INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE VON MENSCHEN IM KOMA UND WACHKOMA - AKTUALISIERTE AUSGABE 2021 ZNS - HANNELORE KOHL STIFTUNG

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INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE VON MENSCHEN IM KOMA UND WACHKOMA - AKTUALISIERTE AUSGABE 2021 ZNS - HANNELORE KOHL STIFTUNG
INFORMATIONEN FÜR
ANGEHÖRIGE VON MENSCHEN
IM KOMA UND WACHKOMA

Andreas Zieger

AKTUALISIERTE AUSGABE 2021
ZNS – HANNELORE KOHL STIFTUNG
INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE VON MENSCHEN IM KOMA UND WACHKOMA - AKTUALISIERTE AUSGABE 2021 ZNS - HANNELORE KOHL STIFTUNG
ZUM GELEIT                              einem Überleben oder Am-Leben-er-
                                                                                                                                       halten-Werden vereinbar sind.
                                                                                                                                       Menschliches Leben, Wachstum,
                                                                                               Liebe Leserinnen und Leser,             Genesung und Bewusstseinsent-
                                                                                                                                       wicklung werden jedoch neben all
                                                                                               diese Broschüre soll Ihnen eine Hilfe   dem medizinisch Möglichen vor
                                                                                               sein, um nachvollziehen zu können,      allem durch Bindung und Bezie-
                                                                                               was ein Koma oder Wachkoma ist          hung zu anderen Menschen rea-
                                                                                               und in welcher Lebenssituation sich     lisiert. Auch nach einer schweren
                                                                                               Ihr betroffener Angehöriger befindet.   Schädigung am Gehirn, dem sozia­
                                                                                               Es werden Hinweise gegeben, wie         len Organ des Menschen, können
                                                                                               Sie während Ihrer Krankenbesuche        Menschen sich wieder entwickeln.
                                                                                               Ärzte, Pfleger und Therapeuten auf      Im gemeinsamen Tätigsein mit an-
                                                                                               der Intensivstation, in der Frühreha­   deren Menschen spüren sie die Wir-
                                                                                               klinik, im Rehazentrum, im Pflegeheim   kungen ihrer selbst und können sich
                                                                                               und/oder zu Hause sinnvoll begleiten    selbst (unbewusst) aktualisieren.
                                                                                               und unterstützen können. Menschen       Anzeichen dafür sind Veränderun-
                                                                                               im Koma und Wachkoma sind keine         gen der vegetativen Funktionen und
                                                                                               „Hirntoten“ oder „Sterbende“, son-      Vitalwerte, die Körperhaltung, der
                                                                                               dern lebende schwerstkranke und         Gesichtsausdruck und das Öffnen
                                                                                               empfindsame Menschen, die mit           der Augen sowie die Wiederkehr der
                                                                                               Leib und Seele, Körper und Geist, in-   Spontanatmung. Wichtig ist deshalb
                                                                                               neren Wahrnehmungen, Empfindun-         eine verständnisvolle und empathi-
                                                                                               gen und Bewegungen mit der Um-          sche Umgebung, die erste minimale
                                                                                               gebung und mit anderen Menschen         Anzeichen von Revitalisierung und
Diese Broschüre ist dem herzlichen Andenken an Frau Dr. Jana Bolz, geb. Alber, gewidmet, die
maßgeblich an der Erstellung beteiligt war.
                                                                                               verbunden sind.                         Erholung aus dem Koma und Wach-
                                                                                                                                       koma wahrnehmen, deuten und im
Jana Bolz ist am 17.11.2020 verstorben.                                                        Durch die Erkrankung und ihre Fol-      Handlungsdialog aufgreifen kann.
                                                                                               gen hat sich das Leben tiefgreifend
                                                                                               verändert. Koma und Wachkoma            Unsere betroffenen Mitmenschen,
                                                                                               sind extreme Seinsweisen, die die       aber auch Sie als Angehörige befin-
Text und Bearbeitung
Apl. Prof. Dr. med. Andreas Zieger                                                             betroffenen Menschen zu einem Le-       den sich in einer extremen Grenz­
Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik Carl von Ossietzky Universität Oldenburg     ben in tiefster Abgeschiedenheit in     situation. Eine angemessene Versor-
1994, Erstauflage                                                                              Sterbensnähe zwingen. Trotz aller       gung und das Lebensrecht werden
2015, aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe                                               Erfolge der modernen technischen        nicht nur durch die Schwere des
2021, aktuelle Überarbeitung
                                                                                               Medizin versterben in den ersten        Krankheitsbildes, sondern auch
Herausgeber
                                                                                               Wochen nach dem Akutereignis im-        durch anhaltende Debatten um „Bio-
ZNS – Hannelore Kohl Stiftung, Fontainengraben 148, 53123 Bonn                                 mer noch viele Patienten. Ihre Schä-    ethik-Konvention“, „Organspende“,
Nachdruck oder Vervielfältigung (auch auszugsweise) nur mit Genehmigung der                    digungen sind so schwerwiegend          „Forschung an Nichteinwilligungs­
ZNS – Hannelore Kohl Stiftung                                                                  und ausgedehnt, dass sie nicht mit      fähigen“, „Lebenswert“, „Sterbehilfe“

2                                                                                                                                                                          3
INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE VON MENSCHEN IM KOMA UND WACHKOMA - AKTUALISIERTE AUSGABE 2021 ZNS - HANNELORE KOHL STIFTUNG
und Einführung von „Fallpauschalen“        fördern, kann auch das eigene Leben      gen, Rehabilitationsmöglichkeiten,     de, dass mit Unterstützung des
in der Krankenhausfinanzierung be-         einen (neuen) tiefen Sinn bekommen.      Nachsorge- und Pflegebedingun-         Eberhard-Dombek-Stiftungsfonds,
lastet, wenn nicht gar infrage gestellt.   Viele Angehörige empfinden dies          gen, wissenschaftliche Erkenntnis-     der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung
Zusätzliche Belastungen entstehen          (später) als eine wichtige Erfahrung     se, die Rechtsprechung sowie die       und der Carl von Ossietzky Univer-
dadurch, dass in der Medizin nicht         und als „Geschenk“. Das bedeutet:        Bedürfnisse und Kompetenzen der        sität Oldenburg die weiterhin stark
immer eine Sprache gesprochen wird         Über das gegenwärtige Leid, die Be-      Angehörigen verändert. Doch eine       nachgefragte Angehörigen­broschüre
und nicht alle an der Versorgung Be-       troffenheit, Ängste und Nöte hinaus      angemessene Begleitung und Förde-      aktualisiert, gründlich überarbei-
teiligten eine vorbehaltlos befürwor-      gibt es Hoffnung, Zuversicht und die     rung von Menschen von Koma und         tet und mit neuem Layout neu he­
tende Haltung zum Leben im Koma            Möglichkeit, die schwere Lebens­k rise   Wachkoma und ihren Angehörigen         rausgegeben wird.
und Wachkoma einnehmen.                    positiv zu meistern. Für die Förde-      ist auch heute nicht immer selbst-
Leben im Koma und Wachkoma ist             rung des Überlebenswillens und der       verständlich. Die Lebenswirklichkeit   Oldenburg, im Frühjahr 2015
eine menschenmögliche Seinsweise           inneren Kräfte (Resilienz) sowie für     von uns als Bürgerinnen und Bürger     Andreas Zieger
und Lebensform. Verbesserte Ver-           den Erfolg der Behandlung und die        einer entwickelten Zivilgesellschaft
sorgungsbedingungen in den letzten         Zufriedenheit Ihrer „bewusstlosen“       verlangt daher eine ethisch-mora-      Mit freundlicher Unterstützung:
Jahrzehnten, die aufgrund neuer For-       Angehörigen ist das konsequente          lische und wiederkehrende Ausei-       Eberhard-Dombek-Stiftungsfonds
schungsergebnisse umgesetzt wur-           Anbieten von Gesprächen von gro-         nandersetzung mit der Kernfrage:       München
den, sowie gesammelte Erfahrungen          ßer Bedeutung. Die Forschung zeigt       Wie wollen wir gut zusammenleben?
aus der Rechtsprechung, der Selbst-        auf, dass viele Menschen im Koma         Darum ist es für mich, mit Erreichen   ZNS – Hannelore Kohl Stiftung
hilfe und aus den Betroffenenverbän-       und Wachkoma emotional ansprech-         des Ruhestandes, eine große Freu-      Bonn
den unterstützen eine Grundhaltung,        bar sind, auch wenn sie anfangs
die den Lebenswert der Existenz von        keine und später kaum erkennbare
Menschen im Koma und Wachko-               Reak­tionen zeigen. Gezielte, intensi-
ma anerkennt und würdigt. Darüber          ve Dialoge können sich als emotio-               DAS SCHÖNSTE IST UMSONST
hinaus wird der Anspruch erhoben,          naler und körpersprachlicher Vektor
durch konsequente Hilfen die Teil­         positiv auf Lebensmut, Widerstands-              Ein Lächeln kostet nichts und bewirkt viel.
habe am Gemeinschaftsleben zu              kraft, Genesung und Bewusstseins­                Es bereichert die, die es empfangen,
wahren und zu bessern.                     entwicklung von Menschen mit Be-                 ohne die ärmer zu machen, die es geben.
Aus diesem Grund wirbt diese Ange-         wusstseinsstörungen        auswirken.            Es dauert nur einen Augenblick.
hörigenbroschüre dafür, Menschen           Und auch im Falle von Erschöpfung,               Aber die Erinnerung währt manchmal ewig.
im Koma und Wachkoma nicht auf-            Schwäche und sterbensnaher, pallia-              Niemand ist reich genug, es entbehren zu können.
zugeben, sondern in einer engen            tiver Begleitung sind beziehungsme-              Und niemand ist zu arm, um es nicht geben zu können.
Verbindung mit ihnen zu bleiben und        dizinische Angebote wie mitmensch-               Ein Lächeln ist oft das Wesentliche im Leben.
einen menschenwürdigen Umgang              liche Zuwendung, Aufmerksamkeit,
mit ihnen zu pflegen. Es gilt zu be-       Zeit und Kommunikation für ein
achten: Die Kranken und Schwachen          Loslassen und ein Sterbenkönnen in               Aus dem Brief einer 82-jährigen Mutter einer 50-jährigen
zu schützen, ist die Würde der Ge-         Würde unerlässlich.                              blinden und komplett pflegeabhängigen Schwerstbehin-
sunden!                                                                                     derten, die im Alter von 19 Jahren nach Verkehrsunfall ein
In dem Bemühen, innere Kräfte und          Seit dem ersten Erscheinen dieser                Schädelhirntrauma erlitt und 3,5 Jahre im Wachkoma lag.
individuelle Rehapotenziale anderer        Broschüre im Jahre 1994 haben sich
Menschen sinnvoll anzuregen und zu         medizinische Versorgungsbedingun-

4                                                                                                                                                            5
INHALT

1. Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  8            5. Ziele und soziale Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  36
                                                                                                              5.1 Vom Koma zurück in die Gemeinde! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  36
                                                                                                              5.2 Teilhabe von Anfang an. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  37
2. Spezielle Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9               5.3 Durchgängige Versorgungskette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  38
   2.1 Was ist ein Koma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9             5.4 Geplante individuelle Nachsorge und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . .  41
   2.2 Bestimmung der Komatiefe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11                    5.5 Eine Wiederholungsreha ist möglich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
   2.3 Was ist ein Wachkoma (apallisches Syndrom)?. . . . . . . . . . . . . .  13                             5.6 Sorge und Achtsamkeit für sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  43
   2.4 Was geschieht auf der Intensivstation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15                       5.7 Vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten. . . . . . . . . . . .  44
   2.5 Warum ist „Reaktionslosigkeit“ fragwürdig?. . . . . . . . . . . . . . . .  16                          5.8 Erfahrung des Humanum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
   2.6 Warum ist Ihre Anwesenheit wichtig?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  18
   2.7 Warum dürfen Sie hoffen und optimistisch sein? . . . . . . . . . . . .  20
   2.8 Sterben und Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21          6. Selbsthilfeorganisationen und Fachverbände . . . . . . . . . . . . . . .  49

3. Womit Sie konkret helfen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23                     7. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  52
   3.1 Positive Anregungen geben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23
   3.2 Dialogaufbau in kleinen Schritten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24
   3.3 Wie Sie konkret vorgehen können. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25
    1. Schritt: Hinwenden zum Kranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25
    2. Schritt: Annähern und Begrüßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25
    3. Schritt: Innehalten, Orientieren, Einfühlen und Beobachten . . . . .  25
    4. Schritt: Gemeinsames Gestalten des Dialogfelds. . . . . . . . . . . . .  26
    5. Schritt: Sich Verabschieden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27
   3.4 Woran Sie erkennen können, ob Dialogbereitschaft besteht . . . . 27

4. Wichtige Hinweise und Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. . . .  28
   4.1 Allgemeine Hinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  28
   4.2 Möglichkeiten zur Anregung der Sinne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29                         Medizinische Menschenkunde
    Geruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29        ›U m Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen …Le-
    Geschmack. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  30             ben finden wir als Lebende vor; es entsteht nicht, sondern es ist schon
    Gefühl/Tastsinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31             da, es fängt nicht an, denn es hat schon angefangen …
    Gehör. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  32         Die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben
    Gesicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  33         angefangen.‹
    Aufrichten und Bewegen (Körpereigen- und Bewegungssinn). . . . . .  34
   4.3 Was Sie unbedingt beachten und vermeiden sollten. . . . . . . . . .  35                                 Viktor von Weizsäcker, in: Der Gestaltkreis (1932/1940)
   4.4 Zusätzliche Vorschläge für pflegende Angehörige. . . . . . . . . . . .  36

6                                                                                                                                                                                                                     7
1. ALLGEMEINE HINWEISE                        mente hervorheben und beachten.         wesen“, sondern ein kranker, wehr-        6. Bedenken Sie, dass eine schwe-
                                           •	Seien Sie nicht enttäuscht, wenn        loser und auf andere angewiesener         re Hirnerkrankung immer auch eine
1. Wenn Sie Ihren Angehörigen in              Ihr Angehöriger bei Ihrem Besuch        Mit-Mensch und Mitbürger.                 psychische Kränkung mit sozialen
der Klinik, auf der Intensivstation, auf      und Ihrer Kontaktaufnahme ru-                                                     Verlusten bedeutet. Versuchen Sie,
der Frührehastation, im Pflegeheim            higer wird und einschläft; das ist      4. Bemühen Sie sich von Anfang an         Ihrem Angehörigen diejenige An-
oder in häuslicher Umgebung besu-             kein Zeichen für Ablehnung oder         um regelmäßige Kontaktaufnahme            erkennung und Wertschätzung zu
chen und in Kontakt mit ihm treten,           Desinteresse, sondern ein Zeichen       und Gespräche mit Pflegenden, Ärz-        vermitteln, die Sie sich in seiner Si-
beachten Sie bitte jederzeit, dass Ihr        dafür, dass Ihr Angehöriger Ihnen       ten und Therapeuten, um Ihre Sor-         tuation wünschen würden, um sich
Angehöriger ein Mensch ist, der im            vertraut, sich sicher fühlt und sich    gen und Ängste mitteilen und um           im gesellschaftlichen Miteinander
Umgang mit anderen Menschen und               somit entspannen kann. Verstehen        Fragen „loswerden“ zu können. Auch        nicht als „Defizitwesen“ oder „Aus-
im Hinblick darauf, was andere über           Sie das Schlafen als ein „Gesund-       erscheint es ratsam, sich früh vom        geschlossener“ zu empfinden. Ent-
ihn reden mögen, empfindsam ist.              schlafen“ (Erholungsschlaf).            Sozialdienst oder auch Psychologen        scheidend für den Dialog ist Ihre
                                           •	B egegnen Sie Ihrem betroffenen         des Krankenhauses über Hilfen und         Grundhaltung.
2. Vergewissern Sie sich im Umgang            Angehörigen auch dann mit war-          Unterstützungsmöglichkeiten bera-
mit Ihrem Angehörigen, dass Sie ihn           men, positiven Gefühlen, wenn Sie       ten zu lassen, auch wenn die Prog-
nicht geschmerzt, verletzt oder gar           sich nicht sicher sind, dass er sie     nose anfangs oft noch unklar ist. Je      2. SPEZIELLE INFORMATIONEN
gekränkt haben, das heißt:                    spürt.                                  besser Sie informiert sind, Sie die
•	S eien Sie möglichst einfühlsam,        •	Versuchen Sie, Ihrem Angehörigen        Informationen verstanden haben, mit       2.1 Was ist ein Koma?
   behutsam und liebevoll, um das             positive Gefühle entgegenzubrin-        ihnen umgehen können und Sie die          Als „Koma“ wird eine tiefe Betäu-
   notwendige Vertrauen zu ermög­             gen, indem Sie sich anregend und        Informationen für sich als sinnvoll er-   bung oder ein tiefer krankhafter
   lichen und zu fördern.                     förderlich verhalten.                   leben, umso besser werden Sie sich        Schlaf bezeichnet, bei dem die Be-
•	Vermeiden Sie unbedingt Kneifen,        •	Versuchen Sie, mit Ihrem Angehö-        selbst fühlen und den Kontakt zu          troffenen keine Reaktion auf äußere
   Necken oder unangenehmes Sti-              rigen in einen engen, liebevollen       Ihrem Angehörigen halten können.          Reize, auch nicht auf Schmerzreize
   mulieren.                                  Kontakt zu kommen und ihm dabei                                                   zeigen und sich gegenüber der Um-
•	Machen Sie keine herablassenden            Angebote zum Dialog zu machen.          5. Bringen Sie viel innere Kraft, Zu-     welt nicht äußern. Außerdem ist die
   Bemerkungen am Krankenbett,             •	Achten Sie darauf, was Ihr Ange-        versicht, Geduld und Ausdauer mit;        Spontanatmung erloschen, sodass
   und versuchen Sie zu vermeiden,            höriger in zuerst oft feinsten vege-    vor allem aber viel Zeit. Freuen Sie      die Betroffenen bereits am Unfallort
   dass andere dies tun.                      tativen, körperlichen oder mimi-        sich über jeden kleinen Fortschritt.      mit einem Beatmungstubus versorgt
•	Versuchen Sie, Ihren Angehörigen           schen Regungen (evtl. zuerst nur        Und freuen Sie sich darüber, dass         und auf der Intensivstation weiter-
   nicht mit Ihren eigenen Angst­             auf dem Monitor) körpersprach-          Sie auch in dieser extremen Situ-         beatmet werden müssen. Auch die
   gefühlen und Sorgen zu belasten.           lich von sich gibt und wie er sich      ation nicht von Ihrem Angehörigen         Augen werden nicht geöffnet, weder
   Sprechen Sie stattdessen mit an-           selbst aktualisiert („Körperseman-      getrennt (isoliert) sind, sondern zu-     auf Ansprache noch auf Körperrei-
   deren Menschen, z. B. den Pfle-            tik“). Solche Phänomene können          sammen sein können. Versuchen             ze. Komazustände treten entweder
   genden oder Ärzten, die bereit             Ausdruck von wieder einsetzender        Sie, sich darauf einzustellen und zu      infolge einer schweren Schädelhirn-
   sind, Sie anzuhören und zu entlas-         Vitalität sein und eine frühe Erho-     lernen, sich auf Ihre eigene Aufmerk-     verletzung (z. B. Schädelhirntrauma)
   ten, bevor Sie ihren kranken Ange-         lungsstufe einleiten.                   samkeit und Intuition zu verlassen,       auf oder werden als Narkose durch
   hörigen besuchen.                                                                  um trotz der widrigen und belas-          eine kontrollierte Betäubung als
•	Versuchen Sie, gefasst und opti-        3. Ihr Angehöriger ist durch das           tenden Situation die Verbundenheit        „künstliches    Koma“    eingeleitet.
   mistisch zu wirken, indem Sie in        schädigende Ereignis schwerst be-          mit Ihrem Angehörigen spüren zu           Auch Vergiftungen, entzündliche
   jeder Situation die positiven Mo-       einträchtigt; er ist aber kein „Defizit-   können.                                   Hirn­erkrankungen, schwere Schlag­

8                                                                                                                                                                    9
anfälle mit Durchblutungsstörun-        Koma ist damit eine extreme, ver-         Classification of Functioning, Disabili-   lehrt die Erfahrung, dass ein Koma
gen des Gehirns, Sauerstoffmangel       letzliche, höchst empfindsame und         ty and Health, ICF) bereits 2001 for-      infolge eines Schädelhirntraumas
nach Herzstillstand mit Reanimati-      schutzbedürftige menschenmögliche         muliert wurde. Demnach sind bei der        (SHT) eine bessere Prognose hat als
onspflichtigkeit, Veränderungen des     Seinsweise. Ein Leben im Koma ist         Beurteilung eines Gesundheits- und/        eine    Sauerstoffmangelschädigung
Stoffwechsels oder des Hormon-          nicht nur Ausdruck einer Krankheit,       oder Behinderungsproblems eines            (Hypoxie) nach Herzstillstand und
haushalts können zu Bewusstseins-       also pathologisch, sondern stets          Menschen die biologisch-körper­            Reanimation. Das bedeutet: Je län-
störungen und Koma führen.              auch ein Schutzbereich und mög-           liche, die psychische und die soziale      ger das Erwachen ausbleibt, desto
                                        licher Ausgangspunkt einer neuen          Dimension und hierbei insbesondere         länger und mehr sind Sie als Ange-
In der biotechnisch orientierten Me-    Lebens­ e ntwicklung. Ein Leben im        die Teilhabe am Leben in der Gemein-       hörige der großen Ungewissheit und
dizin wird Koma mit einer „Bewusst-     Koma ist somit eine extreme, aber         schaft von Anfang an zu beachten.          Sorge ausgesetzt. Durch die Abge-
losigkeit“ gleichgesetzt. Nach dieser   sinnvolle Seinsweise mit der Pers-                                                   schiedenheit und Unerreichbarkeit
Lehrmeinung steht das Defizit, das      pektive, wieder am Leben der an-          Im Koma drücken sich destruktive           eines nahestehenden Menschen im
heißt der Ausfall des Bewusstseins      deren teilhaben zu können. Das            und produktive Momente und Di-             Koma und Wachkoma werden oft
im Vordergrund. Nach beziehungs-        Gelingen hängt allerdings von vielen      mensionen eines Menschen mit einer         eigene Ängste vor Sterben, Tod und
medizinischer Auffassung bedeutet       Umständen ab.                             einzigartigen Lebensgeschichte aus.        schwerer Behinderung aktualisiert.
Koma nicht einfach einen Ausfall der                                              Die Symptomatik im Koma symboli-           Diese sind häufig nur mit Hilfe und
an das Hirnorgan gebundenen Be-                                                   siert die Traumatisierung durch das        Beistand anderer zu ertragen und in
wusstseinsfunktionen, sondern auch         ›Wo sich Leben entdecken              schädigende Ereignis, den Schmerz          eine realistische Haltung der Hoff-
eine gesamtorganismische Antwort             lässt, können wir auch einen         und das Leiden. Deshalb ist es wich-       nung und Sorge für den anderen und
auf schwerste Belastungen und Ge-            Geist ausmachen …                    tig, Menschen im Koma nicht nur            sich selbst umwandelbar.
walteinwirkung      („Stresstrauma“).        Sobald wir den Organismus            liebe­v oll zu behandeln, zu pflegen,
Dies hat einen Zusammenbruch der             [mit seiner Umwelt] als Einheit      zu schützen und in einen (inneren)         2.2 Bestimmung der Komatiefe
Selbststeuerung, der Kommunika­tion          betrachten, …gestehen [wir]          Dialog mit ihnen zu treten, sondern        In der Regel wird die Tiefe des Ko-
und eine Trennung der Beziehungen            ihm ein zumindest rudimen-           zugleich auf erste vegetative, körper-     mas an der Reaktion auf Reiz- oder
zur Umwelt sowie zu sich selbst zur          täres Bewusstsein zu …‹              liche, mimische Reaktionen und/oder        Dialogangebote abgelesen und er-
Folge. Das Bewusstsein wird danach                                                Dialogantworten zu achten. Diese           kannt. In Anlehnung an australische,
bemessen, inwiefern Menschen in            Alva Noë, in: Du bist nicht dein       stellen nämlich die Symptome dar,          britische und nordamerikanische
der Lage sind, Beziehungen zuein-          Gehirn. Eine radikale Philoso-         mit deren Erscheinen gehofft wer-          Pflegebeobachtungen unter Koma-
ander und zu sich selbst aufrechter-       phie des Bewusstseins (2010)           den darf, dass die Traumaeinwirkung        stimulation aus den 70er und 80er
halten zu können. Ein Koma hat eine                                               überwunden wird und eine Erholung          Jahren des letzten Jahrhunderts
Schutzfunktion und ermöglicht es,                                                 (Remission) aus dem Koma beginnt.          werden drei Stufen des Aufwachens
ganz bei sich selbst zu sein und sich   Die hier skizzierte beziehungsmedi-       Koma und Komaremission sind nicht          aus dem Koma (Komastufen) unter-
auf elementare Kernzonen des au-        zinische Auffassung vom Leben im          als statischer Zustand, sondern als        schieden: keine Reaktion, allgemeine
tonomen Körperselbst, des Selbst-       Koma (und Wachkoma, siehe Ab-             ein dynamischer Prozess zu ver-            Reaktionen, lokalisierte Reaktionen.
seins, zurückzunehmen. Koma ist         schnitt 2) entspricht einem „biopsy-      stehen. Dennoch gilt: Je länger ein
kein passiver Zustand, sondern das      chosozialen“ Verständnis, wie es          Koma dauert, desto deutlicher ver-         Keine Reaktion
Resultat einer aktiven, bis auf die     von der Weltgesundheitsorganisation       schlechtert sich die Prognose, dass        Der Patient scheint in einem tiefen
tiefste Bewusstseinsebene zurück-       (WHO) in der Internationalen Klassi­      der Betroffene wieder erwacht und          Schlaf zu liegen und vollkommen un-
genommenen Lebenstätigkeit am           fikation der Funktionsfähigkeit, Behin-   ohne bleibende Beeinträchtigungen          empfänglich für jede Art von Stimu-
Rande des Sterbens und des Todes.       derung und Gesundheit (International      am Leben teilhaben kann. Ferner            lation, z. B. bei Schmerz, Berührung,

10                                                                                                                                                              11
Geschmack, Geräusch oder Zeigen           oder weniger stark reagieren und         in Form von Kau- und Mundbewe-            Es besteht Grund zu der Annahme,
von Gegenständen, zu sein. Er befolgt     seinen Körpertonus und Gesichts-         gungen, Veränderungen der Mimik,          dass der Patient jetzt langsam auch
keinerlei Aufforderung und öffnet die     ausdruck verändern. Die Reaktionen       Öffnen der Augen, Veränderungen           zu spüren beginnt, dass er intubiert
Augen nicht. Er liegt regungslos und      sind oft nur angedeutet, spärlich,       der Atmung, Drehen des Kopfes auf         ist oder einen Katheter hat, und wird
muss beatmet werden, weil die Spon-       sehr verlangsamt und treten oft ver-     Geräusch oder Ansprache, Verfolgen        möglicherweise versuchen, daran
tanatmung nicht verfügbar ist. Der        zögert auf. Auch diffuses Schwit-        eines Objekts oder eines anderen          zu ziehen. Außerdem kann er sich
Herzschlag ist am Monitor regelmäßig      zen, Hautrötungen und körperliche        Gesichts mit den Augen, Verände-          Aufforderungen und Zwängen an-
zu hören. Auch Blutdruck und Tempe-       Spannungszustände gehören dazu.          rungen des Körpertonus und erster         derer Art autonom widersetzen. Er
ratur werden kontrolliert und am Moni-    Sie können durch innere Trigger wie      Spontanbewegungen. Diese wan-             zeigt Unruhe und wirkt enthemmt.
tor aufgezeichnet. In diesem Stadium      Verdauungsprobleme und Blähun-           deln sich dann zunehmend in gerich-       In dieser Phase des zunehmenden
können leichte Schwankungen und           gen oder auch durch Schmerzen,           tete Bewegungen von Blick, Kopf           Selbstgewahrseins, der zunehmen-
Veränderungen der vitalen Parameter       Bewegungshunger und Stress (wie          und Hand und Körperteilen auf äu-         den Reagibilität und des Erwachens
auftreten. Sie zeigen an, dass mithilfe   bei Säuglingen „bauchgesteuert“)         ßere Objekte zu oder weg davon und        überschießender Affekte und Bedürf-
intensivmedizinischer Unterstützung       ausgelöst werden. Auch wenn die-         schließlich auch mittels Augenöffnen      nisse ist eine beruhigende Zuwen-
eine basale organismische Regulation      se allgemeinen Reaktionen eher nur       und Augenschließen oder Hand­             dung und einfühlsame Ansprache
möglich ist und der Patient lebt.         diffus, ungerichtet, spärlich und ver-   geben und Loslassen auf Aufforde-         äußerst wichtig. Dadurch, dass der
                                          langsamt auftreten, sind sie im bezie-   rung. Besonders die letzte Reaktion       Patient erschöpfungsbedingt zwi-
                                          hungsmedizinischen Verständnis als       wird in der klinischen Medizin als Zei-   schendurch immer wieder einschläft,
                                          Ausdrucksformen der Vitalität (Stern)    chen des Erwachens aus dem Koma           um Energie „zu tanken“, wird die
                                          und Zeichen von Lebendigsein zu          und Wiederkehr des Bewusstseins           Kette der notwendigen Wahrneh-
                                          verstehen. Im biologischen Sinne         gedeutet. Der Patient kann bald auf       mungen, die für das kontinuierliche
                                          sind sie als Potenziale von Erbkoor-     einfache Befehle wie z. B. „Strecke       Spüren seiner selbst in der Welt wich-
                                          dinationen zu verstehen, die auf der     Deinen Arm, hebe die Hand, schließe       tig sind, immer wieder unterbrochen.
                                          Evolutionshöhe der Gattung Mensch        die Augen“ mehr oder weniger kon-         Selbsterleben und Umwelt erschei-
                                          nicht nur der Selbsterhaltung dienen,    sequent reagieren. Ist die Stimulation    nen verworren, „verrückt“ und „ohne
                                          sondern auch das Bemühen von             vorüber, kann er wieder einschlafen       roten Faden“. In diesem Stadium des
                                          Verbundenheit mit anderen signali-       und ruhig daliegen. Man spricht von       sogenannten Durchgangssyndroms
                                          sieren, wenn auch letztlich mit von      einem „inselförmigen“ Erwachen.           ist das deklarative oder „bewusste“
                                          untauglichen, nicht zum Überleben        Dies kann den Übergang in ein             Gedächtnis noch nicht in der Lage,
                                          fähigen Mitteln. Erst die moderne In-    Wachkoma andeuten. Dieses Ver-            diese Lücken zu überbrücken oder
                                          tensivmedizin kann in diesen Fällen      haltensniveau ist möglich, weil jeder     zu schließen. Unruhezustände kön-
                                          das Überleben sichern.                   Mensch, auch nach schwerster oder         nen auch dadurch ausgelöst werden,
Allgemeine Reaktionen                                                              schwerer Hirnschädigung, nicht nur        dass traumatische Szenen, die beim
Der Patient reagiert gelegentlich auf     Lokalisierte Reaktionen                  auf angeborene Erbkoordinationen,         schädigenden Ereignis oder im Mo-
allgemeine Stimulationen, jedoch          Der Patient reagiert auf spezifische     sondern auch auf vorherige mit sei-       ment des Unfalls erlebt wurden, vom
nicht immer auf die gleiche Art und       Stimulationen, aber nicht immer auf      nem Körper erworbene Lebens- und          verletzten Gedächtnis nicht gefiltert
Weise. Er kann zeitweise mit unge-        die gleiche Art. Die Reaktionen erfol-   Beziehungserfahrungen in Form des         oder zurückgehalten werden, son-
richteten und „primitiven“ Körper-        gen jetzt mehr oder weniger direkt       sogenannten impliziten, unbewuss-         dern aus dem impliziten oder „un-
massenbewegungen und starren              im zeitlichen Zusammenhang zur           ten Körper- und Beziehungswissens         bewussten“ Gedächtnis immer wie-
körperlichen „Schablonen“ mehr            Stimulation und können sich äußern       zurückgreifen kann.                       der in das Traum- und Tageserleben

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durchschlagen. Welche Szenen dies          tonuserhöhung (Spastik) besteht eine       der Außen­    beobachter dies immer      erleben, kann auch mit diesen Tech-
sind, können wir von außen nicht           weitgehende Bewegungsunfähigkeit.          gleich erkennt, wird es im Abschnitt     niken nicht beschrieben werden.
erkennen. Jedoch berichten Über-           Wegen der überwiegend vegetativen          2.5 weitere Ausführungen geben.
lebende mit Komaerfahrung nicht            Symptomatik wird im angloamerika-          Weil die Bezeichnung „Wachkoma“          Menschen im Wachkoma sind also
selten von „ozeanischen Schwe-             nischen Raum die Erkrankung auch als       die Zwiespältigkeit der Seinswei-        weder „Gemüse“, „Sterbende“ oder
bezuständen“, Tunnelerfahrungen,           „vegetativer Zustand“ (englisch: vege-     se „wach und doch im Koma“ und           „Hirntote“, sondern Lebende! Sie
Er­leb­
      nissen wie die empfundene            tative state; zynische Variante: human     das zwischenmenschliche Dilemma          brauchen vor allem Lebenshilfe
Auflösung des Körperselbst, sich au-       vegetable) bezeichnet. Diese Bezeich-      „wach und doch unerreichbar“ am          und keine Hilfe zum Sterben oder
ßerhalb des eigenen Körpers zu be-         nung legt es nahe, die Seinsweise der      besten zu beschreiben und zutref-        gar „Euthanasie“! Das bedeutet im
finden und dabei sich selbst im Bett       Kranken herablassend als „primitiv“,       fend auszudrücken vermag, wird           beziehungs­medizinischen       Sinne
liegend zu betrachten sowie anderen        „Gemüse“ oder – wie im National­           in    dieser    Informationsbroschüre    jedoch, dass wenn sie schwä-
Nahtoderlebnissen.                         sozialismus geschehen und heute            die Bezeichnung Wachkoma bei-            cher werden und erschöpfen oder
                                           leider immer noch vorkommend – als         behalten. Die historische Bezeich-       wenn ihre Zeit gekommen ist und
2.3 Was ist ein Wachkoma                   „sinnlose Hülle“, „Ballastexistenz“ oder   nung „apallisches Syndrom“ als           ein Sterbe­modus eintritt, ihnen ein
(apallisches Syndrom)?                     „lebensunwert“ zu bezeichnen und           hirnpatholo­g ischer Zustand, a-pal-     Sterbenkönnen in Würde ermöglicht
Wenn ein tiefes Koma überlebt wird,        abzuwerten. Es dürfte aus den bishe-       lisch, also ohne Pallium (Hirnman-       werden sollte. Sterben setzt dann
entwickelt sich bei besonders schwer       rigen Beschreibungen deutlich gewor-       tel, Kortex) und bewusstseinsfähiger     ein, wenn mehrere Organsysteme
Betroffenen nach 2 bis 4 Wochen ein        den sein, dass es sich dabei nicht um      Großhirnrinde zu sein, ist aufgrund      des Körpers gleichzeitig ihren Dienst
Wachkoma: Die Augen werden geöff-          „Zustände“, sondern um ineinander          neuerer Forschungsbefunde mit            zu versagen beginnen oder wenn
net, der Blick geht dabei anfangs ins      übergehende Entwicklungs- und Erho-        bildgebenden Verfahren und com-          durch eine schwere Hirnschädigung
Leere, und die Spontanatmung setzt         lungsprozesse handelt. Diese können        putergestützten Hirnstrommessun-         eine übergreifende (integrierte) ab-
langsam und stockend wieder ein. In        sich kontinuierlich entwickeln, aber       gen streng genommen überholt. Es         gestimmte und lebensnotwendige
seiner ursprünglichen Bedeutung wird       immer wieder auch von Rückschlägen,        hat sich gezeigt, dass Menschen im       Kooperation von Körperorganfunk­
unter einem apallischen Syndrom ein        Misserfolgen begleitet sein. Auch ein      Wach­k oma, vor allem, wenn sie die      tionen wie Atmung, Herzkreislauf und
Erlöschen des Selbstbewusstseins und       Scheitern aller Bemühungen mit Todes-      frühe Remissionsphase erreicht ha-       Nierenfunktion unmittelbar versagt
der Kontaktfähigkeit mit sich selbst und   folge ist möglich.                         ben, durch äußere Ereignisse wie die     oder in ein Hirntodsyndrom über-
der Umwelt verstanden. In Anlehnung                                                   Schreie anderer Menschen (affektiv-
an die überholte französische Bezeich-     Im Bemühen um eine möglichst               emotio­ n al-soziale Reize!) und kog-
nung coma vigile wird von einem Wach-      wertneutral beschreibende Nomen-           nitive Aufforderungen, sich vorzu-          ›M eine Eltern helfen mir nicht,
koma gesprochen: Der Patient liegt         klatur hat man sich international          stellen, Tennis zu spielen oder in der        um Anerkennung zu kriegen,
mit offenen Augen. Obwohl manchmal         für das Vollbild des Wachkomas             eigenen Wohnung umherzugehen,                 sondern weil sie mich lieben!‹
vegetative affektiv-emotionale Reak­       auf die Bezeichnung „Unrespon­             ähnliche kortikale und subkortikale
tionen auf Umweltereignisse auftreten,     sive Wake­fulness Syndrome“ (UWS)          Zonen im Gehirn aktivieren können           Dies diktierte die blinde und
fixiert der Betroffene diese nicht und     bzw. „Syndrom reaktionsloser Wach-         wie Gesunde. Auch sind sie nicht            stumme Patientin Anke G., die
ist aus eigener Kraft zu keiner Kontakt-   heit“ (SRW) verständigt. Dazu, ob          selten in der Lage, sinnvolle von un-       nach Schädelhirntrauma 3,5
aufnahme mit seiner Umwelt fähig. Es       ein Mensch im Wachkoma wirklich            sinnigen Sätzen zu unterscheiden,           Jahre im Koma und Wachkoma
besteht zwar eine stabile Atmung, und      „reak­tionslos“ ist oder zumindest im      was sich durch charakteristische,           gelegen hat, ihrer Mutter mit
es zeigt sich ein mehr oder weniger        Übergang zu den frühen Remissions-         ereigniskorrelierte „kognitive“ Hirn-       der ABC-Methode
einsetzender Schlaf-Wach-Rhythmus,         phasen innerlich reagieren und sich        stromsignale erkennen lässt. Was
aber infolge einer allgemeinen Muskel-     selbst aktualisieren kann, ohne dass       Menschen dabei allerdings subjektiv

14                                                                                                                                                                    15
geht. Dann aber sind Maßnahmen           die Kranken oft über längere Zeiträu-    2.5 Warum ist „Reaktionslosig­          funde und körpersprachlichen Phä-
der Therapiebegrenzung, palliativ­       me hinweg ohne jeglichen mensch-         keit“ fragwürdig?                       nomene erste Anzeichen dafür sind,
medizinisches Handeln und hospiz­        lichen Kontakt in einer für sie völlig   Eingangs wurde bereits darauf hin- dass sich eine Remission aus dem
liche Begleitung im Sinne von Sterbe-    fremden Umgebung isoliert und ab-        gewiesen, dass im beziehungsme- Koma und Wachkoma entwickelt. Es
beistand als menschenwürdige Hilfe       geschieden leben. In zahlreichen Un-     dizinischen Verständnis Menschen, kann daher durchaus von einer „Kör-
beim Sterben angezeigt (siehe auch       tersuchungen zur psychologischen         solange sie nicht gestorben sind, persemantik“ gesprochen werden,
Abschnitt 2.8).                          Situation Bewusstloser auf der In-       mit inneren Wahrnehmungen, Em­ weil diese körperlichen Reaktionen,
                                         tensivstation wurde nachgewiesen,        pfindungen und Bewegungen mit die häufig zuerst von Angehörigen
2.4 Was geschieht auf der                dass trotz Koma und Narkose die-         der Umwelt und anderen Menschen beobachtet werden, mit aller Vor-
Intensivstation?                         se Situation passiv, angstvoll und       verbunden sind. Das Zwischen- sicht für den Einzelnen interpretiert,
Nach der Primärversorgung am Un-         höchst bedrohlich erlebt werden          menschliche und das soziale Organ, von entscheidender prognostischer
fallort und im Krankenhaus werden        kann. Im Sinne eines hier verfolgten     das Gehirn als „Beziehungsorgan“, Bedeutung sein können. Während
die Verletzten auf der Intensivsta­      beziehungsmedizinischen       Koma­      ist für Menschen und das Mensch- heutzutage viele Pflege- und Thera-
tion betreut. Hier kommt es vor allem    verständnisses ist dies nachvollzieh-    sein geradezu existenziell und kons­ peutenteams solche Beobachtungen
darauf an, die Vitalfunktionen wie       bar, weil auch ein Mensch im Koma        titutiv. Frühere Forschungen haben in ihren Umgang mit Kranken einbe-
Atmung, Herzkreislauf, Blutdruck,        (unbewusste) Wahrnehmungen hat,          ergeben, dass Menschen im Koma ziehen, tun sich behandelnde Ärzte
Einfuhr und Ausscheidung in einem        sich an veränderte Umweltbedingun-       und Wachkoma unbewusst mittels damit häufig nach wie vor schwer.
stabilen Gleichgewicht zu halten         gen orientieren und anpassen muss        Veränderungen        der
und Stress sowie Schmerzen vom           und daher sensibel für Ereignisse        Herzrate, der Atemtie-               Wachbewusst mit leichten Beinträchtigungen
Patien­ten fernzuhalten. Diese soge-     seiner näheren Umgebung ist. So          fe und des Hautwider-
nannte Schockphase dauert in der         ist z. B. bekannt, dass hämmern-         stands auf emotional
                                                                                                                  Wachbewusst mit mäßigen bis schweren Beinträchtigungen
Regel einige Tage. In dieser Zeit wer-   de Schritte, laute Geräusche und         bedeutsame oder ver-

                                                                                                                 Remissionsstufen
den die Betroffenen medikamentös         Alarme der Monitore sowie selbst         traute Reize oder Dia­
tief sediert und meist auch kontrol-     auch notwendige und gut gemeinte         logangebote      reagie-
                                                                                                                          Minimal responsiver / bewusster Zustand
liert beatmet (Narkose, künstliches      Handlungen am Krankenbett von den        ren. Diese vegetativen                    Übergang aus frühen Übergangs- und
                                                                                                                                      Remissionsstufen
Koma). Während dieser Zeit auf der       Kranken als auf sich selbst bezogen      Reaktionen sind oft nur
Intensivstation werden die Vitalfunk-    wahrgenommen und als Bedrohung           am Monitor abzulesen
tionen überwacht und Veränderun-         ihrer selbst empfunden werden kön-       oder in Form einer sub-
gen sofort erkannt. Vorrangiges Ziel     nen. Es gibt Berichte, wonach vor        tilen Körpersprache mit          Koma              Wachkoma-Vollbild

ist die Versorgung des Gehirns mit       allem bei Kindern ein Komazustand        Veränderungen der Mi-
ausreichend Sauerstoff und Nähr-         durch ein über sie Hinwegreden und       mik, des Körpertonus,                                                                  Zeit
stoffen, damit die Schädigung nicht      durch zusätzliche schmerzhafte Ak-       der Augenstellung, der
größer wird, Selbstheilungsprozesse      tionen aufrechterhalten und verlän-      Lid- und Mundbewegungen oder Es ist daher auch nicht bedeu-
beginnen können und der Wieder-          gert werden kann, die fremde und oft     am Schwitzen und am Rotwerden tungslos, dass wenn ein Mensch
aufbau der organismischen Integrität     menschenleere Umgebung angstvoll         zu erkennen. Man kann einwenden, im Wachkoma die Schreie anderer
unterstützt wird.                        erlebt wird und sie sich deswegen        solche vegetativen Reaktionen und Menschen über einen Kopfhörer
                                         innerlich zurückziehen (sogenanntes      körperlichen Ausdrucksformen der wahrzunehmen scheint und sein so-
Kritisch muss jedoch angemerkt           Dornröschenschlaf-Syndrom).              Vitalität hätten nichts mit „Bewusst- ziales Gehirn im Scanner ein ähnlich
werden, dass die Intensivstation eine                                             sein“ zu tun, doch gibt es immer aktiviertes subkortikales und korti-
künstliche Situation darstellt, in der                                            wieder Berichte, wonach solche Be- kales Verarbeitungsmuster aufweist

16                                                                                                                                                                        17
wie Gesunde, er jedoch weiterhin         (minimally    consciousness     state,      Differenzialsymptomatik/Verhalten
als „bewusstlos“ oder gar „empfin-       MCS; Syndrom des minimalen Be-
dungslos“ eingestuft wird. Es sei hier   wusstseins, SMB) unterschieden.
                                                                                    Koma                      Wachkoma                  Minimal bewusster
an die bereits oben angesprochenen       Die vielen kleinen Zwischenstufen an
                                                                                    • k eine Spontan­        „Reaktionslose            Zustand
angeborenen Erbkoordinationen und        minimalen Reaktionen und Antwor-
                                                                                       atmung                 Wachheit“ UWS,            MCS (Remission!)
das implizite (unbewusste) Körper-       ten, wie sie sich im klinischen Alltag
                                                                                    • A ugen bleiben         SWR                        Fixieren,
und Erfahrungswissen von Koma-           im Kontinuum von „komatös“ bis
                                                                                       geschlossen            • Spontanatmung            Blickfolgen,
patienten erinnert. Manche Forscher      „erwacht“ darstellen und sich über
                                                                                    • k eine Reaktion auf    • A ugen sind /           Unmut, Lächeln
sprechen daher heute beim Wach-          Wochen und Monate entwickeln
                                                                                       Schmerzreize              werden geöffnet         -> MCS „Minus“
koma von einem affektiv-emotio-          können, werden dabei nicht ausrei-
                                                                                    • k eine motorischen     • S chlaf-Wach-
nalen Bewusstsein als Vorstufe der       chend beachtet. Allenfalls hat man
                                                                                       Reaktionen                Rhythmus                Gerichtete Eigen­
wachbewussten und rational-kog­          versucht, dieser Differenzierung mit
                                                                                                              • keine gerichtete,       aktivität Ja/Nein-
nitiven Bewusstseinsebene. Auch          dem Konstrukt einer MCS-Minus­
                                                                                                                 spontane Eigen­         Code, Befolgen
zeigt der Umgang mit diesen Patien-      variante und einer MCS-Plusvariante
                                                                                                                 aktivität oder          von Antworten
ten in der Frührehabilitation oder auf   beizukommen (siehe Tabelle 1). Zur
                                                                                                                 Kontaktaufnahme         -> MCS „Plus“
der Wachkomastation immer wieder,        genaueren Messung der unterschied-
dass eine liebevolle emotionale Zu-      lichen Komazustände wird in der kli-     Tabelle 1
wendung, Beruhigung, Trost, Zuver-       nischen Komaforschung die Unter-
sicht und Unterstützung den Über-        suchung mittels zeitaufwändiger und      sung (Elektroenzephalografie, EEG)       lich erlebt und wie er empfindet. Aus
gang in eine frühe Remission fördern     systematischer Komaskalen in Form        auch auf neurologischen Intensiv- und    den Schilderungen zur psychologi-
können.                                  der revidierten Koma-Erholungs-Ska-      Frührehastationen, ja auch im Pflege­    schen Situation von „Bewusstlosen“
Solche frühen Remissionsphasen,          la (Coma Recovery Scale – Revised,       heim, häufiger als bisher zum Ein-       auf der Intensivstation wurde bereits
die bereits Ende der 1960er Jah-         CRS-R) gefordert. Es besteht eine Art    satz kommen. Hierdurch lässt sich        deutlich, dass die Anwesenheit und
re vom Nestor der Komaforschung          von Technikgläubigkeit insofern, dass    der durch die differenzierte klinische   Nähe vertrauter Menschen beson-
bzw. des apallischen Syndroms,           manche Forscher davon ausgehen,          Krankenbeobachtung und durch die         ders wichtig ist.
Prof. Franz Gerstenbrand aus Wien,       dass sich das Bewusstsein überhaupt      Anwendung von Komaskalen gewon-          Angehörige kennen die Eigenarten
durch genaue Beobachtungen und           nur messtechnisch mithilfe moderner      nene Verdacht, dass sich bei einem       und Persönlichkeit des Kranken. Sie
Befund­ erhebungen differenziert be-     Bildungsgebungsverfahren wie funk-       Patienten im Wachkoma in der Rea­        bringen einen „emotionalen Blick“
schrieben wurden, weisen für je-         tionelle Kernspintomografie (fMRT)       gibilität und Bewusstseinsfähigkeit      mit ans Krankenbett. Nicht selten
den Patienten auf die prinzipielle       und Positronenemissionstomografie        etwas geändert hat, unterstützen.        sind es insbesondere die Angehö-
Möglichkeit einer Entwicklung aus        (PET) ermitteln und nachweisen lässt.    Voraussetzung und Grundlage ist wei-     rigen, die bei ihren Kranken zuerst
einem Wachkoma hin. Bei diesen           Verfahren der modernen Bildgebung        terhin die genaue symptom- und dia-      Veränderungen bemerken, wie z. B.
Remissions­ stufen werden heute          sind sehr teuer und bisher fast aus-     logorientierte Verhaltensbobachtung.     angedeutete Bewegungen, im Ge-
aller­
     dings überwiegend im anglo­         schließlich Forschungseinrichtungen                                               sichtsausdruck, bei Atmung oder
amerikanischen       Sprachgebrauch      überlassen. Eine flächendeckende         2.6 Warum ist Ihre Anwesenheit           Herzschlag, in der Hautfarbe, beim
und Krankheitsverständnis nur noch       Versorgung mit diesen Techniken in       wichtig?                                 Augenöffnen oder der Art des Blicks.
zwischen „im Wachkoma sein“              Krankenhäusern wird es bis auf wei-      Es kann nicht sicher vorhergesagt        Nicht selten scheinen diese frühen
(vegetative state, VS; Syndrom der       teres nicht geben. Hingegen scheint      werden, ob, wie, was und wie viel        Beobachtungen von kleinen Zeichen
reaktionslosen Wachheit, SRW) und        es eher wahrscheinlich, dass Ver-        ein Mensch im Koma und Wachkoma          und primitiven Reaktionen im Wider­
„im minimalbewussten Zustand sein“       fahren der modernen Hirnstrommes-        wahrnimmt, was er eventuell inner-       spruch zu den Wahrnehmungen des

18                                                                                                                                                            19
Betreuungspersonals zu stehen.          Alle diese Beobachtungen weisen da-           Außenwelt
Manche Angehörige haben daher           rauf hin, dass Menschen im Koma und
eine Videokamera mitgenommen und        Wachkoma offenbar früher als bisher
die Reaktionen gefilmt, um ihre Be-     angenommen versuchen, mit ihrer                                                                  Ich
obachtungen zu beweisen. Wie oben       Umwelt in Kontakt zu kommen, in-
bereits ausgeführt, sprechen Unter-     dem sie auf die ihnen einzig mögliche
suchungen mit der neuen Bildgebung      und spezifische Weise tätig werden                                       Dialogfeld
für die Annahme, dass Menschen          oder antworten. Es muss also das Ziel
im Wachkoma zuerst emotional an-        sein, an die Äußerungen und Formen
sprechbar sind. Und so ist es nicht     der Reaktionen, Verhaltensantworten
                                                                                                        Du
abwegig, anzunehmen – wenn auch         und Selbstaktualisierungen anzu-
noch nicht genügend erforscht –         knüpfen und einen verlässlichen Ver-
dass emotionale Zuwendung, Trost,       ständigungscode aufzubauen, z. B.
Zuversicht und partnerschaftliche       über das Atmen, Seufzen, Blinzeln,
Unterstützung den Übergang in eine      Handzeichen und andere Regungen.                            gemeinsames Zwischenfeld
frühe Remission fördern können.         Durch Ihre Anwesenheit, Nähe und                               der Menschlichkeit
Nicht selten sind es auch die Angehö-   emotionale Zuwendung können Sie
rigen, die wiederum zuerst bemerken,    zu Ihren Kranken die lebensnotwen-
dass sich Art und Intensität der Re-    dige Verbindung und Kommunikation
aktionen in Abhängigkeit von Art und    aufnehmen und zu entwickeln helfen.
Intensität der Stimulation, Kommuni-    Sie schaffen damit nicht nur das not-    Abb. 1: Der Mensch wird am Du zum Ich (Martin Buber, 1984)

kationsangeboten oder äußeren Er-       wendige Ver­  trauen, sondern geben
eignissen (Umgebung, Stations­kultur,   zugleich basale Orien­   tierungen in    nes neuen Lebens in Erscheinung                    Menschen im Wachkoma können
Atmosphäre) ändern. So wurde z. B.      Raum und Zeit und vermitteln Sicher­     treten kann. Wie oben schon an-                    nicht nur sensorische Stimulationen,
beobachtet, dass bei einem Patien-      heit. Das Wichtigste aber dürfte sein,   gesprochen, wurde mit modernen                     menschliche Stimmen und körper-
ten die Herzfrequenz immer dann an-     dass Sie Ihren Angehörigen die Wir-      bildgebenden Verfahren nachgewie-                  nahe Dialogangebote wahrnehmen,
stieg, wenn seine Freundin mit festem   kungen ihrer selbst im köper­   nahen    sen, dass auch im Wachkoma frag-                   sondern auch einfache motorische
Schritt das Krankenzimmer betrat,       Dialog spüren lassen, wodurch ein        mentierte kortikale Restaktivitäten                Reaktionen erlernen. So haben
ohne ihn berührt oder angesprochen      elementares Körperselbstbewusst-         bestehen können, die auf Schmerz-                  schwedische, angloamerikanische
zu haben. Ein anderer Patient wurde     sein sich wieder aufbauen kann           verarbeitung,     Gesichtererkennen,               und eigene Studien gezeigt, dass bis
durch das beharrliche Akkordeonspiel    (Abbildung 1).                           vertraute Stimmen hören oder in-                   zu zwei Drittel der Kranken durch ein
seiner Tochter „geweckt“. Wiederum                                               nere Sätze aussprechen hinweisen.                  früh einsetzendes und strukturiertes
andere Kranke lassen sich nur von       2.7 Warum dürfen Sie hoffen und          Ferner wurde festgestellt, dass sich               Therapieprogramm mit multisensori-
einem bestimmten Familienmitglied       optimistisch sein?                       bei frühzeitiger, intensiver Zuwen-                scher Stimulation und körpernahem
oder ihrer Lieblingskrankenschwes-      Klinische Erfahrungen und wissen-        dung und Kommunikation nicht                       Dialogaufbau sozial reintegriert wer-
ter Essen eingeben, wobei sie zudem     schaftliche Untersuchungen weisen        selten schwere Formen des Lang-                    den können. Vor allem in familiärer
hochindividuell ganz bestimmte Ge-      darauf hin, dass ein Wachkoma kein       zeit- oder Wachkomas im Vollbild                   und häuslicher Umgebung können
schmäcke oder Speisen bevorzugen.       defektiver Endzustand ist, sondern       vermeiden lassen oder deren Symp-                  noch nach Jahren erstaunliche Ent-
Die Reihe derartiger Beispiele ließe    als Zwischenstadium in der Ent-          tome nur in flüchtiger Form auftreten              wicklungsfortschritte erzielt werden,
sich weiter fortsetzen.                 wicklung aus einem tiefen Koma ei-       („apallisches Durchgangssyndrom“).                 wodurch die Betroffenen kommu-

20                                                                                                                                                                     21
nikabel, pflegeunabhängiger und            des „Bewusstlosen“ vorbehaltlos           nen die Behandlung eines Schädel­          gen dazu gesagt? Hat er eine Wil-
selbstständiger und die Angehö-            annimmt und eine emotionale und           hirntraumas oder eines schweren            lenserklärung abgegeben, z. B. in
rigen entlastet werden. Außerdem           soziale Teilhabeperspektive von An-       Schlaganfalls trotz aller akutmedizi-      Form einer Patientenverfügung oder
gibt es inzwischen gute Erfahrungen        fang an in das Denken und Handeln         nischer und frührehabilitativer Bemü-      in Form wiederholter Äußerungen im
damit, dass die Kranken zwar oft           einbezieht.                               hungen in eine sterbensnahe Situa­         Familienkreis (mutmaßlicher Wille)?
schwerstbeeinträchtigt bleiben, aber                                                 tion münden. Dies ist auch in der          Auch die Behandler, insbesondere
mit familiärer und therapeutischer         2.8 Sterben und Tod                       Langzeitversorgung außerhalb des           Ärzte, müssen die Indikation zu einer
Unterstützung sowie technischen            Es gehört zur existenziellen Grund­       Krankenhauses Zuhause oder im              Maßnahme oder Therapie kritisch
Kommunikationshilfen zu einer Ja/          legung des Menschen, dass trotz           Pflegeheim möglich.                        hinterfragen, ist es doch rechtlich
Nein-Verständigung befähigt wer-           aller Sehnsüchte nach Schönheit,                                                     und ethisch geboten, einen Patien-
den können (Augencode, Handcode,           Jungsein und Wachstum das Leben           Zur Versorgung von Menschen im             ten nicht gegen seinen Willen zu be-
Buzzer). Hier haben sich in jüngerer       endlich ist. Der Mensch ist keine re-     Koma, Wachkoma und in den frü-             handeln. Zu einer Entscheidung für
Zeit Erkenntnisse und technische           parable Maschine, deren Funktions-        hen Remissionsphasen gehört daher          die Art der Weiterbehandlung oder
Entwicklungen der Unterstützten            tüchtigkeit man beliebig aufrecht-        auch die Einsicht, dass es selbst bei      Behandlungsbegrenzung einschließ-
Kommunikation (UK) als besonders           erhalten, verlängern oder steigern        sorgfältiger Therapie und Pflege zu        lich Palliativ- und/oder Hospizmodus
hilfreich erwiesen. Von daher kann         kann, sondern Menschen sind ver-          Komplikationen, Schwäche und Er-           sind alle Beteiligten im Konsens ver-
vielleicht auch das gefürchtete „Ste-      letzliche und auf andere angewiese-       schöpfung kommen kann, die den             pflichtet. In einer solchen Situation
ckenbleiben“ im Dauerkoma oder             ne Lebewesen.                             Organismus samt seiner psychi-             kann demnach Hilfe beim Sterben,
Wachkomasyndrom weniger als allei-                                                   schen Widerstandskraft und sozia-          nicht jedoch zum Sterben, geboten
niges Resultat der Hirnschädigung,         Schwersthirngeschädigte sind in           len Ressourcen zunehmend beein-            sein, um ein Sterbenkönnen in Wür-
sondern auch als Folge zusätzlicher        größter existenzieller Gefahr und tief    trächtigen. Häufige Komplikationen         de zu ermöglichen. Eine „bewusst-
Traumen und fehlender sensorischer         verletzt. Trotz moderner Rettungs-        – gerade auch bei dauerbeatmeten           lose“ Weiterbehandlung um jeden
Anregung, Zuwendung, Kommunika-            systeme, Beatmungs- und Intensiv­         Patienten – sind Störungen des Ma-         Preis ist zwingend zu vermeiden.
tion und Teilhabe am sozialen Dialog       medizin besteht auch heute noch in        gen-Darm-Transports mit Erbrechen
angesehen werden. Die isolierten           der Akutphase ein hohes Risiko, zu        wie auch Lungenentzündung und              Menschen im Sterben werden ohn-
Patienten leiden an einer durch das        versterben. Das Leben im Koma auf         aufsteigende Harnwegsinfektionen           mächtig und bewusstlos. Sie ver-
traumatische Ereignis ausgelösten          der Intensivstation stellt für alle Be-   mit Blutvergiftung (Sepsis). Auch          lieren das Bewusstsein und ge-
„inneren Blockierung“, die einer Auf-      teiligten eine große Herausforderung      können Besiedelungen mit multi­            ben ihren Geist auf. Komatöse
lösung durch eine beherzte, liebevol-      und Belastung dar. Gerade im Alter        resistenten Keimen zu einer töd­           Hirngeschä­digte im Sterben haben
le und wärmende zwischenmensch-            kann aufgrund vorbestehender Be-          lichen Infektion führen, weil kein Anti-   ihr Bewusstsein bereits mehr oder
liche Umgebung bedarf, die sich            gleiterkrankungen und Komplikatio-        biotikum mehr hilft. Der Zustand des       weniger verloren und/oder sind jetzt
                                                                                     Betroffenen kann sich durch solche         dabei, ihren Geist vollständig auf-
                                                                                     Umstände innerhalb weniger Stun-           zugeben. Ein tiefes Koma ist in der
     ›O b ein Wachkoma-Patient ein Erleben hat, ist u. a. deshalb so schwer         den krisenartig zuspitzen.                 biotechnisch­o rientierten Medizin –
       einzuschätzen, weil sein Leben gänzlich unterbrochen wurde; gewisser-         In einer solchen Situation sind nach       neben Atemstillstand und völliger
      maßen steht für uns sein Leben selbst infrage ...‹                             heutigem rechtlichen und ethischen         Reaktionslosigkeit auf Schmerzreize
                                                                                     Verständnis alle Beteiligten aufgefor-     (Verlust der Schutzreflexe) – eines
     Alva Noë, in: Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des          dert, die Behandlung zu hinterfragen       der drei wichtigen klinischen Anzei-
     Bewusstseins (2010)                                                             und sich die Frage zu stellen: Was         chen eines drohenden oder bereits
                                                                                     hat der Betroffene in gesunden Ta-         eingetretenen        Hirntodsyndroms.

22                                                                                                                                                                 23
Nach neueren Erkenntnissen wird          frühzeitige Bade- und Wasserthera-
durch ein Hirntodsyndrom angezeigt,      pie, weil durch das Schwimmen im            Medizinische Menschenkunde
dass ein sterbender Mensch nach          Wasser „automatische“ Bewegungs-            ›D as Problem des Menschen … in dieser Art Medizin ist, daß er, der
einer schwersten Hirnschädigung an       muster angeregt werden, die einen             Mensch, seine Krankheit, die als Teil seiner ganzen Biografie zu ver-
dem Punkt der Unumkehrbarkeit des        positiven Einfluss auf alle anderen           stehen ist, nicht nur hat, sondern auch macht. Daß er die Krankheit,
Sterbeprozesses angekommen ist.          Funktionsbereiche haben. Eine einfa-          die Ausdrucksgebärde, die Sprache seines Körpers produziert, wie er
Er ist ein (noch) Lebender, bei dem,     che frühe Stimulation ist die handge-         jedes andere Ausdrucksgebiet und jedes andere Sprechen formt.‹
wenn er eingewilligt hat (im Sinne der   stützte Atemhilfe, die Sie jedoch erst
Entscheidungslösung) oder die An-        lernen müssen. Dazu zählt z. B. das         Viktor von Weizsäcker, in: Natur und Geist (1944)
gehörigen dies bezeugen können (im       Ansprechen und handgestützte Mit-
Sinne der erweiterten Zustimmungs-       singen des Namens des Patienten:
lösung), Organe und/oder Gewebe          Sie legen ihre Hand auf die Brust Ih-    und als Signal zur Kontaktaufnah-        renzieren, zu verstärken oder indivi-
entnommen und verpflanzt werden          res Gegenübers und sprechen oder         me verstanden, kann ein wechsel-         duell zu variieren und zu modulieren.
dürfen.                                  singen seinen Namen im Takt seiner       seitiger Prozess von Anregung und        Dabei werden Angehörige von An-
Ein Sterben im Hirntodsyndrom stellt     Atmung und in Melodie und Rhyth-         Reaktion, Vorschlag und Gegen-           fang an mit einbezogen.
alle Beteiligten vor schwere ethische    mus seines Namens. Dazu wird Res­        vorschlag, Angebot und Antwort in
und persönliche Fragen und Ent-          pekt, Feingefühl und Zeit oder auch      Gang kommen, wobei Stimulationen         Während eine basale sensorische
scheidungen, bei denen der (mut-         nur ihre Anwesenheit und Präsenz         und Reaktionen immer differenzier-       Stimulation von jeder beliebigen Per-
maßliche) Wille des Patienten stets      benötigt.                                ter werden und sich in der gemein-       son durchgeführt werden kann, sind
in den Vordergrund zu stellen ist und                                             samen Tätigkeit immer mehr ge-           für den Dialogaufbau die Mitarbeit
zum Maßstab erhoben werden muss.         Mit dem Hautsinn erfährt der Kranke      meinsame kleine Aktivitätseinheiten      von Angehörigen und Beziehungen
                                         seine Körpergrenzen, die Grenzen         entwickeln können.                       zu nahen Angehörigen, also von Ih-
                                         seines Ichs. Das Gehör knüpft an                                                  nen selbst, sinnvoll und notwendig.
3. WOMIT SIE KONKRET                     die Eigenwahrnehmung des Körpers         3.2 Dialogaufbau in kleinen              Wichtig ist, zu verstehen, dass der
HELFEN KÖNNEN                            (Tiefensensibilität,  Vibrationssinn,    Schritten                                Dialogaufbau kein einfacher, starrer
                                         Propriozeption) an und ist der erste     Beim Dialogaufbau kommt es darauf        Reiz-Reaktions-Zyklus ist, sondern
3.1 Positive Anregungen geben            ansprechbare Fernsinn. Über das          an, eine vertrauensvolle Beziehung       eine liebevolle, sich ständig verän-
Positive Anregungen sind Anregun-        Gehör kommen Stimme und Stim-            auf der Grundlage einer sinnvollen       dernde zwischenmenschliche und
gen aller Sinnesbereiche: Geruch,        mung zum Kranken. Dies sind nur ei-      Kommunikation zum Kranken her-           körpernahe kommunikative Situa­
Berührung, Gehör, Gesicht und Ge-        nige Beispiele. Durch einfache oder      zustellen. Dies gelingt nahen An-        tion und Interaktion, an deren Verlauf
schmack sowie Bewegungsgefühl.           komplexe (multisensorische) Sinnes-      gehörigen meist am Besten. Beim          und Entwicklung alle Partner betei-
In der Frühphase sind darüber hinaus     stimulation gibt man also dem Ande-      körpernahen Dialogaufbau wird auf        ligt sind. Man kann diesen Prozess
Stimulationen vonseiten der Tiefen­      ren einen Anreiz zur Wahrnehmung,        Elemente der basalen und multisen-       des Dialogaufbaus am besten in
sensibilität, des Gleichgewichts, des    emotionalen Bewertung und Re-            sorischen Stimulation zurückgegrif-      Form einer nach oben offenen Ent-
Lage- und Bewegungssinns (Kinäs-         aktion. Liebevolle Zuwendung und         fen. Im Unterschied zu diesen beiden     wicklungsspirale sichtbar machen,
thesie; Körperselbstbewegungssinn)       Stimulationen sind Anreize, die den      Verfahren wird beim Dialogaufbau         wobei die Richtung der Entwicklung
für die Selbstwahrnehmung des Pa-        Patienten animieren, Reaktionen zu       vor allem mithilfe der Angehörigen       aus dem Zusammenwirken beider
tienten entscheidend. Äußerst wün-       zeigen, seinen Lebenswillen zu äu-       versucht, Angebote und Antworten         Partner im Sinne von Vorschlag und
schenswert, aber in der Realität nur     ßern und sich selbst zu aktualisie-      entsprechend der Gesamtsituation         Gegenvorschlag hervorgeht (siehe
schwer zu verwirklichen, ist eine        ren. Wird eine Reaktion beobachtet       wechselseitig abzustimmen, zu diffe-     Abbildung 2).

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