Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
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Wohnen im Alter: gestern – heute – morgen JUBILÄUMSAUSGABE 2012 Wohnformen im Zyklus der gesellschaftlichen Entwicklung „Die schwerelose Alterswohnung” – eine Zukunftsvision der Künstle- rin Sylvia Geel – würde viele Stolperfallen beseitigen. Wie man heute und in Zukunft auch mit Schwerkraft unbeschwert im Alter wohnt und welche historischen Entwicklungen dahinterstehen, erfahren Sie in diesem Heft. Auf der Reise durch Wohnraum und Zeit begleiten Sie: ein Alters- und zwei Zukunftsforscher, eine 80-jährige Autorin, der Direktor des BWO sowie eine Projektspezialistin.
JUBILÄUMSAUSGABE 2012 INHALT Haushalten und Wohnen im Alter – 04 im historischen Wandel Mythos und Wirklichkeit Mit achtzig umziehen? 12 Bericht einer Betroffenen Verborgene Innovationen 16 Interview mit Karin Weiss Braucht die Schweiz eine Alterswohnpolitik? 22 Interview mit Ernst Hauri Die Zukunft des Wohnens im Alter 26 Zwischen Freiheit und Sicherheit ANHANG Die Age-Wohn-Matrix 30 Wohnvielfalt stärken, Begriffsvielfalt bändigen Die Age Stiftung 36 10 Jahre engagiert für gutes Wohnen im Alter
Ein Thema in Bewegung Von Hans Peter Farner Stiftungsratspräsident „Wohnen im Alter“ – was als len Stand der Entwicklung zu klarer Begriff erscheint, befin- ziehen. Karin Weiss ist dafür die det sich in Wahrheit in einer richtige Person. Sie hat als Leite- überraschend dynamischen Ent- rin des Bereichs Förderbeiträge wicklung. Und das in jeder Be- in den letzten Jahren mehr als ziehung. Seit zehn Jahren en- 300 Alterswohnprojekte analy- gagiert sich die Age Stiftung für siert. neue Wohnformen im Alter. In dieser Zeit ist eine neue, gebur- Und was bringt die Zukunft? Dr. Ernst Hauri, Direktor des 3 tenstarke Generation mit verän- Bundesamtes für Wohnungswe- derten Wohnbedürfnissen in die sen, gibt im Interview einen Aus- nachfamiliäre Phase eingetreten, blick. Und zwei Trendforscher haben sich neue Wohnmodel- des Gottlieb Duttweiler Instituts le etabliert, alterspolitische Stra- porträtieren jene Generation, tegien wurden angepasst sowie die das Wohnen im Alter in den die rechtlichen Rahmenbedin- kommenden Jahren neu prägen Hans Peter Farner gungen im Gesundheitswesen wird: die Babyboomer. Präsident des Stiftungsrates umgekrempelt. Und nicht zu- Die Rundumschau zeigt: An letzt macht die demografische den unterschiedlichsten Stel- Entwicklung das Wohnen im Al- len und in den verschiedens- ter zum gesellschaftlich hochre- ten Berufsfeldern werden neue levanten Thema. Wohn- und Betreuungsmodelle Im Jubiläumsjahr zeichnen wir entwickelt, adaptiert und umge- die Entwicklung nach und wer- staltet. fen einen Blick aufs Gestern, Damit man in diesem weiten Heute und Morgen. Prof. Fran- Innovationsfeld nicht die Orien- çois Höpflinger räumt auf einer tierung verliert, hat die Age Stif- Zeitreise in die Vergangenheit tung ein einfaches Positionie- gleich mehrere Irrtümer über das rungssystem für Wohnmodelle Wohnen in der guten alten Zeit und -projekte entwickelt. Die aus dem Weg. Age-Wohn-Matrix stellen wir Ih- Zurück im Jetzt begegnen wir nen in diesem Heft zum ersten Frau Judith Giovannelli-Blocher. Mal vor. Damit wollen wir den Die 80-jährige Autorin ist vor Dialog und eine befruchtende kurzem in eine neue Wohnung Zusammenarbeit fördern. gezogen. Sie erzählt im Inter- view, was Menschen im fragilen Ich wünsche Ihnen eine span- Rentenalter beim Wohnen wirk- nende Lektüre mit neuen Einbli- lich bewegt. cken und Aussichten. Hier und heute ist es auch an der Age Stiftung, ein eige- Hans Peter Farner nes Zwischenfazit zum aktuel- Stiftungsratspräsident
Age Dossier 2012 4 Mehrere Generationen im Familienverband 1 Haushalten und Wohnen Bis ins frühe 20. Jahrhundert gal- ten jene Personen als alt, deren körperliche und geistige Kräf- im Alter – im historischen te schwanden, nicht jedoch Personen, die ein bestimmtes Wandel kalendarisches Alter überschrit- ten hatten. Sofern chronolo- gisch eingeordnet, begann die Schwelle zum Alter vielfach mit Mythos und Wirklichkeit dem 60. Altersjahr. Ab diesem Alter wurden Männer im Mittel- von François Höpflinger alter und in der frühen Neuzeit vom Kriegsdienst befreit, ebenso von der Pflicht, öffentliche Äm- Die Vorstellung, dass früher alle Alten im ter zu übernehmen, und in Eng- Schosse einer Grossfamilie betreut und ge- land wurde 1503 ein Erlass ein- geführt, dass Bettler über 60 pflegt wurden, ist ein Mythos. Als Ideal galt milder zu behandeln seien als auch in früheren Epochen ein Alter ausser jüngere Bettler. Die soziale Stellung älterer Reichweite obrigkeitlicher Anstalten und in Menschen in vor- und frühin- Unabhängigkeit von der Bevormundung durch dustriellen Gesellschaften war abhängig von ihrer körperlichen die eigenen Kinder. Armut im Alter war früher Kraft bzw. der Fähigkeit zur Wei- häufig, und eine gute Wohnqualität im Alter terarbeit im angestammten Be- ruf sowie von ihren Besitzver- wurde für die Mehrheit erst mit dem Ausbau hältnissen. Wie heute besassen einer sozialen Altersvorsorge möglich. Personen der Oberschicht bes- sere Chancen, ein höheres Alter zu erleben, als Personen der Un- terschicht. So erreichten in der
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen 2 3 5 Stadtrepublik Genf im 17. Jahr- lungen. Erstens war die Lebens- umfassten 1720 in der Repub- hundert von 1000 Personen aus erwartung gering und so ein lik Genf nur 4,6% aller Familien- der Oberschicht (höhere Amts- Zusammenleben von Enkelkin- haushalte mehr als zwei Genera- träger, Gross- und mittleres Bür- dern mit den Grosseltern selten. tionen. Im Bauerndorf Herrliberg gertum) 305 das 60. Lebensjahr. Noch 1900 war gut die Hälfte (Zürich) lag der Anteil der Mehr- Bei der Mittelschicht (Kleinbür- der Grosseltern bei der Geburt generationenhaushalte 1739 et- gertum, Handwerker, qualifizier- eines Kindes schon verstorben. was höher (13%), aber auch in te Arbeiter) waren es 171 und Zweitens wurde in Nord- und ländlichen Gebieten dominierten bei der Unterschicht (unqualifi- Mitteleuropa mit der Entwick- Kleinhaushalte. Erweiterte Fami- zierte Arbeiter, Handlanger) so- lung des europäischen Heirats- lien, die Verwandte in aufstei- gar nur 106. Zudem wurde die modells (ab 16. Jahrhundert) ein gender, absteigender oder seit- Lebens- und Wohnsituation al- getrenntes Wohnen verschiede- licher Linie umfassten, machten ter Männer und vor allem al- ner Generationen schon früh zur im 18. Jahrhundert nur 10–20% ter Frauen vor Einführung einer kulturellen Norm. Im Jahre 1637 aller Haushalte aus. Die Mehrheit staatlichen Altersvorsorge weit- führten beispielsweise 92% aller der älteren Personen lebte in ei- aus stärker als heute durch ihren über 60-jährigen Zürcher ihren nem eigenständigen Haushalt, Familienstand (ledig, verheiratet, eigenen Haushalt. Das wurde idealerweise in der Nähe der verwitwet) und ihre Position im in den Städten dadurch erleich- Nachkommen. Familienverband (Hausmutter, tert, dass alte Handwerker be- Das nord- und mitteleuropäi- ledige Tante u.a.) bestimmt. sonderen Schutz genossen (Kon- sche Familienmodell stellte nicht kurrenzverbote) oder physisch die Grossfamilie, sondern die nicht anspruchsvolle Arbeiten Ehe als Versorgungseinheit ins Familiale Einbettung und (Nachtwächter, Flickarbeiten Zentrum. Die Betonung der Ehe Haushaltssituation alter u.a.) für alte Menschen reser- als wirtschaftliche Existenzein- Menschen früher viert wurden, was eine beschei- heit wird darin deutlich, dass dene Existenzsicherung auch bei in der Alten Eidgenossenschaft Die Vorstellung, dass früher die abnehmender Arbeitskraft ge- eine Heirat zeitweise erst bei Alten im Schoss ihrer Familie be- währleistete. wirtschaftlich nachgewiesener treut und gepflegt wurden, ist Dreigenerationen-Haushal- Existenzsicherung erlaubt wur- weit verbreitet, entspricht aber te waren in der vorindustriel- de oder dass eine Wiederverhei- kaum den historischen Feststel- len Schweiz die Ausnahme. So ratung nach einer Verwitwung
Age Dossier 2012 6 4 Haushalten und Wohnen Aufgrund der oft prekären wirt- schaftlichen Lage gehörten in rationenverträge). Da das Aus- gedinge eine Mindestgrösse des im Alter – im historischen bäuerlichen Kreisen Streitigkei- Hofes voraussetzte, war es in der ten über die Versorgung nicht Alpenregion wenig verbreitet. Wandel mehr arbeitsfähiger Eltern oder Mit der industriellen Entwick- Grosseltern zum Alltag. Das ge- lung veränderte sich die Lebens- meinsame Zusammenleben er- und Haushaltssituation der äl- Mythos und Wirklichkeit wachsener Kinder und alter teren Bevölkerung. Heim- oder Eltern entsprach nicht den ide- Fabrikarbeit ermöglichten Er- alisierten Bildern über das Le- werbsarbeit ohne Grund und ben alter Menschen im Schosse Boden. Das erhöhte die Unab- der Familie, sondern war meist hängigkeit der jüngeren Genera- eine wirtschaftliche Zwangsge- tion, die sich früher vom Eltern- meinschaft. Um die Generatio- haus ablösen konnte. Teilweise nenbeziehungen zu entlasten, führte die industrielle Heimar- verbreitete sich ab Mitte des beit in der Schweiz des späten 17. Jahrhunderts in verschiede- 18. Jahrhunderts zu speziellen häufig war. In Genf gingen im nen Regionen Mitteleuropas die Generationenbeziehungen, in- 18. Jahrhundert 41% der ver- Institution des Ausgedinges. Das dem zwar jede Kernfamilie unter witweten Männer, und 18% der Ausgedinge war der geregelte einem gesonderten Dach lebte, verwitweten Frauen eine zweite Rückzug aufs Altenteil (z.B. ins die wirtschaftlichen Verhältnis- Ehe ein. Auch in den Schwyzer Stöckli) mit rechtlich geregel- se jedoch enge Notgemeinschaf- Pfarreien Freienbach-Wollerau ter Versorgung des alten Bauern ten zwischen Jung und Alt er- heirateten in der Periode 1660– oder der alten Bäuerin im Famili- zwangen. Mit der industriellen 1779 38% der Witwer und 17% enbetrieb. Dieser wurde der jun- Entwicklung und der Ausdeh- der Witwen erneut. Namentlich gen Generation zu Lebzeiten der nung städtischer Lebenswei- von jüngeren Witwen wurde Eltern übergeben. Oft wurden sen im 19. Jahrhundert gewann eine Wiederverheiratung erwar- Wohnrecht, Lebensmittel- und das getrennte Wohnen der Ge- tet, da für Frauen ausserhalb der Holzlieferungen usw. detailliert nerationen weiter an Bedeu- Ehe keine soziale Sicherung ge- vereinbart und notariell beglau- tung. Allerdings war auch bei währleistet war. bigt (im Sinne eigentlicher Gene- der aufkommenden industriellen
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen Darstellungen alter Menschen portie- ren nicht nur historisch-zeitgenössische physische Lebensumstände, sondern auch Haltungen dem Alter gegenüber. Im Mittelalter und in der frühen Neu- zeit fehlten dazu aber Motiv und Moti- vation: die Lebensspanne war kurz und der alte, schwache Mensch galt kaum als darstellungswürdig. Eine Rarität ist Abb. 1: Unbeteiligt, aber eingebettet in den Alltag des 15. Jahrhunderts tritt ein Grossmütterchen aus der Kapelle, wo sie sich bereits der jenseitigen Welt zuwendet. Im 17. Jahrhundert dagegen werden alte Menschen als Teil des Familienhaushalts gezeigt. Sie verrichten Arbeiten (Abb. 2) oder feiern mit der Familie, wie bspw. als „Bohnenkönig“ in Abb. 4. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts findet die Inthronisation des Alters statt. Der alte Mensch wird geachtet und idealisiert. „Grossvaters Geburtstag – die Gratu- lation” (Abb. 3) zeigt das Ideal des von 5 allen hochgeschätzten Alten. 7 Fabrikarbeiterschaft die Kombi- Drei-Generationen-Familien auf- Witwer bei den Kindern. Noch nation von getrenntem Haushal- grund der erhöhten Lebenser- weniger geworden sind Dreige- ten und ausgeprägter intergene- wartung und des Mangels an nerationenhaushalte: der Anteil rationeller Unterstützung häufig. Knechten und Mägden vorüber- der mit Grosseltern zusammen Dies umso mehr als sich in der gehend häufiger. Danach ver- wohnenden Kinder hat sich zwi- Schweiz die Industrialisierung stärkte sich auch in diesen Regi- schen 1970 und 2000 von 4% dezentralisiert vollzog, weshalb onen der Trend zur Kleinfamilie, auf knapp 1,5% verringert. Da- viele junge Leute in Nähe ihres und die Idee eines selbstständi- gegen wuchs der Anteil allein- Geburtsortes Arbeit fanden. gen Lebens der Generationen lebender alter Frauen und Män- Wirtschaftliche Faktoren (Auf- gewann weiter an Boden. Die ner (Singularisierung des Alters). lösung der Zünfte, Proletarisie- Zunahme in der Zahl von Drei- Der Anteil allein Lebender im rung und verstärkte Bedeutung Generationen-Familien blieb ein Alter von 80 Jahren und älter der physischen Körperkraft in vorübergehendes Phänomen, stieg zwischen 1970 und 2009 der industriellen Produktion) sie hat jedoch den Mythos von bei den Männern von 16% auf brachten es mit sich, dass im der vorindustriellen Grossfamilie 28%, bei den Frauen sogar von 19. Jahrhundert speziell für un- mitgeprägt. 31% auf 54%. tere soziale Schichten Altwer- In der Nachkriegszeit (nach den nicht nur einen Statusver- 1945) setzte sich der Trend zum lust, sondern auch den Verlust selbstständigen Wohnen und Versorgungs- und Wohn ihrer Unabhängigkeit (eigener Leben der Generationen fort. formen im Alter – ausserhalb Haushalt) bedeutete. So stieg in Haushaltsgemeinschaften älte- des Privaten dieser Zeit die Zahl älterer Bett- rer Frauen und Männer mit ihren geher, Schlafgänger und Unter- erwachsenen Kindern wurden Bis ins 20. Jahrhundert hinein mieter deutlich, ebenso die Zahl rar, obwohl sich die gemeinsa- war Arbeit bis ins Grab für die älterer Menschen, die aus finan- me Lebensspanne der Genera- grosse Mehrheit der Bevölkerung ziellen Gründen nichtverwandte tionen deutlich ausweitete. Äl- ein unabdingbares Muss. Die Mitbewohner aufnahmen. In ei- tere Menschen und namentlich wirtschaftliche Sicherheit im Al- nigen ländlichen Regionen der auch Menschen im Alter von 80 ter hing für die Mehrheit der Be- Schweiz wurden gegen Ende des Jahren und mehr leben selten völkerung von der Fähigkeit ab, 19. Jahrhunderts und zu Beginn mit ihren Kindern zusammen. im angestammten Beruf weiter des 20. Jahrhunderts zudem Am ehesten leben alte Väter als zu arbeiten, und selbst 1920 wa-
Age Dossier 2012 8 Grosseltern und Enkel unter einem Dach 6 Haushalten und Wohnen ten Mittelalter, beispielsweise 1228 die Stiftung des Heiliggeist verbringen und die gute Pfrund geniessen. Wer zu arm war, ei- im Alter – im historischen Spitals am Markt in St. Gallen nen Pfrundschilling zu entrich- (Zweck: „ad infirmorum custo- ten, musste sein täglich Brot und Wandel diam et pauperum solatium“). Mus erarbeiten. So entstanden Die Hospize, die sich allgemein neben den Armenhäusern auch an alle Kranken und Armen rich- Wohnstifte und Pfrundhäuser, Mythos und Wirklichkeit teten, nahmen oft auch arbeits- die alten Menschen vorbehal- unfähige alte Menschen auf. Die ten waren, die sich mit einer Ein- Hospize bzw. Spitäler achteten kaufssumme einen Platz sichern bei der Festsetzung ihrer Prei- konnten. Im Unterschied zu den se teilweise auf Alter und Ge- Armenhäusern verfügten die Be- sundheitszustand. Während ein wohner von Pfrundhäusern über junger kranker Mann Ende des grössere Freiheiten, mehr Pri- 15. Jahrhunderts im Berner Insel- vatsphäre und allgemein mehr spital für seine Pfründe 150 Gul- Komfort. Verpfründungen oder den zahlen musste, kam eine äl- später auch Leibrentenverträge ren 60% aller über 70-jährigen tere, von Krankheit geschwächte waren allerdings einzig für wohl- Männer noch erwerbstätig. Das Frau – von der man annahm, dass habende Menschen eine Mög- altersbedingte Nachlassen der sie bald sterben werde – mit 27 lichkeit einer sozialen Altersver- Kräfte führte oft zur Verarmung. Gulden aus. In Bern musste sich sorgung. Vor allem in der Unterschicht war im Jahre 1512 ein Pfründner ver- Ab dem 16. Jahrhundert kam Armut eine meist unumgängli- traglich verpflichten, bei langer es in der Alten Eidgenossen- che Begleiterscheinung des Al- Lebensdauer Geld nachzuzah- schaft zur Kommunalisierung ters. Gegen Ende des 18. Jahr- len. In manchen Spitälern wurde der Armenfürsorge, wodurch hunderts waren beispielsweise in zwischen bemittelten und unbe- die Bürgergemeinden für die Olten zwei Drittel der Fürsorge- mittelten Betagten unterschie- Versorgung bedürftiger Men- empfänger über 55 Jahre alt. den, so etwa im unteren Spital schen (aller Altersgruppen) ver- Erste Wohltätigkeitseinrich- in Winterthur: Wer eine Eintritts- antwortlich wurden. Die kom- tungen (Armenhäuser, Hospi- summe zahlen konnte, durfte munale Armenunterstützung ze) entstanden schon im spä- seine Tage in anständiger Ruhe beschränkte sich allerdings auf
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen Diese Hochblüte des Alters brachte viele Grosseltern- und Enkelbilder hervor. Lebten Grosseltern im Familienverband, küm- merten sie sich um die Enkel und vermittel- ten ihr Wissen und Können (Abb. 8). „Der liebevolle Grossvater“ von 1865 (Abb. 6) ide- alisiert diese Grossel- tern-Enkel-Beziehung noch stärker als das 200 Jahre ältere Bild einer Grossmutter, die ihren Enkel kämmt 7 (Abb. 7). 8 9 Bürger. Arme ohne Bürgerrechte sierte und räumlich getrennte mit „Insassen“. Ab den 1960er- wurden aus der Gemeinde ver- Einrichtungen für spezifische Jahren wurde die Pflege aus- trieben, etwa mit gezielten Bet- Problemgruppen gegründet: gebaut, weil sich aufgrund der telverboten und Bettlerjagden. Krankenhäuser, Waisenhäuser, wirtschaftlichen Lage die Anfor- Auswärts wohnende Bürger und Jugendanstalten, Strafanstal- derungen verschoben: Anstelle Bürgerinnen, die im Alter ver- ten, Irrenhäuser und Altershei- von armen kamen vermehrt pfle- armten, waren gezwungen, in me. Viele Altersheime wurden gebedürftige alte Menschen. Die das Bürger- bzw. Altersheim ih- an abgelegenen Randlagen an- ersten Pflegeheime orientierten rer Bürgergemeinde zu ziehen. gesiedelt, was einer Ausgliede- sich baulich sehr stark an Kran- Die Durchsetzung des Wohn- rung alter Menschen Vorschub kenhäusern. Erst ab den 1980er- ortsprinzips (Wohnortgemeinde leistete. Auch alte Heiminsassen Jahren wurden Pflege und Woh- ist zuständig für arme alte Men- unterlagen – im Rahmen ihrer nen stärker verbunden. Im Heim schen) gelang erst in den späten körperlichen Möglichkeiten – ei- sollte nicht nur gepflegt, son- 1970er-Jahren. Die Tradition der ner Arbeitspflicht (z.B. Garten-, dern auch gewohnt werden. Ab Kommunalisierung der Armen- Küchenarbeit) und ihr Verhalten Ende der 1980er-Jahre entstan- und Altersfürsorge führte zur wurde einer streng-moralischen den erste Pflegewohngruppen, Einrichtung vieler Bürgerheime, Anstaltsordnung unterworfen die sich an quasi-familialen Leit- die später zu Altersheimen um- (kein Ausgang ohne Bewilligung, bildern des Wohnens im kleinen genutzt wurden. Sie ist deshalb feste Aufsteh- und Essenszeiten Rahmen ausrichteten. Für Wohl- verantwortlich, dass bis heute usw.). Entsprechend vermied es habende entstanden eigentliche der Anteil stationär gepflegter der grösste Teil alter Menschen, Seniorenresidenzen. Während alter Menschen in der Schweiz so lange es irgendwie ging, sich sich 1973 die stationären Plät- höher liegt als in den Nachbar- in solche Versorgungsanstalten ze für alte Menschen zu 71% ländern. zu begeben. Als ideal galt ein Al- auf Altersheime und zu 29% auf Gegen Ende des 18. Jahrhun- ter ausser Reichweite der Zucht- Pflegeheime verteilten, leben derts und vor allem im Verlau- rute der Obrigkeit und in Unab- heute nur noch rund 3% der fe des 19. Jahrhunderts kam es hängigkeit von Bevormundung Heimbewohner in eigentlichen zu einer Ausdifferenzierung des durch die Kinder. Altersheimen ohne Pflegestruk- Anstaltswesens: Statt multifunk- Bis in die erste Hälfte des 20. turen. Die stationären Alters- tionale Einrichtungen (Hospize, Jahrhunderts blieben die (Al- und Pflegeangebote wurden Bürgerheime) wurden speziali- ters-)Heime Verwahranstalten stark ausgebaut und der An-
Age Dossier 2012 10 Im Alter auf sich allein gestellt 9 Haushalten und Wohnen formen – wie betreutes Wohnen – und mehr altersgerechte, hin- sorgen oder privates Wohnen mit ambulanten Dienstleistun- im Alter – im historischen dernisfreie Wohnungen tragen gen kombinieren, sondern ge- dazu bei, dass alte Menschen niessen häufig auch eine längere Wandel auch bei Pflegebedürftigkeit behinderungsfreie Lebenserwar- länger selbstständig haushalten tung. und wohnen können. Gleichzei- Die Entwicklung einer Alters- Mythos und Wirklichkeit tig haben die allermeisten Alters- vorsorge – als zentrale Stütze und Pflegeheime – dank offenen eines langen selbstständigen Strukturen – den Charakter als Wohnens – verlief in der Schweiz Anstalten weitgehend hinter sich deutlich verzögert. Während gelassen, auch wenn Bilder einer Deutschland schon Ende des Anstalt die öffentliche Wahrneh- 19. Jahrhunderts und Italien mung von Alters- und Pflegehei- oder Österreich schon in der men weiterhin prägen. Zwischenkriegszeit eine allge- meine Altersvorsorge – im Sinne einer gesetzlichen Pflichtversi- teil der 80-jährigen und älteren Ausbau der Altersvorsorge – cherung – einführten, gelang in Menschen in Alters- und Pflege- als Säule für langes selbst- der Schweiz der Wandel von der heimen stieg in den letzten Jahr- ständiges Wohnen Fürsorge zur Vorsorge erst spät. zehnten des 20. Jahrhunderts Obwohl die verfassungsmässi- von weniger als 18% (1970) auf Die Verschiebung vom Alters- ge Grundlage für eine gesetz- 22% (2000) an. Seit Beginn des zum Pflegeheim hat nicht nur liche Altersversicherung schon 21. Jahrhunderts zeigt sich inso- demografische Gründe (Anstieg 1925 verankert wurde, dauerte fern eine Trendwende, als der in der Zahl sehr alter Menschen es 23 Jahre, bis eine allgemeine Anteil der 80-jährigen und äl- mit erhöhtem Pflegebedarf), Altersversicherung in Kraft trat. teren Menschen, die stationär sondern ist eng mit der Entwick- Ein erstes, bescheidenes Gesetz betreut und gepflegt werden, lung der Altersvorsorge verbun- zur Einführung einer Altersversi- wieder sank (bis 2008 auf rund den. Dank ausgebauter Alters- cherung (Lex Schulthess) wurde 18%). Ein Ausbau der ambulan- vorsorge können alte Menschen 1931 abgelehnt. Schon damals ten Pflege (Spitex), neue Wohn- sich nicht nur länger privat ver- wurden Befürchtungen einer
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen Lebenslange Arbeit sicherte die Existenz, vor allem für alte Menschen, die auf sich alleine gestellt waren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts finden sich denn auch zahlreiche Bilder arbeitender Senioren. Werden sie alleine dargestellt, wie die „Alte Wollspinnerin“ (Abb. 9) von Fritz Mackensen (1891), so sind deren Hände unentwegt beschäftigt, wenn sie denn nicht lesen oder beten. Die Industrialisierung schwächt die Position alter Menschen in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Sie werden weni- ger geachtet und verschwinden wieder aus dem Idealbild. In der bildenden Kunst hingegen zeigen die Vertreter des Realismus nun auch die Positionen ausserhalb des Ideals: 10 die Arbeit knochiger Hände und gebückter Rücken. 11 11 steigenden demografischen Al- um einkommensschwachen Be- Abschlussbemerkungen terung als Gegenargumente zügern von AHV- und IV-Renten vorgebracht. Der Idee der sozia- ein existenzsicherndes Einkom- Individualisierungstendenzen len Sicherung gelang der Durch- men zu gewährleisten. 1972 bestimmen auch das Wohnen bruch erst unter dem Druck des wurde das Dreisäulenkonzept im Alter; ein Prozess, der eng II. Weltkrieges, als für die wirt- der Altersvorsorge (1. Säule: mit dem Ausbau einer existenz- schaftliche Sicherheit der Wehr- obligatorische Altersversiche- sichernden Altersvorsorge ver- männer und ihrer Familien ge- rung AHV, 2. Säule: obligatori- bunden ist. Dank verbesserter sorgt werden musste. Mittels sche berufliche Vorsorge [Pensi- wirtschaftlicher Situation profi- Vollmachtenrecht wurde vom onskassen], 3. Säule: steuerlich tieren viele ältere und alte Men- Bundesrat eine Lohn- und Ver- begünstigtes privates Sparen) in schen von einer Wohnqualität, dienstersatzordnung (LVEO) ge- der Verfassung verankert. Das von der Menschen in anderen schaffen: ein populärer Erfolg, Obligatorium der beruflichen Ländern nur träumen können. der einer durch Lohnprozente Vorsorge (BV) trat allerdings Gleichzeitig hat sich das schon finanzierten staatlichen Alters- erst 1985 in Kraft. früher vorherrschende Prin- und Hinterlassenenversiche- Mit dem Ausbau der Alters- zip von „Intimität auf Abstand“ rung (AHV) den Weg ebnete. vorsorge hat sich die Lebens- (gute Generationenbeziehun- 1947 wurde das AHV-Gesetz und Wohnsituation vieler älterer gen, gerade weil jede Genera- mit grossem Volksmehr (79,3% Menschen deutlich verbessert: tion ihren selbstständigen Le- Ja) angenommen. 1948 trat es 1950 verfügten erst zehn Pro- bens- und Wohnraum geniesst) in Kraft. zent der 65-jährigen und älte- weiter durchgesetzt. Getrenn- Zwischen 1951 und 1978 ren Menschen über einen Kühl- tes Wohnen und Haushalten wurde die AHV in 9 Revisionen schrank. Heute gehört er zum von Jung und Alt ist kein Hin- ausgebaut und an die Lohn Wohnstandard. Noch 1970 hat- weis auf einen Zerfall der Famili- entwicklung angepasst, wobei ten 25% der Rentnerhaushalte ensolidarität, sondern in moder- allerdings der eigentliche Ver- kein eigenes Bad – im Vergleich nen Gesellschaften eine zentrale fassungsauftrag (Sicherung des zu 0,7% im Jahre 2010. Men- Bedingung für gute intergenera- Existenzbedarfs durch Renten) schen im Alter geniessen heu- tionelle Beziehungsqualität. nicht erfüllt wurde. 1966 wur- te nicht nur mehr soziale Selbst- den deshalb Ergänzungsleistun- ständigkeit, sondern oft auch gen (EL) zur AHV eingeführt, hohen Wohnkomfort.
Age Dossier 2012 12 Mit achtzig umziehen? Bericht einer Betroffenen von Judith Giovannelli-Blocher Wir wohnten so schön – alle haben uns das bestätigt: ruhiges, gepflegtes Quartier, geräumige helle Wohnung im zweiten Stock eines Dreifamilienhauses, ein Ginko- Baum vor dem Balkon, im Herbst das reine Gold ver- streuend, Vogelstimmen das ganze Jahr, Pfauenrufe aus dem Park der nahen Villa, gute Kontakte zu unseren Nachbarn… Kurz vor meinem 80. Geburtstag entschie- den mein Mann und ich uns für eine neue Wohnung – eine komplette Überraschung für unsere Umgebung. „Wieso jetzt?”, fragten sie.
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen „Der Blick in die Ewigkeit” von Hodler 1885 (Abb. 13) wiederum zeigt einen betagten Schreiner der einen Sarg zimmert. Ob seiner Arbeit hält er inne und verlässt für einen Augenblick die irdische Gegenwart. Das symbolistische Bild zeigt den alten Menschen an der Schwelle zur anderen Welt. Der Gegensatz zwischen seiner existenzsichernden Arbeit und ihrem Produkt – dem Sarg als Vehikel in die andere Welt – löst einen Moment der Erkenntnis der Transzendenz aus. In krassem Gegensatz steht hierzu Kurt Blums Foto- grafie „AHV-Auszahlung durch Geldbriefträger” (Abb. 12), welche die ungemeine Entspannung durch die Einführung 12 13 der AHV dokumentiert. 13 Das Wichtigste im Leben sind dene Lebensabschnitte unter- vor fliegen! Wenn mich nicht das die Entscheidungen, die wir tref- teilt. Jeder von ihnen hat seinen Interesse an sozialen Fragen und fen. Nichts geschieht von selbst. Reiz, aber auch seine Herausfor- die Verantwortung, die ich da- Veränderungen wollen überlegt, derungen. Leben aktiv gestalten für übernehmen will, immer neu entschieden und dann auch an- ist bis ins hohe Alter gefragt. In aufrütteln würden. gepackt werden. So auch der den letzten zwei Jahren sind wir Natürlich: In unserem Alter zunehmende Druck wegen der vom autonomen Alter, das uns hätten wir noch länger an der Wohnsituation. In unserem Fall, an Freiheit, Unabhängigkeit und bisherigen Wohnung festhalten war es nicht allein die Treppe, Selbstverwirklichung reichen Se- können. Viele unserer Freunde die uns immer mühsamer er- gen gespendet hat, ins fragile hausen an steilen Hängen oder schien, sondern auch der hohe Alter geraten. Das bringt hap- kämpfen mit halsbrecherischen Zins. Ich wusste, wenn die Ne- pige Einschränkungen mit sich! Treppen in und ums Haus. Ande- benbeschäftigung des Bücher- Ich gehe am Stock und draus- re sind ohne Auto kaum erreich- schreibens und das Halten von sen eigentlich nur noch mit Hil- bar. Trotzdem fühlen sie sich wei- Lesungen eines Tages nicht mehr fe vom Arm meines Mannes. terhin wohl in ihren vier Wänden drinliegt, könnten wir die Mie- Meine Schwerhörigkeit und die und erklären konstant, sie hät- te kaum mehr bezahlen. Zudem Allgegenwärtigkeit des heuti- ten beschlossen, dereinst, genau hatte sich unsere Umgebung ver- gen Lärms allüberall lässt mich dort, wo sie seit eh und je daheim ändert: Es gab immer weniger leicht missvergnügt werden. sind, im eigenen Bett zu sterben. Kinder, immer mehr Alte wan- Die Schnelligkeit in der Um- Trotz allen Unbequemlichkeiten derten an ihren Rollatoren durch welt nimmt rasend zu und mei- halten sie eisern an der Welt fest, die Allee. Im grossen Garten uns ne Flexibilität lässt nach. Das die sie gewohnt sind. „Der Eigen- vis-à-vis wurden die Bäume ab- macht mich erlebnisscheu und sinn macht Spass“, dichtet der al- geholzt und zwei klotzartige ich tendiere dazu, mich zurück- terskundige Hermann Hesse. Da Blöcke mit Eigentumswohnun- zuziehen. Die überhandnehmen- hätte es wenig Sinn, Betroffene gen für Gutbemittelte hinge- de Müdigkeit und Schmerzen – vom Gegenteil zu überzeugen, stellt. Diese neue Nachbarschaft einmal da, einmal dort – lassen etwa durch das Beispiel unserer blieb eher anonym und kalt. mich hie und da zweifeln am greisen Nachbarin. Ich sehe das Alter des heuti- Vergnügen, hochaltrig zu sein. Die lebenstapfere, allein le- gen Menschen als grosse, weite Wenn nur der Geist nicht wäre, bende Frau, die, ein keck schräg Landschaft, die sich in verschie- denn der will fliegen, nach wie sitzendes rotes Mützchen auf
Age Dossier 2012 Lebensabend in Partnerschaft Malten die Realisten ein Bild des durch lebenslange Arbeit ausgezehrten Alten, führte der Gesellschaftswandel zeitgleich zu einer neuen Verklärung des Alters. In den politischen und wirtschaftlichen Wirren der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts generierten die Romantiker im Biedermeier die Gartenlaube als Oase der Empfindsamkeit und Symbol für einen Schon- raum. Unter diesem Schutzschirm sass das alte Ehepaar bar jeglicher Nöte und Strapazen. Arnold Böcklin zeigt noch 1891 in seiner „Gartenlaube” (Abb. 14) ein solches Paar: Hände haltend in der Laube eingenickt. Vor den beiden gedeihen Sprösslinge als Symbole für die Früchte ihres Lebens. Während Böcklins Gartenlaube die Paarbeziehung im Alter verklärt, schwärzt eine derbe Verballhornung auf einer Postkarte das gemeinsame Glück (Abb. 15). In dieser Bandbreite äussert sich die bildende Kunst zum Alter und zum Leben in Partnerschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert – die polaren Äusserungen sind symptomatisch für dieses Jahrhundert des Umbruchs, in dessen Verlauf der alte Mensch verklärt und verlacht, 14 bemitleidet und verehrt wurde. 14 Mit achtzig umziehen? Mein Mann und ich haben es ge- rade noch rechtzeitig geschafft, lien, der Schwager übernahm die elektrischen Installationen, ein ohne äusseren Druck in eine al- Nachbar half beim Zusammen- tersgerechte Wohnung umzu- setzen der Büchergestelle. Bericht einer Betroffenen ziehen. Ein Wohnungswechsel Wie bei allen Wohnungswech- kann beleben und Wunder wir- seln meines Lebens empfand ich ken fürs Lebensgefühl – aber bis den Neu-Anfang auch diesmal es so weit war… als einen wirklichen Jungbrun- Eisern hatten wir uns gesagt: nen – allerdings erst nach mehre- diesmal wählen wir nicht mehr ren Verzweiflungsanfällen wäh- nach ästhetischen Gesichtspunk- rend des Umzugsprozesses: Wer ten. Für den Rest des Lebens nimmt das viele Zeug, das sich sind praktische Kriterien ent- mit den Jahren angestaut hat scheidend: wichtig war ein ge- und man in die kleinere Woh- ringerer Mietzins, denn Existenz- nung nicht mitnehmen kann? dem Kopf, täglich ihre Run- Der Alters-Eigensinn, die letzte ängste im Alter sind quälend, ist Zuerst kann man sich fast nicht den am Rollator drehte, versi- Bastion des schwächer werden- man doch hilflos der schleichen- entschliessen, sich von etwas cherte stets: „Aus meiner Woh- den alten Menschen, wird trotz den Teuerung ausgeliefert. Nicht zu trennen – und dann kommt nung bringt mich niemand mehr, solcher Beispiele weiter beste- nur der Lift, sondern auch eine die Kränkung: niemand will et- höchstens nach Biel Madretsch“ hen. Statt sich die Zähne dar- verkehrsgünstige Lage nicht all- was von unseren kostbaren Sa- (Friedhof). Dennoch ist sie kürz- an auszubeissen, muss sich die zu weit vom bisherigen Quar- chen, denen wir so lange Sorge lich hingefallen und in der gan- Alterspflege phantasievoll und tier entfernt war für uns zentral, getragen haben. Sogar die Bro- zen Stadt fand sich keine In- liebend etwas einfallen lassen, denn Beziehungen und Kontak- ckenhäuser sind wählerisch ge- stitution, die kurzfristig Platz um den Menschen im ange- te sind im Alter sehr kostbar und worden. Überall gibt es von al- hatte für die jetzt pflegebedürf- stammten Milieu beizustehen müssen gepflegt werden. Ein In- lem viel zu viel. Der Lebensstil tige Frau. Sie liegt nun in einem oder um ihnen einen unver- serat in der Zeitung entsprach hat sich komplett geändert: Ein Dorf weit weg, in einem Heim, meidlichen Umzug schmack- sämtlichen Anforderungen. Klavier, ein kostbares Teeservice, das sie freiwillig nie ausgewählt haft zu machen. Es braucht Die Hilfe unserer Freunde war Tischtücher oder auch Bücher hätte – in einem Dreierzimmer. Angebote, die das Unabhän- nun unentbehrlich. Zwei Freun- braucht man heute kaum mehr. Ihre Wohnung wurde von Frem- gigkeitsbedürfnis der Alten be- dinnen packten alle Bücher ein, Aber man kann doch nicht ein- den geräumt. rücksichtigen. die Schwester die Küchenutensi- fach alles Liebgewordene, Wert-
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen 15 15 volle in eine Mulde schmeissen. wagen zu ihren Zielen. Am Mor- Umgebung vorhanden. Zu al- Die Alterspflege müsste hier gen schlängeln sich Ströme von lem Überfluss: über die Strasse neue Angebote zur Verfügung Schülern wie Bächlein zwischen steht das Alterszentrum, wo wir stellen, z.B. Fachkräfte, die bei den Häusern hindurch, rennen schon länger provisorisch vorge- Trennungsentscheiden und -pro- waghalsig bei Rotlicht über die merkt sind: Immer wieder besu- zessen helfen, ohne die Selbst- Strasse, holen sich in der Mit- chen wir dort Bekannte, essen bestimmung einzuschränken. tagspause beim Pizza-Bäcker vis- im öffentlichen Restaurant, neh- Nun wohnen wir sieben Mo- à-vis etwas Warmes zu essen. men Anteil am Leben im offenen nate hier und sagen jeden Tag Am Mittag streben all die Tou- Haus. Die Angst vor betreutem „Danke”. Obwohl damals bei risten, einzeln oder Gruppen, zur Wohnen verringert sich beson- der Besichtigung der erste Blick Schifflände, um später mit dem ders, seitdem eine Kindertages- von aussen wenig Gutes ver- Dampfer auf die Petersinsel zu stätte dem Haus angegliedert sprach: riesige graue Mietkaser- verschwinden. Wie schön, dies ist. Die Zukunft gehört gemisch- ne zwischen zwei höchst be- alles mitzuverfolgen. Unser Haus ten Formen der Altersbetreuung. lebten Autostrassen. Doch die ist belebt mit Menschen aller Die Alten mittendrin in der akti- Eckwohnung im 6. Stock hat Nationen. Viele arbeiten im Be- ven Umgebung, wo sie sich noch überraschend einen wunder- reich des Bahnhofs, im Coop, bei in vielem nützlich machen kön- schönen Ausblick auf den See. der Post, als Speisewagenkell- nen, vor allem auch mit Kindern. Auf der Seite grüsst der Wald ner. Nach und nach lernen wir des Juras und hinten hinaus se- die einzelnen Leute kennen, die Das Leben ist schön – ist trotz hen wir über den Bahnhof und schon eh und je für uns gearbei- allem selbst für Hochaltrige im- die ganze Stadt. Die Fenster sind tet haben. Wir sind zwar behin- mer wieder schön, dank dem, so dicht, dass wir vom Verkehr dert und alt, aber fühlen uns in dass es immer wieder Neu-An- nichts hören – und dennoch der neuen Umgebung noch mit- fänge gibt. bin ich Teilnehmerin am vielfäl- tendrin. tigen Treiben unserer lebhaften Unsere neue Wohnung ist, Stadt: der Verkehr interessiert ohne als solche ausgeschrie- mich nun plötzlich. Alte schau- ben worden zu sein, altersge- en bekanntlich gerne zu, wie der recht: Lift, kaum Schwellen im Verkehr rollt, verfolgen in Ge- Haus, Hauswart für Notfälle, In- danken all die Wagen und Last- frastruktur ist in der nächsten
Age Dossier 2012 16 Die eigenen vier Wände 16 Verborgene dizinischen oder raumplaneri- schen Lösungsansätzen gesucht. Wohnen im Alter ist also kein Innovationen Sonderthema, sondern ein viel- schichtiges Querschnittthema. Innovationen liegen selten wie Sauerkirschen oben auf der Tor- Interview mit Karin Weiss, te, sondern müssen im Kuchen Bereichsleiterin Förderprojekte, Age Stiftung selber gesucht werden. Deshalb spreche ich statt von Innovati- on lieber von „weiterführenden Das Gespräch führte Andreas Sidler Aspekten in Projekten“. Und die sind oft zwischen den Projekt- Die Age Stiftung fördert die schichten verborgen. Innovation und Vielfalt der Wohnangebote fürs Alter. In Können diese schwer erkenn- den letzten 10 Jahren haben baren weiterführenden As- Sie rund 350 Fördergesuche pekte zur Weiterentwicklung analysiert. Hand aufs Herz, des Wohnens im Alter beitra- Frau Weiss: Wohnen im Al- gen? ter ist kein Bereich, wo man Ja, ohne Zweifel. Sie zeigen neue grosse Innovationen erwar- Wege, um ähnliche Ziele zu errei- tet. Wollen die Menschen im chen wie früher, aber neu inter- Alter überhaupt neue Wohn- pretiert. Zum Beispiel mit neuen formen ausprobieren? Rechts- und Kooperationsfor- Zum Glück erschöpft sich das men oder mit neuen Organi- Thema nicht in der Erfindung sations- und Partizipationsfor- neuer Wohnformen. Neues ent- men, welche die Potenziale und deckt man durch die systemi- Ressourcen der Bevölkerung le- sche Brille. In den Projekten wird benserwartungs- und lebensstil- nach sozialen, baulichen, me- gerechter einbinden. Bei unse-
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen Der Auszug aus der angestammten Wohnung ist im Alter beängstigend. Lang bewohnte Räume sind von der Biographie durch- drungen. Diese Ver- bindung zwischen Mensch und Raum ist anderenorts nur schwer wiederher- zustellen. Das wird auch im Nebenein- ander der Fotogra- fien von Hermann Freytag (50er-Jahre, Abb. 16) und Ursula Meisser (2005, Abb. 17 17) spürbar. 17 ren Förderprojekten geht es also Sicherheit und der Kommunika- tisierte Alterswohnung und nicht nur um bauliche oder tech- tion gefördert. Die meisten sind den Pflegeroboter warten nische Entwicklungen, sondern innovations- und forschungsge- müssen? oft um soziale und organisato- trieben. Die Machbarkeit steht Viele Ansätze sind weder be- rische Innovation. Wir fördern im Vordergrund und man kon- nutzerfreundlich noch gut zu- Projekte, die das Thema des de- zentriert sich auf technische gänglich für ältere Menschen. mografischen und gesellschaftli- Fragen. Der zukünftige Nutzer Ich habe mich im Rahmen chen Wandels auf eine möglichst wird oft ausgeblendet. Niemand des europäischen Förderpro- zukunftsfähige Art angehen. Wir fragt nach seinen Erwartungen gramms Ambient Assisted Li- informieren und berichten auch und Gewohnheiten. Das ist hei- ving als Expertin schon vertieft über Aspekte von Projekten, die kel, weil kein technologiebasier- mit internationalen Hightech- es wert sind, nachgeahmt und tes System völlig autonom ist. Es projekten auseinandergesetzt, institutionalisiert zu werden. braucht immer Menschen hinter die den Anspruch hatten, stark der Technik, vor allem Dienst- forschungsgetrieben und geich- Trotzdem denkt man beim leister, die das Technische dem zeitig geschäftsmodelltauglich Begriff Innovation zuerst an Nutzer näherbringen und die bei zu sein. Ob und wann sich die- technologische Entwicklun- Fragen oder Pannen ansprechbar se Hilfsmittel und Systemlösun- gen – Pflegeroboter in Hei- sind. Dann sollte auch das Ge- gen im autonomen Wohnen men oder Computer, die den schäftsmodell passen, an dem in oder in der Pflege entwickeln, Alltag managen. der Regel mehrere Akteure mit ist wohl weniger eine Frage Oh ja, technologische Innovati- unterschiedlichen Interessen be- der Machbarkeit, sondern viel onen werden von den Medien teiligt sein müssen. Dazu kom- mehr eine Frage der individuel- gerne thematisiert! Sie erschei- men noch die gesetzlichen Hür- len und gesellschaftlichen Ak- nen häufig in spektakulärem den, vor allem, wenn man sich in zeptanz – und nicht zuletzt des Gewand. Darin schwingen der den Graubereichen des Daten- Renditeversprechens für Inves- technokratische Machbarkeits- schutzes und des Gesundheits- toren. Der steigende Kosten- glaube und die Faszination des wesens bewegt, was im Innova- druck wird wohl eine treibende Fortschritts mit. Die Age Stif- tionskontext oft der Fall ist. Rolle spielen und die demogra- tung hat mehrere technologie- fische Entwicklung wird ver- basierte Projekte in den Berei- Wir werden also noch etwas mutlich für attraktive Massen- chen der Heimautomation, der länger auf die voll automa- märkte sorgen.
Age Dossier 2012 18 18 Verborgene Innovationen Also haben sich die Vorstel- lungen gar nicht verändert? geklammert wird aber, dass sich Autonomie immer relativ zum Si- Doch. Vor 10 Jahren wurde darü- cherheitsbedürfnis verhält. Das ber debattiert, ob „Daheim oder verschärft sich mit zunehmender Interview mit Karin Weiss, im Heim” die bessere Lösung sei. Fragilität. Gutes Wohnen im Al- Bereichsleiterin Förderprojekte, Age Stiftung Heute lautet der Konsens: „Am- ter funktioniert mittelfristig nur, bulant vor Stationär”. Das fin- wenn das Wohnsystem auch bei det in der Bevölkerung Anklang. zunehmender Fragilität stimmt. Alle wollen so lange wie möglich selbstständig zuhause wohnen. Und die zahlreichen neu- Viele Politiker unterstützen die en Wohnangebote für ältere Strategie, weil es immer mehr äl- Menschen bieten das nicht? tere und immer weniger junge So absolut will ich das nicht Menschen gibt, was die Betreu- sagen. Aber für viele Anbie- ungs- und Unterstützungssyste- ter braucht eine altersgerech- „Wohnen im Alter“ wird im- me vor grosse Herausforderun- te Wohnung nur einen Lift und mer häufiger zum öffentli- gen stellt. eine hindernisfreie Nasszelle und chen Thema. Hat sich auch Küche. Angesprochen werden die Wahrnehmung des The- Dann ziehen ja alle am glei- Menschen in der späten beruf- mas verändert? chen Strick. Sie wirken trotz- lichen und nachfamiliären Phase Das Thema ist gesellschaftsfä- dem skeptisch? oder rüstige und zahlungskräf- higer, forschungsrelevanter und Nicht grundsätzlich. Aber man tige Rentner. Fragile Mieter und medienpräsenter geworden. Die darf sich nicht damit zufrieden- gebrechliche Käufer stehen ge- starke Medienpräsenz hat aber geben, dass alle die Idee attrak- linde ausgedrückt nicht im Fo- wenig zur gesellschaftlichen Be- tiv finden. Man muss weiter- kus der meisten neugestalteten wusstseinsbildung zum Altern denken. Klar ist, dass es genug Angebote und Finanzierungs- beigetragen. Das Alter wird nach altersgerechte Wohnungen auf modelle. wie vor als Zustand begriffen dem Markt geben muss, damit statt als dynamischer Prozess, der ältere Menschen auch mit Ein- Sie halten „ambulant vor sta- sich über die ganze Lebensspan- schränkungen möglichst selbst- tionär“ also für keine gute ne von 30–40 Jahren erstreckt. ständig wohnen können. Aus- Idee?
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen Zuhause im Altersheim 19 19 Doch, es ist eine gute Idee, Wenn Sie auf die letzten 10 grierter Stadt- und Quartierent- wenn man sie nicht zur Ideologie Jahre zurückblicken, wo ha- wicklung. macht, sondern als Gesamtstra- ben auf der Projektebene tegie plant und die nötigen Rah- die grössten Entwicklungen Das tönt nach einer menbedingungen schafft. Auch stattgefunden und warum Worthülse… wir arbeiten bei unserer Förder- gerade da? Ist es aber nicht. Man meint da- tätigkeit darauf hin. Bei der Umnutzung bestehen- mit, dass städtebauliche Ziele der Gebäude, beispielsweise von mit sozialen Zielen von Anfang Welche Rahmenbedingungen Schul- oder Gemeindehäusern. an mitgedacht werden müssen. sind das? Die befinden sich in zentrums- Man versucht wirtschaftliche Ak- Hierzu gehören die Entwicklung naher Lage und können multi- teure, Interessengruppen und die eines vernetzten Wohnumfeldes, funktional bespielt werden. Um- Öffentlichkeit einzubeziehen und eine funktionierende Alltagsver- nutzungen werden interessant, Kooperationen herzustellen. sorgung und eine finanzielle Basis, weil man mit Neubauten den mit der man genug Gestaltungs- zukünftigen Bedarf an altersge- Das funktioniert in den Städ- freiheit hat. Deshalb zoomen rechten Wohnungen nicht de- ten. Und ausserhalb? wir bei jedem Projekt auch auf cken kann. Dort, wo man merkt, Dort genauso. In kleineren bis die Versorgungsregion oder den dass die Wohnungsversorgung mittelgrossen Gemeinden wird Standort. Wie ist die geografi- vor Anforderungen steht, die diese Sichtweise auch von enga- sche Lage? Wie die Erschliessung weit über die Bereitstellung von gierten zukunftsorientierten und durch den öffentlichen Verkehr? altersgerechtem Wohnraum hi- veränderungsfreudigen Gemein- Wie wird der Fussverkehr gere- nausgehen, stärkt man das Zu- devertretern gelebt. Sie planen gelt und die Alltagsversorgung sammenleben der Generatio- über Gemeindegrenzen hinweg, gewährleistet? Welche Möglich- nen. Dazu braucht es gelebte denken in Versorgungsregionen keiten sieht eine Gemeinde für Nachbarschaften und Infrastruk- und ergänzen Bestehendes mit die gesundheitliche ambulante tur. Das Bewusstsein, dass die- Neuem. Sie denken in Szenari- und stationäre Versorgung vor? se motiviert, moderiert und be- en und jonglieren mit zentralen Wie durchlässig sind die Angebo- gleitet werden müssen, ist in den und dezentralen Möglichkeiten, te aufeinander abgestimmt? Wie letzten Jahren gestiegen. In der mit niederschwelligen und pro- gestaltet sich die Kommunikation Stadtentwicklung zum Beispiel fessionellen Strukturen – und sie rund um die Angebote? spricht man vermehrt von inte- müssen rechnen.
Age Dossier 2012 20 20 Verborgene Innovationen Durchlässigkeit zur gelebten Wirklichkeit der Bevölkerung er- kasten. Heute sind die Lebens- situationen der Bewohner eines reichen. Quartiers vielfältiger und indi- vidueller als früher. Das gilt für Interview mit Karin Weiss, Was meinen Sie mit Passung Familien ebenso wie für ältere Bereichsleiterin Förderprojekte, Age Stiftung und Durchlässigkeit? Menschen. Diese Unterschiede Mit „Passung“ meine ich das reduzieren den nachbarschaftli- Bewusstsein für die regionalen chen Austausch. Verhältnisse und die Lebens- weise und finanziellen Möglich- Heisst das, eine gelebte keiten der lokalen Bevölkerung. Nachbarschaft entsteht heu- Mit „Durchlässigkeit“ meine ich te nicht von selbst? Wohnangebote und Betreu- Im besten Fall schon. Doch das ungsformen, die das Altern nicht ist nicht selbstverständlich. als linearen Prozess definieren. Menschen leben mit verschie- Sie sind flexibel und können ver- denen Rhythmen nebeneinan- Und setzen dann gerade bei änderte Bedarfssituationen auf- der. Das ist wie bei einer Jamses- den Entwicklungsprojekten fangen, egal ob temporär oder sion von Musikern. Es braucht den Rotstift an? längerfristig. Auch dafür muss eine Rhythmusgruppe, die eine Nein. Manche machen aus der man in Szenarien denken. musikalische Grundstruktur vor- Not eine Tugend. Gerade in gibt, die alle beteiligten Musi- ländlichen Regionen ist es inte- Sie haben vorhin den Be- kern kennen. So kann gemein- ressant zu beobachten, unter griff „Gelebte Nachbarschaf- sam gespielt und ungezwungen welchen Bedingungen interes- ten” erwähnt. Soll das etwas improvisiert werden. Gelingt sante Kooperationen zwischen Neues sein? die Harmonik, werden Unter- Gewerbe, öffentlich-rechtlichen Nein, natürlich nicht. Aber schiede, die vorher die Leu- Institutionen und Bauträger- „Nachbarschaft” ist mehr als te getrennt haben, zu Ressour- schaften zustande kommen. räumliche Nähe. Sie ist eine Be- cen, von denen alle profitieren. Die schönsten Innovationen sind ziehung und braucht deshalb Die Nachbarschaftsarbeit ist die für mich Angebote oder Struktu- eine gemeinsame Grundlage, die Rhythmusgruppe in der Nach- ren, die eine gute Passung und mehr ist als der Gruss am Brief- barschaft.
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen Auch Hospize und Asyle als soziale Auffangstationen für alte Menschen fanden Eingang in die bildende Kunst. Sie sind Zeichen des tiefen Strukturwandels, der sich seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts einstellte. Idyllische Altersbilder liessen sich mit der Problematik der Hochindustrialisierung nicht mehr vereinen. Statt Gartenlau- ben wurden nun Altersheime und Hospize dargestellt, bspw. das „Altmännerhaus in Lübeck” von 1896 (Abb. 18) oder ein Schweizer Altersheim um die Jahrhundertwende (Abb. 19). Einen dokumentarischen Wert birgt die Aquatinta von John Bluck von 1810 (Abb. 20): Sie zeigt einen „Speisesaal im Londoner Chelsea Hospital, einem Altenheim für verdiente Berufssoldaten”. Solche Häuser für die Altersversorgung berufsunfähiger Soldaten initiierten die Entwicklung des öffentlichen Pensionssystems. Als erstes Alten- heim für Soldaten figuriert das Hôtel des Invalides in Paris, gegründet 1674. Weder dokumentierend noch anprangernd, sondern in tiefem Interesse an der Menschlichkeit und Schönheit malt Paula Modersohn-Becker 1907 ihre „Alte Armen- häuslerin mit Glaskugel und Mohnblumen” (Abb. 21). In warmen, satten Farben zeigt sie eine sitzende Alte inmitten eines Mohnfeldes, die von lebenslanger schwerer Arbeit geschwollenen Hände halten Blumen, die Glaskugel vermittelt einen Aspekt der Ver- zauberung. Wir wissen nur aufgrund des Titels, dass es sich um eine Armenhäuslerin handelt, nichts sonst weist darauf hin. Doch ist es kein Bild der Verklärung, es negiert nicht die Dumpfheit eines schweren Lebens. Dieses Bild steht für eine Kunst nach der Jahrhundertwende, die die Welt in ihrer Erscheinung unvoreingenommen zu schauen 21 und aus ihrer Tiefe heraus zu ergründen und darzustellen sucht. 21 Und wie profitieren die älte- hige Kontakte und belastbare se Denkweise zentral ist – und ren Menschen in der Nach- Strukturen für niederschwellige zwar absolut unabhängig von barschaft? Hilfe im Wohnumfeld. Sozialisierung, Branchenzuge- Wie alle anderen haben sie die hörigkeit oder Ausbildung. Die Möglichkeit, ihre Kompeten- Wenn man die Projektbe- einen werden durch die Freude zen und Ressourcen einzubrin- schreibungen auf der Website an der Lösung von komplexen gen und sich an der Gestaltung der Age Stiftung anschaut, Zusammenhängen angetrieben. des Wohnquartiers aktiv zu be- fällt auf, wie unterschiedlich Andere werden durch die eige- teiligen. Egal, ob alt oder jung die Projektträger sind. Gibt ne Betroffenheit aus dem be- – es geht darum, im Quartier es Personen und Organisati- ruflichen Alltag zu Höchstleis- oder in der Siedlung gegensei- onen, die bei der Projektent- tungen angespornt. Aus vielen tige niederschwellige, aber viel- wicklung besonders erfolg- Gesuchen, Begegnungen und fältige Unterstützung und Hilfe reich sind? Was haben sie Gesprächen geht hervor, dass anzubieten und anzunehmen. gemeinsam? sie nur mit sehr viel Herzblut, Deshalb braucht es gemeinwe- Ich wage die These, dass sys- einer zähen Gelassenheit, ei- senorientierte Partizipationsmo- temisch orientierte Lösungen ner hohen Frustrationstoleranz delle, die multidisziplinär ver- auch von Menschen und Or- und vielen freiwilligen Stunden netzt sind. ganisationen geboren wer- möglich geworden sind. Häufig den, die bereits so denken, le- sind es Akteure, die sich trotz Wie muss man sich so ein ben und handeln. Man muss Individualisierung auch dem So- Modell vorstellen? den Blick und das Flair haben, lidaritätsgedanken – und eben Es gibt keine anrührfertige In- in Zusammenhängen zu den- dem Ganzen – sehr verpflichtet stantlösung. Ein moderiertes ken, das Ganze sehen zu wol- fühlen. Und immer sind es Men- Konzept gibt aber der Entwick- len und die eigene Rolle, den schen, die Neues vorantreiben. lung der Nachbarschaft eine eigenen Auftrag und die eige- Es sind immer Persönlichkeiten, klare Richtung und lässt zu, dass nen Kompetenzen neu zu den- die bereit sind, sich häufig über sich Neues spontan und orga- ken. „Systemisches Bewuss- Jahre zu exponieren. Nicht zu- nisch entwickeln kann. Neben stein” als gemeinsamen Nenner letzt sind es Begegnungen mit konzeptionellen Fähigkeiten zu verwenden klingt etwas ab- diesen Frauen wie Männern, die braucht es auch echte Empa- gehoben. In der Förderpraxis meine Arbeit bei der Age Stif- thie. Nur so entstehen tragfä- habe ich aber gelernt, dass die- tung enorm bereichern.
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