Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen

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Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Wohnen im Alter:
gestern – heute – morgen
JUBILÄUMSAUSGABE 2012

Wohnformen im Zyklus
der gesellschaftlichen
Entwicklung
„Die schwerelose Alterswohnung” – eine Zukunftsvision der Künstle-
rin Sylvia Geel – würde viele Stolperfallen beseitigen. Wie man heute
und in Zukunft auch mit Schwerkraft unbeschwert im Alter wohnt
und welche historischen Entwicklungen dahinterstehen, erfahren Sie
in diesem Heft. Auf der Reise durch Wohnraum und Zeit begleiten Sie:
ein Alters- und zwei Zukunftsforscher, eine 80-jährige Autorin, der
Direktor des BWO sowie eine Projektspezialistin.
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
JUBILÄUMSAUSGABE 2012

INHALT

Haushalten und Wohnen im Alter –              04
im historischen Wandel
Mythos und Wirklichkeit

Mit achtzig umziehen?                         12
Bericht einer Betroffenen

Verborgene Innovationen                       16
Interview mit Karin Weiss

Braucht die Schweiz eine Alterswohnpolitik?   22
Interview mit Ernst Hauri

Die Zukunft des Wohnens im Alter              26
Zwischen Freiheit und Sicherheit

ANHANG

Die Age-Wohn-Matrix                           30
Wohnvielfalt stärken,
Begriffsvielfalt bändigen

Die Age Stiftung                              36
10 Jahre engagiert
für gutes Wohnen im Alter
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Ein Thema in Bewegung

Von Hans Peter Farner
Stiftungsratspräsident

„Wohnen im Alter“ – was als            len Stand der Entwicklung zu
klarer Begriff erscheint, befin-       ziehen. Karin Weiss ist dafür die
det sich in Wahrheit in einer          richtige Person. Sie hat als Leite-
überraschend dynamischen Ent-          rin des Bereichs Förderbeiträge
wicklung. Und das in jeder Be-         in den letzten Jahren mehr als
ziehung. Seit zehn Jahren en-          300 Alterswohnprojekte analy-
gagiert sich die Age Stiftung für      siert.
neue Wohnformen im Alter. In
dieser Zeit ist eine neue, gebur-
                                          Und was bringt die Zukunft?
                                       Dr. Ernst Hauri, Direktor des
                                                                                                            3
tenstarke Generation mit verän-        Bundesamtes für Wohnungswe-
derten Wohnbedürfnissen in die         sen, gibt im Interview einen Aus-
nachfamiliäre Phase eingetreten,       blick. Und zwei Trendforscher
haben sich neue Wohnmodel-             des Gottlieb Duttweiler Instituts
le etabliert, alterspolitische Stra-   porträtieren jene Generation,
tegien wurden angepasst sowie          die das Wohnen im Alter in den
die rechtlichen Rahmenbedin-           kommenden Jahren neu prägen
                                                                             Hans Peter Farner
gungen im Gesundheitswesen             wird: die Babyboomer.
                                                                             Präsident des Stiftungsrates
umgekrempelt. Und nicht zu-               Die Rundumschau zeigt: An
letzt macht die demografische          den unterschiedlichsten Stel-
Entwicklung das Wohnen im Al-          len und in den verschiedens-
ter zum gesellschaftlich hochre-       ten Berufsfeldern werden neue
levanten Thema.                        Wohn- und Betreuungsmodelle
   Im Jubiläumsjahr zeichnen wir       entwickelt, adaptiert und umge-
die Entwicklung nach und wer-          staltet.
fen einen Blick aufs Gestern,             Damit man in diesem weiten
Heute und Morgen. Prof. Fran-          Innovationsfeld nicht die Orien-
çois Höpflinger räumt auf einer        tierung verliert, hat die Age Stif-
Zeitreise in die Vergangenheit         tung ein einfaches Positionie-
gleich mehrere Irrtümer über das       rungssystem für Wohnmodelle
Wohnen in der guten alten Zeit         und -projekte entwickelt. Die
aus dem Weg.                           Age-Wohn-Matrix stellen wir Ih-
   Zurück im Jetzt begegnen wir        nen in diesem Heft zum ersten
Frau Judith Giovannelli-Blocher.       Mal vor. Damit wollen wir den
Die 80-jährige Autorin ist vor         Dialog und eine befruchtende
kurzem in eine neue Wohnung            Zusammenarbeit fördern.
gezogen. Sie erzählt im Inter-
view, was Menschen im fragilen         Ich wünsche Ihnen eine span-
Rentenalter beim Wohnen wirk-          nende Lektüre mit neuen Einbli-
lich bewegt.                           cken und Aussichten.
   Hier und heute ist es auch
an der Age Stiftung, ein eige-         Hans Peter Farner
nes Zwischenfazit zum aktuel-          Stiftungsratspräsident
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Age Dossier 2012

4                                                                  Mehrere Generationen im Familienverband
                                                   1

    Haushalten und Wohnen
                                                                                                             Bis ins frühe 20. Jahrhundert gal-
                                                                                                             ten jene Personen als alt, deren
                                                                                                             körperliche und geistige Kräf-

    im Alter – im historischen                                                                               te schwanden, nicht jedoch
                                                                                                             Personen, die ein bestimmtes

    Wandel
                                                                                                             kalendarisches Alter überschrit-
                                                                                                             ten hatten. Sofern chronolo-
                                                                                                             gisch eingeordnet, begann die
                                                                                                             Schwelle zum Alter vielfach mit
    Mythos und Wirklichkeit                                                                                  dem 60. Altersjahr. Ab diesem
                                                                                                             Alter wurden Männer im Mittel-
    von François Höpflinger                                                                                  alter und in der frühen Neuzeit
                                                                                                             vom Kriegsdienst befreit, ebenso
                                                                                                             von der Pflicht, öffentliche Äm-
                   Die Vorstellung, dass früher alle Alten im                                                ter zu übernehmen, und in Eng-
                   Schosse einer Grossfamilie betreut und ge-                                                land wurde 1503 ein Erlass ein-
                                                                                                             geführt, dass Bettler über 60
                   pflegt wurden, ist ein Mythos. Als Ideal galt                                             milder zu behandeln seien als
                   auch in früheren Epochen ein Alter ausser                                                 jüngere Bettler.
                                                                                                                Die soziale Stellung älterer
                   Reichweite obrigkeitlicher Anstalten und in                                               Menschen in vor- und frühin-
                   Unabhängigkeit von der Bevormundung durch                                                 dustriellen Gesellschaften war
                                                                                                             abhängig von ihrer körperlichen
                   die eigenen Kinder. Armut im Alter war früher                                             Kraft bzw. der Fähigkeit zur Wei-
                   häufig, und eine gute Wohnqualität im Alter                                               terarbeit im angestammten Be-
                                                                                                             ruf sowie von ihren Besitzver-
                   wurde für die Mehrheit erst mit dem Ausbau                                                hältnissen. Wie heute besassen
                   einer sozialen Altersvorsorge möglich.                                                    Personen der Oberschicht bes-
                                                                                                             sere Chancen, ein höheres Alter
                                                                                                             zu erleben, als Personen der Un-
                                                                                                             terschicht. So erreichten in der
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Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

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Stadtrepublik Genf im 17. Jahr-      lungen. Erstens war die Lebens-     umfassten 1720 in der Repub-
hundert von 1000 Personen aus        erwartung gering und so ein         lik Genf nur 4,6% aller Familien-
der Oberschicht (höhere Amts-        Zusammenleben von Enkelkin-         haushalte mehr als zwei Genera-
träger, Gross- und mittleres Bür-    dern mit den Grosseltern selten.    tionen. Im Bauerndorf Herrliberg
gertum) 305 das 60. Lebensjahr.      Noch 1900 war gut die Hälfte        (Zürich) lag der Anteil der Mehr-
Bei der Mittelschicht (Kleinbür-     der Grosseltern bei der Geburt      generationenhaushalte 1739 et-
gertum, Handwerker, qualifizier-     eines Kindes schon verstorben.      was höher (13%), aber auch in
te Arbeiter) waren es 171 und        Zweitens wurde in Nord- und         ländlichen Gebieten dominierten
bei der Unterschicht (unqualifi-     Mitteleuropa mit der Entwick-       Kleinhaushalte. Erweiterte Fami-
zierte Arbeiter, Handlanger) so-     lung des europäischen Heirats-      lien, die Verwandte in aufstei-
gar nur 106. Zudem wurde die         modells (ab 16. Jahrhundert) ein    gender, absteigender oder seit-
Lebens- und Wohnsituation al-        getrenntes Wohnen verschiede-       licher Linie umfassten, machten
ter Männer und vor allem al-         ner Generationen schon früh zur     im 18. Jahrhundert nur 10–20%
ter Frauen vor Einführung einer      kulturellen Norm. Im Jahre 1637     aller Haushalte aus. Die Mehrheit
staatlichen Altersvorsorge weit-     führten beispielsweise 92% aller    der älteren Personen lebte in ei-
aus stärker als heute durch ihren    über 60-jährigen Zürcher ihren      nem eigenständigen Haushalt,
Familienstand (ledig, verheiratet,   eigenen Haushalt. Das wurde         idealerweise in der Nähe der
verwitwet) und ihre Position im      in den Städten dadurch erleich-     Nachkommen.
Familienverband (Hausmutter,         tert, dass alte Handwerker be-         Das nord- und mitteleuropäi-
ledige Tante u.a.) bestimmt.         sonderen Schutz genossen (Kon-      sche Familienmodell stellte nicht
                                     kurrenzverbote) oder physisch       die Grossfamilie, sondern die
                                     nicht anspruchsvolle Arbeiten       Ehe als Versorgungseinheit ins
Familiale Einbettung und             (Nachtwächter,      Flickarbeiten   Zentrum. Die Betonung der Ehe
Haushaltssituation alter             u.a.) für alte Menschen reser-      als wirtschaftliche Existenzein-
Menschen früher                      viert wurden, was eine beschei-     heit wird darin deutlich, dass
                                     dene Existenzsicherung auch bei     in der Alten Eidgenossenschaft
Die Vorstellung, dass früher die     abnehmender Arbeitskraft ge-        eine Heirat zeitweise erst bei
Alten im Schoss ihrer Familie be-    währleistete.                       wirtschaftlich nachgewiesener
treut und gepflegt wurden, ist          Dreigenerationen-Haushal-        Existenzsicherung erlaubt wur-
weit verbreitet, entspricht aber     te waren in der vorindustriel-      de oder dass eine Wiederverhei-
kaum den historischen Feststel-      len Schweiz die Ausnahme. So        ratung nach einer Verwitwung
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Age Dossier 2012

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    Haushalten und Wohnen                                         Aufgrund der oft prekären wirt-
                                                                  schaftlichen Lage gehörten in
                                                                                                      rationenverträge). Da das Aus-
                                                                                                      gedinge eine Mindestgrösse des
    im Alter – im historischen                                    bäuerlichen Kreisen Streitigkei-    Hofes voraussetzte, war es in der
                                                                  ten über die Versorgung nicht       Alpenregion wenig verbreitet.
    Wandel                                                        mehr arbeitsfähiger Eltern oder        Mit der industriellen Entwick-
                                                                  Grosseltern zum Alltag. Das ge-     lung veränderte sich die Lebens-
                                                                  meinsame Zusammenleben er-          und Haushaltssituation der äl-
    Mythos und Wirklichkeit                                       wachsener Kinder und alter          teren Bevölkerung. Heim- oder
                                                                  Eltern entsprach nicht den ide-     Fabrikarbeit ermöglichten Er-
                                                                  alisierten Bildern über das Le-     werbsarbeit ohne Grund und
                                                                  ben alter Menschen im Schosse       Boden. Das erhöhte die Unab-
                                                                  der Familie, sondern war meist      hängigkeit der jüngeren Genera-
                                                                  eine wirtschaftliche Zwangsge-      tion, die sich früher vom Eltern-
                                                                  meinschaft. Um die Generatio-       haus ablösen konnte. Teilweise
                                                                  nenbeziehungen zu entlasten,        führte die industrielle Heimar-
                                                                  verbreitete sich ab Mitte des       beit in der Schweiz des späten
                                                                  17. Jahrhunderts in verschiede-     18. Jahrhunderts zu speziellen
                              häufig war. In Genf gingen im       nen Regionen Mitteleuropas die      Generationenbeziehungen, in-
                              18. Jahrhundert 41% der ver-        Institution des Ausgedinges. Das    dem zwar jede Kernfamilie unter
                              witweten Männer, und 18% der        Ausgedinge war der geregelte        einem gesonderten Dach lebte,
                              verwitweten Frauen eine zweite      Rückzug aufs Altenteil (z.B. ins    die wirtschaftlichen Verhältnis-
                              Ehe ein. Auch in den Schwyzer       Stöckli) mit rechtlich geregel-     se jedoch enge Notgemeinschaf-
                              Pfarreien Freienbach-Wollerau       ter Versorgung des alten Bauern     ten zwischen Jung und Alt er-
                              heirateten in der Periode 1660–     oder der alten Bäuerin im Famili-   zwangen. Mit der industriellen
                              1779 38% der Witwer und 17%         enbetrieb. Dieser wurde der jun-    Entwicklung und der Ausdeh-
                              der Witwen erneut. Namentlich       gen Generation zu Lebzeiten der     nung städtischer Lebenswei-
                              von jüngeren Witwen wurde           Eltern übergeben. Oft wurden        sen im 19. Jahrhundert gewann
                              eine Wiederverheiratung erwar-      Wohnrecht, Lebensmittel- und        das getrennte Wohnen der Ge-
                              tet, da für Frauen ausserhalb der   Holzlieferungen usw. detailliert    nerationen weiter an Bedeu-
                              Ehe keine soziale Sicherung ge-     vereinbart und notariell beglau-    tung. Allerdings war auch bei
                              währleistet war.                    bigt (im Sinne eigentlicher Gene-   der aufkommenden industriellen
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

                                                                                                     Darstellungen alter Menschen portie-
                                                                                                     ren nicht nur historisch-zeitgenössische
                                                                                                     physische Lebensumstände, sondern
                                                                                                     auch Haltungen dem Alter gegenüber.
                                                                                                     Im Mittelalter und in der frühen Neu-
                                                                                                     zeit fehlten dazu aber Motiv und Moti-
                                                                                                     vation: die Lebensspanne war kurz und
                                                                                                     der alte, schwache Mensch galt kaum
                                                                                                     als darstellungswürdig. Eine Rarität ist
                                                                                                     Abb. 1: Unbeteiligt, aber eingebettet
                                                                                                     in den Alltag des 15. Jahrhunderts tritt
                                                                                                     ein Grossmütterchen aus der Kapelle,
                                                                                                     wo sie sich bereits der jenseitigen
                                                                                                     Welt zuwendet. Im 17. Jahrhundert
                                                                                                     dagegen werden alte Menschen als
                                                                                                     Teil des Familienhaushalts gezeigt.
                                                                                                     Sie verrichten Arbeiten (Abb. 2) oder
                                                                                                     feiern mit der Familie, wie bspw. als
                                                                                                     „Bohnenkönig“ in Abb. 4. In der 2.
                                                                                                     Hälfte des 18. Jahrhunderts findet die
                                                                                                     Inthronisation des Alters statt. Der alte
                                                                                                     Mensch wird geachtet und idealisiert.
                                                                                                     „Grossvaters Geburtstag – die Gratu-
                                                                                                     lation” (Abb. 3) zeigt das Ideal des von
                                                                                            5        allen hochgeschätzten Alten.
                                                                                                                                                 7

Fabrikarbeiterschaft die Kombi-      Drei-Generationen-Familien auf-     Witwer bei den Kindern. Noch
nation von getrenntem Haushal-       grund der erhöhten Lebenser-        weniger geworden sind Dreige-
ten und ausgeprägter intergene-      wartung und des Mangels an          nerationenhaushalte: der Anteil
rationeller Unterstützung häufig.    Knechten und Mägden vorüber-        der mit Grosseltern zusammen
Dies umso mehr als sich in der       gehend häufiger. Danach ver-        wohnenden Kinder hat sich zwi-
Schweiz die Industrialisierung       stärkte sich auch in diesen Regi-   schen 1970 und 2000 von 4%
dezentralisiert vollzog, weshalb     onen der Trend zur Kleinfamilie,    auf knapp 1,5% verringert. Da-
viele junge Leute in Nähe ihres      und die Idee eines selbstständi-    gegen wuchs der Anteil allein-
Geburtsortes Arbeit fanden.          gen Lebens der Generationen         lebender alter Frauen und Män-
   Wirtschaftliche Faktoren (Auf-    gewann weiter an Boden. Die         ner (Singularisierung des Alters).
lösung der Zünfte, Proletarisie-     Zunahme in der Zahl von Drei-       Der Anteil allein Lebender im
rung und verstärkte Bedeutung        Generationen-Familien blieb ein     Alter von 80 Jahren und älter
der physischen Körperkraft in        vorübergehendes       Phänomen,     stieg zwischen 1970 und 2009
der industriellen Produktion)        sie hat jedoch den Mythos von       bei den Männern von 16% auf
brachten es mit sich, dass im        der vorindustriellen Grossfamilie   28%, bei den Frauen sogar von
19. Jahrhundert speziell für un-     mitgeprägt.                         31% auf 54%.
tere soziale Schichten Altwer-          In der Nachkriegszeit (nach
den nicht nur einen Statusver-       1945) setzte sich der Trend zum
lust, sondern auch den Verlust       selbstständigen Wohnen und          Versorgungs- und Wohn­
ihrer Unabhängigkeit (eigener        Leben der Generationen fort.        formen im Alter – ausserhalb
Haushalt) bedeutete. So stieg in     Haushaltsgemeinschaften älte-       des Privaten
dieser Zeit die Zahl älterer Bett-   rer Frauen und Männer mit ihren
geher, Schlafgänger und Unter-       erwachsenen Kindern wurden          Bis ins 20. Jahrhundert hinein
mieter deutlich, ebenso die Zahl     rar, obwohl sich die gemeinsa-      war Arbeit bis ins Grab für die
älterer Menschen, die aus finan-     me Lebensspanne der Genera-         grosse Mehrheit der Bevölkerung
ziellen Gründen nichtverwandte       tionen deutlich ausweitete. Äl-     ein unabdingbares Muss. Die
Mitbewohner aufnahmen. In ei-        tere Menschen und namentlich        wirtschaftliche Sicherheit im Al-
nigen ländlichen Regionen der        auch Menschen im Alter von 80       ter hing für die Mehrheit der Be-
Schweiz wurden gegen Ende des        Jahren und mehr leben selten        völkerung von der Fähigkeit ab,
19. Jahrhunderts und zu Beginn       mit ihren Kindern zusammen.         im angestammten Beruf weiter
des 20. Jahrhunderts zudem           Am ehesten leben alte Väter als     zu arbeiten, und selbst 1920 wa-
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Age Dossier 2012

8                                                                                        Grosseltern und Enkel unter einem Dach
                                                             6

    Haushalten und Wohnen                                         ten Mittelalter, beispielsweise
                                                                  1228 die Stiftung des Heiliggeist
                                                                                                                                  verbringen und die gute Pfrund
                                                                                                                                  geniessen. Wer zu arm war, ei-
    im Alter – im historischen                                    Spitals am Markt in St. Gallen                                  nen Pfrundschilling zu entrich-
                                                                  (Zweck: „ad infirmorum custo-                                   ten, musste sein täglich Brot und
    Wandel                                                        diam et pauperum solatium“).                                    Mus erarbeiten. So entstanden
                                                                  Die Hospize, die sich allgemein                                 neben den Armenhäusern auch
                                                                  an alle Kranken und Armen rich-                                 Wohnstifte und Pfrundhäuser,
    Mythos und Wirklichkeit                                       teten, nahmen oft auch arbeits-                                 die alten Menschen vorbehal-
                                                                  unfähige alte Menschen auf. Die                                 ten waren, die sich mit einer Ein-
                                                                  Hospize bzw. Spitäler achteten                                  kaufssumme einen Platz sichern
                                                                  bei der Festsetzung ihrer Prei-                                 konnten. Im Unterschied zu den
                                                                  se teilweise auf Alter und Ge-                                  Armenhäusern verfügten die Be-
                                                                  sundheitszustand. Während ein                                   wohner von Pfrundhäusern über
                                                                  junger kranker Mann Ende des                                    grössere Freiheiten, mehr Pri-
                                                                  15. Jahrhunderts im Berner Insel-                               vatsphäre und allgemein mehr
                                                                  spital für seine Pfründe 150 Gul-                               Komfort. Verpfründungen oder
                                                                  den zahlen musste, kam eine äl-                                 später auch Leibrentenverträge
                              ren 60% aller über 70-jährigen      tere, von Krankheit geschwächte                                 waren allerdings einzig für wohl-
                              Männer noch erwerbstätig. Das       Frau – von der man annahm, dass                                 habende Menschen eine Mög-
                              altersbedingte Nachlassen der       sie bald sterben werde – mit 27                                 lichkeit einer sozialen Altersver-
                              Kräfte führte oft zur Verarmung.    Gulden aus. In Bern musste sich                                 sorgung.
                              Vor allem in der Unterschicht war   im Jahre 1512 ein Pfründner ver-                                   Ab dem 16. Jahrhundert kam
                              Armut eine meist unumgängli-        traglich verpflichten, bei langer                               es in der Alten Eidgenossen-
                              che Begleiterscheinung des Al-      Lebensdauer Geld nachzuzah-                                     schaft zur Kommunalisierung
                              ters. Gegen Ende des 18. Jahr-      len. In manchen Spitälern wurde                                 der Armenfürsorge, wodurch
                              hunderts waren beispielsweise in    zwischen bemittelten und unbe-                                  die Bürgergemeinden für die
                              Olten zwei Drittel der Fürsorge-    mittelten Betagten unterschie-                                  Versorgung bedürftiger Men-
                              empfänger über 55 Jahre alt.        den, so etwa im unteren Spital                                  schen (aller Altersgruppen) ver-
                                 Erste Wohltätigkeitseinrich-     in Winterthur: Wer eine Eintritts-                              antwortlich wurden. Die kom-
                              tungen (Armenhäuser, Hospi-         summe zahlen konnte, durfte                                     munale      Armenunterstützung
                              ze) entstanden schon im spä-        seine Tage in anständiger Ruhe                                  beschränkte sich allerdings auf
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

        Diese Hochblüte
        des Alters brachte
        viele Grosseltern- und
        Enkelbilder hervor.
        Lebten Grosseltern im
        Familienverband, küm-
        merten sie sich um die
        Enkel und vermittel-
        ten ihr Wissen und
        Können (Abb. 8). „Der
        liebevolle Grossvater“
        von 1865 (Abb. 6) ide-
        alisiert diese Grossel-
        tern-Enkel-Beziehung
        noch stärker als das
        200 Jahre ältere Bild
        einer Grossmutter, die
        ihren Enkel kämmt
7       (Abb. 7).                                                                                                               8
                                                                                                                                       9

    Bürger. Arme ohne Bürgerrechte     sierte und räumlich getrennte         mit „Insassen“. Ab den 1960er-
    wurden aus der Gemeinde ver-       Einrichtungen für spezifische         Jahren wurde die Pflege aus-
    trieben, etwa mit gezielten Bet-   Problemgruppen         gegründet:     gebaut, weil sich aufgrund der
    telverboten und Bettlerjagden.     Krankenhäuser, Waisenhäuser,          wirtschaftlichen Lage die Anfor-
    Auswärts wohnende Bürger und       Jugendanstalten,       Strafanstal-   derungen verschoben: Anstelle
    Bürgerinnen, die im Alter ver-     ten, Irrenhäuser und Altershei-       von armen kamen vermehrt pfle-
    armten, waren gezwungen, in        me. Viele Altersheime wurden          gebedürftige alte Menschen. Die
    das Bürger- bzw. Altersheim ih-    an abgelegenen Randlagen an-          ersten Pflegeheime orientierten
    rer Bürgergemeinde zu ziehen.      gesiedelt, was einer Ausgliede-       sich baulich sehr stark an Kran-
    Die Durchsetzung des Wohn-         rung alter Menschen Vorschub          kenhäusern. Erst ab den 1980er-
    ortsprinzips (Wohnortgemeinde      leistete. Auch alte Heiminsassen      Jahren wurden Pflege und Woh-
    ist zuständig für arme alte Men-   unterlagen – im Rahmen ihrer          nen stärker verbunden. Im Heim
    schen) gelang erst in den späten   körperlichen Möglichkeiten – ei-      sollte nicht nur gepflegt, son-
    1970er-Jahren. Die Tradition der   ner Arbeitspflicht (z.B. Garten-,     dern auch gewohnt werden. Ab
    Kommunalisierung der Armen-        Küchenarbeit) und ihr Verhalten       Ende der 1980er-Jahre entstan-
    und Altersfürsorge führte zur      wurde einer streng-moralischen        den erste Pflegewohngruppen,
    Einrichtung vieler Bürgerheime,    Anstaltsordnung unterworfen           die sich an quasi-familialen Leit-
    die später zu Altersheimen um-     (kein Ausgang ohne Bewilligung,       bildern des Wohnens im kleinen
    genutzt wurden. Sie ist deshalb    feste Aufsteh- und Essenszeiten       Rahmen ausrichteten. Für Wohl-
    verantwortlich, dass bis heute     usw.). Entsprechend vermied es        habende entstanden eigentliche
    der Anteil stationär gepflegter    der grösste Teil alter Menschen,      Seniorenresidenzen. Während
    alter Menschen in der Schweiz      so lange es irgendwie ging, sich      sich 1973 die stationären Plät-
    höher liegt als in den Nachbar-    in solche Versorgungsanstalten        ze für alte Menschen zu 71%
    ländern.                           zu begeben. Als ideal galt ein Al-    auf Altersheime und zu 29% auf
       Gegen Ende des 18. Jahrhun-     ter ausser Reichweite der Zucht-      Pflegeheime verteilten, leben
    derts und vor allem im Verlau-     rute der Obrigkeit und in Unab-       heute nur noch rund 3% der
    fe des 19. Jahrhunderts kam es     hängigkeit von Bevormundung           Heimbewohner in eigentlichen
    zu einer Ausdifferenzierung des    durch die Kinder.                     Altersheimen ohne Pflegestruk-
    Anstaltswesens: Statt multifunk-      Bis in die erste Hälfte des 20.    turen. Die stationären Alters-
    tionale Einrichtungen (Hospize,    Jahrhunderts blieben die (Al-         und Pflegeangebote wurden
    Bürgerheime) wurden speziali-      ters-)Heime Verwahranstalten          stark ausgebaut und der An-
Wohnen im Alter: gestern - heute - morgen
Age Dossier 2012

10                                                                                        Im Alter auf sich allein gestellt
                                                                       9

     Haushalten und Wohnen                                         formen – wie betreutes Wohnen
                                                                   – und mehr altersgerechte, hin-
                                                                                                                              sorgen oder privates Wohnen
                                                                                                                              mit ambulanten Dienstleistun-
     im Alter – im historischen                                    dernisfreie Wohnungen tragen                               gen kombinieren, sondern ge-
                                                                   dazu bei, dass alte Menschen                               niessen häufig auch eine längere
     Wandel                                                        auch bei Pflegebedürftigkeit                               behinderungsfreie Lebenserwar-
                                                                   länger selbstständig haushalten                            tung.
                                                                   und wohnen können. Gleichzei-                                 Die Entwicklung einer Alters-
     Mythos und Wirklichkeit                                       tig haben die allermeisten Alters-                         vorsorge – als zentrale Stütze
                                                                   und Pflegeheime – dank offenen                             eines langen selbstständigen
                                                                   Strukturen – den Charakter als                             Wohnens – verlief in der Schweiz
                                                                   Anstalten weitgehend hinter sich                           deutlich verzögert. Während
                                                                   gelassen, auch wenn Bilder einer                           Deutschland schon Ende des
                                                                   Anstalt die öffentliche Wahrneh-                           19. Jahrhunderts und Italien
                                                                   mung von Alters- und Pflegehei-                            oder Österreich schon in der
                                                                   men weiterhin prägen.                                      Zwischenkriegszeit eine allge-
                                                                                                                              meine Altersvorsorge – im Sinne
                                                                                                                              einer gesetzlichen Pflichtversi-
                               teil der 80-jährigen und älteren    Ausbau der Altersvorsorge –                                cherung – einführten, gelang in
                               Menschen in Alters- und Pflege-     als Säule für langes selbst-                               der Schweiz der Wandel von der
                               heimen stieg in den letzten Jahr-   ständiges Wohnen                                           Fürsorge zur Vorsorge erst spät.
                               zehnten des 20. Jahrhunderts                                                                   Obwohl die verfassungsmässi-
                               von weniger als 18% (1970) auf      Die Verschiebung vom Alters-                               ge Grundlage für eine gesetz-
                               22% (2000) an. Seit Beginn des      zum Pflegeheim hat nicht nur                               liche Altersversicherung schon
                               21. Jahrhunderts zeigt sich inso-   demografische Gründe (Anstieg                              1925 verankert wurde, dauerte
                               fern eine Trendwende, als der       in der Zahl sehr alter Menschen                            es 23 Jahre, bis eine allgemeine
                               Anteil der 80-jährigen und äl-      mit erhöhtem Pflegebedarf),                                Altersversicherung in Kraft trat.
                               teren Menschen, die stationär       sondern ist eng mit der Entwick-                           Ein erstes, bescheidenes Gesetz
                               betreut und gepflegt werden,        lung der Altersvorsorge verbun-                            zur Einführung einer Altersversi-
                               wieder sank (bis 2008 auf rund      den. Dank ausgebauter Alters-                              cherung (Lex Schulthess) wurde
                               18%). Ein Ausbau der ambulan-       vorsorge können alte Menschen                              1931 abgelehnt. Schon damals
                               ten Pflege (Spitex), neue Wohn-     sich nicht nur länger privat ver-                          wurden Befürchtungen einer
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

            Lebenslange Arbeit sicherte die Existenz, vor allem
            für alte Menschen, die auf sich alleine gestellt waren.
            Im Laufe des 19. Jahrhunderts finden sich denn auch
            zahlreiche Bilder arbeitender Senioren. Werden sie alleine
            dargestellt, wie die „Alte Wollspinnerin“ (Abb. 9) von
            Fritz Mackensen (1891), so sind deren Hände unentwegt
            beschäftigt, wenn sie denn nicht lesen oder beten. Die
            Industrialisierung schwächt die Position alter Menschen in
            der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Sie werden weni-
            ger geachtet und verschwinden wieder aus dem Idealbild.
            In der bildenden Kunst hingegen zeigen die Vertreter des
            Realismus nun auch die Positionen ausserhalb des Ideals:
 10         die Arbeit knochiger Hände und gebückter Rücken.                                                                11
                                                                                                                                   11

steigenden demografischen Al-        um einkommensschwachen Be-          Abschlussbemerkungen
terung als Gegenargumente            zügern von AHV- und IV-Renten
vorgebracht. Der Idee der sozia-     ein existenzsicherndes Einkom-      Individualisierungstendenzen
len Sicherung gelang der Durch-      men zu gewährleisten. 1972          bestimmen auch das Wohnen
bruch erst unter dem Druck des       wurde das Dreisäulenkonzept         im Alter; ein Prozess, der eng
II. Weltkrieges, als für die wirt-   der Altersvorsorge (1. Säule:       mit dem Ausbau einer existenz-
schaftliche Sicherheit der Wehr-     obli­gatorische Altersversiche-     sichernden Altersvorsorge ver-
männer und ihrer Familien ge-        rung AHV, 2. Säule: obligatori-     bunden ist. Dank verbesserter
sorgt werden musste. Mittels         sche berufliche Vorsorge [Pensi-    wirtschaftlicher Situation profi-
Vollmachtenrecht wurde vom           onskassen], 3. Säule: steuerlich    tieren viele ältere und alte Men-
Bundesrat eine Lohn- und Ver-        begünstigtes privates Sparen) in    schen von einer Wohnqualität,
dienstersatzordnung (LVEO) ge-       der Verfassung verankert. Das       von der Menschen in anderen
schaffen: ein populärer Erfolg,      Obligatorium der beruflichen        Ländern nur träumen können.
der einer durch Lohnprozente         Vorsorge (BV) trat allerdings       Gleichzeitig hat sich das schon
finanzierten staatlichen Alters-     erst 1985 in Kraft.                 früher vorherrschende Prin-
und       Hinterlassenenversiche-       Mit dem Ausbau der Alters-       zip von „Intimität auf Abstand“
rung (AHV) den Weg ebnete.           vorsorge hat sich die Lebens-       (gute     Generationenbeziehun-
1947 wurde das AHV-Gesetz            und Wohnsituation vieler älterer    gen, gerade weil jede Genera-
mit grossem Volksmehr (79,3%         Menschen deutlich verbessert:       tion ihren selbstständigen Le-
Ja) angenommen. 1948 trat es         1950 verfügten erst zehn Pro-       bens- und Wohnraum geniesst)
in Kraft.                            zent der 65-jährigen und älte-      weiter durchgesetzt. Getrenn-
    Zwischen 1951 und 1978           ren Menschen über einen Kühl-       tes Wohnen und Haushalten
wurde die AHV in 9 Revisionen        schrank. Heute gehört er zum        von Jung und Alt ist kein Hin-
ausgebaut und an die Lohn­           Wohnstandard. Noch 1970 hat-        weis auf einen Zerfall der Famili-
entwicklung angepasst, wobei         ten 25% der Rentnerhaushalte        ensolidarität, sondern in moder-
allerdings der eigentliche Ver-      kein eigenes Bad – im Vergleich     nen Gesellschaften eine zentrale
fassungsauftrag (Sicherung des       zu 0,7% im Jahre 2010. Men-         Bedingung für gute intergenera-
Existenzbedarfs durch Renten)        schen im Alter geniessen heu-       tionelle Beziehungsqualität.
nicht erfüllt wurde. 1966 wur-       te nicht nur mehr soziale Selbst-
den deshalb Ergänzungsleistun-       ständigkeit, sondern oft auch
gen (EL) zur AHV eingeführt,         hohen Wohnkomfort.
Age Dossier 2012

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     Mit achtzig umziehen?
     Bericht einer Betroffenen

     von Judith Giovannelli-Blocher

                                      Wir wohnten so schön – alle haben uns das bestätigt:
                                      ruhiges, gepflegtes Quartier, geräumige helle Wohnung
                                      im zweiten Stock eines Dreifamilienhauses, ein Ginko-
                                      Baum vor dem Balkon, im Herbst das reine Gold ver-
                                      streuend, Vogelstimmen das ganze Jahr, Pfauenrufe aus
                                      dem Park der nahen Villa, gute Kontakte zu unseren
                                      Nachbarn… Kurz vor meinem 80. Geburtstag entschie-
                                      den mein Mann und ich uns für eine neue Wohnung
                                      – eine komplette Überraschung für unsere Umgebung.
                                      „Wieso jetzt?”, fragten sie.
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

                                                                                           „Der Blick in die Ewigkeit” von Hodler 1885 (Abb. 13)
                                                                                           wiederum zeigt einen betagten Schreiner der einen Sarg
                                                                                           zimmert. Ob seiner Arbeit hält er inne und verlässt für einen
                                                                                           Augenblick die irdische Gegenwart. Das symbolistische Bild
                                                                                           zeigt den alten Menschen an der Schwelle zur anderen Welt.
                                                                                           Der Gegensatz zwischen seiner existenzsichernden Arbeit
                                                                                           und ihrem Produkt – dem Sarg als Vehikel in die andere
                                                                                           Welt – löst einen Moment der Erkenntnis der Transzendenz
                                                                                           aus. In krassem Gegensatz steht hierzu Kurt Blums Foto-
                                                                                           grafie „AHV-Auszahlung durch Geldbriefträger” (Abb. 12),
                                                                                           welche die ungemeine Entspannung durch die Einführung
12                                                                            13           der AHV dokumentiert.
                                                                                                                                                           13

     Das Wichtigste im Leben sind        dene Lebensabschnitte unter-              vor fliegen! Wenn mich nicht das
     die Entscheidungen, die wir tref-   teilt. Jeder von ihnen hat seinen         Interesse an sozialen Fragen und
     fen. Nichts geschieht von selbst.   Reiz, aber auch seine Herausfor-          die Verantwortung, die ich da-
     Veränderungen wollen überlegt,      derungen. Leben aktiv gestalten           für übernehmen will, immer neu
     entschieden und dann auch an-       ist bis ins hohe Alter gefragt. In        aufrütteln würden.
     gepackt werden. So auch der         den letzten zwei Jahren sind wir             Natürlich: In unserem Alter
     zunehmende Druck wegen der          vom autonomen Alter, das uns              hätten wir noch länger an der
     Wohnsituation. In unserem Fall,     an Freiheit, Unabhängigkeit und           bisherigen Wohnung festhalten
     war es nicht allein die Treppe,     Selbstverwirklichung reichen Se-          können. Viele unserer Freunde
     die uns immer mühsamer er-          gen gespendet hat, ins fragile            hausen an steilen Hängen oder
     schien, sondern auch der hohe       Alter geraten. Das bringt hap-            kämpfen mit halsbrecherischen
     Zins. Ich wusste, wenn die Ne-      pige Einschränkungen mit sich!            Treppen in und ums Haus. Ande-
     benbeschäftigung des Bücher-        Ich gehe am Stock und draus-              re sind ohne Auto kaum erreich-
     schreibens und das Halten von       sen eigentlich nur noch mit Hil-          bar. Trotzdem fühlen sie sich wei-
     Lesungen eines Tages nicht mehr     fe vom Arm meines Mannes.                 terhin wohl in ihren vier Wänden
     drinliegt, könnten wir die Mie-     Meine Schwerhörigkeit und die             und erklären konstant, sie hät-
     te kaum mehr bezahlen. Zudem        Allgegenwärtigkeit des heuti-             ten beschlossen, dereinst, genau
     hatte sich unsere Umgebung ver-     gen Lärms allüberall lässt mich           dort, wo sie seit eh und je daheim
     ändert: Es gab immer weniger        leicht missvergnügt werden.               sind, im eigenen Bett zu sterben.
     Kinder, immer mehr Alte wan-        Die Schnelligkeit in der Um-              Trotz allen Unbequemlichkeiten
     derten an ihren Rollatoren durch    welt nimmt rasend zu und mei-             halten sie eisern an der Welt fest,
     die Allee. Im grossen Garten uns    ne Flexibilität lässt nach. Das           die sie gewohnt sind. „Der Eigen-
     vis-à-vis wurden die Bäume ab-      macht mich erlebnisscheu und              sinn macht Spass“, dichtet der al-
     geholzt und zwei klotzartige        ich tendiere dazu, mich zurück-           terskundige Hermann Hesse. Da
     Blöcke mit Eigentumswohnun-         zuziehen. Die überhandnehmen-             hätte es wenig Sinn, Betroffene
     gen für Gutbemittelte hinge-        de Müdigkeit und Schmerzen –              vom Gegenteil zu überzeugen,
     stellt. Diese neue Nachbarschaft    einmal da, einmal dort – lassen           etwa durch das Beispiel unserer
     blieb eher anonym und kalt.         mich hie und da zweifeln am               greisen Nachbarin.
        Ich sehe das Alter des heuti-    Vergnügen, hochaltrig zu sein.               Die lebenstapfere, allein le-
     gen Menschen als grosse, weite      Wenn nur der Geist nicht wäre,            bende Frau, die, ein keck schräg
     Landschaft, die sich in verschie-   denn der will fliegen, nach wie           sitzendes rotes Mützchen auf
Age Dossier 2012

                                                                                                      Lebensabend in Partnerschaft
        Malten die Realisten ein Bild des durch lebenslange Arbeit ausgezehrten
        Alten, führte der Gesellschaftswandel zeitgleich zu einer neuen Verklärung
        des Alters. In den politischen und wirtschaftlichen Wirren der 1. Hälfte
        des 19. Jahrhunderts generierten die Romantiker im Biedermeier die
        Gartenlaube als Oase der Empfindsamkeit und Symbol für einen Schon-
        raum. Unter diesem Schutzschirm sass das alte Ehepaar bar jeglicher Nöte
        und Strapazen. Arnold Böcklin zeigt noch 1891 in seiner „Gartenlaube”
        (Abb. 14) ein solches Paar: Hände haltend in der Laube eingenickt. Vor den
        beiden gedeihen Sprösslinge als Symbole für die Früchte ihres Lebens.
        Während Böcklins Gartenlaube die Paarbeziehung im Alter verklärt,
        schwärzt eine derbe Verballhornung auf einer Postkarte das gemeinsame
        Glück (Abb. 15). In dieser Bandbreite äussert sich die bildende Kunst zum
        Alter und zum Leben in Partnerschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert
        – die polaren Äusserungen sind symptomatisch für dieses Jahrhundert
        des Umbruchs, in dessen Verlauf der alte Mensch verklärt und verlacht,

14      bemitleidet und verehrt wurde.                                                                                                                                    14

     Mit achtzig umziehen?                                                     Mein Mann und ich haben es ge-
                                                                               rade noch rechtzeitig geschafft,
                                                                                                                                     lien, der Schwager übernahm die
                                                                                                                                     elektrischen Installationen, ein
                                                                               ohne äusseren Druck in eine al-                       Nachbar half beim Zusammen-
                                                                               tersgerechte Wohnung umzu-                            setzen der Büchergestelle.
     Bericht einer Betroffenen                                                 ziehen. Ein Wohnungswechsel                              Wie bei allen Wohnungswech-
                                                                               kann beleben und Wunder wir-                          seln meines Lebens empfand ich
                                                                               ken fürs Lebensgefühl – aber bis                      den Neu-Anfang auch diesmal
                                                                               es so weit war…                                       als einen wirklichen Jungbrun-
                                                                                  Eisern hatten wir uns gesagt:                      nen – allerdings erst nach mehre-
                                                                               diesmal wählen wir nicht mehr                         ren Verzweiflungsanfällen wäh-
                                                                               nach ästhetischen Gesichtspunk-                       rend des Umzugsprozesses: Wer
                                                                               ten. Für den Rest des Lebens                          nimmt das viele Zeug, das sich
                                                                               sind praktische Kriterien ent-                        mit den Jahren angestaut hat
                                                                               scheidend: wichtig war ein ge-                        und man in die kleinere Woh-
                                                                               ringerer Mietzins, denn Existenz-                     nung nicht mitnehmen kann?
     dem Kopf, täglich ihre Run-         Der Alters-Eigensinn, die letzte      ängste im Alter sind quälend, ist                     Zuerst kann man sich fast nicht
     den am Rollator drehte, versi-      Bastion des schwächer werden-         man doch hilflos der schleichen-                      entschliessen, sich von etwas
     cherte stets: „Aus meiner Woh-      den alten Menschen, wird trotz        den Teuerung ausgeliefert. Nicht                      zu trennen – und dann kommt
     nung bringt mich niemand mehr,      solcher Beispiele weiter beste-       nur der Lift, sondern auch eine                       die Kränkung: niemand will et-
     höchstens nach Biel Madretsch“      hen. Statt sich die Zähne dar-        verkehrsgünstige Lage nicht all-                      was von unseren kostbaren Sa-
     (Friedhof). Dennoch ist sie kürz-   an auszubeissen, muss sich die        zu weit vom bisherigen Quar-                          chen, denen wir so lange Sorge
     lich hingefallen und in der gan-    Alterspflege phantasievoll und        tier entfernt war für uns zentral,                    getragen haben. Sogar die Bro-
     zen Stadt fand sich keine In-       liebend etwas einfallen lassen,       denn Beziehungen und Kontak-                          ckenhäuser sind wählerisch ge-
     stitution, die kurzfristig Platz    um den Menschen im ange-              te sind im Alter sehr kostbar und                     worden. Überall gibt es von al-
     hatte für die jetzt pflegebedürf-   stammten Milieu beizustehen           müssen gepflegt werden. Ein In-                       lem viel zu viel. Der Lebensstil
     tige Frau. Sie liegt nun in einem   oder um ihnen einen unver-            serat in der Zeitung entsprach                        hat sich komplett geändert: Ein
     Dorf weit weg, in einem Heim,       meidlichen Umzug schmack-             sämtlichen Anforderungen.                             Klavier, ein kostbares Teeservice,
     das sie freiwillig nie ausgewählt   haft zu machen. Es braucht               Die Hilfe unserer Freunde war                      Tischtücher oder auch Bücher
     hätte – in einem Dreierzimmer.      Angebote, die das Unabhän-            nun unentbehrlich. Zwei Freun-                        braucht man heute kaum mehr.
     Ihre Wohnung wurde von Frem-        gigkeitsbedürfnis der Alten be-       dinnen packten alle Bücher ein,                       Aber man kann doch nicht ein-
     den geräumt.                        rücksichtigen.                        die Schwester die Küchenutensi-                       fach alles Liebgewordene, Wert-
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

                                                                                                                          15
                                                                                                                                  15

volle in eine Mulde schmeissen.     wagen zu ihren Zielen. Am Mor-      Umgebung vorhanden. Zu al-
Die Alterspflege müsste hier        gen schlängeln sich Ströme von      lem Überfluss: über die Strasse
neue Angebote zur Verfügung         Schülern wie Bächlein zwischen      steht das Alterszentrum, wo wir
stellen, z.B. Fachkräfte, die bei   den Häusern hindurch, rennen        schon länger provisorisch vorge-
Trennungsentscheiden und -pro-      waghalsig bei Rotlicht über die     merkt sind: Immer wieder besu-
zessen helfen, ohne die Selbst-     Strasse, holen sich in der Mit-     chen wir dort Bekannte, essen
bestimmung einzuschränken.          tagspause beim Pizza-Bäcker vis-    im öffentlichen Restaurant, neh-
   Nun wohnen wir sieben Mo-        à-vis etwas Warmes zu essen.        men Anteil am Leben im offenen
nate hier und sagen jeden Tag       Am Mittag streben all die Tou-      Haus. Die Angst vor betreutem
„Danke”. Obwohl damals bei          risten, einzeln oder Gruppen, zur   Wohnen verringert sich beson-
der Besichtigung der erste Blick    Schifflände, um später mit dem      ders, seitdem eine Kindertages-
von aussen wenig Gutes ver-         Dampfer auf die Petersinsel zu      stätte dem Haus angegliedert
sprach: riesige graue Mietkaser-    verschwinden. Wie schön, dies       ist. Die Zukunft gehört gemisch-
ne zwischen zwei höchst be-         alles mitzuverfolgen. Unser Haus    ten Formen der Altersbetreuung.
lebten Autostrassen. Doch die       ist belebt mit Menschen aller       Die Alten mittendrin in der akti-
Eckwohnung im 6. Stock hat          Nationen. Viele arbeiten im Be-     ven Umgebung, wo sie sich noch
überraschend einen wunder-          reich des Bahnhofs, im Coop, bei    in vielem nützlich machen kön-
schönen Ausblick auf den See.       der Post, als Speisewagenkell-      nen, vor allem auch mit Kindern.
Auf der Seite grüsst der Wald       ner. Nach und nach lernen wir
des Juras und hinten hinaus se-     die einzelnen Leute kennen, die     Das Leben ist schön – ist trotz
hen wir über den Bahnhof und        schon eh und je für uns gearbei-    allem selbst für Hochaltrige im-
die ganze Stadt. Die Fenster sind   tet haben. Wir sind zwar behin-     mer wieder schön, dank dem,
so dicht, dass wir vom Verkehr      dert und alt, aber fühlen uns in    dass es immer wieder Neu-An-
nichts hören – und dennoch          der neuen Umgebung noch mit-        fänge gibt.
bin ich Teilnehmerin am vielfäl-    tendrin.
tigen Treiben unserer lebhaften        Unsere neue Wohnung ist,
Stadt: der Verkehr interessiert     ohne als solche ausgeschrie-
mich nun plötzlich. Alte schau-     ben worden zu sein, altersge-
en bekanntlich gerne zu, wie der    recht: Lift, kaum Schwellen im
Verkehr rollt, verfolgen in Ge-     Haus, Hauswart für Notfälle, In-
danken all die Wagen und Last-      frastruktur ist in der nächsten
Age Dossier 2012

16                                                                          Die eigenen vier Wände
                                                                                                                   16

     Verborgene
                                                                                                     dizinischen oder raumplaneri-
                                                                                                     schen Lösungsansätzen gesucht.
                                                                                                     Wohnen im Alter ist also kein

     Innovationen                                                                                    Sonderthema, sondern ein viel-
                                                                                                     schichtiges Querschnittthema.
                                                                                                     Innovationen liegen selten wie
                                                                                                     Sauerkirschen oben auf der Tor-
     Interview mit Karin Weiss,                                                                      te, sondern müssen im Kuchen
     Bereichsleiterin Förderprojekte, Age Stiftung                                                   selber gesucht werden. Deshalb
                                                                                                     spreche ich statt von Innovati-
                                                                                                     on lieber von „weiterführenden
     Das Gespräch führte Andreas Sidler                                                              Aspekten in Projekten“. Und die
                                                                                                     sind oft zwischen den Projekt-
                                                     Die Age Stiftung fördert die                    schichten verborgen.
                                                     Innovation und Vielfalt der
                                                     Wohnangebote fürs Alter. In                     Können diese schwer erkenn-
                                                     den letzten 10 Jahren haben                     baren weiterführenden As-
                                                     Sie rund 350 Fördergesuche                      pekte zur Weiterentwicklung
                                                     analysiert. Hand aufs Herz,                     des Wohnens im Alter beitra-
                                                     Frau Weiss: Wohnen im Al-                       gen?
                                                     ter ist kein Bereich, wo man                    Ja, ohne Zweifel. Sie zeigen neue
                                                     grosse Innovationen erwar-                      Wege, um ähnliche Ziele zu errei-
                                                     tet. Wollen die Menschen im                     chen wie früher, aber neu inter-
                                                     Alter überhaupt neue Wohn-                      pretiert. Zum Beispiel mit neuen
                                                     formen ausprobieren?                            Rechts- und Kooperationsfor-
                                                     Zum Glück erschöpft sich das                    men oder mit neuen Organi-
                                                     Thema nicht in der Erfindung                    sations- und Partizipationsfor-
                                                     neuer Wohnformen. Neues ent-                    men, welche die Potenziale und
                                                     deckt man durch die systemi-                    Ressourcen der Bevölkerung le-
                                                     sche Brille. In den Projekten wird              benserwartungs- und lebensstil-
                                                     nach sozialen, baulichen, me-                   gerechter einbinden. Bei unse-
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

                                                                                                               Der Auszug aus
                                                                                                               der angestammten
                                                                                                               Wohnung ist im
                                                                                                               Alter beängstigend.
                                                                                                               Lang bewohnte
                                                                                                               Räume sind von der
                                                                                                               Biographie durch-
                                                                                                               drungen. Diese Ver-
                                                                                                               bindung zwischen
                                                                                                               Mensch und Raum
                                                                                                               ist anderenorts nur
                                                                                                               schwer wiederher-
                                                                                                               zustellen. Das wird
                                                                                                               auch im Nebenein-
                                                                                                               ander der Fotogra-
                                                                                                               fien von Hermann
                                                                                                               Freytag (50er-Jahre,
                                                                                                               Abb. 16) und Ursula
                                                                                                               Meisser (2005, Abb.
                                                                                                          17   17) spürbar.
                                                                                                                                      17

ren Förderprojekten geht es also   Sicherheit und der Kommunika-       tisierte Alterswohnung und
nicht nur um bauliche oder tech-   tion gefördert. Die meisten sind    den Pflegeroboter warten
nische Entwicklungen, sondern      innovations- und forschungsge-      müssen?
oft um soziale und organisato-     trieben. Die Machbarkeit steht      Viele Ansätze sind weder be-
rische Innovation. Wir fördern     im Vordergrund und man kon-         nutzerfreundlich noch gut zu-
Projekte, die das Thema des de-    zentriert sich auf technische       gänglich für ältere Menschen.
mografischen und gesellschaftli-   Fragen. Der zukünftige Nutzer       Ich habe mich im Rahmen
chen Wandels auf eine möglichst    wird oft ausgeblendet. Niemand      des europäischen Förderpro-
zukunftsfähige Art angehen. Wir    fragt nach seinen Erwartungen       gramms Ambient Assisted Li-
informieren und berichten auch     und Gewohnheiten. Das ist hei-      ving als Expertin schon vertieft
über Aspekte von Projekten, die    kel, weil kein technologiebasier-   mit internationalen Hightech-
es wert sind, nachgeahmt und       tes System völlig autonom ist. Es   projekten auseinandergesetzt,
institutionalisiert zu werden.     braucht immer Menschen hinter       die den Anspruch hatten, stark
                                   der Technik, vor allem Dienst-      forschungsgetrieben und geich-
Trotzdem denkt man beim            leister, die das Technische dem     zeitig geschäftsmodelltauglich
Begriff Innovation zuerst an       Nutzer näherbringen und die bei     zu sein. Ob und wann sich die-
technologische Entwicklun-         Fragen oder Pannen ansprechbar      se Hilfsmittel und Systemlösun-
gen – Pflegeroboter in Hei-        sind. Dann sollte auch das Ge-      gen im autonomen Wohnen
men oder Computer, die den         schäftsmodell passen, an dem in     oder in der Pflege entwickeln,
Alltag managen.                    der Regel mehrere Akteure mit       ist wohl weniger eine Frage
Oh ja, technologische Innovati-    unterschiedlichen Interessen be-    der Machbarkeit, sondern viel
onen werden von den Medien         teiligt sein müssen. Dazu kom-      mehr eine Frage der individuel-
gerne thematisiert! Sie erschei-   men noch die gesetzlichen Hür-      len und gesellschaftlichen Ak-
nen häufig in spektakulärem        den, vor allem, wenn man sich in    zeptanz – und nicht zuletzt des
Gewand. Darin schwingen der        den Graubereichen des Daten-        Renditeversprechens für Inves-
technokratische Machbarkeits-      schutzes und des Gesundheits-       toren. Der steigende Kosten-
glaube und die Faszination des     wesens bewegt, was im Innova-       druck wird wohl eine treibende
Fortschritts mit. Die Age Stif-    tionskontext oft der Fall ist.      Rolle spielen und die demogra-
tung hat mehrere technologie-                                          fische Entwicklung wird ver-
basierte Projekte in den Berei-    Wir werden also noch etwas          mutlich für attraktive Massen-
chen der Heimautomation, der       länger auf die voll automa-         märkte sorgen.
Age Dossier 2012

18                                                                                            18

     Verborgene Innovationen                                           Also haben sich die Vorstel-
                                                                       lungen gar nicht verändert?
                                                                                                           geklammert wird aber, dass sich
                                                                                                           Autonomie immer relativ zum Si-
                                                                       Doch. Vor 10 Jahren wurde darü-     cherheitsbedürfnis verhält. Das
                                                                       ber debattiert, ob „Daheim oder     verschärft sich mit zunehmender
     Interview mit Karin Weiss,                                        im Heim” die bessere Lösung sei.    Fragilität. Gutes Wohnen im Al-
     Bereichsleiterin Förderprojekte, Age Stiftung                     Heute lautet der Konsens: „Am-      ter funktioniert mittelfristig nur,
                                                                       bulant vor Stationär”. Das fin-     wenn das Wohnsystem auch bei
                                                                       det in der Bevölkerung Anklang.     zunehmender Fragilität stimmt.
                                                                       Alle wollen so lange wie möglich
                                                                       selbstständig zuhause wohnen.       Und die zahlreichen neu-
                                                                       Viele Politiker unterstützen die    en Wohnangebote für ältere
                                                                       Strategie, weil es immer mehr äl-   Menschen bieten das nicht?
                                                                       tere und immer weniger junge        So absolut will ich das nicht
                                                                       Menschen gibt, was die Betreu-      sagen. Aber für viele Anbie-
                                                                       ungs- und Unterstützungssyste-      ter braucht eine altersgerech-
                                  „Wohnen im Alter“ wird im-           me vor grosse Herausforderun-       te Wohnung nur einen Lift und
                                  mer häufiger zum öffentli-           gen stellt.                         eine hindernisfreie Nasszelle und
                                  chen Thema. Hat sich auch                                                Küche. Angesprochen werden
                                  die Wahrnehmung des The-             Dann ziehen ja alle am glei-        Menschen in der späten beruf-
                                  mas verändert?                       chen Strick. Sie wirken trotz-      lichen und nachfamiliären Phase
                                  Das Thema ist gesellschaftsfä-       dem skeptisch?                      oder rüstige und zahlungskräf-
                                  higer, forschungsrelevanter und      Nicht grundsätzlich. Aber man       tige Rentner. Fragile Mieter und
                                  medienpräsenter geworden. Die        darf sich nicht damit zufrieden-    gebrechliche Käufer stehen ge-
                                  starke Medienpräsenz hat aber        geben, dass alle die Idee attrak-   linde ausgedrückt nicht im Fo-
                                  wenig zur gesellschaftlichen Be-     tiv finden. Man muss weiter-        kus der meisten neugestalteten
                                  wusstseinsbildung zum Altern         denken. Klar ist, dass es genug     Angebote und Finanzierungs-
                                  beigetragen. Das Alter wird nach     altersgerechte Wohnungen auf        modelle.
                                  wie vor als Zustand begriffen        dem Markt geben muss, damit
                                  statt als dynamischer Prozess, der   ältere Menschen auch mit Ein-       Sie halten „ambulant vor sta-
                                  sich über die ganze Lebensspan-      schränkungen möglichst selbst-      tionär“ also für keine gute
                                  ne von 30–40 Jahren erstreckt.       ständig wohnen können. Aus-         Idee?
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

                        Zuhause im Altersheim

                                                                                                                                      19
                                                                                                                                              19

Doch, es ist eine gute Idee,                    Wenn Sie auf die letzten 10         grierter Stadt- und Quartierent-
wenn man sie nicht zur Ideologie                Jahre zurückblicken, wo ha-         wicklung.
macht, sondern als Gesamtstra-                  ben auf der Projektebene
tegie plant und die nötigen Rah-                die grössten Entwicklungen          Das tönt nach einer
menbedingungen schafft. Auch                    stattgefunden und warum             Worthülse…
wir arbeiten bei unserer Förder-                gerade da?                          Ist es aber nicht. Man meint da-
tätigkeit darauf hin.                           Bei der Umnutzung bestehen-         mit, dass städtebauliche Ziele
                                                der Gebäude, beispielsweise von     mit sozialen Zielen von Anfang
Welche Rahmenbedingungen                        Schul- oder Gemeindehäusern.        an mitgedacht werden müssen.
sind das?                                       Die befinden sich in zentrums-      Man versucht wirtschaftliche Ak-
Hierzu gehören die Entwicklung                  naher Lage und können multi-        teure, Interessengruppen und die
eines vernetzten Wohnumfeldes,                  funktional bespielt werden. Um-     Öffentlichkeit einzubeziehen und
eine funktionierende Alltagsver-                nutzungen werden interessant,       Kooperationen herzustellen.
sorgung und eine finanzielle Basis,             weil man mit Neubauten den
mit der man genug Gestaltungs-                  zukünftigen Bedarf an altersge-     Das funktioniert in den Städ-
freiheit hat. Deshalb zoomen                    rechten Wohnungen nicht de-         ten. Und ausserhalb?
wir bei jedem Projekt auch auf                  cken kann. Dort, wo man merkt,      Dort genauso. In kleineren bis
die Versorgungsregion oder den                  dass die Wohnungsversorgung         mittelgrossen Gemeinden wird
Standort. Wie ist die geografi-                 vor Anforderungen steht, die        diese Sichtweise auch von enga-
sche Lage? Wie die Erschliessung                weit über die Bereitstellung von    gierten zukunftsorientierten und
durch den öffentlichen Verkehr?                 altersgerechtem Wohnraum hi-        veränderungsfreudigen Gemein-
Wie wird der Fussverkehr gere-                  nausgehen, stärkt man das Zu-       devertretern gelebt. Sie planen
gelt und die Alltagsversorgung                  sammenleben der Generatio-          über Gemeindegrenzen hinweg,
gewährleistet? Welche Möglich-                  nen. Dazu braucht es gelebte        denken in Versorgungsregionen
keiten sieht eine Gemeinde für                  Nachbarschaften und Infrastruk-     und ergänzen Bestehendes mit
die gesundheitliche ambulante                   tur. Das Bewusstsein, dass die-     Neuem. Sie denken in Szenari-
und stationäre Versorgung vor?                  se motiviert, moderiert und be-     en und jonglieren mit zentralen
Wie durchlässig sind die Angebo-                gleitet werden müssen, ist in den   und dezentralen Möglichkeiten,
te aufeinander abgestimmt? Wie                  letzten Jahren gestiegen. In der    mit niederschwelligen und pro-
gestaltet sich die Kommunikation                Stadtentwicklung zum Beispiel       fessionellen Strukturen – und sie
rund um die Angebote?                           spricht man vermehrt von inte-      müssen rechnen.
Age Dossier 2012

20                                                                                                                       20

     Verborgene Innovationen                                         Durchlässigkeit zur gelebten
                                                                     Wirklichkeit der Bevölkerung er-
                                                                                                         kasten. Heute sind die Lebens-
                                                                                                         situationen der Bewohner eines
                                                                     reichen.                            Quartiers vielfältiger und indi-
                                                                                                         vidueller als früher. Das gilt für
     Interview mit Karin Weiss,                                      Was meinen Sie mit Passung          Familien ebenso wie für ältere
     Bereichsleiterin Förderprojekte, Age Stiftung                   und Durchlässigkeit?                Menschen. Diese Unterschiede
                                                                     Mit „Passung“ meine ich das         reduzieren den nachbarschaftli-
                                                                     Bewusstsein für die regionalen      chen Austausch.
                                                                     Verhältnisse und die Lebens-
                                                                     weise und finanziellen Möglich-     Heisst das, eine gelebte
                                                                     keiten der lokalen Bevölkerung.     Nachbarschaft entsteht heu-
                                                                     Mit „Durchlässigkeit“ meine ich     te nicht von selbst?
                                                                     Wohnangebote und Betreu-            Im besten Fall schon. Doch das
                                                                     ungsformen, die das Altern nicht    ist nicht selbstverständlich.
                                                                     als linearen Prozess definieren.    Menschen leben mit verschie-
                                                                     Sie sind flexibel und können ver-   denen Rhythmen nebeneinan-
                                  Und setzen dann gerade bei         änderte Bedarfssituationen auf-     der. Das ist wie bei einer Jamses-
                                  den Entwicklungsprojekten          fangen, egal ob temporär oder       sion von Musikern. Es braucht
                                  den Rotstift an?                   längerfristig. Auch dafür muss      eine Rhythmusgruppe, die eine
                                  Nein. Manche machen aus der        man in Szenarien denken.            musikalische Grundstruktur vor-
                                  Not eine Tugend. Gerade in                                             gibt, die alle beteiligten Musi-
                                  ländlichen Regionen ist es inte-   Sie haben vorhin den Be-            kern kennen. So kann gemein-
                                  ressant zu beobachten, unter       griff „Gelebte Nachbarschaf-        sam gespielt und ungezwungen
                                  welchen Bedingungen interes-       ten” erwähnt. Soll das etwas        improvisiert werden. Gelingt
                                  sante Kooperationen zwischen       Neues sein?                         die Harmonik, werden Unter-
                                  Gewerbe, öffentlich-rechtlichen    Nein, natürlich nicht. Aber         schiede, die vorher die Leu-
                                  Institutionen und Bauträger-       „Nachbarschaft” ist mehr als        te getrennt haben, zu Ressour-
                                  schaften zustande kommen.          räumliche Nähe. Sie ist eine Be-    cen, von denen alle profitieren.
                                  Die schönsten Innovationen sind    ziehung und braucht deshalb         Die Nachbarschaftsarbeit ist die
                                  für mich Angebote oder Struktu-    eine gemeinsame Grundlage, die      Rhythmusgruppe in der Nach-
                                  ren, die eine gute Passung und     mehr ist als der Gruss am Brief-    barschaft.
Wohnen im Alter | gestern – heute – morgen

                                                     Auch Hospize und Asyle als soziale Auffangstationen für alte Menschen fanden
                                                     Eingang in die bildende Kunst. Sie sind Zeichen des tiefen Strukturwandels, der sich
                                                     seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts einstellte. Idyllische Altersbilder liessen sich
                                                     mit der Problematik der Hochindustrialisierung nicht mehr vereinen. Statt Gartenlau-
                                                     ben wurden nun Altersheime und Hospize dargestellt, bspw. das „Altmännerhaus in
                                                     Lübeck” von 1896 (Abb. 18) oder ein Schweizer Altersheim um die Jahrhundertwende
                                                     (Abb. 19). Einen dokumentarischen Wert birgt die Aquatinta von John Bluck von 1810
                                                     (Abb. 20): Sie zeigt einen „Speisesaal im Londoner Chelsea Hospital, einem Altenheim
                                                     für verdiente Berufssoldaten”. Solche Häuser für die Altersversorgung berufsunfähiger
                                                     Soldaten initiierten die Entwicklung des öffentlichen Pensionssystems. Als erstes Alten-
                                                     heim für Soldaten figuriert das Hôtel des Invalides in Paris, gegründet 1674.
                                                     Weder dokumentierend noch anprangernd, sondern in tiefem Interesse an der
                                                     Menschlichkeit und Schönheit malt Paula Modersohn-Becker 1907 ihre „Alte Armen-
                                                     häuslerin mit Glaskugel und Mohnblumen” (Abb. 21). In warmen, satten Farben zeigt
                                                     sie eine sitzende Alte inmitten eines Mohnfeldes, die von lebenslanger schwerer Arbeit
                                                     geschwollenen Hände halten Blumen, die Glaskugel vermittelt einen Aspekt der Ver-
                                                     zauberung. Wir wissen nur aufgrund des Titels, dass es sich um eine Armenhäuslerin
                                                     handelt, nichts sonst weist darauf hin. Doch ist es kein Bild der Verklärung, es negiert
                                                     nicht die Dumpfheit eines schweren Lebens. Dieses Bild steht für eine Kunst nach der
                                                     Jahrhundertwende, die die Welt in ihrer Erscheinung unvoreingenommen zu schauen
                                           21        und aus ihrer Tiefe heraus zu ergründen und darzustellen sucht.
                                                                                                                                                  21

Und wie profitieren die älte-       hige Kontakte und belastbare        se Denkweise zentral ist – und
ren Menschen in der Nach-           Strukturen für niederschwellige     zwar absolut unabhängig von
barschaft?                          Hilfe im Wohnumfeld.                Sozialisierung, Branchenzuge-
Wie alle anderen haben sie die                                          hörigkeit oder Ausbildung. Die
Möglichkeit, ihre Kompeten-         Wenn man die Projektbe-             einen werden durch die Freude
zen und Ressourcen einzubrin-       schreibungen auf der Web­site       an der Lösung von komplexen
gen und sich an der Gestaltung      der Age Stiftung anschaut,          Zusammenhängen angetrieben.
des Wohnquartiers aktiv zu be-      fällt auf, wie unterschiedlich      Andere werden durch die eige-
teiligen. Egal, ob alt oder jung    die Projektträger sind. Gibt        ne Betroffenheit aus dem be-
– es geht darum, im Quartier        es Personen und Organisati-         ruflichen Alltag zu Höchstleis-
oder in der Siedlung gegensei-      onen, die bei der Projektent-       tungen angespornt. Aus vielen
tige niederschwellige, aber viel-   wicklung besonders erfolg-          Gesuchen, Begegnungen und
fältige Unterstützung und Hilfe     reich sind? Was haben sie           Gesprächen geht hervor, dass
anzubieten und anzunehmen.          gemeinsam?                          sie nur mit sehr viel Herzblut,
Deshalb braucht es gemeinwe-        Ich wage die These, dass sys-       einer zähen Gelassenheit, ei-
senorientierte Partizipationsmo-    temisch orientierte Lösungen        ner hohen Frustrationstoleranz
delle, die multidisziplinär ver-    auch von Menschen und Or-           und vielen freiwilligen Stunden
netzt sind.                         ganisationen geboren wer-           möglich geworden sind. Häufig
                                    den, die bereits so denken, le-     sind es Akteure, die sich trotz
Wie muss man sich so ein            ben und handeln. Man muss           Individualisierung auch dem So-
Modell vorstellen?                  den Blick und das Flair haben,      lidaritätsgedanken – und eben
Es gibt keine anrührfertige In-     in Zusammenhängen zu den-           dem Ganzen – sehr verpflichtet
stantlösung. Ein moderiertes        ken, das Ganze sehen zu wol-        fühlen. Und immer sind es Men-
Konzept gibt aber der Entwick-      len und die eigene Rolle, den       schen, die Neues vorantreiben.
lung der Nachbarschaft eine         eigenen Auftrag und die eige-       Es sind immer Persönlichkeiten,
klare Richtung und lässt zu, dass   nen Kompetenzen neu zu den-         die bereit sind, sich häufig über
sich Neues spontan und orga-        ken. „Systemisches Bewuss-          Jahre zu exponieren. Nicht zu-
nisch entwickeln kann. Neben        stein” als gemeinsamen Nenner       letzt sind es Begegnungen mit
konzeptionellen      Fähigkeiten    zu verwenden klingt etwas ab-       diesen Frauen wie Männern, die
braucht es auch echte Empa-         gehoben. In der Förderpraxis        meine Arbeit bei der Age Stif-
thie. Nur so entstehen tragfä-      habe ich aber gelernt, dass die-    tung enorm bereichern.
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