AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Indische Unabhängigkeit - BPB

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Indische Unabhängigkeit - BPB
72. Jahrgang, 30–31/2022, 25. Juli 2022

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
      Indische
  Unabhängigkeit
     Harald Fischer-Tiné                          Michael Collins
 KOLONIALISMUS ZWISCHEN                 RELIGION, POLITIK, NATION
   MODERNISIERUNG UND
                                            Agnieszka Nitza-Makowska
   TRADITIONALISIERUNG
                                             DEMOKRATIE MACHT
       Kama Maclean                           DEN UNTERSCHIED
    AUF DEM WEG ZU
                                                 Christian Wagner
  UNABHÄNGIGKEIT UND
                                        GROẞMACHTAMBITIONEN,
        TEILUNG
                                        MITTELMACHTRESSOURCEN
       Carmen Brandt
   VOM GOLDENEN ZUM
   GETEILTEN BENGALEN

                                                                        Der
                                                                    APuZ-Podcast

                 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                                                                                     dcast
                      FÜR POLITISCHE BILDUNG                           bpb.de/apuz-po

             Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Indische Unabhängigkeit - BPB
Indische Unabhängigkeit
                               APuZ 30–31/2022
HARALD FISCHER-TINÉ                                   MICHAEL COLLINS
KOLONIALISMUS ZWISCHEN                                RELIGION, POLITIK, NATION
MODERNISIERUNG UND                                    Hindu-Nationalismus ist kein ausschließlich
TRADITIONALISIERUNG                                   modernes Phänomen, sondern ein langfristiges
Die populäre Gleichsetzung der britischen             historisches Projekt. Er drang von den Rändern
Kolonialherrschaft in Indien mit einer                in die politische Mitte ein und wirkt sich auf den
gesellschaftlichen Modernisierungsagenda und          Zustand von Demokratie und Säkularismus in
der Verbreitung von Rationalismus führt in die        Indien aus.
Irre. Dies zeigen die Beispiele Textilindustrie,      Seite 29–36
Eisenbahnbau und Datenerhebung.
Seite 04–10
                                                      AGNIESZKA NITZA-MAKOWSKA
                                                      DEMOKRATIE MACHT DEN UNTERSCHIED
KAMA MACLEAN                                          Indien und Pakistan gingen 1947 aus der
AUF DEM WEG ZU UNABHÄNGIGKEIT                         Einheit Britisch-Indien hervor. Trotz dieses
UND TEILUNG                                           gemeinsamen Erbes und sozioökonomischer und
Auf die Dekolonisierung Britisch-Indiens              kultureller Parallelen entwickelte sich in Indien
folgten 1947 die Teilung des Landes und die           eine Demokratie, in Pakistan nicht. Welche
Gründung von Indien und Pakistan. Warum               Gründe sind dafür ausschlaggebend?
entwickelte die Religion im Kampf gegen die           Seite 38–44
britische Kolonialherrschaft so ein großes
spalterisches Potenzial?
Seite 12–18                                           CHRISTIAN WAGNER
                                                      GROẞMACHTAMBITIONEN,
                                                      MITTELMACHTRESSOURCEN
CARMEN BRANDT                                         75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit nimmt
VOM GOLDENEN ZUM GETEILTEN BENGALEN                   Indien heute eine größere internationale Rolle als
Mit „Bengalen“ werden heute vor allem zwei            je zuvor ein. In seiner Nachbarschaft hat Indien
geopolitische Entitäten identifiziert, der indische   zwar wegen Chinas Einfluss an Bedeutung
Bundesstaat Westbengalen und Bangladesch. Ins-        verloren, doch es verstärkt dafür sein Engage-
gesamt sind die Bengalen mit fast 300 Millionen       ment im Indo-Pazifik.
Menschen die größte Ethnie in Südasien und die        Seite 46–52
drittgrößte der Welt.
Seite 20–27
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Indische Unabhängigkeit - BPB
EDITORIAL
Vor 75 Jahren, am 15. August 1947, war der Kampf um die indische Unabhän-
gigkeit gewonnen und die britische Kolonialherrschaft beendet, die formell fast
90 Jahre lang, informell durch das Agieren der Britischen Ostindien-Kompanie
bereits seit dem 18. Jahrhundert Bestand gehabt hatte. Die Unabhängigkeit ging
mit einer Teilung Britisch-Indiens in das hinduistisch geprägte Indien und das
überwiegend muslimische Pakistan einher, begleitet von Gewalt zwischen Hindus
und Muslimen, die viele Todesopfer forderte. 1971 wurde Ost-Pakistan nach einem
von Indien unterstützten Sezessionskrieg als Bangladesch unabhängig.
   Das Miteinander verschiedener Religionen, Ethnien und sozialen Gruppen
war auch vor der britischen Kolonialisierung nicht reibungslos verlaufen,
doch trugen die gewaltvolle Herrschaft ebenso wie die Standardisierung von
Sprachen, die administrative Erfassung der Religions-, Kasten- und Stammes-
zugehörigkeit und Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur zu Spannungen bei. Das
Versprechen der britischen Monarchin Victoria, ab 1876 auch als „Kaiserin von
Indien“ tituliert, sich nicht in religiöse Angelegenheiten einzumischen, eröffnete
einen Freiraum in diesem Feld, der auch politisch genutzt wurde.
   Nach 1947 dominierte die säkular orientierte Kongresspartei das politische
System in Indien. Der Hindu-Nationalismus, der sich im 19. Jahrhundert entwi-
ckelt hatte und sich auf die Formel Inder = Hindu bringen lässt, spielte politisch
zunächst keine große Rolle. Das hat sich spätestens mit den Wahlerfolgen der
hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei 2014 und 2019 geändert. Unter
Premierminister Narendra Modi wurden Maßnahmen ergriffen, um Indien als
„Hindu-Nation“ zu stärken – zum Nachteil der 160 bis 180 Millionen muslimi-
schen Inderinnen und Inder. International ist Indien zurzeit ein immer gefragte-
rer Partner, der vom Westen umworben wird, um Chinas wachsendem Einfluss
in der Region etwas entgegenzusetzen.

                                                      Anne Seibring

                                                                                03
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APuZ 30–31/2022

                  KOLONIALISMUS ZWISCHEN
                    MODERNISIERUNG UND
                    TRADITIONALISIERUNG
                         Die britische Herrschaft in Indien
                                        Harald Fischer-Tiné

Seit etwa zwei Jahrzehnten toben im Vereinigten        Linie eine Modernisierungs- und Entwicklungs-
Königreich regelrechte memory wars um die Be-          instanz gewesen, von der kolonisierte Länder
wertung der eigenen imperialen Vergangenheit.          wie das heutige Indien massiv profitiert hätten.
Laut einer repräsentativen Umfrage 2020, die der       Dank der jahrzehntelangen britischen „Treuhän-
„Guardian“ in Auftrag gegeben hatte, sind ein          derschaft“ verfügten die ehemals Kolonisierten
Drittel der Britinnen und Briten nach wie vor          nun sowohl über die nötigen Sprachkenntnisse
der Meinung, man müsse sich dieser Vergangen-          als auch über eine hochentwickelte Infrastruktur
heit keinesfalls schämen, sondern könne vielmehr       und Arbeitsethik, die sie für die Herausforderun-
stolz sein auf die historischen Leistungen des         gen der Globalisierung wappneten.04 In gewisser
ehemaligen britischen Weltreichs.01 Diese positi-      Weise erinnert diese „Anglobalization“-Rheto-
ve Wahrnehmung des Empire wird auch von füh-           rik an die von den britischen Verwaltungseliten
renden Po­li­ti­ker*­innen des Landes geteilt. Wäh-    während der Hochblüte ihres Weltreichs häu-
rend der aktuelle britische Premier Boris Johnson      fig benutzten Rechtfertigungsnarrative. So wur-
wiederholt davor gewarnt hat, die beispiellose         de beispielsweise in Indien ab den 1860er Jahren
imperiale Expansion seines Landes vom späten           ein Jahresbericht mit dem programmatischen Ti-
17. bis zum frühen 20. Jahrhundert abzuwerten          tel „Moral and Material Progress in India“ veröf-
oder zu tabuisieren, provozierte sein Vorgänger        fentlicht, um die Erfolge der kolonialen Entwick-
David Cameron vor einigen Jahren in diesem Zu-         lungsanstrengungen zu dokumentieren.05
sammenhang gar einen politischen Eklat. Wäh-               Inwieweit ist aber die Rede von der britischen
rend eines Staatsbesuchs in Indien weigerte sich       Herrschaft auf dem indischen Subkontinent als
Cameron, sich im Namen des Vereinigten König-          einer Art Entwicklungsinitiative avant la lettre
reichs für ein von den Briten im Jahr 1919 in der      tatsächlich gerechtfertigt? Insbesondere indische
nordindischen Stadt Amritsar begangenes Massa-         Au­ tor*­
                                                               innen haben auf die neue Unbefangen-
ker zu entschuldigen.02                                heit in der Deutung der kolonialen Vergangenheit
    Beunruhigender noch als die naive Empire-          durch revisionistische His­to­ri­ker*­innen aus dem
Nostalgie von populistischen Po­li­ti­ker*­innen er-   Westen mit heftiger Kritik und zum Teil auch mit
scheint die Tatsache, dass Imperialismus und Ko-       leicht polemischen Gegendarstellungen reagiert.06
lonialismus mittlerweile auch unter Politologen        Im Folgenden nehme ich das 75-jährige Jubiläum
und Fachhistorikerinnen wieder salonfähig ge-          der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans von
worden sind. 2017 etwa gelang es dem US-ameri-         1947 zum Anlass, um die These zu überprüfen,
kanischen Politologen Bruce Gilley, sein Plädoyer      Indien sei ein Paradebeispiel für koloniale „Mo-
für eine Rückkehr zu kolonialer Herrschaftsüber-       dernisierungshilfe“. Ich werde dazu exemplarisch
nahme des Westens in den failed states des Globa-      drei Aspekte der indischen Geschichte umreißen,
len Südens in einer angesehenen Fachzeitschrift        die gerade von Apo­lo­get*­innen westlicher Impe-
zu platzieren.03 Bereits seit den frühen 2000er        rialismen besonders häufig als vermeintliche Bei-
Jahren verkaufen Er­folgs­au­tor*­innen wie Niall      spiele für die positive Modernisierungsleistung
Ferguson historische Bestseller mit dem Argu-          imperialer Herrschaft aufgeführt werden: Wirt-
ment, speziell das britische Weltreich sei in erster   schaftsentwicklung und Industrialisierung am

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Indische Unabhängigkeit APuZ

Beispiel von Baumwollproduktion und Textilin-                         bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch Portugie-
dustrie, den Aufbau einer modernen Transportin-                       sen, Niederländer, Franzosen und Dänen promi-
frastruktur am Beispiel der Eisenbahn sowie die                       nent in Indien vertreten67 –08 mochten die Seeho-
Rationalisierung der Verwaltung durch den Ein-                        heit besitzen, doch bis weit ins 18. Jahrhundert
satz moderner statistischer Methoden.12345                            hinein hatten sie den großen Landheeren sowohl
                                                                      der indischen Moguldynastie als auch einiger po-
            (DE-)INDUSTRIALISIERUNG?                                  tenter Regionalmächte militärisch wenig ent-
             BEISPIEL TEXTILINDUSTRIE                                 gegenzusetzen. Zudem waren die europäischen
                                                                      Händler aufgrund der Unkenntnis lokaler Ge-
Über mehr als zwei Jahrhunderte war die briti-                        bräuche und Sprachen für die erfolgreiche Ab-
sche Präsenz in Indien gleichsam Privatsache:                         wicklung ihrer Geschäfte sehr stark auf die Hil-
Nicht der britische Staat, sondern eine Aktien-                       fe lokaler Mittelsmänner angewiesen.09 Bis in die
gesellschaft, die Britische Ostindien-Kompanie                        1740er Jahre, als die OIK ihre übrige europäische
(OIK), machte sich ab der Mitte des 18. Jahrhun-                      Konkurrenz weitgehend aus dem Feld geschlagen
derts an territoriale Eroberungen. Diese brach-                       hatte, blieb auch das Handelsvolumen verglichen
ten ihr spätestens um 1820 die Rolle einer He-                        mit dem von indischen Kaufleuten kontrollierten
gemonialmacht auf dem indischen Subkontinent                          Binnen- und Exporthandel gering. Nachdem die
ein. Erst nach einer Massenerhebung indischer                         Kompanie 1765 schließlich vom schwächelnden
Soldaten und Bäuerinnen, die beinahe zum Ende                         Mogulkaiser das Recht zur Steuereintreibung in
der britischen Herrschaft geführt hätte,07 wurde                      den von ihr kontrollierten Territorien erworben
die OIK 1858 aufgelöst, und die britische Krone                       hatte, profitierten die OIK und ihre häufig auch
übernahm die Verantwortung für die gewaltigen                         in individuellen Privatgeschäften tätigen Ange-
Territorien, die sich im Besitz der Handelsgesell-                    stellten massiv von der ungebrochenen Popula-
schaft befunden hatten.                                               rität indischer Produkte insbesondere in Europa.
     Lange deutete wenig darauf hin, dass die Prä-                    Vor allem im Geschäft mit Baumwollstoffen und
senz europäischer Handelsgesellschaften eine                          Textilien dominierten indische Produkte noch ein
transformative Wirkung auf Wirtschaft und Po-                         halbes Jahrhundert nach der Herrschaftsübernah-
litik auf dem indischen Subkontinent entfalten                        me der Briten in Bengalen, Indiens wirtschaftli-
sollte. Die Europäer – neben den Briten waren                         chem Zentrum, den Weltmarkt – und zwar so-
                                                                      wohl was ihre Quantität als auch ihre Qualität
01 Vgl. Robert Booth, UK More Nostalgic for Empire Than               anging.10
Other Ex-Colonial Powers, 11. 3. 2020, www.theguardian.com/
world/​2020/mar/​11/uk-​more-​nostalgic-​for-​empire-​than-​other-​
ex-​colonial-​powers.                                                 06 Vgl. dazu insbesondere den Bestseller des indischen Politi-
02 Vgl. Nicholas Watt, David Cameron Defends Lack of Apolo-           kers und public intellectuals Shashi Tharoor, An Era of Darkness:
gy for British Massacre at Amritsar, 20. 2. 2013, www.theguardi-      The British Empire in India, Neu-Delhi 2016. Medial weniger be-
an.com/politics/​2013/feb/​20/david-​cameron-​amritsar-​massacre-​    achtet, aber akademisch seriöser waren die thematisch ähnlich
india.                                                                gelagerten Debattenbeiträge von indischen Historikerinnen und
03 Gilleys umstrittener Aufsatz „The Case for Colonialism“            Literaturwissenschaftlerinnen. Vgl. etwa Maria Misra, Lessons of
wurde inzwischen von der Zeitschrift „Third World Quarterly“          Empire, in: SAIS Review 2/2003, S. 133–151.
wieder gelöscht. Siehe www.tandfonline.com/doi/abs/​10.​1080/​        07 Der wahlweise als „Indian Mutiny“ oder „First War of Indian
01436597.​2017.​1369037. Im Dezember 2019 durfte Gilley den-          Independence“ bezeichnete Aufstand von 1857 bis 1859 war
noch seine eigenwilligen Thesen auf Einladung der AfD-Fraktion        und bleibt ein zentrales Element sowohl britisch-imperialer als
im Deutschen Bundestag vortragen.                                     auch indisch-nationalistischer Erinnerungspolitiken. Vgl. dazu
04 Vgl. Niall Ferguson, Civilization: The West and the Rest,          auch Sebastian Raj Pender, The 1857 Uprising and the Politics of
London 2011; ders., Empire. The Rise and Demise of the British        Commemoration, Cambridge 2022.
World Order and the Lessons for Global Power, New York                08 Vgl. dazu ausführlich Om Prakash, European Commercial
2003. Siehe auch Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen, „New          Enterprise in Pre-colonial India, Cambridge 1998.
Imperialism“ oder „Liberal Empire“? Niall Fergusons Empire-           09 Vgl. Catherine B. Asher/Cynthia Talbot, India before Euro-
Apologetik im Zeichen der „Anglobalization“, in: Zeithistorische      pe, Cambridge 2006, S. 260–64. Vgl. dazu ausführlich Philip
Forschungen 3/2006, S. 121–128.                                       J. Stern, The Company-State. Corporate Sovereignty and the
05 Vgl. Michael Mann, „Torchbearers upon the path of                  Early Modern Foundations of the British Empire in India, Oxford
progress“. Britain’s Ideology of „Material and Moral Progress“        2012.
in India: An Introductory Essay, in: ders./Harald Fischer-Tiné        10 Vgl. dazu die Beiträge in Giorgio Riello/Tirthankar Roy
(Hrsg.), Colonialism as Civilizing Mission: Cultural Ideology in      (Hrsg.), How India Clothed the World: The World of South Asian
British India, London 2004, S. 1–26.                                  Textiles, 1500–1850, Leiden 2009.

                                                                                                                                    05
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    Der „kriegskapitalistischen“ Logik der OIK                    trialisierung15 ging teilweise auch ein de-skilling
folgend begannen die Briten, den indischen We-                    einher, das heißt, innerhalb von zwei Generatio-
berinnen und Spinnern klare Vorgaben bezüg-                       nen ging wertvolles handwerkliches Wissen ver-
lich Design und Quantität der gewünschten                         loren, das über Jahrhunderte entscheidend zu
Ware zu oktroyieren.11 Zudem konnten sie den                      Aufstieg und Blüte der indischen Baumwollin-
Handel nunmehr weitgehend mit dem in Indi-                        dustrie beigetragen hatte.
en generierten Steueraufkommen finanzieren.                            Entgegen der optimistischen Behauptung von
Die Textilherstellung in Indien, die im späten                    Niall Ferguson, Indien habe während der Herr-
18. Jahrhundert mehrere Millionen Menschen                        schaftszeit von Queen Victoria (1837–1901) auf-
beschäftigte, geriet erst in eine massive Krise, als              grund der britischen Modernisierungsimpulse
die Industrielle Revolution im Vereinigten Kö-                    und angeblich erfolgter substanzieller Investiti-
nigreich an Fahrt aufnahm und der Weltmarkt                       onen in neue Industrien einen unvergleichlichen
zunehmend mit billigen maschinell produzier-                      Boom erlebt,16 lassen sich in jener Phase also viel-
ten Textilien überflutet wurde. In den beiden                     mehr Interventionen der imperialen Obrigkei-
Jahrzehnten nach 1815 büßte Indien seine Rol-                     ten beobachten, die ganz im Gegenteil zu einer
le als führende Exportregion für Baumwolltu-                      Schwächung der indischen Wirtschaft und einer
che und Textilien endgültig ein und entwickelte                   immer größeren Abhängigkeit der Kolonie vom
sich stattdessen immer mehr zum größten Ab-                       imperialen „Mutterland“ führten. Zum einen ent-
satzmarkt für industriegefertigte Massenware                      wickelte sich unter dem protektionistischen bri-
aus den nordenglischen Textilzentren Lancashire                   tischen Kolonialregime, das die heimische Tex-
and Cheshire.12                                                   tilindustrie vor etwaiger indischer Konkurrenz
    Während in anderen Teilen Indiens durchaus                    schützen wollte, bis ins letzte Viertel des 19. Jahr-
Nischen für lokale Textilproduktionen beste-                      hunderts kein nennenswerter Technologietrans-
hen blieben, wurden in der vormaligen Textil-                     fer von Europa nach Indien.17 Dampfmaschinen
hochburg Bengalen Hunderttausende Spinner­                        und mechanische Webstühle beispielsweise wur-
innen und Weber infolge des durch englische                       den nur zögernd und in relativ kleinen Stückzah-
Importware ausgelösten Preisdrucks arbeitslos.                    len nach Indien eingeführt. Zum anderen fand
Die meisten von ihnen sahen sich im Laufe der                     auch der nötige Wissenstransfer nicht in nen-
über 30 Jahre andauernden Wirtschaftsdepres-                      nenswertem Umfang statt. Die wenigen englisch-
sion (etwa 1820–1855) gezwungen, ihren Le-                        sprachigen Universitäten und höheren Bildungs-
bensunterhalt wieder in der Landwirtschaft zu                     einrichtungen Britisch-Indiens waren ganz auf
verdienen.13 Der Historiker David Washbrook                       die Ausbildung der niederen und mittleren Rän-
spricht in diesem Zusammenhang von einem                          ge der Kolonialverwaltung ausgerichtet und bo-
Prozess der „Verbäuerlichung“ oder peasanti-                      ten der (verschwindend kleinen) indischen Elite,
zation.14 Mit dieser schleichenden De-Indus­                      die es sich leisten konnte, ihre Kinder dort unter-
                                                                  richten zu lassen, zwar den gesamten Kanon der
                                                                  europäischen Geistes- und Staatswissenschaften,
11 Das Konzept des „Kriegskapitalismus“ wurde von dem Histo-      aber Naturwissenschaften und Technikdiszipli-
riker Sven Beckert entworfen, um die rüden Praktiken der spät-
merkantilistischen Handelsexpansion Europas zu beschreiben.
Vgl. Sven Beckert, King Cotton: Eine Geschichte des globalen      15 Unter His­tor­i­ker*­innen gibt es eine intensive Debatte
Kapitalismus, München 2014, S. 55–59.                             um das Ausmaß und die Langzeitfolgen dieses Prozesses. Für
12 Vgl. Meena Menon/Uzramma, A Frayed History: The Jour-          kontroverse Positionen vgl. u. a. David A. Washbrook, The
ney of Indian Cotton, Neu-Delhi 2017, S. 14–19; Giorgio Riello,   Political Economy of Colonial India, in: Harald Fischer-Tiné/
Cotton: The Fabric That Made the Modern World, Cambridge          Maria Framke (Hrsg.), The Routledge Handbook of the History
2013, S. 221–234.                                                 of Colonialism in South Asia, London 2022, S. 26–32; Tirthankar
13 Vgl. Christopher A. Bayly, Indian Society and the Making       Roy, The Economic History of India (1857–1947), Neu-Delhi
of the British Empire, Cambridge 1987, S. 106–169. Siehe auch     20113, S. 59–61. Eine vermittelnde Zwischenposition findet sich
Rosalind O’Hanlon, Colonialism and Social Identities in Flux:     bei Dietmar Rothermund, The De-Industrialization of India, in:
Class, Caste, and Religious Community, in: Douglas Peers/Nan-     ders., Empires in Indian History and Other Essays, Neu-Delhi
dini Gooptu (Hrsg.), India and the British Empire, Oxford 2012,   2013, S. 163–177.
S. 107–113.                                                       16 Vgl. Ferguson 2003 (Anm. 4), S. 164.
14 Vgl. David A. Washbrook, Progress and Problems: South          17 Vgl. Prasannan Parthasarathi, Why Europe Grew Rich and
Asian Economic and Social History c. 1720–1860, in: Modern        Asia Did Not: Global Economic Divergence 1600–1850, Cam-
Asian Studies 1/1988, S. 80–83.                                   bridge 2011, S. 223–263.

06
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Indische Unabhängigkeit - BPB
Indische Unabhängigkeit APuZ

nen wurden zum Leidwesen vieler indischer Un-                        rierten Staaten rasch.21 Die negativen Auswirkun-
ternehmer und Reformerinnen erst sehr spät und                       gen der überstürzten Umstellung der Anbauprak-
nur vereinzelt angeboten.18                                          tiken auf die Bedürfnisse des Weltmarktes sollten
    Wie bereits angedeutet, lässt sich parallel                      nur kurze Zeit später deutlich werden, als Süd-
zur Retardierung der industriellen Entwicklung                       und Zentralindien in den 1870er und 1890er Jah-
durch das britische Kolonialregime ein Prozess                       ren von zwei großen Hungersnöten heimgesucht
beobachten, der Indien etwa ab dem zweiten                           wurden. In der wichtigsten Baumwollregion Be-
Drittel des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem                      rar beispielsweise fielen Hunderttausende diesen
Maße zum Lieferanten von für den Export be-                          Versorgungskrisen zum Opfer, weil ihre quali-
stimmte Agrarprodukten machte. Teilweise un-                         tativ mittelmäßige Baumwolle sich in einer Zeit
ter Zwang wurden Teile der indischen Landbe-                         sinkender Preise kaum mehr verkaufen ließ und
völkerung von den kolonialen Obrigkeiten dazu                        die vorher betriebene Subsistenzwirtschaft in-
gebracht, kommerziell lukrative Nutzfrüchte                          zwischen weitgehend der kapitalistischen Cash-
wie Indigo (beliebt als Färbemittel für die glo-                     Crop-Monokultur gewichen war.22
bale Textilindustrie), Mohn (für die Opiumpro-                            Da eine Industrialisierung Indiens seitens der
duktion, mit der ein Teil des britischen Handels                     britischen Machthaber nicht erwünscht war und
mit China finanziert wurde), Zucker oder Jute                        der zunehmend kommerzialisierten und globa-
anzubauen.19 In der zweiten Hälfte des 19. Jahr-                     lisierten Landwirtschaft daher eine ganz zentra-
hunderts folgten weitere Plantagenprodukte, ins-                     le Bedeutung dafür zukam, Steuern zu generieren
besondere Tee und Baumwolle.20 Durch den Kol-                        und für wirtschaftliche Rentabilität im Allgemei-
laps der Baumwollexporte aus den Südstaaten der                      nen zu sorgen, unternahm die imperiale Regie-
USA während des Sezessionskrieges (1861–1865)                        rung alles in ihrer Macht Stehende, um den so-
war die Anpflanzung indischer Baumwolle ganz                         zialen Frieden in den ländlichen Gebieten und
besonders lukrativ geworden, und zahlreiche                          damit die Stabilität der Agrarproduktion zu ga-
Bauern in Zentralindien wurden dazu gepresst,                        rantieren. Zentrales Element ihrer Strategie war
den Anbau von für den lokalen Markt bestimm-                         die Kooptation ausgesuchter Segmente der loka-
tem Getreide und Hülsenfrüchten zugunsten der                        len Bevölkerung.23 Gegen Ende des 19. Jahrhun-
weißen fibre of fortune aufzugeben, damit die                        derts kristallisierte sich daneben immer stärker
Textilproduktion in Europa weiterlaufen konn-                        das Bemühen heraus, vor allem Großgrundbesit-
te. Dieser erzwungene Strukturwandel brach-                          zerinnen und Bauern als loyale Partner des Raj,
te zwar einen kurzfristigen Wirtschaftsboom für                      wie die britische Herrschaft in Indien auch be-
die Anbauregionen und die cotton capital Bom-                        zeichnet wird, zu gewinnen. Vermeintlich zum
bay, dieser verpuffte jedoch nach dem Ende des                       Schutz der idealisierten bäuerlichen Bevölke-
Sezessionskrieges und der Wiederaufnahme der                         rung wurden daher unter anderem neue Geset-
Baumwollexporte aus den ehemaligen konföde-                          ze geschaffen, die diese als sogenannte agricultu-
                                                                     ral communities festschrieben und den Verkauf
                                                                     von Agrarland an andere gesellschaftliche Grup-
18 Vgl. Michael P. Brunner, Schooling the Subcontinent: State,       pierungen praktisch untersagten.24 Statt die von
Space and Society, and the Dynamics of Education in Colonial
                                                                     der imperialen Rechtfertigungsrhetorik verspro-
South Asia, in: Fischer-Tiné/Framke (Anm. 15), S. 252–265,
hier S. 258 f.
                                                                     chene Liberalisierung und Marktflexibilität sowie
19 Vgl. u. a. Dietmar Rothermund, Indiens wirtschaftliche Ent-       den „Fortschritt“ nach europäischem Vorbild zu
wicklung: Von der Kolonialherrschaft bis zur Gegenwart, Pader-       bringen, führte die eigennützige Orientierung des
born 1985, S. 39 f.; Ulbe Bosma, The Sugar Plantation in India
and Indonesia: Industrial Production 1770–2010, Cambridge
2013, S. 44–87; Tara Sethia, The Rise of the Jute Manufacturing      21 Vgl. Sven Beckert, Emancipation and Empire: Reconstruc-
Industry in Colonial India: A Global Perspective, in: Journal of     ting in Worldwide Web of Cotton Production in the Age of the
World History 1/1996, S. 71–99.                                      American Civil War, in: American Historical Review 5/2004,
20 Zur Entwicklung der seit den 1870er Jahren wirtschaftlich         S. 1405–1438.
überaus bedeutenden Teeindustrie in Indien vgl. auch Erika           22 Vgl. Beckert (Anm. 11), S. 314.
Rappaport, A Thirst for Empire. How Tea Shaped the Modern            23 Vgl. David A. Washbrook, India 1818–1860: The Two Faces
World, Princeton 2017, S. 85–119; Andrew B. Liu, The Birth of        of Colonialism, in: Andrew Porter (Hrsg.), The Oxford History of
a Noble Tea Country: On the Geography of Colonial Capital            the British Empire, Bd. V: The Nineteenth Century, Oxford 1999,
and the Origins of Indian Tea, in: Journal of Historical Sociology   S. 395–399.
1/2010, S. 73–10.                                                    24 Vgl. Misra (Anm. 6), S. 141.

                                                                                                                                  07
APuZ 30–31/2022

britischen Kolonialregimes daher in vielen Fällen                   Tatsache wird häufig als ein Beleg für die gewal-
zu einer Zementierung bestehender Hierarchi-                        tige Modernisierungsleistung des britischen Ko-
en und einer umfassenden „Traditionalisierung“                      lonialregimes angeführt.28 Auch diese Deutung
der indischen Gesellschaft.25 Die Interventionen                    steht in Kontinuität mit zeitgenössischen Inter-
des Kolonialstaates zielten vor allem darauf, re-                   pretationen. Nicht nur eine Reihe kolonialer Ver-
gelmäßige Steuereinnahmen sicherzustellen und                       waltungsbeamter vor Ort, sondern auch promi-
indische Truppen für die anglo-indische Koloni-                     nente politische Kommentatoren in Europa, wie
alarmee zu rekrutieren, und stärkten daher insbe-                   Karl Marx, sahen in der Eisenbahn ein nützliches
sondere konservative soziale Gruppen und ideo-                      Werkzeug, um Englands weltgeschichtliche Mo-
logische Tendenzen in Indien, die diese Agenda                      dernisierungsrolle zu erfüllen.29
unterstützten.                                                          Die jüngere historische Forschung hat sol-
                                                                    che Deutungen zunehmend infrage gestellt. Zum
                  MIT VOLLDAMPF                                     einen kann kein Zweifel daran bestehen, dass
                 IN DIE MODERNE?                                    die einseitigen wirtschaftlichen und geostrategi-
               ROLLE DER EISENBAHN                                  schen Interessen der Kolonialmacht den Ausbau
                                                                    des Streckennetzes bestimmten und keineswegs
Spannungen zwischen der von den Fürsprechern                        der mögliche Nutzen für die indische Bevölke-
des britischen Imperialismus bemühten Fort-                         rung. Eisenbahnlinien, die den Transport von
schrittsrhetorik und den materiellen und sozialen                   landwirtschaftlichen Exportgütern zu den See-
Realitäten des Raj, die weitgehend von kulturel-                    häfen ermöglichten, und solche, die rasche Trup-
ler Arroganz und dem Primat herrschaftsprag-                        penverschiebungen zwischen Indiens wichtigsten
matischer Interessen bestimmt waren, lassen sich                    Garnisonsstädten garantierten, genossen zunächst
auch in anderen Feldern nachweisen. Die infra-                      absolute Priorität. Erst zu Beginn des 20. Jahr-
strukturelle Erschließung des indischen Subkon-                     hunderts fanden die Mobilitätswünsche der lo-
tinents durch den Eisenbahnbau bietet dafür ein                     kalen Bevölkerung zumindest gelegentlich Be-
besonders schlagendes Beispiel. In der viktoriani-                  achtung. Das etwas chaotische Miteinander von
schen Ära war die Eisenbahn nicht nur ein wich-                     staatlichen und privat betriebenen Strecken, die
tiges Transportmittel, ohne das die Industriali-                    teilweise sogar unterschiedliche Spurbreiten be-
sierung auf den britischen Inseln wohl nicht im                     nutzten, zeugte jedoch nicht von langfristiger In-
gleichen Tempo hätte ablaufen können, sie galt                      frastrukturplanung und erschwerte die Nutzung
auch als Inbegriff von Mobilität, Modernität und                    durch die indische Bevölkerung zusätzlich.30
Fortschritt, sodass man sie schon kurz nach ihrer                       Wie bei der Textilindustrie verlief der Techno-
Implementierung auf den Britischen Inseln auch                      logietransfer auch hier äußerst schleppend. Von
in Britanniens Empire exportieren wollte.26 In                      den knapp 15 000 Lokomotiven, die zwischen
Indien wurde die erste Versuchsstrecke zwischen                     1853 und 1947 auf dem indischen Subkontinent
Bombay und Thane bereits 1853 eröffnet. Ab den                      zum Einsatz kamen, wurden weniger als 700 in
1860er Jahren erfolgte dann der rasante Ausbau                      Indien selbst produziert. Der Rest wurde – zum
des Streckennetzes, der Indiens Eisenbahnnetz                       beträchtlichen Nutzen der britischen Schwerin-
bereits kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrie-                    dustrie – aus Großbritannien importiert.31 Auch
ges zum viertgrößten weltweit machte.27 Diese                       in anderer Hinsicht erweist sich das häufig pos-
                                                                    tulierte Korrelat zwischen kolonialem Eisen-
                                                                    bahnbau und Modernisierungsagenda als proble-
25 Douglas M. Peers, State Power and Colonialism, in: Peers/        matisch: Der Historiker Ravi Ahuja hat zurecht
Gooptu (Anm. 13), S. 41.
                                                                    darauf hingewiesen, dass die Konstruktion eines
26 Vgl. Marian Aguiar, Tracking Modernity: India’s Railway
and the Culture of Mobility, Minneapolis 2011. Für eine de-
taillierte kultur- und sozialgeschichtliche Analyse der Rolle der   28 Vgl. beispielsweise Ferguson 2011 (Anm. 4), S. 225.
Eisenbahnen in Britisch-Indien siehe auch Aparijita Mukho-          29 Vgl. David Arnold, Science, Technology and Medicine in Bri-
padhyay, Imperial Technology and „Native“ Agency: A Social          tish India, Cambridge 2000, S. 110 f.; Karl Marx, Die zukünftigen
History of Railways in Colonial India, Abingdon 2018.               Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: Karl Marx–
27 Vgl. John Hurd, A Huge Railway System, But No Sustained          Friedrich Engels Werke, Bd. 9, Berlin (Ost) 1960, S. 220–226.
Economic Development. The Company Perspective, 1884–1939:           30 Vgl. Ian J. Kerr, Engines of Change: The Railroads That Built
Some Hypotheses, in: Ian J. Kerr (Hrsg.), 27 Down. New Depar-       India, Ranikhet 2007, S. 71–85.
tures in Indian Railway Studies, Ranikhet 2007, S. 316.             31 Vgl. Arnold (Anm. 29), S. 111.

08
Indische Unabhängigkeit APuZ

beträchtlichen Teils des Streckennetzes unter pri-                  sche Gepflogenheiten und die als überlegen emp-
mitivsten Bedingungen und durch die planmä-                         fundene politische Kultur Großbritanniens hin-
ßige Ausbeutung ungeschulter indischer Ar­beit­                     gewiesen. Eine radikale Reform von Verwaltung
er*­innen, viele von ihnen Frauen und Kinder,                       und Politik galt insofern als besonders begrüßens-
realisiert wurde.32 Besondere Erwähnung ver-                        wert, als vorkoloniale Herrschaftsformen in Indi-
dient dabei der gezielte Einsatz der arbeitslosen                   en und anderen „orientalischen“ Gesellschaften ab
Landbevölkerung, die von den großen Versor-                         dem späten 18. Jahrhundert im Westen häufig als
gungskrisen im letzten Viertel des 19. Jahrhun-                     rückständig, irrational und despotisch porträtiert
derts betroffen war. Weil die verantwortlichen                      wurden.35 Eine erfolgreiche „Hebung“ der kolo-
Kolonialbeamten keine falschen Anreize setzen                       nisierten Eliten durch das Verbreiten europäischer
wollten, erhielten die Opfer der Hungersnöte ihre                   Werte und Standards galt vielen daher als Kern-
kärgliche Lebensmittelration nur, wenn sie ihre                     element der selbstauferlegten Zivilisationsmission
Arbeitskraft für kolonialstaatliche Infrastruktur-                  des Raj. Auch in diesem Fall ist jedoch Skepsis ge-
projekte zur Verfügung stellten. Ein beachtlicher                   boten: Eine kritiklose Übernahme des imperialen
Teil der Straßen und Eisenbahntrassen, die in den                   Fortschrittsnarrativs würde wiederum den Blick
letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts von                       auf eine Reihe problematischer Aspekte verstel-
den Briten in Indien angelegt wurden, kam daher                     len, die für Indien mit der Einführung moderner
durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der vul-                      Verwaltungspraktiken und selektiver Elemente
nerabelsten Gruppen der indischen Bevölkerung                       der repräsentativen Demokratie verbunden waren.
zustande.33 Diese zentrale Rolle von erzwunge-                          Schon die Bediensteten der OIK sahen die
ner Arbeit legt den Schluss nahe, das vermeintli-                   Verwaltung der riesigen Territorien, die unter
che Modernisierungsprojekt Eisenbahnbau habe                        ihrer Kontrolle standen, und die Beherrschung
durchaus auch vormoderne – um nicht zu sagen                        einer ethnisch, sprachlich und religiös äußerst
antimoderne – Züge getragen.                                        heterogenen Bevölkerung als gewaltige Heraus-
     Gleichzeitig verhinderte die Angst der Ko-                     forderung an. Dieser suchten sie dadurch zu be-
lonialregierung vor einem Eingriff in die Selbst-                   gegnen, dass sie ihre Wissenslücken bezüglich
regulierung des Marktes, dass man das Potenzial                     Land und Leuten schlossen. Seit den 1770er Jah-
der neuen Transporttechnik nutzte, um Getrei-                       ren wurde die Beherrschung des Subkontinents
deüberschüsse aus anderen Provinzen Indiens in                      somit auch von einem Prozess permanenter Wis-
die vom Hunger betroffenen Gebiete im Süden                         sensproduktion begleitet. In Kollaboration mit
zu schaffen, wodurch vermutlich das Leben von                       einheimischen „Experten“ – insbesondere schrif-
Hunderttausenden Menschen hätte gerettet wer-                       tenkundige religiöse Eliten wie beispielsweise
den können.34                                                       hinduistische Brahmanen oder muslimische Ge-
                                                                    lehrte (Ulama) spielten hierbei eine entscheiden-
            KNOWING THE COUNTRY:                                    de Rolle – studierten die neuen Herrscher un-
              WISSENSCHAFTLICHE                                     ter anderem indische Sprachen und Religionen.
               DATENERHEBUNG                                        Noch wichtiger aber war es, unmittelbar verwert-
                                                                    bare Wissensbestände zu erschließen, die ihnen
Apo­lo­get*­innen des Empire haben häufig auf die                   einen Einblick in lokale Formen der Jurisdiktion
angeblich segensreiche Wirkung der Etablierung                      oder bewährte Methoden der Steuererhebung ge-
eines rationalen Verwaltungsapparates und des                       währten sowie die kommerzielle Nutzung loka-
Heranführens der lokalen Eliten an demokrati-                       ler Heilkräuter oder Nutzfrüchte erlaubte.36
                                                                        Die Tatsache, dass das Kolonialregime von
                                                                    dem großen indischen Aufstand Mitte der 1850er
32 Vgl. Ravi Ahuja, „The Bridge-Builders“. Some Notes on Rail-
ways, Pilgrimage and the British „Civilizing Mission“ in Colonial
India, in: Fischer-Tiné/Mann (Anm. 3), S. 195–216.                  35 Vgl. Nicholas Dirks, The Scandal of Empire: India and the
33 Vgl. Stuart Sweeney, Indian Railways and Famines,                Making of Imperial Britain, Cambridge, MA 2006, S. 272–279.
1875–1914: Magic Wheels and Empty Stomachs, in: Essays in           Siehe dazu ausführlich Jennifer Pitts, A Turn to Empire. The Rise
Economic and Business History Bd. 26/2008, S. 147–158.              of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton 2006.
34 Für eine detaillierte Analyse der Rolle des Kolonialstaates      36 Vgl. dazu Bernard S. Cohn, Colonialism and Its Forms of
beim Management der großen Hungerkrisen im spätkolonialen           Knowledge. The British in India, Princeton 1996; Harald Fischer-
Indien vgl. auch Mike Davis, Late Victorian Holocausts: El Nino     Tiné, Pidgin-Knowledge: Wissen und Kolonialismus, Zürich–Ber-
Famines and the Making of the Third World, London 2001.             lin 2013.

                                                                                                                                   09
APuZ 30–31/2022

Jahre überrascht worden war, wurde weithin als                    zugänglich war, leistete der Kultivierung militan-
Beleg dafür gelesen, dass man noch nicht über das                 ter Identitätspolitiken Vorschub und beförderte
nötige Herrschaftswissen verfügte. In den De-                     insbesondere die Rivalität zwischen den Angehö-
kaden nach 1860 wurden daher die Anstrengun-                      rigen der beiden größten Religionsgemeinschaf-
gen zur wissenschaftlichen Durchdringung und                      ten, Hindus und Muslimen. Durch die schrittwei-
Kategorisierung der beherrschten Territorien in                   se Einführung von Elementen der repräsentativen
Südasien und ihrer Be­wohn­er*­innen weiter in-                   Demokratie im Rahmen der Verfassungsreformen
tensiviert und systematisiert. In einer Reihe groß-               von 1909, 1921 und 1935 wurde die Frage der je-
angelegter surveys versuchte der Kolonialstaat, die               weiligen Gruppengröße zudem mit dem Zugang
Topografie und die geostrategische und kommer-                    zu politischer Macht verknüpft und bereits beste-
zielle Nutzbarkeit Indiens zu erfassen und zu do-                 hende interne Konflikte und Spaltungen der indi-
kumentieren. Gleichzeitig sollte die junge Wis-                   schen Gesellschaft zusätzlich befördert.
senschaft der Anthropologie Erkenntnisse über                         Den Briten die Alleinschuld für diese Ent-
die castes and tribes of India, also die verschie-                wicklungen zuzuweisen, würde allerdings die
denen Hindukasten und die sogenannte Stam-                        Handlungsmacht der indischen Bevölkerung in
mesbevölkerung in den abgelegen Regionen des                      unzulässiger Weise negieren. Schon lange vor
Subkontinents, liefern.37 Den wichtigsten Ein-                    der Herrschaftsübernahme der OIK hatten in-
schnitt stellte jedoch fraglos die Einführung einer               dische Herrscher des Öfteren in kleinerem Maß-
im Zehnjahresturnus eingeführten Volkzählung in                   stab versucht, Volkszählungen durchzuführen
den 1870er Jahren dar. Bis 1921 wurden im Rah-                    und statistische Daten für eine möglichst effekti-
men dieses Zensus auch detaillierte Fragen nach                   ve Steuerveranlagung zu erheben.39 Somit fanden
der Religions- und Kastenzugehörigkeit der Be-                    die kolonialen Verwaltungsreformen nicht in ei-
völkerung gestellt, von deren Beantwortung man                    nem Vakuum statt, sondern schlossen an indige-
sich wichtige Hinweise für die Optimierung von                    ne Praktiken an. Es würde auch gewiss zu kurz
Verwaltung und größere Gerechtigkeit bei der po-                  greifen, in der kolonialen Zähl- und Kategorisie-
litischen Repräsentation einzelner Bevölkerungs-                  rungswut die Hauptursache für die zusammen
gruppen versprach.38 Wie39 häufig in kolonialen                   mit der Entlassung in die Unabhängigkeit er-
Kontexten wurde die ursprüngliche Intention der                   folgten Teilung des britischen Kolonialreichs in
Verantwortlichen für dieser Verwaltungsmaßnah-                    Südasien in die beiden verfeindeten Bruderstaa-
me jedoch bald völlig von deren unerwünschten                     ten Indien und Pakistan zu sehen. Gleichwohl ist
Nebenwirkungen überlagert. Durch den Zwang,                       unbestritten, dass sie diese Entwicklung zumin-
sich auf eine einzige religiöse und soziale Identi-               dest katalysierten. Entscheidender für das zen-
tät festzulegen, verschwand die in der Praxis bis                 trale Argument dieses Beitrages ist jedoch, dass
dato vorhandene Flexibilität der sozialen und re-                 auch dieses Beispiel zeigt, wie sehr die populäre
ligiösen Ordnung, und die Religionsgemeinschaf-                   Gleichsetzung der britischen Kolonialherrschaft
ten und Kasten wurden gleichsam zu rigiden mo-                    in Indien mit einer gesellschaftlichen Modernisie-
nolithischen Blöcken eingefroren. Die präzise                     rungsagenda und der Verbreitung von Rationalis-
Quantifizierung der jeweiligen Gruppengröße,                      mus, Säkularismus und Egalitarismus in die Irre
die nun in den mit Grafiken und statistischen Ta-                 führt. Ungeachtet der teilweise wohlmeinenden
bellen angereicherten Zensusberichten allgemein                   Intentionen der kolonialen Eliten führte die er-
                                                                  hoffte Rationalisierung der Verwaltung zu einer
                                                                  Stärkung und Verhärtung „vormoderner“ Identi-
37 Vgl. exemplarisch Edgar Thurston, Castes and Tribes of         täten und leistete damit einmal mehr eher einer
South India, Madras 1909.
                                                                  politisch fatalen „Traditionalisierung“ als einer
38 Vgl. R. B. Bhagat, Census Enumeration, Religious Identity
and Communal Polarization in India, in: Asian Ethnicity 4/2013,
                                                                  Modernisierung Indiens Vorschub.
S. 434–448; Padmanabh Samarendra, Census in Colonial
India and the Birth of Caste, in: Economic and Political Weekly   HARALD FISCHER-TINÉ
33/2011, S. 51–58; Michael Haan, Numbers in Nirvana: How          ist Professor für die Geschichte der modernen Welt
the 1872–1921 Indian Censuses Helped Operationalise „Hindu-
                                                                  an der ETH Zürich mit einem Schwerpunkt auf der
ism“, in: Religion 1/2005, S. 13–30.
39 Vgl. Sumit Guha, The Politics of Identity and Enumeration
                                                                  Geschichte Indiens im 19. und 20. Jahrhundert in
in India c. 1600–1990, in: Comparative Studies in Society and     ihren imperialen und globalen Bezügen.
History 1/2003, S. 148–167.                                       harald.fischertine@gess.ethz.ch

10
Indische Unabhängigkeit APuZ

 Indien im 18. Jahrhundert Südasien im 18. Jahrhundert
                           70°                              75°                                      80°                                    85°                              90°                              95°

35°

                 Kabul         Peschawar                                     In d
                                                             Srinagar            u

                                                                                  s
       Chorasan                                                                                                                C h i n e s i s c h e s                                            R e i c h

                                                          Amritsar
                                  Faisalabad      Lahore
                                                                   Chandigarh                                                                              Ti b e t
                                                        Ludhiana
30°                                     Multan
                                                                                                                                                                                        Lhasa
                                                                                                            N
                                                                                                                  e
                                                                     Delhi
                                                                                                                           p
                                                                                                                                a
                                                                                             Ga                                         l
                                                                                               ng                                                       Kathmandu
                Sukkur
                                                                                                 e    Avadh                                                               Bhutan
                          Rajpu t a n a
                                                                                                  s
                                                            Jaipur                                                                                                                                                 t ra
                                                                             Agra                               Lacknau   Gorakhpur                                                                      m   apu
           Sindh                   Jodhpur                                                                                                                                                          Brah
                                                                                                           Cawnpore               Bihar
            Hyderabad                                                                  Gwalior
                                                                                                             Allahabad Benares     Patna
25°                                                         Kota

                                                                                                                                                                    Ga
                                                                                                                               Varanasi
           us

                                                                                                                                                                      ng
                                                                                                                                                                        es
       In d

                                                                                                     Bun                                                                            Dhaka
                                                                                                                                                                                                                          eis
                                                                                                           del
                                                                                                                 kh                                        B e n g a l e n                        Nördlicher Wendekr
                                         Ahmadabad                                                                    an                Ranchi
                                                               Indore            Bhopal               Jabalpur                                    Chandarnagar               Serampore
                                                                                                                       d

                               Rajkot      Cambay                                                                                           Dannemarksnagore                                                              95°
                     G u j a r a t                                                                                                                                       Kalkutta                    Konbaung
                                                                                                                 la

                                                            Burhanpur
                                                                                                                ns

      Porbandar                             Surat                                            Nagpur
                                                                                                            ho

                                                                                                                      Raipur                                    Balasore
                                                                                                                                                          a
                                                                                                           B

                                                               Berar                     Nagpur                                                         s Cuttack
                                 Daman                                                                                                              s
20°                      Diu      Dadra    Nasik                                                                                                i
                                                                                                                                            r
                               Bassein Nagar                   Aurangabad
                                                                                                                                                                          Golf von
                                                                                                                                    O

                         Insel Salsette Haveli                                             a
                               Bombay                                                Go dav ri                                                      Brahmapur
                                                                                                                                                                          Bengalen
                                 Tschoul         Pune                   Hyderabad                                                   r
                                                                                                                                    s

                                                                                                                                 ka
                                                                                                                        1 S    ar Bimilipatnam
                                                                                 Hyderabad                               l.    Vishakhapatnam
      Arabisches                                                                                                       rd Kakinada
                                                                                                                  Nö  Yanam
                                                                               Kris
                 Meer                                                               hn   a   Vijayawada            Palikol
                                                                                                                Masulipatnam
15°                                         Goa                                                            Nizapatam
                                                                                                  c

                                                                                                         Armagon
                                                     M

                                                                                                 i

                                                                  Mysore                                 Pulicat
                                                                                                         Madras
                                                        a

                                                                                              t

                                           Bhatkal                   Bangalore                           Mylapore
                                                         l a

                                          Mangalore                                                      Sadras                                                                        Andamanen
                                                                                             a

                                                                                                 1       Pondichéry
                                                                                                         Parangipettai
                                                            b

                                             Cannanore
                                                                                         n

                                                   Mahe                                                  Cuddalore
                                                               a

                                                                     Coimbatore                          Trankebar
                                                  Calicut
                                                                  r

                                                                          Thanjavur                      Karikal
                                                                                      r

10°
                                                                                                         Nagapattinam
                                                    Kranganur                                    Nagaposttinam
                                                                                     a

                                                       Cochin
                                                                   Tra

                                                                              Madurai                Jaffna
                                                                      v an

                                                                                  C

                                                 Oddeway Torre
                                                                          cor

                                                         Quilon                      Tuticorin
                                                        Colachel                                                       Ceylon
                                                                             e

                                                                                      Golf von
                                                                                      Mannar                                                                                                         Nikobaren
                                                                                                                       ab 1796 brit.
                                                                                                                                                                                                  Neu-Dänemark
                                                                                       Colombo             Kandy

5°                  Malediven                            Indischer                                                Ozean

     Mogulreich                                                                                      Gebietsstand 1793
                um 1700                             um 1793                                                      Marathenkonföderation

     Koloniale Stützpunkte                                                                                       weitere unabhängige Fürstenstaaten
             britisch                               portugiesisch                                                britische Kolonie
                                                                                                                                                                                     1: 20 000 000
           70°niederländisch                        dänisch
                                                    75°                                              80°         portugiesische Kolonie 85°                                                 90°
                                                                                                                                                                             0                                 500 km
             französisch                            wechselnde Kontrolle                                         niederländische Kolonie                                                                  Äquator
      0°
       1        1741–1754 französisch                                                                                                                                      © mr-kartographie, Gotha 2022
                                                                                                                 dänische Kolonie

                                                                                                                                                                                                                           11
APuZ 30–31/2022

               AUF DEM WEG ZU
          UNABHÄNGIGKEIT UND TEILUNG
 Widerstand gegen die koloniale Herrschaft in Britisch-Indien
                                          Kama Maclean

Auf die Dekolonisierung Britisch-Indiens folgten     me der Muslime akzeptiert, obwohl es durchaus
1947 die Teilung des Landes, die von ethnischer      auch Muslime gab, die sich von der Muslimliga
Gewalt begleitet wurde, und die Gründung zwei-       nicht vertreten fühlten.01
er Staaten, dem mehrheitlich hinduistischen Indi-         In der vom INC geführten Massenbewe-
en und dem mehrheitlich muslimischen Pakistan.       gung schwang stets auch ein radikaler antikolo-
In diesem Beitrag beleuchte ich die historischen,    nialer Nationalismus mit, der politische Gewalt
politischen und gesellschaftlichen Kräfte im Zu-     als Mittel der Eskalation bei der Dekolonisierung
sammenhang mit dem Widerstand gegen die Ko-          einsetzte. Gewalttätige Aktionen wurden zwar
lonialherrschaft und gehe der Frage nach, warum      schnell unterbunden, aber dennoch von nationa-
die Religion im Kampf um die Befreiung ein so        listischen Organisationen genutzt, um den Briten
großes Spaltungspotenzial entwickelte.               aufzuzeigen, welche Folgen eine Verweigerung
    Das Zusammentreffen verschiedener Fakto-         politischer Reformen haben könnte.02 Daraus
ren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schuf      entwickelte sich ein Muster, bei dem konstitutio-
die Bedingungen für eine nationalistische Mas-       nelle Reformen mit repressiver Notstandsgesetz-
senbewegung, die nicht ignoriert werden konnte.      gebung verbunden wurde. Durch die Ausweitung
Der Indische Nationalkongress (Indian Na­tion­       der Notstandsgesetze, die die bürgerlichen Frei-
al Congress; INC) hatte im Laufe der Zeit den        heiten außer Kraft setzten, aber gleichzeitig eine
Druck auf die britische Kolonialregierung immer      stärkere Vertretung der indischen Bevölkerung
weiter erhöht. 1885 mit dem Ziel gegründet, den      in der Regierung ermöglichten, legte der spätko-
indischen Einfluss in der Politik auszubauen, hat-   loniale Staat den Grundstein für einen Staat mit
te die Kongresspartei in der Zwischenkriegszeit      weit reichenden Befugnissen.03 Dass sich der-
ein Programm des gewaltlosen Protests, des Boy-      artige Maßnahmen in Indien bis heute gehalten
kotts und des zivilen Ungehorsams entwickelt,        haben, einschließlich der aus dem 19. Jahrhun-
um politische Reformen durchzusetzen. Ur-            dert stammenden Gesetze gegen Aufwiegelung,
sprünglich wurde dieses Programm auch von der        ist Teil seines kolonialen Erbes und wird der-
1906 gegründeten All-indischen Muslimliga un-        zeit vom indischen Verfassungsgericht auf seine
terstützt, doch zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die    Rechtmäßigkeit überprüft.
Briten bereit erklärten, bei einer Reihe von Kon-
ferenzen in London über politische Reformen zu              NATUR DES KOLONIALSTAATS
sprechen, hatten sich zwischen dem INC unter
der Führung von Jawaharlal Nehru (1889–1964)         In diesem Zusammenhang ist zu beachten, wie
und der Muslimliga bereits tiefe politische Grä-     die imperialen Ziele und die Kolonialpolitik
ben aufgetan. Die Muslimliga hatte sich in den       des britischen Empire den Charakter des indi-
1930er und 1940er Jahren nicht den Aktionen          schen Antikolonialismus prägten. Für das bri-
des INC angeschlossen, sondern weiterhin stra-       tische Weltreich war die Kolonialisierung Süd-
tegische Verbindungen zur Regierung gepflegt.        asiens extrem lukrativ. Wirtschaftshistoriker
Ihr Anführer Muhammad Ali Jinnah (1876–1948)         haben das Ausmaß der Abhängigkeit gegen-
hatte dank seiner Unterstützung der Briten im        über den Briten aufgezeigt, in das Indien auf-
Ersten Weltkrieg großes Ansehen erworben und         grund der politischen Ökonomie des Kolonia-
wurde von den Kolonialherren als einzige Stim-       lismus Mitte des 19. Jahrhunderts geriet.04 Diese

12
Indische Unabhängigkeit APuZ

Entwicklung wurde durch die Fortschritte in                       für die Anhänger des Imperialismus, die davon
der Dampfschifffahrt Ende des 19. Jahrhunderts                    ausgegangen waren, dass die britische Herrschaft
noch verstärkt, durch die der Export indischer                    in Indien unerschütterlich war.
Agrarprodukte – Baumwolle, Jute, Tee –, der für                       In der aktuellen Forschung wird das Ausmaß
die Industrielle Revolution1234 in England essenziell             der direkt oder indirekt angewandten Gewalt be-
war, immer effizienter wurde. Umgekehrt wurde                     tont, mit der im gesamten britischen Empire ver-
Indien zu einem wichtigen Absatzmarkt für bri-                    sucht wurde, die Kontrolle zu bewahren.06 Die-
tische Produkte. Diese finanziellen Motive wur-                   ser Trend in der Geschichtswissenschaft löst die
den jedoch von einer liberalen imperialen Ideo-                   Interpretation ab, dass die Briten vor allem libe-
logie überlagert, die sich einer zivilisatorischen                rale Ziele gehabt hätten und das Leben der Kolo-
Mission verschrieben hatte, um Indien Prinzipi-                   nisierten durch die Gaben der Moderne in Form
en des Individualismus und des Fortschritts nä-                   von Bildung, Wissenschaft und Vernunft zu ver-
her zu bringen, die dem Land nach Ansicht der                     bessern suchten. Um die oft gewalttätigen Reak-
Briten fehlten. Das verstörende Ausmaß der Ge-                    tionen auf den kolonialen Staat zu verstehen, soll-
walt, auf das die Briten zurückgriffen, um dieses                 te man sich daher mit der Gewalt beschäftigen,
vermeintlich liberale Projekt umzusetzen, zeugt                   mit der die Briten ihre Dominanz in Südasien
vom Widerspruch, der dem britischen Imperia-                      durchsetzten, von Institutionen wie dem Militär
lismus zugrunde lag.05                                            und der Polizei bis hin zur alltäglichen „weißen
    Bereits vor dem gewaltsamen Aufstand von                      Gewalt“ gegen die einheimische Bevölkerung,
1857, in dessen Folge die britische Krone die                     die für den Kolonialismus so typisch war.07 Wenn
Herrschaft über die Territorien der Britischen                    man dieses Geflecht von Gewalt und Macht in
Ostindien-Kompanie übernahm, hatte es in Indi-                    Südasien berücksichtigt, kann man die bei der
en eine lange Geschichte des Widerstands gege-                    Dekolonisierung von 1947 auftretende ethnische
ben. Der Aufstand erfolgte als Reaktion auf die                   Gewalt besser verstehen.
Politik der Ostindien-Kompanie, einer Handels-                        Aus Sicht der Briten war einer der wichtigs-
gesellschaft, die zum Schutz und zur Erweite-                     ten Faktoren, die zum Aufstand von 1857 führ-
rung ihrer Interessen eine eigene Armee mit in-                   ten, der in der indischen Bevölkerung herrschen-
dischen Soldaten unterhielt. Im Mai 1857 lehnten                  de Eindruck, ihre religiösen Praktiken würden
sich einige indische Regimenter dieser Armee ge-                  durch die interventionistische Politik der Ostin-
gen die britischen Befehlshaber auf. Der sich da-                 dien-Kompanie und durch die von ihr eingeführ-
raus entwickelnde Aufstand war der größte in ei-                  ten Technologien bedroht. Dazu kam, dass christ-
ner langen Reihe kleinerer Rebellionen gegen die                  liche Missionare unterstützt und die Inder im
Kompanie, die seit dem 17. Jahrhundert in Indi-                   Vergleich zu anderen Untertanen im Empire dis-
en aktiv war. Die Brutalität der Aufständischen                   kriminiert wurden. Der Stellenwert, den man die-
und das Ausmaß der „großen indischen Meute-                       sen Anliegen beimaß, zeigt sich in der von Köni-
rei“ überraschten viele Briten. Dass sich die in-                 gin Victoria 1858 erlassenen Proklamation, die für
dischen Sepoys gegen ihre britischen Komman-                      diejenigen, die den britischen Imperialismus in die
deure erhoben und von verschiedenen Teilen der                    Verantwortung nehmen wollten, eine der Magna
Bevölkerung unterstützt wurden, war ein Schock                    Carta vergleichbare Bedeutung erlangte. Das Ver-
                                                                  sprechen der Königin, sich nicht in religiöse An-
01 Vgl. Ali Usman Qasmi/Megan Robb (Hrsg.), Muslims Against       gelegenheiten einzumischen, für eine Gleichbe-
the Muslim League. Critiques of the Idea of Pakistan, Cambridge   handlung der Inder als Untertanen im Empire zu
2017.                                                             sorgen und eine gleichberechtigte Beschäftigung
02 Vgl. Kama Maclean, A Revolutionary History of Interwar
                                                                  im indischen öffentlichen Dienst zu garantieren,
India: Violence, Image, Voice and Text, New York 2015.
03 Vgl. Durba Ghosh, Gentlemanly Terrorist. Political Violence
                                                                  wurde zu einem entscheidenden Dreh- und An-
and the Colonial State in India, 1919–1947, Cambridge 2017,       gelpunkt der britischen Kolonialregierung in In-
S. 18.                                                            dien und ihrem leicht antikolonialen Kurs.
04 Vgl. David Washbrook, Political Economy of Colonialism in
India, in: Harald Fischer-Tiné/Maria Framke (Hrsg.), Routledge
Handbook of the History of Colonialism in South Asia, London      06 Vgl. Caroline Elkins, Legacy of Violence: A History of the
2022, S. 23–35, hier S. 29.                                       British Empire, London 2022.
05 Vgl. Antoinette Burton, The Trouble With Empire: Challen-      07 Vgl. Jonathan Saha, Everyday Violence in British India, in:
ges to Modern British Imperialism, New York 2015.                 History Compass 11/2011, S. 844–853.

                                                                                                                               13
APuZ 30–31/2022

    Mit aus diesem Grund erhielt die Religion                    die zahlreichen Sekten und Identitäten und mach-
ab Ende des späten 19. Jahrhunderts eine größe-                  ten den „Hinduismus“ zu einer übergreifenden
re politische Bedeutung: Sie bot einen Bereich, in               Kategorie, um eine Reihe unterschiedlicher reli-
dem ein koloniales Eingreifen nicht erlaubt war.                 giöser Praktiken zu beschreiben. Im 19. Jahrhun-
Die Einmischung in religiöse Belange konnte von                  dert hätten sich nur wenige Menschen in Indien
frühen Nationalisten zu Recht als Bruch impe-                    mit dieser Bezeichnung identifiziert, allerdings
rialer Versprechen angeprangert werden: Politi-                  konnten sie genau sagen, ob sie Muslime waren
sche Proteste nahmen ihren Anfang im religiösen                  oder nicht. Als monotheistische Religion war der
Kontext, weil sie dort artikuliert werden k
                                          ­ onnten.              Islam für den Kolonialstaat leichter einzuord-
                                                                 nen, selbst wenn die Wahrnehmung gelegentlich
       RELIGION UND KOLONIALSTAAT                                von Ängsten vor wahhabitischen oder panisla-
                                                                 mistischen Verschwörungen verzerrt war.09 Be-
Religiöse Konflikte waren in Südasien nicht neu,                 reits bei der ersten Volkszählung zeigte sich, dass
doch vor der Expansion des modernen Koloni-                      ein erheblicher Anteil der Bevölkerung aus Mus-
alstaats waren sie meist lokal begrenzt und von                  limen bestand, und ab den 1880er Jahren such-
kurzer Dauer: Die Gemeinschaften nutzten den                     te die britische Kolonialregierung in Indien nach
öffentlichen Raum gemeinsam, daher war der                       Möglichkeiten, Schutzmechanismen für „religi-
Anreiz groß, Lösungen für ein Miteinander zu                     öse Minderheiten“ in die staatliche Struktur ein-
finden. Die Art und Weise, wie sich religiöse                    zubauen. Einige Muslime hatten tatsächlich auch
Identitäten unter dem Druck und den Interven-                    am Aufstand von 1857 teilgenommen und neigten
tionen des Kolonialstaats entwickelten, form-                    nach Meinung des einflussreichen Kolonialbeam-
ten die Politik neu. Die Ausrichtung der Politik                 ten W. W. Hunter ohnehin zum Fanatismus und
an religiösen Kategorien spiegelte zum Teil die                  fühlten sich „verpflichtet“, gegen die Königin
Erfahrungen aus Europa wider, wo die Religi-                     zu rebellieren. Diese Tendenzen wollte man auf-
on eine grundlegende Rolle in staatlichen An-                    merksam beobachten, zudem bemühten sich die
gelegenheiten gespielt hatte und man sie daher                   Akteure der Kolonialpolitik, liberale und moder-
aus der Politik heraushalten wollte. Die Reli-                   nisierende Kräfte im indischen Islam zu stärken,
gionen in Südasien auf den privaten Bereich zu                   um die Loyalität gegenüber der Krone zu för-
beschränken, war schwierig, weil sich die Sitten                 dern. Und so wurden religiöse Identitäten durch
und Bräuche von Hindus und Muslimen um öf-                       den Kolonialstaat politisiert.
fentliche Einrichtungen wie Tempel oder Mo-
scheen drehten, um Feste und Gebete, und weil                                     KRITIK AN DER
sie in kulturelle Ausdrucksformen wie Texte,                                   KOLONIALHERRSCHAFT
Sprache und Ernährung eingebettet waren. Die
Unterschiede im gemeinschaftlichen Leben von                     In den 1860er Jahren schuf der Kolonialstaat
Hindus und Muslimen sollten sich abhängig von                    ein umfassendes gesetzliches Rahmenwerk, das
den Parametern vertiefen, mit denen die Koloni-                  sein alleiniges Gewaltmonopol festigen und po-
alherrschaft Aktivismus und Lobbyarbeit gegen-                   tenzielle gewalttätige Bedrohungen ausschal-
über dem Staat gesetzlich regelte. Von grundle-                  ten sollte. Dazu gehörten Gesetze, die umher-
gender Bedeutung war dabei die Vorstellung von                   ziehende Menschen kriminalisierten, ein Gesetz
der Rolle des Staates beim Umgang mit Minder-                    zur Kontrolle des Waffenbesitzes und der Mur-
heiten und ihrem Schutz.                                         derous Outrages Act, der dem Staat in der sen-
    Die Kategorisierung der Religionen in Indien                 siblen Region an der nordwestlichen Grenze
und das Verständnis ihrer Bedeutung wurde durch                  weitreichende Befugnisse einräumte, um „fanati-
den Kolonialstaat im Rahmen von vermeintlich                     sche“ Gewalttaten zu ahnden und Urteile ohne
wissenschaftlichen Projekten wie ethnografischen                 eine Möglichkeit zur Revision sofort zu voll-
Erhebungen und Volkszählungen neu gestaltet.08                   strecken.10 Diese außerordentliche Macht wurde
Überwältigt von der Komplexität der indischen                    von Gesetzen gestützt, die nicht nur gewalttäti-
Religionen abstrahierten die Verantwortlichen
                                                                 09 Vgl. Mark Condos, The Insecurity State. Punjab and the
08 Vgl. Brian A Hatcher, Reordering Religion in Colonial South   Making of Colonial Power in British India, Oxford 2017, S. 146.
Asia, in: Fischer-Tiné/Framke (Anm. 4), S. 62–76.                10 Vgl. ebd., S. 142.

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