Aus dem Inhalt: Probschein von Christian Oechsle Gas-Wasser für (fast) jedermann Smart City seit 1855 - Stadt Pforzheim
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Archivmagazin Neues aus dem Stadtarchiv Pforzheim Nr. 2021/2 Mitteilungen für die Mitglieder Nr. 43/Juli 2021 Aus dem Inhalt: Probschein von Christian Oechsle Gas-Wasser für (fast) jedermann Smart City seit 1855 www.stadtarchiv.pforzheim.de
Grußwort des Vorsitzenden und zeigte, welche interessanten Erkenntnisse zu den Grabungen in Pforzheim gewonnen Liebe Mitglieder des Fördervereins, werden können. zur neuen Normalität gehören mittlerweile Insbesondere wurde deutlich, dass sich durch digitale Veranstaltungsformate. Dies gilt auch solche Forschungen immer wieder unser Blick für das Stadtarchiv und die beliebte Reihe auf unsere Vergangenheit ändert. Geschichte, „Montagabend im Archiv“. Die pandemiebe- dingte Umstellung auf digitale Formate hat auch einen interessanten Nebeneffekt er- bracht: Viele Zuschauerinnen und Zuschauer nutzen die Gelegenheit, um aus weiter Entfer- nung an den Veranstaltungen teilzunehmen. Manche sind ehemalige Pforzheimerinnen und Pforzheimer, die so ihre Verbindung zur alten Heimat beleben. Auch werden manche Vorträge unter Beach- tung aller datenschutzrechtlichen Regeln mit Einverständnis der Beteiligten aufgezeichnet Screenshot aus dem Vortragsvideo von Jan Ilas und sind als Streamingangebot verfügbar. Bartusch zu den Pforzheimer Inschriften auf www. So wird eine weitere Möglichkeit erschlos- pforzheim.de/mia sen, damit niemand mehr Vorträge der Reihe „Montagabend im Archiv“ verpassen muss. so zeigt sich auch gerade bei diesem Thema, Unter www.pforzheim.de/mia finden Sie alle zeigt sich als lebendiges Konstrukt, das wir digitalen Vorträge. stets neu bilden. Das landläufige Bild von his- torischen Erkenntnissen, die einmal gebildet, Zuletzt stellte Dr. Jan Ilas Bartusch in einem eine unverrückbare Basis unseres Weltbildes spannenden Vortrag seine Forschungser- sind, muss also hinterfragt werden. Insofern gebnisse zu den fragmentarischen Inschrif- leistet historische Forschung gerade auf tenfunden vor, die bei den archäologischen solchen Gebieten einen Beitrag, unsere Über- Grabungen auf dem Rathaushof in Pforzheim lieferungen als ein im Wandel befindliches entdeckt wurden. Inschriften aus Antike und Gebilde zu begreifen, das zu aktiver Diskussi- Mittelalter sind bedeutende Quellen für die on und spannender Debatte einlädt. historische Forschung. Die Entschlüsselung von Inschriften und deren Bewertung ist Ge- Nicht versäumen möchte ich an dieser Stelle, genstand der epigraphischen Forschung, die auf den ebenfalls verfügbaren Vortrag von damit oft wichtige und spannende Einblicke Dr. Detlef Zerfowski hinzuweisen. Seine Ein- in vergangene Zeitalter erlaubt. Im Rahmen führung in die Welt der mechanischen Re- seiner Tätigkeit bei der Heidelberger Akade- chenmaschinen stellte unter Beweis, dass mie der Wissenschaften und dort zuständig Ingenieur/-innen, Wissenschaftler/-innen und für deutsche Inschriften führte Dr. Bartusch in Erfinder/-innen lange vor der digitalen Revo- die Methoden der modernen Epigraphik ein lution kleine mathematische Wunderwerke 2 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
konstruierten, die zumindest die Welt der Zahlen berechenbarer machten. Zwar nicht Förderverein für das Stadtarchiv Pforz- in Pforzheim, aber im Südwesten entstanden heim e. V. mehrere Unternehmen, die solche mathemati- schen Alleskönner fabrizierten und die Abläu- Kronprinzenstr. 28 fe in den Buchhaltungen vor allem mit Beginn 75177 Pforzheim des 20. Jahrhunderts erleichterten. Hier ist Foerderverein.Stadtarchiv@pforzheim.de auf www.pforzheim.de/mia zwar kein Video 07231 39-1836 verlinkt, aber eine sehenswerte, aufwendig gestaltete animierte Präsentation. Bankverbindungen: Wir hoffen alle, dass die Veranstaltungen nach Sparkasse Pforzheim Calw der Sommerpause wieder in Präsenz statt- IBAN DE68666500850007619197 finden können und auch unser Vereinsleben BIC PZHSDE66XXX im Förderverein für das Stadtarchiv wieder vorsichtige Schritte in Richtung Normalität Volksbank Pforzheim gehen kann. Bei allem Erfolg der digitalen IBAN DE65666900000003178470 Formate ist in allen Gesprächen doch die BIC VBPFDE66XXX Sehnsucht nach wirklicher Begegnung zu spüren. Eine Vorstandssitzung im August ist zumindest schon einmal anberaumt; dort wer- den wir dann auch über die Durchführung der Mitgliederversammlung beraten. Ihr Kai Adam Vorsitzender des Fördervereins für das Stadt- archiv Pforzheim e. V. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 3
„Montagabend im Archiv“ • Programm 2021 Bestände sowie Recherche- und Nutzungs- möglichkeiten des Stadtarchivs. In Kooperation mit der Löblichen Singergesellschaft von 1501 Pforz- Susanne Brückner ist Gleichstellungsbeauf- LÖBLICHE heim tragte der Stadt Pforzheim. Dr. Klara Deecke leitet das Stadtarchiv Pforzheim. SINGERGESELLSCHAFT VON 1501 PFORZHEIM Die nächsten Termine: Teilnehmerzahl begrenzt. Anmeldung erfor- derlich. Bitte beachten Sie den Beginn bereits Hinweis: Wir bitten um Verständnis, dass um 17 Uhr. der Veranstaltungsort coronabedingt noch nicht angekündigt werden kann. Bitte infor- mieren Sie sich im Veranstaltungskalender 22. November, 19 Uhr, Ort wird noch bekannt der Stadt oder auf der Website des Stadtar- gegeben chivs über Veranstaltungsort und -zeit sowie die Anmeldemodalitäten oder schreiben Sie Dr. Tobias Bonz uns eine E-Mail oder rufen uns an. Instrumentalmusik als Schulfach in der Spätaufklärung – Ein Beispiel aus der Pforz- heimer Schulgeschichte 18. Oktober, 17 Uhr, Stadtarchiv Pforzheim oder digital (wird noch bekannt gegeben) In Zusammenarbeit mit der Löblichen Singer- gesellschaft von 1501 Pforzheim Susanne Brückner und Dr. Klara Deecke Thematische Archivführung: Pforzheimer In Pforzheim wurde 1775 der Unterricht auf Frauengeschichte Geige und Flöte als wichtiger Bestandteil in den schulischen Lehrplan des Pädagogiums In Zusammenarbeit mit der Löblichen Singer- aufgenommen. Für die heutige Diskussion gesellschaft von 1501 Pforzheim von Bildungszielen ist aufschlussreich, war- um der über 25 Jahre erfolgreich bestehende Nicht nur bekannte Pforzheimerinnen wie Musikzug auch von den Stadtoberen und dem Bertha Benz, Emma Jaeger oder „Frau Ober- badischen Markgrafen unterstützt wurde. Der bürgermeister Habermehl“ haben ihre Spuren Vortrag zeichnet das Bild dieser Legitimation in den Archivbeständen hinterlassen, auch nach und beschreibt, wie die Instrumentalmu- Themen wie der Wandel der Rollenbilder und sik als Teil der Schönen Wissenschaften und der lange Weg zur rechtlichen und sozialen Künste zwischen Kirche, Politik und Philoso- Gleichberechtigung lassen sich an Original- phie prägenden Einfluss in die Schulpädago- quellen aus dem Stadtarchiv nachzeichnen. gik erlangte. In der Veranstaltung informieren die Refe- rentinnen über die Aktivitäten und Angebote Dr. Tobias Bonz ist Cellist, Musikpädagoge der Gleichstellungsbeauftragten zum Thema und leitet Streicherensembles an mehreren Gleichberechtigung und Frauengeschichte Pforzheimer Schulen. Er forscht über histori- und erläutern bei einem Rundgang durch die sche Interpretationspraxis und hat ein Lehr- sonst nicht zugänglichen Magazinräume die buch für Barockcello veröffentlicht. 4 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Probschein für Herrn Kübeleberle ausge- halts der Gold- und Silberwaren. Ab ca. 18863 stellt von Christian Oechsle übte wohl die Großherzogliche Probieranstalt Andrea Binz-Rudek in Pforzheim diese Kontrolle aus. Im März 2021 erwarb das Stadtarchiv diesen Dass Oechsle selbst auch eine Scheideanstalt Prob-Schein (Stadtarchiv Pforzheim S42- betrieb, ist vielfach unbekannt. Im Pforz- 18). Der Kauf des Dokuments erwies sich als heimer Adressbuch von 1867 ist er bei den Glücksgriff, denn das auf den ersten Blick et- Kehrets-4 und Scheideanstalten aufgeführt. Es was unscheinbare Blatt hält zahlreiche Über- wäre nun interessant zu wissen, ob Oechsle raschungen und Entdeckungen bereit: auch sein eigenes Gold kontrollierte?!! Ein Ge- wissenskonflikt schien damals nicht entstan- Der Schein ist unterzeichnet von Christian den zu sein, als man dem Scheideanstaltsbe- Oechsle (1814-1897), als vereidigter [Gold-] sitzer Oechsle das Amt des Goldkontrolleurs Kontrolleur. Somit ist im Stadtarchiv neben übertrug. seiner Arbeit als Mechanikus auch seine Tätig- keit als Goldkontrolleur dokumentiert. Auf der Rückseite des Probscheins wurde der Wert des Goldes in Geldwährung umgerech- Im Probschein aus dem Jahr 1853 bestätigt net: er Herrn M[artin] Kübeleberle & C[ompanie] die Reinheit seines Goldstücks von 2 lb „Werth vorstehendes Goldes hat (die Once [lb=librum(lat.) = Pfund], 8 O[ncen], 4 (gemeint Unze) Feingold zu F[lorentiner] 50 Den[nare]. Der Feingold-Gehalt beträgt 9 gerechnet) Karat, der Feingehalt von Silber und Kupfer je 7 Karat, zusammen 24 Karat1. An Feingold F[lorentiner] 9 und 19 Kr[euzer], Silber F[lorentiner] 1 Als Erste übte die Familie Vierordt von 1777- 1820 das Amt des Goldkontrolleurs in Pforz- Enthält f. Gold 91 d[enare]: 1 Gr[an, entspricht heim aus; Wilhelm Vierordt (Kontrolleur von ca. 65 mg]“ 1777-1789), nach dessen Tod seine Ehefrau Catharina2 und deren Sohn (Kontrolleure von Das Genie Ferdinand Oechsle (1774-1852) 1789-1820). Nach dem Tod des Vaters Ferdi- entwickelte eine Bijouterie-Rechenmaschine, nand Oechsle (von 1820-1852 Goldkontrolleur) möglicherweise um seine Arbeit als Goldkon- übernahm Christian Oechsle 1852 die Tätigkeit trolleur oder Scheideanstaltsinhaber zu er- des Kontrolleurs zur Überwachung des Ge- 3 Aus den Dienerakten des Generallandesarchivs Karls- 1 Rechnerisch würde es allerdings nur 23 Karat erge- ruhe 76 Nr. 9708 geht hervor, dass im Jahr 1886 Hans ben, falls diese Summen addiert werden können. Die Wachter, Vorstand der Probieranstalt für Edelmetalle Fachkenntnis der Archivarin endet an dieser Stelle, in Pforzheim wurde. Laut Pieper, Wolfgang, Scheiden so dass hier angenommen wird, dass 24 Karat seine (s. u.) übernahm die Großherzogliche Probieranstalt Richtigkeit hat; möglicherwiese handelt es sich um in den 1890er Jahren diese Tätigkeit. eine Aufrundung und weitere Bestandteile wurden 4 Eine Kehretsanstalt würde man heute als Recycling- nicht berücksichtigt. unternehmen bezeichnen, hier wurden bei der Pro- 2 https://www.staatsanzeiger.de/staatsanzeiger/nach- duktion entstandene Abfallmetalle etc. „zusammen- richt/artikel/catharina-vierordt-1755-bis-1842/?sword_ gekehrt“, technisch aufgearbeitet und wiederverwen- list%5B%5D=pforzheim&no_cache=1, (18.06.2021). det. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 5
Probschein für Herrn M[artin] Kübeleberle, [Bi- Im Polytechnischen Journal 1840 Bd. 78, Nr. jouteriefabrikant, Hospitalstr. C184 in Pforzheim] LXV (S. 338-344)6 wird die Maschine wie ausgestellt von Christian Oechsle im Jahr 1853, folgt beschrieben und auch auf den Gebrauch Stadtarchiv Pforzheim S42-18 eingegangen: „Diese Maschine, Fig. 1, be- leichtern. Mehr zu dieser Maschine kann man steht aus einem Brett circa 2 Fuß lang und in der Zusammenfassung des Vortrag von eben so breit. Auf diesem befindet sich ein Detlef Zerfowski: Ein Spaziergang durch die abgestumpftes Dreiek ABC, welches in 24 Vergangenheit des mechanischen Rechnens, Theile oder Karate eingetheilt ist. Jeder die- am 17.05.2021 im Rahmen von Montagabend ser Theile ist in 16 kleinere Theile getheilt, und im Archiv erfahren: „Bei der ‚Rechnungsma- es läßt sich 1/2 Th. oder 1/32 Kar. noch gut schine‘ handelt es sich nicht um eine Maschi- ablesen. Wegen dem leichteren Ablesen sind ne, sondern um ein Rechenhilfsmittel, mit die ganzen Karate schwarz, die Viertel blau dem einfach die Anteile der unterschiedlichen und die Sechszehntel roth gezeichnet. Ferner Legierungsbestandteile bestimmt werden befindet sich hiebei ein Lineal D, E mit einer konnte. … Oechsles Erfindung erlaubt zu einer Anschlagleiste F, welches auf dem Brett A, B, gewünschten Goldqualität (definiert durch C hin und her geführt werden kann. spezifische Legierungsanteilen von Gold, Silber und Kupfer), ausgehend von einer Dieses Lineal hat drei Zeiger Z, Z, Z, die sich vorhandenen Legierung, …die hinzuzufügende verschieben lassen, nämlich einen für Gold, Menge an Gold, Silber und Kupfer zu bestim- den zweiten für Silber und den dritten für men, um die gewünschte Goldqualität zu Kupfer…“. erhalten.“5 (05.07.2021). 5 https://www.zerfowski.com/History_of_mechanical_ 6 http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj078/ calculation/history_of_mechanical_calculation.php ar078065 (18.06.2021). 6 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Mehr zum Verfahren des „Probierens“, zum Beispiel der Strichprobe, welche die Gold- schmiede oft selbst durchführen konnten oder zu Oechsle in diesem Zusammenhang, kann in Wolfgang Pieper: Scheiden. 150 Jahre Scheideanstalten in Pforzheim - Eine Geschichte ihrer wirtschaftlichen und tech- nischen Entwicklung (Schriftenreihe der Gesellschaft zur Förderung d. Technischen Museums der Pforzheimer Schmuck- und Uh- renindustrie e.V. Nr. 2), Pforzheim 1986, nach- gelesen werden. Diese Literatur ist auch die grundlegende Quelle für diesen Artikel. Auf der Rückseite des Probscheins finden sich auch noch zwei Hilfsrechnungen Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 7
Gas und Wasser für (fast) jedermann Annette Nußbaum Durch die fortschreitende Industrialisie- rung im 19. Jahrhundert kam es zu einer enormen Zuwanderung von Arbeitssu- chenden aus dem Umland in die aufstre- benden Industriestädte wie Pforzheim und zunehmender Urbanisierung. Die Schaffung neuen Wohnraums war das Gebot der Stunde. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte nach der Reichs- gründung ein regelrechter Bauboom ein, der einem eigenen Baustil, der Grün- derzeitarchitektur, seinen Namen gab. Selbstverständlich wurden die neu ge- bauten Häuser mit den neuesten Errun- genschaften der Technik ausgestattet, die nun auch für weite Teile des Bürger- tums verfügbar und erschwinglich wa- ren. Gas- und Wasserleitungen wurden nun auch zu Privatwohnungen verlegt. Der Ärger für die Bauherren war damals aber vermutlich ähnlich wie heute. So Brief der Louise Fahrner an Fritz Fahrner vom schreibt Louise Fahrner, die Großmutter des 29.12.1877 (N160) bekannten Pforzheimer Schmuckfabrikanten Theodor Fahrner, aus Ludwigsburg an ihren in Auch im in den letzten beiden Archivmagazi- die USA ausgewanderten Stiefsohn Fritz: nen bereits vorgestellten Archivbestand B81 der Stadtwerke Pforzheim gibt es zu diesem „…Gott Lob die Bauerrey ist vorüber, hat Thema einige informative Unterlagen. freilich sehr viel Unlust verursacht, aber es ist jetzt Alles recht schön, und daß ganze Haus ist, seit Martini mit lauter wohl habenden Leute bewohnt, unten Fißlers mit 5 Zimmer, u[nd] Laden, im ersten Stock meine Wenig- keit mit 3 Zimmer, neben mir Rathschreiber Brecht mit 4 Zimmer, im obern Stock, Herrn Pfarrer Bilfinger, mit 7 Zimmer, nebst aller Bequemlichkeiten Waßer Leidung, theil weiß auch Gas Leidung, es ist Alles schön u[nd] gut eingerichtet,…“1 1 N160. 8 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Besonders interessant ist hierbei das 1884 angelegte „Verzeichnis der Häuser die nicht mit Wasser versorgt sind sowie derjenigen die vermöge ihrer Lage nicht mit W. versorgt werden könen, u. die der Wasserversorgung nicht bedürfen“2. Anders als der Leser/die Leserin des Titels vermutlich antizipiert, gibt es darin eine mehrseitige Auflistung der priva- ten Grundstücke und Gebäude, die bereits seit 1880 mit Quellwasser aus dem Grösseltal versorgt wurden. Im Jahr 1880 wurden bereits 28 Privathaushalte mit Wasser beliefert. 1881 und 1882 kamen 48 bzw. 21 weitere hinzu. Und 1883 stieg die Anzahl nochmals um 115. Das Verzeichnis der bereits mit Quellwasser aus dem Grösseltal versorgten Grundstücke 1880/81 (B81- 1009) Verzeichnis liest sich wie das Who’s who des wohlhabenden Pforzheimer Bürgertums und der Hautevolee der hiesigen Schmuckfabri- kanten am Ende des 19. Jahrhunderts – von Bierbrauer Christof Beckh über den Bijou- teriefabrikanten und Abgeordneten August Dennig bis zum Schwager der Bertha Benz, Julius Hoheisen. Titelblatt des Verzeichnisses der nicht mit Quell- wasser aus dem Grösseltal versorgten Häuser 1880-1883 (B81-1009) 2 B81-1009. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 9
Gasleitungsplan zur Villa Gustav Raus am Weiher- berg aus dem Jahr 1892 (B81-1005) Gasrohrnetzplan für den Bereich Turnplatz (B81- 1005) In einer weiteren Akte der Stadtwerke Pforz- heim mit dem Titel „Alter des Gasrohrnetzes“3 finden sich auch Dokumente zur Verlegung einer Gasleitung zur Villa des Fabrikanten Gustav Rau auf dem Weiherberg4 im Jahre 1892. In einem Schreiben des Gasinspektors Albert Erpf5 werden die Kosten für die Verle- gung einer Straßengasleitung detailliert kalku- liert. Ergänzt wird das Dokument durch zwei Gasrohrnetzpläne für die Bereiche Turnplatz und Weiherberg. Man beachte, dass einer der Pläne gesüdet ist. 3 B81-1005. Kalkulation des Gasinspektors Albert Erpf für 4 Laut Pforzheimer Adressbücher ab 1887 Weiherberg- Gustav Raus Gasleitung 1892 (B81-1005) straße 37, laut Bauakte Ringstraße 37 und seit 1913 Gustav-Rau-Straße 2. 5 Für weitere Informationen zu diesem siehe Nachlass der Familie Erpf N108. 10 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Der 1929 aufgestellte Wasserrohrnetzplan der Stadtwerke Pforzheim (B81-1006) Geradezu farbenfroh muten die überlieferten Wasser- und Gasrohrnetzpläne6 der Stadt- werke Pforzheim an, die 1929 bzw. 1940/41 an- gefertigt und bis 1983 in Zehnjahresschritten weitergeführt wurden. Aus ihnen ist jeweils mit verschiedenen Farben kenntlich gemacht das Alter der verlegten Wasser- und Gaslei- tungen seit 1876 bzw. 1852 ersichtlich. Legende zum Wasserrohrnetzplan (B81-1006) Im Bestand B81 der Stadtwerke Pforzheim warten noch viele weitere wunderbare und informative Pläne auf ihre Entdeckung! 6 B81-1006 und B81-1005. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 11
Gustav Rau Der Fabrikant Gustav Wilhelm Rau wurde am 11.10.1843 in Bad Wildbad geboren und stammte aus einer Calmbacher Försterfami- lie. Nach einer Lehre als Stahlgraveur machte er sich 1877 mit einer Estamperie, also einer Firma zur Herstellung von Pressungen aus Gold- und Silberlegierungen selbständig. Später kam die Fertigung von Halbzeugen insbesondere aus Doublé hinzu. 1897 wurde das neue, heute nach schweren Kriegsschä- den wieder aufgebaute Firmengebäude an der Kaiser-Friedrich-Straße 7 bezogen. Nur wenige Jahre später verstarb Gustav Rau 1903 im Alter von nur 60 Jahren ohne Nach- kommen. Deshalb wurde die Firma von den Prokuristen Albert Reichenbach und Wilhelm Reis sowie dem Neffen Karl Drusenbaum übernommen und weitergeführt. Gustav Foto Gustav Raus (Abb. aus: Jahrbuch der Stadt Rau war in der Pforzheimer Stadtgesell- Pforzheim Vierter Jahrgang 1903. Pforzheim schaft bestens vernetzt. Er war Mitglied der 1906, S. 17) Feuerwehr und Stadtverordneter. Da seine Ehen mit Elwira Schnaibel und Marie Winter kinderlos geblieben waren, vermachte er wie einige andere wohlhabende Zeitge- nossen (z. B. Emma Jaeger) der Stadt Pforzheim größere Summen für die Volksschule, das Waisen- und Kranken- haus. Seine am Weiherberg gelegene Villa fand Eingang in die Gustav-Elwira-Rau- Stiftung und sollte zu einem Kinderheim umgebaut wer- den, was aufgrund der nicht geeigneten Räumlichkeiten und der fehlenden liquiden Mittel aber unterblieb. Foto der Villa Gustav Raus (S1-07-01-024-R-001; Fotograf: Max Meyer) 12 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Ansicht der Rau'schen Villa am Weiherberg (Bau- akte B63/Gustav-Rau-Straße 2; Architekt: Joseph Roos) Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 13
Smart City seit 1855 fairen Gesellschaft, Nachhaltigkeit und mehr Kleine Kommunikationsgeschichte der Stadt Lebensqualität führen soll.1 Pforzheim Marco Tänzer, Sonja Hillerich Das Schlagwort Digitalisierung beschreibt einen Wandel, der alle Lebensbereiche be- Was macht die City smart? Digitalisierung ist trifft und der als so fundamental empfunden das Schlagwort, das derzeit unweigerlich als wird, dass er vielfach als „digitale Revolution“ Antwort auf diese Frage folgt. Auch die Stadt beschrieben wird. Ein ganz bedeutsamer Pforzheim fasst unter dem Begriff SmartCity Motor dieses Wandels sind neue Kommuni- ein Konzept der Digitalisierung des urbanen kationsmittel und -formen. Durch die Technik Raums, das zu mehr Effizienz, einer starken ist Kommunikation schneller, erschwinglicher, und grüneren Wirtschaft, einer inklusiven und bunter und für (fast) alle zugänglich gewor- Abb. 1: Lithographie von Caspar Obach mit dem Marktplatz um 1850 – die prominent in der Bild- mitte platzierte Postkutsche zeigt Pforzheim als 1 Stadt Pforzheim (Hg.): Smart City Strategie. Online moderne Stadt mit weitläufigen Verbindungen unter https://www.pforzheim.de/digitalisierung/ (StadtA PF S5-397) smart-city-strategie.html (28.05.2021). 14 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
den. Die Vernetzung von Menschen miteinan- Am Apparat – Die Einführung des Telefons der, aber auch mit Dingen und Systemen hat in Pforzheim. zugenommen. Auch der Einzug des Telefons in Arbeitswelt Zugleich haben sich durch die Digitalisierung und Alltag eröffnete den Menschen völlig unsere Gewohnheiten, Formen und Stile der neue Möglichkeiten. Der Apparat war bei sei- Kommunikation massiv verändert. Die neuen ner Erfindung eine Sensation – erstmals konn- Möglichkeiten der Kommunikation wiederum ten Töne nicht nur aufgezeichnet, sondern di- haben neue Bedürfnisse, Diskurse, Ausdrucks- rekt übertragen werden. Das kam der direkten formen, Wirtschaftszweige, Veranstaltungs- Kommunikation von Angesicht zu Angesicht formate, Berufe und vieles mehr geschaffen. so nah wie bei keinem anderen Medium zuvor. Und so wird der Wandel seit der jüngsten Die Telefonzelle sorgte in Pforzheim für eine Jahrtausendwende auch als Kommunikations- Demokratisierung dieser Technologie. revolution beschrieben. Papierlos in die Ferne schreiben – Der Ein- ‚Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber zug des Telegrafen in Pforzheim. sie kann sich reimen‘ (Mark Twain zugeschrie- ben). Worauf reimt sich die aktuelle digitale Heute in der Bedeutungslosigkeit versunken, Kommunikationsrevolution? Welche Techni- entfesselte die Telegrafie bei ihrer Einführung ken und Erfindungen revolutionierten in der eine regelrechte Kommunikationsrevolution.2 Vergangenheit die Kommunikation? Und was Im Zusammenspiel mit den politischen Re- machte Pforzheim schon 1855 smart? Dieser volutionen des Jahres 1848 erzeugte der Frage wird anhand ausgewählter Archivali- Telegraf völlig neue Dynamiken der Nachrich- en aus dem Stadtarchiv nachgegangen, die tenkommunikation und hob die Bedeutung wichtigsten Stationen der Kommunikations- des Wortes „aktuell“ auf ein neues Niveau. In geschichte Pforzheims werden vorgestellt. Pforzheim bescherte er vor allem der Wirt- schaft neuen Schwung. Mit dem Anschluss an Mit Maus und Tastatur – Der Beginn des digi- das badische Telegrafennetz wurde Pforzheim talen Zeitalters. schon im Jahre 1855 smart.3 Eine wichtige Vorbedingung für die aktu- Von Metzgern und Motorrädern – Die Ge- ellen Veränderungen ist die Einführung der schichte der Post in Pforzheim. elektronischen Datenverarbeitung, die das Berufsleben völlig verändert und zahlreiche Auch wenn die Post heute als leicht verstaubt völlig neue Berufe erst geschaffen hat. Für und furchtbar langsam gilt, in der Frühen die öffentlichen Verwaltungen und ihre Be- Neuzeit war sie eine ziemlich smarte Erfin- schäftigten bedeutete dieser Schritt einen massiven Umbruch. Wie äußerte sich dieser 2 Reichardt, Rolf: „Das größte Ereignis der Zeit“. Zur Veränderungsprozess bei der Stadtverwal- medialen Resonanz der Pariser Februarrevolution, in: tung Pforzheim? Friedrich Lenger, Ansgar Nünning (Hg.): Medienereig- nisse der Moderne. Darmstadt 2008, S. 14-39. 3 Pflüger, Johann Georg Friedrich: Geschichte der Stadt Pforzheim. Hgg. von Hans-Peter Becht, Nach- druck der Auflage von 1862, Pforzheim 1998, S. 694. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 15
dung, die mit einfachen Mitteln und einer ergänzten und in Konkurrenz standen: Aus ausgefeilten Organisation die Kommunikation einer im Original mittlerweile verschollenen über die Entfernung hinweg planbar, zuver- Bürgermeisterrechnung aus dem Jahr 1683 lässig und bezahlbar machte – zumindest für geht hervor, dass für „Postritt und Botenlohn“ Wohlhabende und Schriftkundige.4 Das Zu- acht Gulden und 26 Kreuzer an die Metzger- sammenspiel aus Erfindung des Buchdrucks zunft zu zahlen waren.7 Was heute erstaunlich und der Einrichtung des Postwesens bezeich- anmutet, war im 16. und 17. Jahrhundert eine nete der Frühneuzeithistoriker Wolfgang vor allem in Süddeutschland verbreitete Pra- Behringer sogar als „Mutter aller Kommunika- xis, die sich die berufsbedingte Mobilität der tionsrevolutionen“ und „Motor der Moderne“.5 Metzger zunutze machte.8 Mit der Pforzheimer Postgeschichte beginnt daher unsere kleine Kommunikationsge- Als erste regelmäßige Postfuhrgelegenheit schichte der Stadt Pforzheim. wird 1684 die Straßburger Landkutsche er- wähnt, die durch Pforzheim nach Stuttgart Von Metzgern und Motorrädern – Die Ge- fuhr.9 Regelmäßige Botengänge nach Durlach, schichte der Post in Pforzheim die „ordinäre“ Post, wurden zu dieser Zeit von der Witwe Buck ausgeführt, der Brötzin- Schon 1601 war Pforzheim an das interna- ger Bote ging von Pforzheim nach Lahr – zu tionale Postnetzwerk angeschlossen, das Fuß.10 „Die“ Post gab es also noch nicht, son- die Familie Thurn und Taxis im Auftrag der dern verschiedene Strukturen für Post- und habsburgischen Kaiser aufgebaut hatte.6 Als Botendienste, die nebeneinander bestanden. Station des Postkurses von Innsbruck über Straßburg nach Brüssel verfügte auch Pforz- Das blieb auch im 18. Jahrhundert so, obwohl heim über eine regelmäßige Postanbindung. der Markgraf Verträge mit Thurn und Taxis Weil das Taxis'sche Postwesen auf die Zwecke schloss, um eine bessere Anbindung seiner der Habsburgerdynastie und der Reichsver- Residenz Karlsruhe an die Reichspost zu waltung zugeschnitten war, errichteten die erzielen. Die Metzgerpost scheint an Bedeu- badischen Markgrafen ein eigenes Postsys- tung verloren zu haben. Die nur in der Region tem, das die Städte der Region miteinander verkehrende durlachische Landkutsche fuhr verband. Pforzheim einmal die Woche an und bot die Bevor die badischen Landesherren mit dem 7 Pflüger, Johann Georg Friedrich: Geschichte der Aufbau eigener Poststrukturen mit regel- Stadt Pforzheim. Hgg. von Hans-Peter Becht, Nach- mäßigen Verbindungen begannen, nutzte druck der Auflage von 1862, Pforzheim 1998, S. 464. man eine Vielzahl von Akteuren, die einander 8 Müller, Karl: Aus der Postgeschichte der Stadt Pforz- heim, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft für 4 Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur. Reichs- Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtliche post und Kommunikationsrevolution in der Frühen Blätter. Karlsruhe 1961, S. 12-14, hier S. 12. Neuzeit. Göttingen 2003. 9 Pflüger, Johann Georg Friedrich: Geschichte der 5 Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur. Reichs- Stadt Pforzheim. Hgg. von Hans-Peter Becht, Nach- post und Kommunikationsrevolution in der Frühen druck der Auflage von 1862, Pforzheim 1998, S. 464. Neuzeit. Göttingen 2003, S. 45 u. 12. 10 Müller, Karl: Aus der Postgeschichte der Stadt Pforz- 6 Ehmann, Karl: Geschichte des Pforzheimer Postwe- heim, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft für sens, in: Pforzheimer Geschichtsblätter Ausgabe 5. Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtliche Pforzheim 1980, S. 121. Blätter. Karlsruhe 1961, S. 12-14, hier S. 12. 16 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
das als „Postbrand“ in die Geschichte Pforz- heims einging.14 Danach befanden sich die Posthalterei und das Postdienstlokal bis 1861 am Leopoldplatz. Am 3. Juli 1861 wurde die Poststelle in das neu errichtete Post- und Eisenbahnamt verlegt, wo sie sechs Zimmer belegte. 1872 endete die Geschichte der eigenständigen badischen Post, die nun Teil der Reichspost wurde.15 Abb. 2: Postkutsche (Abb. aus: R. Löffler: Ge- Die Räume im Bahnhof wurden bald zu klein, schichte des Verkehrs in Baden. Heidelberg 1910, weil nicht nur der Postbetrieb zunahm, son- [S. 1]) dern auch noch eine Telegrafenbetriebsstelle Möglichkeit regelmäßiger Personenbeförde- (1875) angegliedert wurde. In der Luisenstra- rung, die Pforzheimer Briefpost wurde durch ße, nahe des Bahnhofs, wurde bis 1879 ein einen Postillion täglich bis nach Illingen und großzügiges reichseigenes Gebäude errichtet Wilferdingen geliefert.11 (Abb. 3).16 Zu jener Zeit dauerte es volle acht Tage, bis ein Paket, das über Karlsruhe oder Ab dem 1. August 1811 übernahm der badi- sche Staat das Postwesen selbst.12 Die Groß- herzogliche Postverwaltung betrieb auch in Pforzheim eine Posthalterei. Während der Postdienst bis dahin an Privatleute übertragen worden war, die auf eigene Rechnung und Gefahr wirtschafteten, wurden diese nun als Beamte übernommen.13 Die großherzogliche Posthalterei in Pforzheim lag in der Nähe der Gasthöfe „Grüner Baum“ und „Goldener Adler“. Am 2. Mai 1840 wurde dieses Stadtviertel durch ein Feuer zerstört, 11 Müller, Karl: Aus der Postgeschichte der Stadt Pforz- Abb. 3: Das Kaiserliche Postamt in der Luisenstra- heim, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft für ße auf einer Postkarte um 1911 (StadtA PF S1-6- Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtliche 51-R-12; Foto: Gebr. Metz, Tübingen) Blätter. Karlsruhe 1961, S. 12-14, hier S. 12. 12 Schneider, Emil: Die Anfänge der Entwicklung des Postwesens in Karlsruhe bis zum Beginn des Dritten 14 Stolz, Aloys: Geschichte der Stadt Pforzheim. Pforz- Reiches, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft heim 1901, S. 435. für Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtli- 15 Stolz, Aloys: Geschichte der Stadt Pforzheim. Pforz- che Blätter. Karlsruhe 1961, S. 2-4, hier S. 2. heim 1901, S. 468. 13 Müller, Karl: Aus der Postgeschichte der Stadt Pforz- 16 Müller, Karl: Aus der Postgeschichte der Stadt Pforz- heim, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft für heim, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft für Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtliche Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtliche Blätter. Karlsruhe 1961, S. 12-14, hier S. 13. Blätter. Karlsruhe 1961, S. 12-14, hier S. 13. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 17
Frankfurt abging, in Leipzig eintraf. Ebenso Pforzheim und Dillweißenstein per Motorrad lange brauchten Pakete von Pforzheim nach befördert, ganz nach dem Motto: „Schneller Nürnberg, die über Stuttgart versandt wur- geht's nimmer.“19 den. Nach der Abschaffung des Briefgeheimnisses Das Monopol der Reichspost bezog sich 1933 brachte der Zweite Weltkrieg mit dem nur auf den Fernverkehr, und so entstanden Verbot des Briefverkehrs, den Folgen der vielerorts Stadtposten. Die Pforzheimer*innen Kriegswirtschaft und kriegsbedingten Stö- konnten ihre lokale Brief- und Paketpost vom rungen der Eisenbahn-Infrastruktur schwere 1. April 1896 an über den Stadt-Briefverkehr Einschränkungen für das Postwesen. Wie der Gebrüder Schaber verschicken.17 Brie- schon im Ersten Weltkrieg ersetzten Frauen fe konnte man direkt in der Zentrale in der die eingezogenen Postbeamten. Im Zuge des Westlichen Karl-Friedrich-Straße 46 aufgeben Luftangriffs auf Pforzheim am 23. Februar oder einem der 40 Stadtpost-Briefkästen 1945 wurde das Hauptpostamt vollständig anvertrauen. Diese waren leuchtend gelb – im zerstört, nur der Kraftposthof in der Zeppelin- Unterschied zu den blauen Reichspost-Brief- straße wurde teilweise verschont.20 kästen. Um die Postversorgung aufrecht zu erhalten, Der private Postdienst war beliebt bei den wurde das Hauptpostamt in ein Kurhotel in Pforzheimer*innen, denn er war günstig, zu- Dillweißenstein verlegt, in den Randgebieten verlässig und schnell. Die Post wurde vier Mal der Süd-, Nord- und Oststadt und in Brötzin- täglich zugestellt – vorausgesetzt, sie war mit gen wurden Postausgabestellen eingerichtet einer Marke des Stadt-Briefverkehrs frankiert, und ein Kurierdienst eingesetzt, bis sich ab die das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Bahn- 1946 der Betrieb normalisierte.21 Auch ein hofsplatz zeigte. Am 31. März 1900 brachten bescheidener Kraftpostverkehr setzte wieder die acht Briefträger des Stadt-Briefverkehrs ein, der Personen beförderte und die dem zum letzten Mal die Post: Das Monopol der Pforzheimer Postamt zugeteilten 27 Amtsstel- Reichspost wurde auf die zunehmend lukrati- len belieferte. ve innerstädtische Post ausgedehnt. 1959 wurde der Neubau des Hauptpostamts Im Jahr 1900 wurden über 3,6 Millionen Briefe der Deutschen Bundespost fertiggestellt und von den fast 150 Postbeamten der Pforz- am 31. Mai 1965 wurde hier die weltweit erste heimer Poststellen bearbeitet. Neben dem vollautomatische Briefverteilanlage der Welt Hauptpostamt gab es Zweigstellen in der in Betrieb genommen.22 Süd- und der Oststadt sowie eine Stadtpost- ten in StadtA PF B1-1719. agentur an der Reuchlinstraße. Die Zustellung 19 Pforzheimer Rundschau Nr. 157 vom 8.7.1939, enthal- erledigten Briefträger und Paketkutschen, ten in StadtA PF B1-1719. die Ende der 1920er Jahre durch Kraftwagen 20 Pforzheimer Zeitung, Jubiläumsausgabe vom ersetzt wurden.18 Ab 1939 wurde die Post in 13.11.1954, S. 41. 21 Müller, Karl: Aus der Postgeschichte der Stadt Pforz- 17 Briefmarkensammler-Verein 1885 e.V. Pforzheim (Hg.): heim, in: Bezirksgruppe Karlsruhe der Gesellschaft für Die Postgeschichte von Pforzheim. Festschrift 100 Deutsche Postgeschichte (Hg.): Postgeschichtliche Jahre. Pforzheim 1985, S. 84-101. Blätter. Karlsruhe 1961, S. 12-14, hier S. 12. 18 Pforzheimer Morgenblatt Nr. 151 vom 3.5.1930, enthal- 22 Schwarzwälder Bote Nr. 125 vom 02.06.1965. 18 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Papierlos in die Ferne schreiben – Der Ein- die optische Telegrafenlinie Straßburg – Wien zug des Telegrafen in Pforzheim genutzt wurde oder wo genau sich die Pforz- heimer Stationen befanden, ist nicht bekannt. „Am Anfang war Napoleon“ – diese Worte des Historikers Thomas Nipperdey23 passen auch Die optische Telegrafie blieb Armee und auf die Geschichte der Telegrafie in Pforz- hoher Politik vorbehalten. Das galt zunächst heim, denn der französische Kaiser befahl die auch für die elektrische Telegrafie, die in den Errichtung der ersten Telegrafenstation in 1830er Jahren entwickelt wurde. In Baden Pforzheim.24 In Frankreich nutzte das Militär wurde 1847 mit der Einrichtung eines elektri- seit 1794 die optische Telegrafie, um einfache schen Telegrafennetzes begonnen, zusammen Nachrichten zu übermitteln. Mit großen Holz- mit dem Ausbau der Eisenbahn.28 Benutzt flügeln wurden Zeichen von Station zu Station wurde es anfangs nur vom Eisenbahndienst, telegrafiert – wörtlich: in die Ferne geschrie- staatlichen Stellen und dem großherzoglichen ben. Mit den französischen Eroberungen wur- Haus. Ab 10. Oktober 1851 durften alle, die sich de dieses Netz immer weiter ausgedehnt.25 die teuren Gebühren leisten konnten, tele- Nachdem Frankreich und Österreich einen grafische Depeschen verschicken. Auch die Waffenstillstand vereinbart hatten, wurde öffentlichen Uhren wurden seither mittels des im September 1809 eine Telegrafenlinie von Telegrafen aufeinander abgestimmt, damit die Wien nach Straßburg eingerichtet, die von Bahn pünktlich und sicher fahren konnte. Süden kommend auch Stationen in Niefern, Eutingen, Pforzheim und Ispringen hatte und Obwohl die Eisenbahn erst 1861 in Pforzheim von dort nach Durlach, Rastatt und Kehl nach ankam, war die Stadt schon seit 1855 an das Straßburg verlief. Am 27. September wurde badische Telegrafennetz angeschlossen.29 Im die erste Depesche von Wien nach Straßburg Postamt arbeitete nun auch ein Telegrafist, verschickt.26 Als Signale dienten große, far- der über die Stationen Karlsruhe und Bruch- bige Tücher, die für die Stationen zwischen sal Depeschen in andere deutsche Staaten Pforzheim und Geißlingen von der Tuchfabrik sowie die Schweiz, Österreich und Frank- der Goldstadt geliefert wurden.27 Wie lange reich verschicken konnte. Über Paris bestand Anschluss an die wichtigsten europäischen 23 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1918, Städte.30 Bd. 1. München 1983, S. 11. 24 Gachot, H.: Der optische Telegraph zu Straßburg und die Telegraphenlinie Wien – Straßburg vom Jahre Damit war die Geschwindigkeit der Nachrich- 1809, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1968/2, tenübermittlung auf ein völlig neues Niveau S. 1-21, hier S. 8. 25 Beyrer, Klaus: Die optische Telegraphie als Beginn 1809, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1968/2, der modernen Telekommunikation, in: Hans-Jürgen S. 1-21, hier S. 18-19. Teuteberg, Cornelius Neutsch (Hg.): Vom Flügelte- 28 Schöttler, Gustav: Der Telegraph in administrativer legraphen zum Internet. Geschichte der modernen und finanzieller Hinsicht. Stuttgart 1883. Telekommunikation. Stuttgart 1998, S. 14-27. 29 Pflüger, J. G. F.: Geschichte der Stadt Pforzheim. Hgg. 26 Gachot, H.: Der optische Telegraph zu Straßburg und von Hans-Peter Becht, Nachdruck der Auflage von die Telegraphenlinie Wien – Straßburg vom Jahre 1862, Pforzheim 1998, S. 694; Stolz, Aloys: Geschichte 1809, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1968/2, der Stadt Pforzheim. Pforzheim 1901, S. 464ff. S. 1-21, hier S. 11-18. 30 Ehmann, Karl: Die Geschichte des Pforzheimer Post- 27 Gachot, H.: Der optische Telegraph zu Straßburg und wesens, in: Pforzheimer Geschichtsblätter V (1980), S. die Telegraphenlinie Wien – Straßburg vom Jahre 117-152, hier S. 142. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 19
gehoben. Im 19. Jahrhundert sprach man fällig – dafür konnte man sich 5 kg Schwarz- daher meist von Depeschen, vom französi- brot kaufen oder 8 Wochen lang eine Zeitung schen dépêcher (eilen). Übertragen wurden beziehen.31 Mit der Anzahl der Worte stieg die die Nachrichten von einem Beamten mithilfe Gebühr, Telegramme wurden daher sehr kurz eines Morse- oder Zeigertelegrafen. In codier- gefasst (Abb. 4). ter Form wurden sie an eine Poststelle in der Nähe des Empfängers gesendet, in alphabe- Trotz dieser Preise wurde die neue Kommuni- tische Schrift übertragen und zugestellt. Eine kationstechnologie gut angenommen. Genaue Nachricht wurde so wenige Minuten nach der Zahlen sind für Pforzheim nicht bekannt, Aufgabe zugestellt – deutlich schneller als aber für die Schmuck- und Uhrenbranche mit mit der Post. Telegramme waren anfangs auf ihren internationalen Geschäftsbeziehungen 100 Worte begrenzt. Um 1860 war in Baden muss die Beschleunigung der Kommunikation für 20 Worte eine Gebühr von 30 Kreuzern durch die Telegrafie große Bedeutung gehabt haben. Der Ausbau des Tele- grafennetzes verursachte zwar hohe Kosten, war aber bereits um 1860 eine lukrative staatliche Einnahmequelle.32 Wie die Post ging im Januar 1872 auch die Telegrafenverwaltung auf das Reich über. Die Tele- grafenstelle zog vom Bahnhof zunächst in die Östliche Karl- Friedrich-Straße um, 1879 dann mit der Post in die Luisenstraße (Abb. 3). Im Jahr 1901 wurden in Pforzheim mehr als 43.000 Telegramme aufgegeben, beina- he 50.000 liefen ein. Tendenz: steigend.33 Als das neue Gebäude des Post- und Telegrafenamtes 1909 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wurden besonders die Abb. 4: Telegrammstil um 1910: Der Oberschulrat kündigt der Ortsschulbehörde Würm, Amt Pforz- modernen Einrichtungen für telegrafische und heim, die Anreise des Unterlehrers Guckenhan an. Kein Wort zu viel, denn die Gebühren waren hoch 31 Löffler, K.: Geschichte des Verkehrs in Baden. Heidel- und berechneten sich nach der Anzahl der Wor- berg 1910, S. 454-456. te. Nicht nur Unternehmen, auch die öffentliche 32 Löffler, K.: Geschichte des Verkehrs in Baden. Heidel- Verwaltung nutzte die Telegrafie als unschlagbar berg 1910, S. 466-467. schnelles Kommunikationsmittel (StadtA PF C3- 33 Jahrbuch 1901, IX. Verkehrswesen, in der Akte Postali- 692) sche Angelegenheiten, StadtA PF B1-1719. 20 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
telefonische Kommunikation hervorgehoben. Dennoch wurde als technische Neuerung An- Stolz erläuterte Telegrafen-Direktor Leser, fang der 1930er Jahre der Fernschreiber ein- dass die in der Schalterhalle im Erdgeschoss geführt, der ähnlich wie eine Schreibmaschine aufgenommenen Telegramme mit der Rohr- funktionierte und auch von Laien bedient postanlage in Sekunden in den Telegrafensaal werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg im zweiten Obergeschoss befördert wurden – wurden im Januar 1948 die ersten Fernschrei- und von dort in alle Welt.34 beranschlüsse wieder eingerichtet. Im Ersten Weltkrieg wurde die Telegrafie mi- Fernschreiber „made in Pforzheim“ konnte litärischen Zwecken untergeordnet und un- man von der Firma Schaub-Lorenz beziehen, terlag der Zensur. Die Leitungen in nun feind- die 1952 eigens dafür ein neues Werk errichte- liche Staaten wurden gekappt. In den 1920er te.36 Nicht nur für Unternehmen war der Fern- Jahren verlor der Telegraf gegenüber dem schreiber im Wirtschaftswunder ein wichtiges Telefon an Bedeutung. So integrierte man auch in Pforzheim das zuvor eigenständige ruhe): Entwicklung des Post- und Fernmeldewesens Telegrafenamt in das Fernsprechamt.35 im Bereiche der Oberpostdirektion Karlsruhe (Baden) 1924-1931. [Karlsruhe 1931], S. 50ff., bes. S. 58. 34 Post-Neubau, in Pforzheimer General-Anzeiger Nr. 36 Akte Einrichtung einer Fernschreiberfertigung der 132 vom 9.6.1909, in StadtA PF B1-1719. Firma C. Lorenz AG in Pforzheim, Firma Schaub, 35 Laemmlein (Präsident der Oberpostdirektion Karls- StadtA PF B20-120. Abb. 5: Die Stadtverwaltung in Pforzheim wird codiert ausgeworfen. Manche Geräte hatten sogar noch smarter: 1954 beschaffte sie moderne Fern- einen angeschlossenen Lochstreifensender, so schreiber, eine Weiterentwicklung des Telegrafen. dass die Nachricht unmittelbar nach dem Tippen Das abgebildete Gerät war dabei in der engeren versendet werden konnte. Das war fast schon so Auswahl. Wie auf einer Schreibmaschine konnte schnell wie eine E-Mail (Abb. aus: Werbebroschüre die Nachricht getippt werden. Sie wurde gleichzei- der Firma Lorenz in StadtA PF B20-120) tig als lesbarer Text auf Papier und als Lochstreifen Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 21
Kommunikationsmittel, die Stadtverwaltung Die erste Telefonverbindung wurde am 17. führte 1954 eine Fernschreibstelle ein.37 August 1885 zwischen dem Reichspostgebäu- de und dem Geschäftshaus des Pforzheimer Am Apparat! – Die Einführung des Telefons Kaufmanns W. Huthmacher in der Östlichen in Pforzheim Karl-Friedrich Straße 10 eingerichtet. Am 31. Oktober nahm dann das Pforzheimer Orts- Die Telegrafentechnik bereitete einer anderen telefonnetz mit 34 Sprechstellen den Betrieb Technik den Weg, die heute aus unserem All- auf, für 20 Interessierte wurde der Anschluss tag nicht mehr wegzudenken ist: das Telefon. „in kürzester Frist“ angekündigt. Damit wurde Hatte der Telegraf die Nachrichtenübertra- Pforzheim zur fünften badischen „Telefon gung auf bislang ungeahnte Geschwindigkeit stadt“, wie der Pforzheimer Beobachter stolz beschleunigt, ermöglichte die Erfindung des verkündete.40 Fernsprechers die Übertragung von Tönen und den direkten Austausch mit einem weit Neben den technischen Einrichtungen erhiel- entfernten Gesprächspartner – zeitgenössisch ten die Teilnehmenden eine gedruckte Anlei- eine Sensation. Das Telefon basierte auf den tung sowie ein Verzeichnis der Anschlüsse. Erfindungen verschiedener Menschen, Alex- Dieses erste Telefonbuch der Stadt Pforzheim ander Graham Bell brachte es 1876 zur Markt- ist leider nicht überliefert. Aus Berichten des reife.38 Es unterschied sich noch grundlegend Pforzheimer Beobachters wissen wir, dass von der heutigen Technologie. neben dessen Redaktion das Gaswerk, Kran- kenhaus, Rathaus und die Großherzogliche Der Aufbau des Telefonnetzes begann in Heil- und Pflegeanstalt zu den Pforzheimer Pforzheim auf Drängen der Handelskammer, „Telefonisten“ der ersten Stunde gehörten.41 die dieses neuartige Verkehrsmittel besonders Die übrigen Teilnehmenden waren wohl Un- mit Blick auf die Bijouterie-Branche mit den ternehmen. Im Reichspostamt gab es zudem vielen kleinen Zulieferern, die in der ganzen eine öffentliche Fernsprechstelle. Stadt verteilt waren, für unentbehrlich hielt. So sollte die Kommunikation zwischen Han- Die Zahl der Anschlüsse des Pforzheimer dels- und Industriebetrieben, Geschäften und Ortsnetzes nahm stetig zu: Fünf Jahre später Fabriken vereinfacht werden. Nach mehreren gab es schon 255 Anschlüsse, im Jahr 1900 Anträgen genehmigte der Staatssekretär der wurden von nun 832 Anschlüssen beinahe 2 Reichspost Heinrich von Stephan im Mai 1885 Millionen Telefongespräche geführt.42 die Einrichtung eines Telefonnetzes in Pforz- heim.39 Während man sich anfangs nur mit Anschlüs- sen in Pforzheim verbinden lassen konnte, 37 Akte Fernschreibestelle, StadtA PF B1-153. wurden bald Ferngespräche über das Orts- 38 Decker, Edith und Weibel, Peter: Vom Verschwinden der Ferne: Telekommunikation und Kunst. Köln 1990, netz hinaus möglich. Nach Karlsruhe und S. 148. 39 Unser Pforzheimer Fernsprechnetz, in: Pforzheimer 40 Pforzheimer Beobachter vom 31.10.1885, Titelblatt, General-Anzeiger vom 25.5.1910, enthalten in StadtA StadtA PF, Ztg1. PF B1-1719; sowie Ehmann, Karl: Geschichte des 41 Berichterstattung im Pforzheimer Beobachter vom Pforzheimer Postwesens, in: Pforzheimer Geschichts- 29. und 31.10. sowie 1.11.1885, StadtA PF Ztg1. blätter Ausgabe 5. Pforzheim 1980. S. 117-152, hier S. 42 Jahrbuch 1900, IX. Verkehrswesen, enthalten in 149. StadtA PF B1-1719. 22 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Stuttgart folgten Un- terreichenbach, Lieben- zell und Calw. Ab 1901 folgten dann zahlreiche Großstädte des Deut- schen Reichs, von Kon- stanz über Frankfurt am Main bis Hamburg. Auch Verbindungen ins Ausland wurden mög- lich.43 Als 1910 das neue Postgebäude mit seiner modernen Telefonan- lage stolz der Öffent- lichkeit präsentiert wurde, verzeichnete das Pforzheimer Telefon- Abb. 6: Die Telefonistinnen im Fernmeldeamt um netz schon über 2000 Anschlüsse, mit denen 1954. Gut zu erkennen sind die zahlreichen Ste- jährlich rund 6 Millionen Telefongespräche ge- cker, über die die einzelnen Anschlüsse miteinan- führt wurden. In Baden nahm Pforzheim nach der verbunden wurden (StadtA PF S1-6-51-V-3; Mannheim und Karlsruhe damit Platz drei an Foto: Otto Kropf; Bearb.: StadtA PF) der „Quasselstrippe“ ein.44 Selbstanschluss mittels Wählscheibentelefon war zwar schon ab 1908 technisch möglich, in Für den Aufbau von Telefonverbindungen Pforzheim wurde er erst im Juni 1930 einge- mussten die Anschlüsse zunächst über die setzt. Im selben Jahr wurden auf den öffent- sogenannte Handvermittlung miteinander lichen Straßen und Plätzen Münzfernsprecher verbunden werden.45 Für diese Arbeit wur- aufgestellt.46 den schon bald ausschließlich Frauen einge- setzt, weil sie durch ihre höhere Stimmlage Nach der Zerstörung des Postamts im Zwei- am Telefon besser verständlich waren. Die ten Weltkrieg wurde schon im Juni 1945 Telefonistin sollte aus gutem Hause, jung und eine provisorische Fernsprechvermittlung ledig sein – als „Fräulein vom Amt“ vermittelte im Keller der Nordstadtschule eingerichtet.47 sie in der Telefonzentrale die Gespräche. Der Schon bald wurden auch die öffentlichen Fernsprechhäuschen weiter ausgebaut, denn 43 Jahrbuch 1900 und 1901, IX. Verkehrswesen, enthalten in StadtA PF B1-1719. 46 Laemmlein (Präsident der Oberpostdirektion Karls- 44 Pforzheimer General-Anzeiger vom 25.1.1910, in ruhe): Entwicklung des Post- und Fernmeldewesens StadtA PF B1-1719. im Bereiche der Oberpostdirektion Karlsruhe (Baden) 45 Elsner, Laura: Telefonvermittlung, in: Christian 1924-1931. [Karlsruhe 1931], S. 60. Heinrich-Franke, Cornelius Neutsch (Hg.): Vom Brief 47 Ehmann, Karl: Geschichte des Pforzheimer Postwe- zum digitalen Netz. Aus dem Siegerland in die Welt. sens, in: Pforzheimer Geschichtsblätter Ausgabe 5. Siegen 2018, S. 29-31, hier S. 29. Pforzheim 1980. S. 117-152, hier S. 149. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 23
Aufforderung an, die zwischen etwa 1930 und 1970 an den meisten öffentlichen Telefonzel- len prangte: „Fasse dich kurz! Nimm Rücksicht auf Wartende“. Die Einweihung des neuen Fernmeldeamts 1971 markiert den flächende- ckenden Einzug des Selbstwähltelefons in den Alltag der Pforzheimer*innen.49 Mit Maus und Tastatur – Der Beginn des digi- talen Zeitalters Wird heute von schneller Kommunikation und Informationsweitergabe gesprochen, fallen ei- nem natürlich das Internet und der Computer ein. Doch bis neue technologische Errungen- schaften wie Telefon oder PC in der Gesell- schaft etabliert waren, verging eine gewisse Zeit. 1965 erfolgte innerhalb der Verwaltung der Stadt Pforzheim die Datenverarbeitung zur Durchführung verschiedener Aufgaben mit- tels Lochkartenanlagen, damit wurden Mas- senarbeiten wie Abrechnungen, Überweisun- gen, Bankabbuchungen getätigt.50 Im März 1968 beauftrage der Gemeinderat eine Wirtschaftsberatungsgesellschaft mit Abb. 7: Öffentliche Fernsprechstellen auch außer- halb des Postamts wurden von Beginn an von den einer Studie über Einsatzmöglichkeit und Pforzheimer*innen gewünscht. Seit Einführung des Wirtschaftlichkeit der elektronischen Daten Selbstwahlanschlusses 1930 wurden sie überall in verarbeitung (EDV) für Stadtverwaltung und der Stadt errichtet. In den Unterlagen des damali- Stadtwerke.51 Gründe der Untersuchung waren gen Hauptamts gibt es eine eigene Akte dazu, aus die wirtschaftliche Expansion und der sozi- der dieser Aufriss von 1934 stammt (StadtA PF ale Fortschritt, durch die die Aufgaben des B1-1712) modernen Rechts- und Sozialstaates sprung- für viele blieben sie noch lange die einzige haft angewachsen waren. Neue organisati- Zugangsmöglichkeit zu einem Telefonappa- rat. Die wachsende Pforzheimer Bevölkerung 49 Ehmann, Karl: Geschichte des Pforzheimer Postwe- forderte sie nachdrücklich ein, was zahlreiche sens, in: Pforzheimer Geschichtsblätter Ausgabe 5. Eingaben an die Stadt belegen.48 Wie beliebt Pforzheim 1980. S. 117-152, hier S. 149. und frequentiert sie waren, deutet auch die 50 Pätzold, Stefan: Kleine Geschichte der Stadt Pforz- heim. Karlsruhe 2007, S. 246. 48 Akte Aufstellung von Fernsprechhäuschen, Fasz. I, 51 Stadtverwaltung Pforzheim (Hg.): Verwaltungsbericht StadtA PF B1-1712. der Stadt Pforzheim 1969-1972. Pforzheim 1972, S. 46. 24 Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2
Grundausbildung, um diese für die Zukunft zu rüsten. Einige Beschäftigte erhielten eine Spezialausbildung, damit sie in der kommuna- len Arbeitsgemeinschaft für elektronische Da- tenverarbeitung Baden-Württemberg (KOAG) mitarbeiten konnten.53 Die Stadt war damals an den Projektgruppen Personalwesen-Löhne, Einwohnerwesen, Finanzwesen, Krankenhaus- wesen und Bauwesen beteiligt. Der Wechsel zur EDV wurde auch von Ängs- ten und Kritik begleitet: Manche Stimmen des Gemeinderats stellten die Wirtschaftlichkeit infrage, manche Mitarbeiter*innen fürchteten, durch die Umstellung ihre Jobs zu verlieren. Die Umstellung fing langsam an, zunächst wurde 1971 die konventionelle Lochkartenan- Abb. 8: Während Lochkarten die Mutter der lage der Stadtwerke durch eine kleinere mag- Speichermedien darstellen, wurden diese ab 1969 netplattenorientierte EDV-Anlage ersetzt.54 von den Disketten abgelöst, denn IBM brachte zu diesem Zeitpunkt die ersten Disketten auf den 1973 trat die Stadt Pforzheim dem Rechen- Markt. Die ersten Disketten waren 8 Zoll groß und zentrum Karlsruhe bei. Seit diesem Zeitpunkt waren im Vergleich zu Lochkarten relativ handlich wurden kontinuierlich weitere EDV-Verfahren und fassten 80 Kilobyte. Im Laufe der Zeit wurden eingeführt, solang diese sinnvoll und wirt- diese noch handlicher und die Speicherkapazitä- schaftlich oder notwendig waren.55 ten konnten erhöht werden. Der Siegeszug der Disketten als Speichermedium hielt bis 1990 an, dann wurden diese von den CDs überholt, nichts- Die Umstellung auf die elektronische Daten- destotrotz ziert die Diskette als ikonisches Symbol verarbeitung wirkte sich wirtschaftlich positiv vieler Computerprogramme die Speicherfunktion aus, der Aufwand war niedriger als die Kos- ten, neue Aufgaben konnten in der Verwal- onstechnische Verfahren sollten die Verwal- tung übernommen werden, um wachsenden tungsabläufe vereinfachen und rationalisieren. Anfragen zu bewältigen, ohne dass es einer Außerdem sollten die Beschäftigten von weiteren Neuschaffung von Stellen bedurfte.56 Routinearbeiten entlastet werden, um sicherer In den 1950er und 1960er füllten Compu- und schneller zu arbeiten und aussagekräfti- ter noch ganze Räume aus oder waren als gere Informationen zu erstellen.52 Diese Vor- untersuchung sollte etwa 3 Monate dauern, doch währte länger als 1 Jahr. 53 Stadtverwaltung Pforzheim (Hg.): Verwaltungsbericht der Stadt Pforzheim 1969-1972. Pforzheim 1972, S. 46. 54 Stadtverwaltung Pforzheim (Hg.): Verwaltungsbericht In der Folge vermittelte die Stadtverwaltung der Stadt Pforzheim 1969-1972. Pforzheim 1972, S. 46. einem größeren Mitarbeiterkreis eine EDV- 55 Stadtverwaltung Pforzheim (Hg.): Verwaltungsbericht der Stadt Pforzheim 1973-1976. Pforzheim 1976, S. 40. 52 Stadtverwaltung Pforzheim (Hg.): Verwaltungsbericht 56 Stadtverwaltung Pforzheim (Hg.): Verwaltungsbericht der Stadt Pforzheim 1977-1980. Pforzheim 1980, S. 39. der Stadt Pforzheim 1973-1976. Pforzheim 1976, S. 41. Stadt Pforzheim | Archivmagazin 2021/2 25
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