle Erwärmung der Erde kann nicht natürlich Beziehung zur Erde zu gelangen und sich zu wandeln. Es erklärt werden, denn die kosmischen Rhythmen zeigen gibt viel zu tun, packen wir es an! eine neue Eiszeit an – die Erwärmung ist menschenge- macht. Auf einer Grafik der Temperaturentwicklung der letzten 10.000 Jahre wechselt der Kurvenverlauf in den letzten 100 Jahren von einer auf- und absteigenden Welle zu einem senkrechten Anstieg. 5
Vom Individuum zur Gesellschaft eine ganzheitliche Perspektive für den Klimawandel finden Lin Bautze und Adrian Müller Das Klima in einer globalisierten Welt Dies stellt jedoch nicht das gesamte Bild dar. Indirekte Emissionen aus der Produktion von Agrochemikalien wie In den letzten Jahren und angesichts der Covid-19-Pan- Düngemitteln, Pestiziden und Herbiziden sowie Emissio- demie wird uns mehr denn je bewusst, dass wir in einer nen aus Transport, Heizung, Maschineneinsatz, Land- globalisierten Welt leben. Wir sind auf vielen Ebenen nutzung, Landnutzungsänderung und Lagerung sowie miteinander verbunden: durch das Klima, die Atmosphä- Emissionen aus dem Verbrauch und der Verschwendung re, unsere Böden, die biologische Vielfalt, unsere Wirt- von Lebensmitteln werden im Agrarsektor nicht berück- schaft und die Menschen, die in dieser Welt leben. Leider sichtigt. haben wir die natürlichen Ressourcen, von denen wir ab- hängig sind, in hohem Masse übernutzt und ausgebeutet. Wenn man diese integriert, trägt der Anteil der globalen Neben ausgelaugten landwirtschaftlichen Böden, einem Emissionen aus Lebensmittelproduktion, -verarbeitung, stetigen Rückgang der Artenvielfalt und einer zuneh- -lagerung und -konsum einen viel grösseren Anteil zu menden Verschmutzung von Gewässern hat auch unsere den globalen Emissionen bei als die alleinigen Emissio- Atmosphäre einen grossen Anteil an unseren nicht nach- nen aus der landwirtschaftlichen Produktion. Daher ist haltigen Bewirtschaftungspraktiken auffangen müs- es unerlässlich, die verschiedenen indirekten Emissions- sen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die globalen quellen des Lebensmittelsystems zu integrieren, um zu Temperaturen steigen. Dies hat unterschiedliche, aber erkennen, wo und wie Emissionen in Zukunft reduziert meist negative Auswirkungen auf die landwirtschaftli- werden können. che Produktion, die Infrastrukturen und die menschliche Gleichzeitig ist es wichtig, den Blick auf die Nachhaltig- Gesundheit. Auch wenn das Ausmass der Auswirkungen keit über die Emissionsreduktionsziele hinaus zu erwei- von Region zu Region unterschiedlich sein wird, werden tern. Die Anpassung an den Klimawandel, der Aufbau die Folgen für unsere Ernährungssysteme lokal und glo- von Resilienz, die Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit und bal herausfordernd sein, wenn wir nicht jetzt reagieren die Steigerung der Biodiversität sollten neben einem und das aktuelle System ändern. gerechten und gleichberechtigten sozialen, wirtschaftli- Wir erkennen zunehmend, dass die Trennung von der Na- chen und politischen System gleichrangige Ziele werden. tur, wie sie in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Daher müssen eine nachhaltige Landwirtschaft und ein beobachten war, keine Lösung mehr für unsere mensch- nachhaltiges Lebensmittelsystem der Zukunft die ver- liche Gesellschaft sein kann. Wir müssen erkennen, dass schiedenen Dimensionen der allgemeinen ökologischen wir nicht unabhängig von den Ressourcen der Natur sind. Nachhaltigkeit und der wirtschaftlichen und sozialen Stattdessen sollten wir drastisch und schnell die mensch- Gerechtigkeit umfassen. lichen Kapazitäten zur Heilung der Erdatmosphäre, der Natur um uns herum und unseres sozialen Klimas als Biodynamische Landwirtschaft und Menschen investieren, um das derzeitige System zu ver- Nachhaltigkeitsentwicklungsziele bessern. Auf den ersten Blick scheint die Kombination dieser ver- schiedenen Nachhaltigkeitsdimensionen eine komplexe Reicht die Landwirtschaft als Perspektive aus? Herausforderung zu sein. Glücklicherweise ist es wissen- Wenn wir das laufende Gefüge verändern wollen, müssen schaftlich erwiesen, dass die biologische und biodynami- wir uns zunächst klarmachen, wie das derzeitige System sche Landwirtschaft Emissionen reduziert und gleichzei- beschaffen ist. Bisher werden global und lokal die Emis- tig die Bodenfruchtbarkeit erhöht, die Biodiversität und sionen der landwirtschaftlichen Produktion vor allem die Gewässer schützt und einen fairen Preis für landwirt- auf die Treibhausgasemissionen aus der Tierhaltung und schaftliche Güter unterstützt. der Bodenbewirtschaftung zurückgeführt. Die ökologische und biologisch-dynamische Landwirt- schaft reduziert die energie- und damit kohlenstoff- 6
Lin Bautze und Adrian Müller während des Vortrags intensive Produktion und den Einsatz von künstlichen wirtschaft bereits existieren, stellt sich die Metafrage: Stickstoffdüngern. Gleichzeitig wird die Anzahl der Warum nutzen wir nicht bereits Ansätze, die nicht schäd- gehaltenen Tiere durch gesetzliche Zertifizierungsstan- lich und nachweislich erfolgreich für die Nachhaltigkeit dards weltweit verringert. Weiterhin haben Vergleichs- unserer Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sind? studien von Langzeitversuchen mit konventionellen, Dieses ganzheitliche Denken kann einerseits unsere ökologischen und biodynamischen Praktiken gezeigt, Sichtweisen herausfordern. Es fordert uns zu einer ge- dass biodynamische Produktionssysteme mehr Kohlen- meinsamen Anstrengung und Verantwortung in einer stoff im Boden binden und über Landschaftselemente kurzen Zeit auf. Diese Perspektive geht weg vom indivi- (zum Beispiel Hecken) und Agroforstsysteme mehr dualistischen Denken, hin zu einem kollaborativen An- Kohlenstoff in Biomasse assimilieren. Auch Ideen der satz. Sie fordert uns auf, individualistisch aus unserem Kreislaufwirtschaft werden zusammen mit emissions- freien Willen heraus zu handeln, aber gleichzeitig global reduzierenden Praktiken unterstützt, wie beispielsweise zu denken und zu fühlen, um die ganze Welt in unser die Förderung saisonaler und regionaler Produktions- Denken und Handeln einzubeziehen. und Konsummuster. Auf der anderen Seite brauchen wir vielleicht Beispiele Die Forschung sagt uns aber auch, dass das Potenzial von Menschen, die das vorhandene Wissen in konkrete ökologischer und biologisch-dynamischer Produktions- Strategien, Pläne und Handlungen bringen beziehungs- systeme nicht alleine für den Wandel stehen kann. Um weise gebracht haben. Menschen, die uns dabei helfen, zu eine nachhaltige Zukunft zu erreichen, muss sich jede*r visualisieren, wie Veränderung möglich ist und welche Einzelne von uns auf dieser Welt engagieren. In einigen Erfolge und Misserfolge sie auf dem Weg der Umsetzung Teilen der Welt brauchen wir drastische Veränderungen hatten. in der Ernährung hin zu einem viel geringeren Anteil an Aus diesem Grund wurde das Projekt Living Farms von Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs und wir benöti- der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum initi- gen eine deutliche Reduzierung der globalen Nahrungs- iert. Hier wird ein Portfolio verschiedener biologisch- mittelverschwendung. Wenn wir die Welt mit biologi- dynamischer Orte aus der ganzen Welt vorgestellt. Ihre schen und biodynamischen Lebensmitteln ernähren Ideen für eine nachhaltige Landwirtschaft in der nahen wollen, können wir es uns nicht leisten, weiterhin 30 Zukunft werden über kurze Dokumentationsvideos zu- Prozent der produzierten Lebensmittel im globalen Mass- sammen mit der Vielfalt der Anbausysteme visualisiert. stab zu verschwenden. Damit helfen diese Personen, Wissen in konkrete Hand- Vom Wissen in die Transformation lungen zu übertragen. Handlungen, die auf Höfen oder als Individuen in unserer Gesellschaft anwendbar sind. Wenn man erkannt hat, dass eine globale Bemühung Unabhängig von der Lage, den aktuellen Betriebssyste- notwendig ist, um die oben genannten Ziele zu erreichen, und dass Lösungen wie die biologisch-dynamische Land- 7
Landnutzung Pestizide Entwaldung Wasser Treibhausgas Unser globales Ernährungs- Emissionen sytem produziert ohne Ver- änderungen bis 2050 zu viele Treibhausgasemissionen (rote Linie). Konventionelle Landwirt- schaft (blaue Linie) und organi- sche Landwirtschaft (gelbe Linie) können die Emissionen reduzie- Energie N - Stickstoff ren. Dafür müssen Lebensmittel- abfälle reduziert werden (-50%) und der Kraftfuttereinsatz im kon- ventionellen Landbau komplett eingestellt werden. Erosion P - Phosphor Muller et al. 2017* men oder von der Frage, wo der Mensch in der Debatte um oder Ihre Weltanschauung Sinn ergeben. Bleiben Sie Klimawandel und Resilienz steht. bei Ihren Überzeugungen, aber testen Sie neue Dinge Einige der — bis jetzt — gelernten Erfahrungen von die- auf eine angemessene, wirtschaftlich sinnvolle Weise. sen Höfen sind: Tun Sie lieber jeden Tag etwas Kleines, anstatt gar nichts zu tun. Testen Sie zum Beispiel eine neue Kul- • Beobachten, reflektieren und anpassen! Nehmen Sie turpflanze auf zehn Prozent der Fläche. Ihre Landschaft, Ihren Betrieb oder Ihre Person wahr. Wo stehen Sie? Was sehen Sie? Was hat sich mit der • Kommunizieren Sie und teilen Sie Ihre Geschichte! Zeit verändert? Wenn Sie es lieben, bleiben Sie dabei. Teilen Sie Ihre Erfolge und auch die Fehlschläge. Las- Wenn Sie das Gefühl haben, dass eine Veränderung sen Sie andere an dem Prozess teilhaben, um gemein- notwendig ist, dann tun Sie das. Wenn Sie es nicht än- sames Wissen zu entwickeln, wie wir unser laufendes dern können, lassen Sie es los und lassen Sie es gehen. System verbessern können.* Das kann bedeuten, dass Sie Ihr Leben, Ihre landwirt- • Engagieren Sie sich mit anderen zusammen! Organi- schaftlichen Entscheidungen und Ihre Organisations- sieren Sie sich mit Gleichgesinnten, um Unterstützung strukturen an Ihre Bedürfnisse und die Ihrer Umge- von Netzwerken oder Gemeinschaften um Sie herum bung anpassen müssen. zu erhalten. Dies hilft Ihnen, Ihre soziale, ökologische • Bewegen Sie sich ausserhalb Ihrer Komfortzone! und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Treten Sie in Kontakt mit Menschen ausserhalb Ihrer Einige dieser Lektionen lassen sich leicht in unserem All- eigenen Arbeitsfelder. Lassen Sie sich von ihnen in- tag anwenden, während andere vielleicht Zeit brauchen, spirieren und nutzen Sie dadurch die Chance, sich oder um auf individueller und gesellschaftlicher Ebene umge- Ihren Betrieb weiterzuentwickeln. setzt zu werden. Wenn wir jedoch diesen kollaborativen • Seien Sie neugierig! Nutzen Sie Ihre angeborene Ansatz wählen, um unsere Verantwortung für die globa- Neugierde und testen Sie neue Dinge, Methoden und len Herausforderungen zu übernehmen, können wir aus Systeme. dem laufenden Schema herauswachsen, hin zu einem gesunden Lebensmittelsystem mit gesunden Atmosphä- • Seien Sie mutig, aber bleiben Sie vernünftig! Manch- ren, Böden und Gesellschaften. Um in der Postklimakrise mal werden Sie Veränderungen vornehmen müssen, endlich wieder durchatmen zu können. die für den Rest der Gesellschaft sehr ungewohnt sind, * Muller, A., Schader, C., El-Hage Scialabba, N. et al. Strategies for feeding the aber aus einer breiteren Perspektive für Ihren Betrieb world more sustainably with organic agriculture. Nat Commun 8, 1290 (2017). https://doi.org/10.1038/s41467-017-01410-w 8
Erde und Himmel Die Erde ist die Substanz unseres Schicksals Constanza Kaliks und Ueli Hurter Der Dialogvortrag hatte polare Ausgangspunkte – Ueli noch eine Frage: Meinst du, es ist der Klimawandel? So ist Hurter startet als Landwirt bei der Gebundenheit an es heute klar: Es ist Klimawandel. den Erdenboden, Constanza Kaliks als Vertreterin der Der gesenkte Blick hebt sich. Wenn von oben nichts mehr Jugend nimmt den Ausgangspunkt im noch nicht Irdi- oder Zerstörendes kommt, muss ich den Blick heben. schen, im Kommenden. Im mittleren Beitrag begegnen Denn dann kommt der landwirtschaftliche Ertrag nicht sich beide Gesten in der sozialen Dimension des The- mehr vom Boden, sondern vom Himmel. Wir müssen mas. In den dritten Voten, die die spirituelle Dimension lernen, durch Erfahrungen, durch Schäden, durch Nach- ansprechen, findet die Jugend die Entscheidung zur denken. Die Bilder stimmen nicht mehr, ich muss sie Erdenteilhabe und die Landwirtschaft entdeckt das revidieren und mir neue schaffen. Atmosphärische als das geistig Fruchtbare. Altes Bild: Die Pflanze wächst von unten nach oben. Neues Bild: Die Pflanze wächst von oben nach unten. Auf der Erde sein – den Himmel suchen. Das kann ich nicht sehen, trotzdem ist es wahr. Ich kann Vom Landwirt zum Klimawirt schrittweise mein Verständnis erweitern: Aus Licht, Luft und Wärme bildet die Pflanze durch die Assimilation Ueli Hurter: Als Bauer ist mein Blick abwärtsgerichtet. ihren grünen Leib und bildet Zucker und Stärkesubs- Ich arbeite mit der Erde. Die Früchte des Bodens sind tanzen. Sie wächst wörtlich von oben nach unten. Dann mein Ertrag. Auf diesem Boden bin ich verwurzelt. Die schickt sie diesen Substanzstrom nach unten. Ein erheb- Geschichte dieses Stücks Erde ist auch meine Geschichte. licher Teil davon wird durch die Wurzelhaare ausgeschie- Jahr für Jahr und Generationen zurück haben wir diesen den. Die süssen Lichtsubstanzen der Pflanzen erwecken Boden gepflegt, aufgebaut, fruchtbar gemacht. den Boden zum Leben. Dieses Bodenleben löst Substan- Jetzt erlebe ich im Frühjahr 2017, dass der Boden ausge- zen wie Kalium oder Calcium aus dem Mineralboden und dörrt ist, dass die Sonne ihn nicht wärmt, sondern aus- stickstoffhaltige Proteine aus dem Bodenhumus. Diese brennt, dass schon im April eine Staubwolke aufsteigt, salzigen Erdsubstanzen werden von den Wurzeln auf- wenn die Kühe auf die Weide gehen. Schon vorher musste genommen und nach oben geschickt. Durch die Pflanze ich erleben, im Frühsommer 2016, dass der Boden im können das Erdige und Wässerige ins Leben gerufen Kartoffelfeld abgeschwemmt wurde durch einen Starkre- werden, denn sie ist eine himmelgeborene und die Erde gen. Das sind keine Ausnahmefälle. Auf unseren Reisen hat sie angenommen. Ich lerne, den Blick zu heben – die in viele Regionen unserer Erde erzählen uns die Bauern Pflanzen wachsen von oben nach unten. und Bäuerinnen Ähnliches. War es vor ein paar Jahren 9
Das ist ein neuer Blick für mich als Bauer, als Landwirt. Die Erde wollen – zur Erde kommen. Gewollt sein Ich lerne: Ab jetzt ist Landwirtschaft auch Klimawirt- Constanza Kaliks: Auf dieser Erde werden die Bedin- schaft. Zu soundsoviel Hektar Boden gehört auch ein Teil gungen gefunden werden müssen, zu sein. Hier, in diese Wetter, gehört auch Klima, gehört auch Himmel. Damit vom Menschen transformierte Erde und ihr Klima wird bin ich genauso verbunden wie mit dem Boden. Aber sich mein Schicksal einschreiben. Klimajugend: Wird die Sonne, Wolken und Winde gehören nicht mir wie der Bo- Erde imstande sein, zu erlauben, dass sich mein Schicksal den, ich bin aber genauso verantwortlich für sie wie für in sie einschreibt? Bedingungen des Seins schaffen, Be- meinen Boden. Ich werde vom Bodenwirt zum Klimawirt. dingungen für die Realisierung von Potenzialität. Und wie ist es mit meinen lieben Kühen? Wie kann ich sie Das Eintreten in das Leben ist uns als Menschengattung neu sehen? Wenn die Herde da liegt auf der Weide, fried- nur möglich durch die Fürsorge der Umgebung. Auf die lich und verträumt und stundenlang wiederkäut, dann Erde kommen ist eintreten im Raum des Angewiesen- habe ich als Klimawirt scheinbar ein Problem, denn eine Seins – es ist ein ökologischer Akt. Wir brauchen die Wolke von Methangas dampft auf von der Kuhherde und Hülle des Anderen, wir müssen gewollt sein, geliebt sein. schlägt negativ zu Buche in der Klimabilanzrechnung. Selbst unsere Kollegen von WWF und Greenpeace sind Dieses Empfangen derjenigen, die auf die Erde kommen, der Überzeugung: Die Kühe sind klimanegativ. Und wenn ist ein ständiger Auftrag an die Gesellschaft. Sind wir man mit heutigen Normzahlen rechnet, dann hat die imstande, diesem Auftrag zu entsprechen? einzelne Kuh eine negative Klimabilanz. Es ist die Frage an die unmittelbare Umgebung – aber Mit meinem neuen Blick kann ich sehen, dass die Kuh auch die Frage an die Gegenwart. Welche Verantwortung eigentlich ganz leicht ist. Sie trägt ja die von oben gebil- übernehmen wir als Gesellschaft dafür, dass diejenigen, dete pflanzliche Himmelssubstanz in sich. Sie trägt den die auf die Erde kommen, ihren Erneuerungsimpuls, Himmel in ihrem grossen Bauch. Sie fliegt fast davon. durch den sich die Welt erhält und nicht zerfällt, diese Darum muss sie das Methan ablassen, damit sie auf dem Kraft des Kommenden, des Werdenden, Bedingungen Boden bleibt, damit sie in ihrem Mist für die Erde die finden, die ihnen erlauben, das noch nicht Dagewesene in Humusbildekraft verdichten kann. Sie erwirkt mit ihrer das Werden der Welt hineinzubringen, es in die Wirklich- Kreislaufkraft, über Futter, Verdauung, Mist, Kompos- keit hineinzuweben? tierung, Boden, Pflanzenwachstum, dass wir überhaupt Erziehung vollzieht sich immer in der Spannung zwi- am Ort sesshaft sein können. Ohne die Kuh müssten wir schen Erhaltung, Konservation und Verwandlung, Trans- alle Nomaden sein, Jäger und Sammler. Das ist man auch, formation. Wir erzählen das Gewordene, das Gewordene wenn man jung ist. Aber wenn man Wurzeln schlagen zu lernen ist sich einschreiben im Werden des Menschen. will, dann braucht man eine Kraft, die die ganze Welt an Kann dieses sich Einschreiben so vollzogen werden, dass einem Ort zusammenzieht. Der eine Ort wird zum Reprä- es eine Handreichung ist zu dem, was noch nicht erzähl- sentanten der ganzen Erde. Dazu ist die Kuh die grosse bar, weil eben neu eintretend ist? Helferin. Sie bringt den ganzen Himmel auf einen Punkt Diese schon gewordene Welt ist für das Neugeborene und in den Boden. Und damit entsteht ein Ort, wo ich Ich wie eine Hülle – eine physische Hülle, aber auch eine sein kann, weil eine Lebenshülle mich hält und trägt. seelische Umhüllung. Von Anfang an ist die Tatsache, Eine tätige Klimaökologie braucht Orte, die eine Hülle dass andere Menschen sind, dasjenige, was das eigene haben, wo das grosse Verhältnis von Erde und Klima sich Menschwerden und Menschsein erlaubt. Hülle ist Wär- örtlich gestaltet im Sinne eines Genius Loci. me, ist Bejahung der Existenz des Anderen, ist liebende Klimawirt sein heisst, das grosse Erdenklima am einzel- Hinwendung. nen Ort, wo ich tätig bin, auf einem Stück Boden hinein- Diese ist immer konkret: Sie wendet sich diesem einen strömen zu lassen, einzuatmen in das Lebensgeschehen Unverwechselbaren zu. des Hofes, um es nicht zu verbrauchen, sondern mit Wenn Millionen Kinder heute hungern, wenn Millionen neuen Lebenskräften versehen wieder auszuatmen. Als Kinder heute nicht in die Schule gehen können, weil sie Klimawirt habe ich die Aufgabe, einen Regenerations- arbeiten müssen oder weil die Umgebung es ihnen nicht ort zu bewirtschaften für das Klima. Und ich frage, liebe erlaubt, wenn Millionen Kinder mit auf der Flucht sind, junge Generation, könnt ihr uns helfen, dieses neue Bild so ist unsere Hülle nicht gegeben. zu realisieren? Die Hülle schaffen ist die Ökologie im umfassenden Sinn. Die Bedingung des Seins, die punktuell auf dieses Kind 10
Constanza Kaliks während des Vortrags sich bezieht, ist von Beginn an eine ökologische Frage: Frage: Wie werden die Kinder, die jungen Menschen ge- Dass dieses eine Kind die Hülle nicht bekommen kann, sehen, wahrgenommen, gehört? Wer sieht mich und zwar dass es nicht erfahren kann, dass es gewollt wird, ist so, dass ich wissen kann, dass ich bin? durch alle Umstände unserer Gegenwart bedingt. Millionen von Kindern und jungen Menschen können jetzt nicht zur Schule gehen – und haben nicht einmal die Auf der Erde leben – sehen lernen – Möglichkeit, in digitalen Formen zu erleben, dass man gesehen werden um sie weiss. Für das Bewusstsein der Institution, die «Kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich; den Auftrag der Gesellschaft bekommen hat, die Kinder jedes Seiende soll von jemand wahrgenommen werden. die Schönheit, die Vielfalt der Welt sehen zu lernen, sind Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Millionen von Kindern unsichtbar. Sie wissen sich nicht Menschen. Die Mehrzahl (Pluralität) ist das Gesetz der gesehen. Erde.»* Und nicht nur Kinder sind unsichtbar. Millionen von Wächst das Neugeborene, so kommt es in das Kindheits- Menschen sind tagtäglich betroffen von existenziellen alter. Jetzt ist die Bedingung seines Seins auch, gesehen Entbehrungen. Die Armut, die Vereinzelung in allen zu werden, wahr- und ernst genommen zu werden in Formen macht Menschen unsichtbar. dem, wie es ist, wie es sich zeigt. Und es lernt, zu sehen. Junge Menschen weltweit stehen vor einer Zukunft mit Zu sehen, dass es eine grosse Welt gibt, reich an allen Er- sehr geringen Hoffnungen: Dadurch, dass sie nicht zur scheinungsformen, eine Welt, für die man lernen möch- Schule gehen, wird ihnen die Möglichkeit, arbeiten zu te, für die man zu sein lernen will. Eine Welt, die mich können, sehr wahrscheinlich verschlossen bleiben. staunen lässt – in ihrer Vielfalt, in ihrer unwahrschein- Diese Menschen sind die ersten Betroffenen durch Klima- lichen Schönheit, in ihren immer neu zu entdeckenden katastrophen, die ersten Betroffenen im Schulausfall, der Horizonten und auch in den sich öffnenden und offenba- ja für Millionen von Kindern auch bedeutet, die täglichen renden Abgründen. Mahlzeiten, die sie nur in der Schule bekommen, nicht Können wir noch staunen? Versetzt uns die Wirklich- mehr zu haben. keit in Staunen, ein Staunen, das uns die Wirklichkeit Audrey Azoulay, Generaldirektorin der UNESCO, sagte wünschen lässt, das in uns die Sehnsucht, für und mit am 25. März 2020 in einer Ansprache, in der jetzigen der Wirklichkeit der Welt zu sein, immer erneut erleben Situation sei eine weltweite Koalition für die Erziehung lässt? gefordert, in der Innovation, Partnerschaft und Solidari- Hat die Klimakrise die Frage ins Zentrum gestellt, ob der tät notwendig seien. Raum existieren wird, der das Gewolltsein ermöglicht, Die Erziehung ist eine soziale Frage – das war vor 100 so stellen die Pandemie und ihre Folgen der Isolation die Jahren Rudolf Steiners Ausgangspunkt für seinen päd- * Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 29. «Die Pluralität ist das Gesetz der Erde». agogischen Ansatz. Das Hineinkommen in die Vielfalt 11
der Welt ist eine Frage an die Gesellschaft – sie muss es ten sie durch das grosse Land zurück in ihr Dorf. Wieso? verantworten, dass ein jeder sich gesehen weiss. Weil dort – wenigstens der Hoffnung nach – Land ist. Ein Findet das nicht statt, stockt der Atem. Stück Erde gibt mir meine Menschenwürde. Was bin ich schon als Mensch, ohne Zugang zur Erde, zum Boden? Wie können wir sozial atmen? Gegenüber dem Boden sind wir einzeln – gegenüber dem Hurter: Ja, der soziale Atem stockt. Ja, das soziale Klima Klima, dem grossen Erdklima und dem pandemischen stockt. Können wir es halten oder entgleitet uns der so- Virenklima, sind wir gemeinsam. Wie können wir das ziale Zusammenhalt? Gerade zwischen uns als ältere und realisieren im Sozialen? jüngere Generationen? Das Essen kommt von der Erde einerseits, ist eine Him- Ich bin ein älterer Bauer. Und ich habe Sympathien mit melsgabe andererseits, das Geschenk eines gesunden der Klimajugend. Wenn ich genauer hinhöre, heisst es: Klimas. Und für das Klima sind wir gemeinsam verant- «Es gibt eine ultimative Notwendigkeit für Notmassnah- wortlich. Können wir das? Finden wir zu diesem gemein- men gegen den Klima- samen Willen? Wir brauchen einen neuen «contrat soci- kollaps. Die Wissenschaft al», so hat Jean-Jacques Rousseau das genannt. Er meinte Die Konferenz öffnete hat das bewiesen.» In damit eine soziale Willenskraft, von allen und für alle. mir die Augen für dieser Weise spricht Greta Aber das Essen kommt auch vom Boden. Gegenüber dem eine neue Welt des Thunberg und viele mit Boden sind wir nicht alle gleich. Die einen haben Boden, landwirtschaftlichen ihr. Damit habe ich Mühe. die anderen nicht, die einen haben viel, die anderen we- Handelns. Ich bin genährt Rennen wir so nicht gera- nig, die einen haben guten Boden, die anderen schlech- dewegs in einen sozialen teren Boden ... So wie wir vor dem Klima gleich sind, so von den Vorträgen, in Kollaps? Sollen wir das sind wir vor dem Boden ungleich. Zwischen Himmel und denen es um die Kraft soziale Klima vergewalti- Erde, zwischen Klima und Boden entsteht die Nahrung. der Menschen ging, um gen, um das ökologische Aber die Nahrung entsteht nicht für alle, sondern für die Verbindung zwischen Klima zu retten? Ich jeden. Wir sind viele Einzelne gegenüber der Nahrung. Mensch und Kosmos, weiss, das ökologische Habe ich den Apfel gegessen, ist er weg. Aber alle Äpfel Klima kann nicht warten, wachsen und reifen unter demselben Himmel in dem- unabhängig von der aber das soziale Klima selben Klima. Sozial brauchen wir einen neuen Atem Religion. ist auch fragil. Jeder ist zwischen dem, wo wir verschieden sind, und dem, wo wir Luong für sich eine Welt, jede gleich sind. Gruppe hat ihre Prioritä- ten, jede hat für sich recht. Wie können wir diese Vielfalt Entscheidung zur Teilhabe: Die Erde ist die akzeptieren, schützen, fördern und gleichzeitig gemein- Substanz meines Schicksals sam wollen? Kaliks: Jetzt kommen wir zu dem, was die Bedingung ist Das ist eine echte Frage. Ich habe keine Antwort. Aber ich des Seins in diesem Raum, in dem wir verschieden sind weiss, dass man im Sozialen immer atmen können muss. und gemeinsam. «Atmen mit der Klimakrise» hiess unsere Tagung. Atmen Konnte das Neugeborene sich gewollt, sich geliebt wissen, heisst einatmen – ausatmen. Heisst zuhören – sprechen. das Kind sich gesehen fühlen, so wird der junge Mensch Heisst nehmen – geben. Heisst du und ich. Heisst jeder at- die Bedingung seines Auf-der-Erde-Seins finden, indem met, aber wir haben eine gemeinsame Luft. Wie können er sich erkannt erleben kann. Ich, der ich bin und der ich wir gemeinsam wollen als Menschen, so, dass wir dabei werde in der Begegnung mit den Anderen und der Welt, sozial atmen können? ich, als unverwechselbare Realität, werde erkannt. Daran Viele Menschen wurden in der Pandemie heimatlos. Es lerne ich zu erkennen, wer ich bin – und für wen ich bin. hat mich erschüttert, die Bilder zu sehen aus Indien, wo Millionen von Wanderarbeiter*innen durch den Lock- Wer bin ich? Für wen bin ich? – sind zwei Fragen, die nicht down über Nacht zu Erwerbslosen und Heimatlosen zu trennen sind. geworden sind. Das Sozialgefüge der Städte hat sie aus- 2014 publizierte der französische Sozialwissenschaftler gespuckt und auf die Landstrasse geworfen. Und da keine Alain Touraine einen Artikel, in dem er dies betrachtet: Züge und Busse mehr fuhren, haben sie den Weg unter Wie kann eine Gesellschaft sein, in der nicht die Gleich- die Füsse genommen, um in ihre Heimatdörfer zurückzu- stellung aller Individuen im öffentlichen Raum auf der kehren. Hunderte und Tausende von Kilometern wander- einen Seite und die Isolation im privaten Raum auf der 12
Jugendtagung 2019 anderen stehen, sondern in der die Gleichwertigkeit und raum kommen mit unserem Bewusstsein, um von dem die Differenz als zwei Aspekte des Menschen selbst ver- Ganzen aus ins Einzelne denken, fühlen und wollen zu standen und gelebt werden können? «Can we live toge- können. ther, equal and different?» – ist die Frage, die uns jeden Der Blick hebt sich bis zur Ähre, die auf dem Halm wiegt, Tag die Gesellschaft stellt, die ich mir stelle, die die Zeit er schweift über den Saum der Baumwipfel bis zu den uns stellt. Höhen der fernen Berggipfel. Weiter hebt sich der Blick Der Ruf, der vom Anderen kommt, mahnt mich zur Ver- zu den Wolken in die Bläue des Himmels mit der Sonne antwortung. Der Andere ist der andere Mensch, ist die als Tagesgestirn. Und noch höher geht der Blick bis zu Natur angesichts der anderen Menschen, ist die Natur Saturn und den Ruhesternen dahinter. Bis dahin kann angesichts ihrer Zukunft. das Bewusstsein noch mit. Das Ich in der Zwölfheit des Der Andere fragt mich – ich verantworte. Da webt sich Tierkreises kann als innere Geste noch gehalten werden Verbundenheit, da ereignet sich Schicksal. Geteiltes und anstatt es jetzt ins Unendliche zerstieben zu lassen, Schicksal. Wir verdanken die Gleichzeitigkeit, mit den kann es sich wenden und Halt finden in der Mitte, der Anderen zu leben, der Erde. Sie wird, in der Annahme Erde, die jetzt erscheint, nicht als gegenüber des Ich – als unserer Verantwortung, zur Substanz unseres Schick- Nicht-Ich, als nur Umwelt –, sondern die erscheint in dem sals. Ich als aufgehoben in dem sphärischen Ichbewusstsein. Die Erde gehört zu mir. Zu meiner eigenen kulturel- Die Erde braucht meinen Fussabdruck len oder spirituellen Dimension. Das wissen die alten Schöpfungsmythen aller Kulturen und Länder, zu denen Hurter: Wir leben auch in einem spirituell-kulturellen wir gehören, und wir wissen es mit den Verstorbenen, Klima. Unsere Kultur ist auf das Ich gebaut. Das Ich als die vor uns die Erde fruchtbar gemacht haben und denen zentrischer Punkt ist der feste Boden, von dem aus in die wir begegnen im sphärischen Bewusstsein. Und aus der Umwelt geschaut wird. Geht der Blick in die Weite, wird Zukunft geahnt – zusammen mit allen Ungeborenen, mit das Ich mitbestimmt durch die vielen anderen Ich. Es allen denen, die erst noch Erdenkinder sein werden, um kommt zum Ich und Du. Das Ich ist im ständigen Dialog an den Anfang deiner Ausführungen anzuknüpfen Cons- mit dem und den anderen, es ist wandelbar, einatmend, tanza – gehört die Erde, unsere Erde mit dem Boden, den ausatmend. Geht der Blick in die Höhe – löst sich da das Pflanzen und den Tieren und ihrem Klima zu meinem Ich nicht auf? Kann ich zu einem atmosphärischen, zu Ich. Sie ist nicht Nicht-Ich, sie ist auch Ich. Und aus die- einem peripheren Icherlebnis kommen? Von allen Einzel- sem Bewusstsein ruft sie uns nicht zu: Ich kann deinen punkten der Erd-Ich-Bewusstsein aus können wir das Fussabdruck nicht ertragen, bleibe fern. Sie ruft jedem Klimaproblem und viele andere Herausforderungen, die von uns zu: Ich warte auf deinen Fussabdruck. Und meine unsere Zeit uns stellt, nicht lösen. Mit Addition und Sub- Antwort kann sein: Ich will auf der Erde gehen und mei- traktion können wir unser Erdenschicksal nicht mehr nen Beitrag leisten für unsere gemeinsame Zukunft. Die meistern. Wir müssen wie aus dem Raum in den Gegen- Erde ist die Substanz unseres Schicksals. 13
Spiritualität für unsere Erde Clement Vincent Clement Vincent arbeitet Auch wenn die Klimakrise global ist, müssen wir im seit 30 Jahren mit der Land- Lokalen mildern. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen bevölkerung Südindiens Mikro- und Makrokosmos. Die Betätigung in der Land- zusammen, als Gründer wirtschaft muss jedem helfen, sich zu ernähren, wenn von Muhil-Bewegung für auch nur in kleinen Parzellen. Das hat mit Spiritualität allgemeine Gesundheits- zu tun: Wo bin ich, wer bin ich, mit wem lebe ich, wohin integration und Befreiung. gehe ich am Ende meines Lebens? Unsere Realität ist, Er ist katholischer Priester dass die Geistigkeit unsterblich und ewig ist und es er- und Verantwortlicher der laubt, das Leben dynamisch anzupacken. Die Spirituali- biodynamischen Assozia- tät wird zur Wirklichkeit, wenn wir sie zur Wirklichkeit tion in Indien. machen. Spiritualität erinnert uns an Kirche und Gott, doch wenn wir jenseits dieser Bilder schauen, dann ist sie eine globa- Lebenskontinuum le Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die mich mein ganzes Wir stehen in dem großen kosmischen Feld, und doch Leben begleitet. Als katholischer Priester teile ich nur geht es darum, dass ich im Hier und Jetzt und an dem Ort mit drei Prozent der indischen Bevölkerung den Glauben, handle, wo ich bin. Wo ich lebe, ist es sehr trocken. Die doch in allen Kulturen, geht es doch um den Umgang mit Menschen fragen mich, warum ich nicht umziehe und an den Elementen der Erde, vom Boden bis zum Feuer, und einen Ort gehe, wo der Boden besser ist. Ich kann weg- all diese Elemente haben eine kosmische Seite. Der Phy- ziehen, aber den Boden kann ich nicht verschieben. Wir siker Stephen Hawking fragt in seinem Buch ‹The Grand leben dort, wo wir uns befinden, und das machen wir zu Design› nach dem Willen im Kosmos. Im Kosmos gibt es unserem Heim. Wir müssen die Natur mit einbeziehen dabei zwei Prinzipien: Eines ist die Unsterblichkeit, das und sie befreien. Wie nutzen wir da unsere Menschen- andere die Ewigkeit, und von beiden ist in allen Religio- kraft gut? Wenn man an einem Wasserfall lebt, kann nen die Rede. In Indien sprechen wir von der kosmischen man Wasserkraft nutzen. Wenn Millionen Menschen um Energie ‹Shakti›. Wir tragen diese Kraft in uns und um mich sind, muss man die Macht der ‹people power› an- uns. Sie ist der Boden der Spiritualität und die weibliche erkennen. Wir brauchen keine Traktoren, sondern müs- ewige Kraft im Kosmos. Die Wirklichkeit dieser Kraft und sen die Menschen hier beschäftigen und zusammenfüh- ihre Dynamiken sind es, mit denen wir in der biodynami- ren, ihre Energie gemeinsam verstärken. Spirituelle Kraft schen Landwirtschaft umgehen. Die männliche Seite die- nutzt man, wenn man etwas tut, was für alle Menschen ser Kraft ist der Gott ‹Shiva›. Was man in Europa ‹Anima› da ist. Man muss die Dinge sagen, sodass sie bedeut- nennt, die Seele, dem entspricht in Indien ‹Atma›, sie ist sam werden, sodass sie weitergesagt werden. Ich bringe die kosmische Kraft, die in allem Leben individualisiert Menschen zusammen, die voneinander lernen und mit- ist. Wir bauen unsere Umgebung, unsere Gesellschaft aus einander teilen möchten. So kommen wir in eine neue diesen Seelenkräften auf. In der biodynamischen Land- Zukunft. Das wird zu einem Erlebnis für junge Menschen. wirtschaft teilen wir diese Kräfte und sie werden zu einer Wenn ich mehr und mehr authentisch Mensch bin, bewe- gemeinsamen Kraft, zu ‹people power›, zur Menschen- ge ich mich von der materiellen zur geistigen Welt. Was kraft, die nicht gleichzusetzen ist mit einer politischen ich identifiziere als ‹Ich bin›, liegt in einem Kontinuum. Kraft. Diese Kraft bringt uns weiter, gemeinsam. In der Der göttliche Geist wird zum menschlichen Geist. Der Klimakrise müssen wir zusammen unternehmen. Ort dafür ist die Umwelt, und mein Verhältnis zu Go% Bei Muhil haben wir begonnen, mit Heilkräutern, speziell ist sozial, ökologisch und geistig. Die Unterbrechung des Gräsern, für die Gesundheit zu arbeiten. Wir haben es Kontinuums durch die Pandemie ist global. Alles ist zum gemeinsam entwickelt und damit den Boden gerettet. Die Stillstand gebracht. Wir sind geschichtlich eine wichtige Idee dahinter ist, uns von innen heraus zu verlebendigen. Generation. Wir müssen sehr verantwortungsvoll sein, Wir müssen Frieden im Innern und auch um uns schaf- wie wir neu anfangen. Wir sind aufgefordert, eine neue fen. Es ist eine innere Ruhe, aber auch eine dynamische Geschichte zu entwickeln, eine neue Zukunft zu gestal- Bewegung. ten – vor allem die jungen Menschen. Text: Wolfgang Held 14
Atmosphärisches Bewusstsein Johannes Kronenberg, Petra Derkzen, Jean-Michel Florin, Ioana Viscrianu und Anet Spengler Johannes Kronenberg (Jugendsektion) sprach mit und auch liebt. Der Herzbereich muss mit einbezogen Petra Derkzen, Jean-Michel Florin, Ioana Viscrianu werden in unser Denken. und Anet Spengler über den Wandlungswillen der Jugend und den Gestaltungswillen der Landwirte und Jeder Mensch ist ein*e Landwirt*in Landwirtinnen in der Klimakrise. Die kleinen Bewegungen haben sehr wohl eine Macht, Klimakrise ist ein Sammelbegriff, der nicht nur die At- beschreibt Anet Spengler an der Entstehung der solida- mosphäre betrifft, sondern auch die sozialen und kultu- rischen Landwirtschaft. Das ist ‹people power›. In Indien rellen Felder. Bereits vor 50 Jahren sind Berechnungen protestieren Bauern gegen die schlechten Wirtschafts- zum Umweltschutz und Gefahrenwarnungen gemacht bedingungen. Die dortige Biodynamische Assoziation worden. Schon in den 80er-Jahren, erzählen Petra Derk- unterstützt das, indem sie den Protesten andere Dimen- zen und Anet Spengler, haben Jugendliche, wie auch sie sionen hinzustellt, wie das Soziale, den Umweltschutz. selbst, die konventionelle Landwirtschaft und die Mas- Junge Menschen kehren dort aufs Land zurück, weil die sentierhaltung als Schmerz erlebt, weil alles nur von der Städte sie nicht mehr ernähren. Durch die Biodynamik kriegen sie wieder ein Verhältnis zur Spiritualität. Wirtschaftlichkeit her angeschaut wird. Aber man sprach wenig darüber. Die Bauern fühlten sich ange- «Wir müssen aus unserer Komfortzone austreten und uns griffen, wenn man von ihnen eine Haltungsänderung engagieren, handeln und dann sehen, wie es funktioniert forderte. Gleichzeitig sind die Menschen in die Städte hat. Ich kann als Bauer nicht so viel theoretisch ausden- gezogen. In ihrem Heimatland Rumänien, erzählt Iona ken und dann erst umsetzen, ich muss interagieren mit Viscrianu, galten Bauern als jene, die es nicht geschafft der Wirklichkeit und den sich ständig wandelnden Um- hatten. Als in den 70er Jahren das Bewusstsein auftauch- ständen», sagt Jean-Michel. Der Konsument ist auch mit te, dass man die Natur schützen müsse, stand die moder- dem Bauern verbunden. Die Jugend hat Bewusstsein für ne Menschheit bereits mit einem Fuß im Glauben an ein die Fragen: Wen unterstützen wir mit dem Kauf von Pro- Wirtschaftswachstum, das mehr auf Quantität denn auf dukten? «Wenn Essen eine landwirtschaftliche Tätigkeit Qualität setzte. Man fragte nicht mehr, ob etwas gut sei, ist, muss ich wissen, woher mein Essen kommt. Wenn ich sondern ob es mehr werden könne. Der Beziehungsver- ‹Konsumentin› bin, bin ich schon in der wirtschaftlichen lust zur Natur sei aber auch als Befreiung von der Natur Denkweise. Wenn aber da mein Bauer ist, der mein Essen zu verstehen, verdeutlicht Jean-Michel Florin. Sie führe produziert, handle ich anders und verantwortungsvoller dazu, dass wir heute selbst entscheiden müssen, was wir mit und für ihn, als ich es bisher als Konsumentin getan mit der Freiheit anfangen wollen. Er als biodynamischer habe», sagt Petra Derkzen. Landwirt hat sich entschieden, das Verhältnis zwischen den Bereichen Erde, Pflanze, Tier und Mensch zu verbes- Praktische Zukunft sern, was auch heißt, ein ‹Klima› zu schaffen, das gesund Johannes Kronenberg berichtet von einem jungen Land- ist, das Freude macht. wirt, der das Problem sehe, dass die älteren Bauern ihre Höfe nicht übergeben wollen an jüngere Menschen. Wie Klima fühlen können wir zusammen lernen? Wie können die jungen Wenn ein Pferd in Jean-Michels Dorf seine Äpfel auf die Menschen Fähigkeiten entwickeln, die Atmosphäre zu Straße fallen lässt, regen sich Leute über den Geruch auf. schauen? «Wir lernen, dass wir uns auf die Dinge fokus- Sie merken aber nicht mehr, dass die Autos stinken. Zu sieren sollen. Aber wir müssen lernen, zwischen die Din- sehen, was um mich ist, ist der Beginn des Klimas, meint ge zu sehen: zwischen die Menschen, zwischen die Tiere er. Insofern ist die Frage nach dem Atmen in der Klima- und Pflanzen, zwischen Himmel und Erde, ein atmosphä- krise auch eine Frage an unsere Fähigkeit, mit unserem risches Bewusstsein entwickeln», sagt Jean-Michel. • Fühlen wieder an die Welt anzuschließen. Um aus der Wir lernen immer, dass wir uns auf die Dinge fokussieren Wirklichkeit heraus zu arbeiten, brauche es eine humani- sollen. Wir müssen lernen, zwischen die Dinge zu sehen, sierte Wissenschaft, meint Ioana, sodass man die For- ein atmosphärisches Bewusstsein zu entwickeln. schungsgegenstände, mit denen man zu tun hat, kennt Text: Wolfgang Held 15
Präparate spritzen Michaelbrief «Von der Natur zur Unternatur»* Petra Derkzen, Johanna Lamprecht und Jakob Bergsma Tag 1 * «Damit aber kennzeichnet sich das Mechanische als das rein Irdische. Denn das Naturgesetzmäßige, in Farbe, Ton Über unseren Atem sind wir zutiefst mit der Atmosphäre und so weiter ist im Irdischen aus dem Kosmos zugeflos- verbunden. Wir atmen ein, und aus, wir atmen die Klima- sen. Erst im Erdenbereich wird auch dem Naturgesetzmä- krise ein und müssen mit ihr leben – irgendwie. Wir sind ßigen das Mechanische eingepflanzt, wie ihm der Mensch selbst dann mit ihr verbunden, wenn wir versuchen, den mit seinem eigenen Erleben erst im Erdenbereich gegen- Gedanken an sie zu verbannen. übersteht.» Was sagt uns der letzte Michaelbrief aus der von Rudolf Während wir in der Lage sind, technisch zu denken, sind Steiner geschriebenen Reihe? Rudolf Steiner schreibt darü- wir nicht mehr in derselben Weise mit dem anderen Pol ber, wie wir zutiefst mit den irdischen Kräften verbunden verbunden, dem Kosmos. Das Technische kommt als sind nur dadurch, dass wir auf der Erde in einem physi- natürliche Tatsache zu uns, es ist einfach vorhanden. In schen Körper geboren worden sind, mit dem wir laufen, früheren Stadien der menschlichen Evolution sahen wir es stehen und uns bewegen können. Diese irdischen Kräfte auch als selbstverständlich an, in der Lage zu sein, das Spi- bringen ein Gefühl des Technischen zu unserer Funktion rituelle in allem um uns herum zu fühlen und zu sehen. Es als Menschen. Wir sind mit der Macht der Schwerkraft war einfach da, so wie unsere derzeitige Art und Fähig- konfrontiert, mit dem Gleichgewicht, mit Geschwindig- keit, technisch denken zu können, immer noch da ist. Das keit. Wir können auf einem Fahrrad sitzen und sehen, wie Wirken der Elementarwesen war einfach offensichtlich für sich das Rad in Verbindung mit der Kette dreht und wie uns da, so wie wir heute das Fahrradfahren durch die Stadt uns dieser Mechanismus durch die Stadt fahren lässt. In erleben. Dadurch, dass wir dies verloren haben, wurden der Lage zu sein, sich in einer mechanischen, technischen wir einseitig, auf natürliche Weise nur mit dem irdischen Weise zu entwickeln und so zu denken, ist ein natürlicher Pol verbunden. Bestandteil davon, in einer physischen Welt geboren wor- den zu sein, sagt Rudolf Steiner. «In der Zeit, in der es eine von der eigentlichen Natur un- abhängige Technik noch nicht gab, fand der Mensch den Geist in der Naturanschauung. Die sich unabhängig ma- * Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze. GA 26. 16
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