AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Indische Unabhängigkeit - BPB
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72. Jahrgang, 30–31/2022, 25. Juli 2022 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Indische Unabhängigkeit Harald Fischer-Tiné Michael Collins KOLONIALISMUS ZWISCHEN RELIGION, POLITIK, NATION MODERNISIERUNG UND Agnieszka Nitza-Makowska TRADITIONALISIERUNG DEMOKRATIE MACHT Kama Maclean DEN UNTERSCHIED AUF DEM WEG ZU Christian Wagner UNABHÄNGIGKEIT UND GROẞMACHTAMBITIONEN, TEILUNG MITTELMACHTRESSOURCEN Carmen Brandt VOM GOLDENEN ZUM GETEILTEN BENGALEN Der APuZ-Podcast ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE dcast FÜR POLITISCHE BILDUNG bpb.de/apuz-po Beilage zur Wochenzeitung
Indische Unabhängigkeit APuZ 30–31/2022 HARALD FISCHER-TINÉ MICHAEL COLLINS KOLONIALISMUS ZWISCHEN RELIGION, POLITIK, NATION MODERNISIERUNG UND Hindu-Nationalismus ist kein ausschließlich TRADITIONALISIERUNG modernes Phänomen, sondern ein langfristiges Die populäre Gleichsetzung der britischen historisches Projekt. Er drang von den Rändern Kolonialherrschaft in Indien mit einer in die politische Mitte ein und wirkt sich auf den gesellschaftlichen Modernisierungsagenda und Zustand von Demokratie und Säkularismus in der Verbreitung von Rationalismus führt in die Indien aus. Irre. Dies zeigen die Beispiele Textilindustrie, Seite 29–36 Eisenbahnbau und Datenerhebung. Seite 04–10 AGNIESZKA NITZA-MAKOWSKA DEMOKRATIE MACHT DEN UNTERSCHIED KAMA MACLEAN Indien und Pakistan gingen 1947 aus der AUF DEM WEG ZU UNABHÄNGIGKEIT Einheit Britisch-Indien hervor. Trotz dieses UND TEILUNG gemeinsamen Erbes und sozioökonomischer und Auf die Dekolonisierung Britisch-Indiens kultureller Parallelen entwickelte sich in Indien folgten 1947 die Teilung des Landes und die eine Demokratie, in Pakistan nicht. Welche Gründung von Indien und Pakistan. Warum Gründe sind dafür ausschlaggebend? entwickelte die Religion im Kampf gegen die Seite 38–44 britische Kolonialherrschaft so ein großes spalterisches Potenzial? Seite 12–18 CHRISTIAN WAGNER GROẞMACHTAMBITIONEN, MITTELMACHTRESSOURCEN CARMEN BRANDT 75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit nimmt VOM GOLDENEN ZUM GETEILTEN BENGALEN Indien heute eine größere internationale Rolle als Mit „Bengalen“ werden heute vor allem zwei je zuvor ein. In seiner Nachbarschaft hat Indien geopolitische Entitäten identifiziert, der indische zwar wegen Chinas Einfluss an Bedeutung Bundesstaat Westbengalen und Bangladesch. Ins- verloren, doch es verstärkt dafür sein Engage- gesamt sind die Bengalen mit fast 300 Millionen ment im Indo-Pazifik. Menschen die größte Ethnie in Südasien und die Seite 46–52 drittgrößte der Welt. Seite 20–27
EDITORIAL Vor 75 Jahren, am 15. August 1947, war der Kampf um die indische Unabhän- gigkeit gewonnen und die britische Kolonialherrschaft beendet, die formell fast 90 Jahre lang, informell durch das Agieren der Britischen Ostindien-Kompanie bereits seit dem 18. Jahrhundert Bestand gehabt hatte. Die Unabhängigkeit ging mit einer Teilung Britisch-Indiens in das hinduistisch geprägte Indien und das überwiegend muslimische Pakistan einher, begleitet von Gewalt zwischen Hindus und Muslimen, die viele Todesopfer forderte. 1971 wurde Ost-Pakistan nach einem von Indien unterstützten Sezessionskrieg als Bangladesch unabhängig. Das Miteinander verschiedener Religionen, Ethnien und sozialen Gruppen war auch vor der britischen Kolonialisierung nicht reibungslos verlaufen, doch trugen die gewaltvolle Herrschaft ebenso wie die Standardisierung von Sprachen, die administrative Erfassung der Religions-, Kasten- und Stammes- zugehörigkeit und Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur zu Spannungen bei. Das Versprechen der britischen Monarchin Victoria, ab 1876 auch als „Kaiserin von Indien“ tituliert, sich nicht in religiöse Angelegenheiten einzumischen, eröffnete einen Freiraum in diesem Feld, der auch politisch genutzt wurde. Nach 1947 dominierte die säkular orientierte Kongresspartei das politische System in Indien. Der Hindu-Nationalismus, der sich im 19. Jahrhundert entwi- ckelt hatte und sich auf die Formel Inder = Hindu bringen lässt, spielte politisch zunächst keine große Rolle. Das hat sich spätestens mit den Wahlerfolgen der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei 2014 und 2019 geändert. Unter Premierminister Narendra Modi wurden Maßnahmen ergriffen, um Indien als „Hindu-Nation“ zu stärken – zum Nachteil der 160 bis 180 Millionen muslimi- schen Inderinnen und Inder. International ist Indien zurzeit ein immer gefragte- rer Partner, der vom Westen umworben wird, um Chinas wachsendem Einfluss in der Region etwas entgegenzusetzen. Anne Seibring 03
APuZ 30–31/2022 KOLONIALISMUS ZWISCHEN MODERNISIERUNG UND TRADITIONALISIERUNG Die britische Herrschaft in Indien Harald Fischer-Tiné Seit etwa zwei Jahrzehnten toben im Vereinigten Linie eine Modernisierungs- und Entwicklungs- Königreich regelrechte memory wars um die Be- instanz gewesen, von der kolonisierte Länder wertung der eigenen imperialen Vergangenheit. wie das heutige Indien massiv profitiert hätten. Laut einer repräsentativen Umfrage 2020, die der Dank der jahrzehntelangen britischen „Treuhän- „Guardian“ in Auftrag gegeben hatte, sind ein derschaft“ verfügten die ehemals Kolonisierten Drittel der Britinnen und Briten nach wie vor nun sowohl über die nötigen Sprachkenntnisse der Meinung, man müsse sich dieser Vergangen- als auch über eine hochentwickelte Infrastruktur heit keinesfalls schämen, sondern könne vielmehr und Arbeitsethik, die sie für die Herausforderun- stolz sein auf die historischen Leistungen des gen der Globalisierung wappneten.04 In gewisser ehemaligen britischen Weltreichs.01 Diese positi- Weise erinnert diese „Anglobalization“-Rheto- ve Wahrnehmung des Empire wird auch von füh- rik an die von den britischen Verwaltungseliten renden Politiker*innen des Landes geteilt. Wäh- während der Hochblüte ihres Weltreichs häu- rend der aktuelle britische Premier Boris Johnson fig benutzten Rechtfertigungsnarrative. So wur- wiederholt davor gewarnt hat, die beispiellose de beispielsweise in Indien ab den 1860er Jahren imperiale Expansion seines Landes vom späten ein Jahresbericht mit dem programmatischen Ti- 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert abzuwerten tel „Moral and Material Progress in India“ veröf- oder zu tabuisieren, provozierte sein Vorgänger fentlicht, um die Erfolge der kolonialen Entwick- David Cameron vor einigen Jahren in diesem Zu- lungsanstrengungen zu dokumentieren.05 sammenhang gar einen politischen Eklat. Wäh- Inwieweit ist aber die Rede von der britischen rend eines Staatsbesuchs in Indien weigerte sich Herrschaft auf dem indischen Subkontinent als Cameron, sich im Namen des Vereinigten König- einer Art Entwicklungsinitiative avant la lettre reichs für ein von den Briten im Jahr 1919 in der tatsächlich gerechtfertigt? Insbesondere indische nordindischen Stadt Amritsar begangenes Massa- Au tor* innen haben auf die neue Unbefangen- ker zu entschuldigen.02 heit in der Deutung der kolonialen Vergangenheit Beunruhigender noch als die naive Empire- durch revisionistische Historiker*innen aus dem Nostalgie von populistischen Politiker*innen er- Westen mit heftiger Kritik und zum Teil auch mit scheint die Tatsache, dass Imperialismus und Ko- leicht polemischen Gegendarstellungen reagiert.06 lonialismus mittlerweile auch unter Politologen Im Folgenden nehme ich das 75-jährige Jubiläum und Fachhistorikerinnen wieder salonfähig ge- der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans von worden sind. 2017 etwa gelang es dem US-ameri- 1947 zum Anlass, um die These zu überprüfen, kanischen Politologen Bruce Gilley, sein Plädoyer Indien sei ein Paradebeispiel für koloniale „Mo- für eine Rückkehr zu kolonialer Herrschaftsüber- dernisierungshilfe“. Ich werde dazu exemplarisch nahme des Westens in den failed states des Globa- drei Aspekte der indischen Geschichte umreißen, len Südens in einer angesehenen Fachzeitschrift die gerade von Apologet*innen westlicher Impe- zu platzieren.03 Bereits seit den frühen 2000er rialismen besonders häufig als vermeintliche Bei- Jahren verkaufen Erfolgsautor*innen wie Niall spiele für die positive Modernisierungsleistung Ferguson historische Bestseller mit dem Argu- imperialer Herrschaft aufgeführt werden: Wirt- ment, speziell das britische Weltreich sei in erster schaftsentwicklung und Industrialisierung am 04
Indische Unabhängigkeit APuZ Beispiel von Baumwollproduktion und Textilin- bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch Portugie- dustrie, den Aufbau einer modernen Transportin- sen, Niederländer, Franzosen und Dänen promi- frastruktur am Beispiel der Eisenbahn sowie die nent in Indien vertreten67 –08 mochten die Seeho- Rationalisierung der Verwaltung durch den Ein- heit besitzen, doch bis weit ins 18. Jahrhundert satz moderner statistischer Methoden.12345 hinein hatten sie den großen Landheeren sowohl der indischen Moguldynastie als auch einiger po- (DE-)INDUSTRIALISIERUNG? tenter Regionalmächte militärisch wenig ent- BEISPIEL TEXTILINDUSTRIE gegenzusetzen. Zudem waren die europäischen Händler aufgrund der Unkenntnis lokaler Ge- Über mehr als zwei Jahrhunderte war die briti- bräuche und Sprachen für die erfolgreiche Ab- sche Präsenz in Indien gleichsam Privatsache: wicklung ihrer Geschäfte sehr stark auf die Hil- Nicht der britische Staat, sondern eine Aktien- fe lokaler Mittelsmänner angewiesen.09 Bis in die gesellschaft, die Britische Ostindien-Kompanie 1740er Jahre, als die OIK ihre übrige europäische (OIK), machte sich ab der Mitte des 18. Jahrhun- Konkurrenz weitgehend aus dem Feld geschlagen derts an territoriale Eroberungen. Diese brach- hatte, blieb auch das Handelsvolumen verglichen ten ihr spätestens um 1820 die Rolle einer He- mit dem von indischen Kaufleuten kontrollierten gemonialmacht auf dem indischen Subkontinent Binnen- und Exporthandel gering. Nachdem die ein. Erst nach einer Massenerhebung indischer Kompanie 1765 schließlich vom schwächelnden Soldaten und Bäuerinnen, die beinahe zum Ende Mogulkaiser das Recht zur Steuereintreibung in der britischen Herrschaft geführt hätte,07 wurde den von ihr kontrollierten Territorien erworben die OIK 1858 aufgelöst, und die britische Krone hatte, profitierten die OIK und ihre häufig auch übernahm die Verantwortung für die gewaltigen in individuellen Privatgeschäften tätigen Ange- Territorien, die sich im Besitz der Handelsgesell- stellten massiv von der ungebrochenen Popula- schaft befunden hatten. rität indischer Produkte insbesondere in Europa. Lange deutete wenig darauf hin, dass die Prä- Vor allem im Geschäft mit Baumwollstoffen und senz europäischer Handelsgesellschaften eine Textilien dominierten indische Produkte noch ein transformative Wirkung auf Wirtschaft und Po- halbes Jahrhundert nach der Herrschaftsübernah- litik auf dem indischen Subkontinent entfalten me der Briten in Bengalen, Indiens wirtschaftli- sollte. Die Europäer – neben den Briten waren chem Zentrum, den Weltmarkt – und zwar so- wohl was ihre Quantität als auch ihre Qualität 01 Vgl. Robert Booth, UK More Nostalgic for Empire Than anging.10 Other Ex-Colonial Powers, 11. 3. 2020, www.theguardian.com/ world/2020/mar/11/uk-more-nostalgic-for-empire-than-other- ex-colonial-powers. 06 Vgl. dazu insbesondere den Bestseller des indischen Politi- 02 Vgl. Nicholas Watt, David Cameron Defends Lack of Apolo- kers und public intellectuals Shashi Tharoor, An Era of Darkness: gy for British Massacre at Amritsar, 20. 2. 2013, www.theguardi- The British Empire in India, Neu-Delhi 2016. Medial weniger be- an.com/politics/2013/feb/20/david-cameron-amritsar-massacre- achtet, aber akademisch seriöser waren die thematisch ähnlich india. gelagerten Debattenbeiträge von indischen Historikerinnen und 03 Gilleys umstrittener Aufsatz „The Case for Colonialism“ Literaturwissenschaftlerinnen. Vgl. etwa Maria Misra, Lessons of wurde inzwischen von der Zeitschrift „Third World Quarterly“ Empire, in: SAIS Review 2/2003, S. 133–151. wieder gelöscht. Siehe www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/ 07 Der wahlweise als „Indian Mutiny“ oder „First War of Indian 01436597.2017.1369037. Im Dezember 2019 durfte Gilley den- Independence“ bezeichnete Aufstand von 1857 bis 1859 war noch seine eigenwilligen Thesen auf Einladung der AfD-Fraktion und bleibt ein zentrales Element sowohl britisch-imperialer als im Deutschen Bundestag vortragen. auch indisch-nationalistischer Erinnerungspolitiken. Vgl. dazu 04 Vgl. Niall Ferguson, Civilization: The West and the Rest, auch Sebastian Raj Pender, The 1857 Uprising and the Politics of London 2011; ders., Empire. The Rise and Demise of the British Commemoration, Cambridge 2022. World Order and the Lessons for Global Power, New York 08 Vgl. dazu ausführlich Om Prakash, European Commercial 2003. Siehe auch Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen, „New Enterprise in Pre-colonial India, Cambridge 1998. Imperialism“ oder „Liberal Empire“? Niall Fergusons Empire- 09 Vgl. Catherine B. Asher/Cynthia Talbot, India before Euro- Apologetik im Zeichen der „Anglobalization“, in: Zeithistorische pe, Cambridge 2006, S. 260–64. Vgl. dazu ausführlich Philip Forschungen 3/2006, S. 121–128. J. Stern, The Company-State. Corporate Sovereignty and the 05 Vgl. Michael Mann, „Torchbearers upon the path of Early Modern Foundations of the British Empire in India, Oxford progress“. Britain’s Ideology of „Material and Moral Progress“ 2012. in India: An Introductory Essay, in: ders./Harald Fischer-Tiné 10 Vgl. dazu die Beiträge in Giorgio Riello/Tirthankar Roy (Hrsg.), Colonialism as Civilizing Mission: Cultural Ideology in (Hrsg.), How India Clothed the World: The World of South Asian British India, London 2004, S. 1–26. Textiles, 1500–1850, Leiden 2009. 05
APuZ 30–31/2022 Der „kriegskapitalistischen“ Logik der OIK trialisierung15 ging teilweise auch ein de-skilling folgend begannen die Briten, den indischen We- einher, das heißt, innerhalb von zwei Generatio- berinnen und Spinnern klare Vorgaben bezüg- nen ging wertvolles handwerkliches Wissen ver- lich Design und Quantität der gewünschten loren, das über Jahrhunderte entscheidend zu Ware zu oktroyieren.11 Zudem konnten sie den Aufstieg und Blüte der indischen Baumwollin- Handel nunmehr weitgehend mit dem in Indi- dustrie beigetragen hatte. en generierten Steueraufkommen finanzieren. Entgegen der optimistischen Behauptung von Die Textilherstellung in Indien, die im späten Niall Ferguson, Indien habe während der Herr- 18. Jahrhundert mehrere Millionen Menschen schaftszeit von Queen Victoria (1837–1901) auf- beschäftigte, geriet erst in eine massive Krise, als grund der britischen Modernisierungsimpulse die Industrielle Revolution im Vereinigten Kö- und angeblich erfolgter substanzieller Investiti- nigreich an Fahrt aufnahm und der Weltmarkt onen in neue Industrien einen unvergleichlichen zunehmend mit billigen maschinell produzier- Boom erlebt,16 lassen sich in jener Phase also viel- ten Textilien überflutet wurde. In den beiden mehr Interventionen der imperialen Obrigkei- Jahrzehnten nach 1815 büßte Indien seine Rol- ten beobachten, die ganz im Gegenteil zu einer le als führende Exportregion für Baumwolltu- Schwächung der indischen Wirtschaft und einer che und Textilien endgültig ein und entwickelte immer größeren Abhängigkeit der Kolonie vom sich stattdessen immer mehr zum größten Ab- imperialen „Mutterland“ führten. Zum einen ent- satzmarkt für industriegefertigte Massenware wickelte sich unter dem protektionistischen bri- aus den nordenglischen Textilzentren Lancashire tischen Kolonialregime, das die heimische Tex- and Cheshire.12 tilindustrie vor etwaiger indischer Konkurrenz Während in anderen Teilen Indiens durchaus schützen wollte, bis ins letzte Viertel des 19. Jahr- Nischen für lokale Textilproduktionen beste- hunderts kein nennenswerter Technologietrans- hen blieben, wurden in der vormaligen Textil- fer von Europa nach Indien.17 Dampfmaschinen hochburg Bengalen Hunderttausende Spinner und mechanische Webstühle beispielsweise wur- innen und Weber infolge des durch englische den nur zögernd und in relativ kleinen Stückzah- Importware ausgelösten Preisdrucks arbeitslos. len nach Indien eingeführt. Zum anderen fand Die meisten von ihnen sahen sich im Laufe der auch der nötige Wissenstransfer nicht in nen- über 30 Jahre andauernden Wirtschaftsdepres- nenswertem Umfang statt. Die wenigen englisch- sion (etwa 1820–1855) gezwungen, ihren Le- sprachigen Universitäten und höheren Bildungs- bensunterhalt wieder in der Landwirtschaft zu einrichtungen Britisch-Indiens waren ganz auf verdienen.13 Der Historiker David Washbrook die Ausbildung der niederen und mittleren Rän- spricht in diesem Zusammenhang von einem ge der Kolonialverwaltung ausgerichtet und bo- Prozess der „Verbäuerlichung“ oder peasanti- ten der (verschwindend kleinen) indischen Elite, zation.14 Mit dieser schleichenden De-Indus die es sich leisten konnte, ihre Kinder dort unter- richten zu lassen, zwar den gesamten Kanon der europäischen Geistes- und Staatswissenschaften, 11 Das Konzept des „Kriegskapitalismus“ wurde von dem Histo- aber Naturwissenschaften und Technikdiszipli- riker Sven Beckert entworfen, um die rüden Praktiken der spät- merkantilistischen Handelsexpansion Europas zu beschreiben. Vgl. Sven Beckert, King Cotton: Eine Geschichte des globalen 15 Unter Historiker*innen gibt es eine intensive Debatte Kapitalismus, München 2014, S. 55–59. um das Ausmaß und die Langzeitfolgen dieses Prozesses. Für 12 Vgl. Meena Menon/Uzramma, A Frayed History: The Jour- kontroverse Positionen vgl. u. a. David A. Washbrook, The ney of Indian Cotton, Neu-Delhi 2017, S. 14–19; Giorgio Riello, Political Economy of Colonial India, in: Harald Fischer-Tiné/ Cotton: The Fabric That Made the Modern World, Cambridge Maria Framke (Hrsg.), The Routledge Handbook of the History 2013, S. 221–234. of Colonialism in South Asia, London 2022, S. 26–32; Tirthankar 13 Vgl. Christopher A. Bayly, Indian Society and the Making Roy, The Economic History of India (1857–1947), Neu-Delhi of the British Empire, Cambridge 1987, S. 106–169. Siehe auch 20113, S. 59–61. Eine vermittelnde Zwischenposition findet sich Rosalind O’Hanlon, Colonialism and Social Identities in Flux: bei Dietmar Rothermund, The De-Industrialization of India, in: Class, Caste, and Religious Community, in: Douglas Peers/Nan- ders., Empires in Indian History and Other Essays, Neu-Delhi dini Gooptu (Hrsg.), India and the British Empire, Oxford 2012, 2013, S. 163–177. S. 107–113. 16 Vgl. Ferguson 2003 (Anm. 4), S. 164. 14 Vgl. David A. Washbrook, Progress and Problems: South 17 Vgl. Prasannan Parthasarathi, Why Europe Grew Rich and Asian Economic and Social History c. 1720–1860, in: Modern Asia Did Not: Global Economic Divergence 1600–1850, Cam- Asian Studies 1/1988, S. 80–83. bridge 2011, S. 223–263. 06
Indische Unabhängigkeit APuZ nen wurden zum Leidwesen vieler indischer Un- rierten Staaten rasch.21 Die negativen Auswirkun- ternehmer und Reformerinnen erst sehr spät und gen der überstürzten Umstellung der Anbauprak- nur vereinzelt angeboten.18 tiken auf die Bedürfnisse des Weltmarktes sollten Wie bereits angedeutet, lässt sich parallel nur kurze Zeit später deutlich werden, als Süd- zur Retardierung der industriellen Entwicklung und Zentralindien in den 1870er und 1890er Jah- durch das britische Kolonialregime ein Prozess ren von zwei großen Hungersnöten heimgesucht beobachten, der Indien etwa ab dem zweiten wurden. In der wichtigsten Baumwollregion Be- Drittel des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem rar beispielsweise fielen Hunderttausende diesen Maße zum Lieferanten von für den Export be- Versorgungskrisen zum Opfer, weil ihre quali- stimmte Agrarprodukten machte. Teilweise un- tativ mittelmäßige Baumwolle sich in einer Zeit ter Zwang wurden Teile der indischen Landbe- sinkender Preise kaum mehr verkaufen ließ und völkerung von den kolonialen Obrigkeiten dazu die vorher betriebene Subsistenzwirtschaft in- gebracht, kommerziell lukrative Nutzfrüchte zwischen weitgehend der kapitalistischen Cash- wie Indigo (beliebt als Färbemittel für die glo- Crop-Monokultur gewichen war.22 bale Textilindustrie), Mohn (für die Opiumpro- Da eine Industrialisierung Indiens seitens der duktion, mit der ein Teil des britischen Handels britischen Machthaber nicht erwünscht war und mit China finanziert wurde), Zucker oder Jute der zunehmend kommerzialisierten und globa- anzubauen.19 In der zweiten Hälfte des 19. Jahr- lisierten Landwirtschaft daher eine ganz zentra- hunderts folgten weitere Plantagenprodukte, ins- le Bedeutung dafür zukam, Steuern zu generieren besondere Tee und Baumwolle.20 Durch den Kol- und für wirtschaftliche Rentabilität im Allgemei- laps der Baumwollexporte aus den Südstaaten der nen zu sorgen, unternahm die imperiale Regie- USA während des Sezessionskrieges (1861–1865) rung alles in ihrer Macht Stehende, um den so- war die Anpflanzung indischer Baumwolle ganz zialen Frieden in den ländlichen Gebieten und besonders lukrativ geworden, und zahlreiche damit die Stabilität der Agrarproduktion zu ga- Bauern in Zentralindien wurden dazu gepresst, rantieren. Zentrales Element ihrer Strategie war den Anbau von für den lokalen Markt bestimm- die Kooptation ausgesuchter Segmente der loka- tem Getreide und Hülsenfrüchten zugunsten der len Bevölkerung.23 Gegen Ende des 19. Jahrhun- weißen fibre of fortune aufzugeben, damit die derts kristallisierte sich daneben immer stärker Textilproduktion in Europa weiterlaufen konn- das Bemühen heraus, vor allem Großgrundbesit- te. Dieser erzwungene Strukturwandel brach- zerinnen und Bauern als loyale Partner des Raj, te zwar einen kurzfristigen Wirtschaftsboom für wie die britische Herrschaft in Indien auch be- die Anbauregionen und die cotton capital Bom- zeichnet wird, zu gewinnen. Vermeintlich zum bay, dieser verpuffte jedoch nach dem Ende des Schutz der idealisierten bäuerlichen Bevölke- Sezessionskrieges und der Wiederaufnahme der rung wurden daher unter anderem neue Geset- Baumwollexporte aus den ehemaligen konföde- ze geschaffen, die diese als sogenannte agricultu- ral communities festschrieben und den Verkauf von Agrarland an andere gesellschaftliche Grup- 18 Vgl. Michael P. Brunner, Schooling the Subcontinent: State, pierungen praktisch untersagten.24 Statt die von Space and Society, and the Dynamics of Education in Colonial der imperialen Rechtfertigungsrhetorik verspro- South Asia, in: Fischer-Tiné/Framke (Anm. 15), S. 252–265, hier S. 258 f. chene Liberalisierung und Marktflexibilität sowie 19 Vgl. u. a. Dietmar Rothermund, Indiens wirtschaftliche Ent- den „Fortschritt“ nach europäischem Vorbild zu wicklung: Von der Kolonialherrschaft bis zur Gegenwart, Pader- bringen, führte die eigennützige Orientierung des born 1985, S. 39 f.; Ulbe Bosma, The Sugar Plantation in India and Indonesia: Industrial Production 1770–2010, Cambridge 2013, S. 44–87; Tara Sethia, The Rise of the Jute Manufacturing 21 Vgl. Sven Beckert, Emancipation and Empire: Reconstruc- Industry in Colonial India: A Global Perspective, in: Journal of ting in Worldwide Web of Cotton Production in the Age of the World History 1/1996, S. 71–99. American Civil War, in: American Historical Review 5/2004, 20 Zur Entwicklung der seit den 1870er Jahren wirtschaftlich S. 1405–1438. überaus bedeutenden Teeindustrie in Indien vgl. auch Erika 22 Vgl. Beckert (Anm. 11), S. 314. Rappaport, A Thirst for Empire. How Tea Shaped the Modern 23 Vgl. David A. Washbrook, India 1818–1860: The Two Faces World, Princeton 2017, S. 85–119; Andrew B. Liu, The Birth of of Colonialism, in: Andrew Porter (Hrsg.), The Oxford History of a Noble Tea Country: On the Geography of Colonial Capital the British Empire, Bd. V: The Nineteenth Century, Oxford 1999, and the Origins of Indian Tea, in: Journal of Historical Sociology S. 395–399. 1/2010, S. 73–10. 24 Vgl. Misra (Anm. 6), S. 141. 07
APuZ 30–31/2022 britischen Kolonialregimes daher in vielen Fällen Tatsache wird häufig als ein Beleg für die gewal- zu einer Zementierung bestehender Hierarchi- tige Modernisierungsleistung des britischen Ko- en und einer umfassenden „Traditionalisierung“ lonialregimes angeführt.28 Auch diese Deutung der indischen Gesellschaft.25 Die Interventionen steht in Kontinuität mit zeitgenössischen Inter- des Kolonialstaates zielten vor allem darauf, re- pretationen. Nicht nur eine Reihe kolonialer Ver- gelmäßige Steuereinnahmen sicherzustellen und waltungsbeamter vor Ort, sondern auch promi- indische Truppen für die anglo-indische Koloni- nente politische Kommentatoren in Europa, wie alarmee zu rekrutieren, und stärkten daher insbe- Karl Marx, sahen in der Eisenbahn ein nützliches sondere konservative soziale Gruppen und ideo- Werkzeug, um Englands weltgeschichtliche Mo- logische Tendenzen in Indien, die diese Agenda dernisierungsrolle zu erfüllen.29 unterstützten. Die jüngere historische Forschung hat sol- che Deutungen zunehmend infrage gestellt. Zum MIT VOLLDAMPF einen kann kein Zweifel daran bestehen, dass IN DIE MODERNE? die einseitigen wirtschaftlichen und geostrategi- ROLLE DER EISENBAHN schen Interessen der Kolonialmacht den Ausbau des Streckennetzes bestimmten und keineswegs Spannungen zwischen der von den Fürsprechern der mögliche Nutzen für die indische Bevölke- des britischen Imperialismus bemühten Fort- rung. Eisenbahnlinien, die den Transport von schrittsrhetorik und den materiellen und sozialen landwirtschaftlichen Exportgütern zu den See- Realitäten des Raj, die weitgehend von kulturel- häfen ermöglichten, und solche, die rasche Trup- ler Arroganz und dem Primat herrschaftsprag- penverschiebungen zwischen Indiens wichtigsten matischer Interessen bestimmt waren, lassen sich Garnisonsstädten garantierten, genossen zunächst auch in anderen Feldern nachweisen. Die infra- absolute Priorität. Erst zu Beginn des 20. Jahr- strukturelle Erschließung des indischen Subkon- hunderts fanden die Mobilitätswünsche der lo- tinents durch den Eisenbahnbau bietet dafür ein kalen Bevölkerung zumindest gelegentlich Be- besonders schlagendes Beispiel. In der viktoriani- achtung. Das etwas chaotische Miteinander von schen Ära war die Eisenbahn nicht nur ein wich- staatlichen und privat betriebenen Strecken, die tiges Transportmittel, ohne das die Industriali- teilweise sogar unterschiedliche Spurbreiten be- sierung auf den britischen Inseln wohl nicht im nutzten, zeugte jedoch nicht von langfristiger In- gleichen Tempo hätte ablaufen können, sie galt frastrukturplanung und erschwerte die Nutzung auch als Inbegriff von Mobilität, Modernität und durch die indische Bevölkerung zusätzlich.30 Fortschritt, sodass man sie schon kurz nach ihrer Wie bei der Textilindustrie verlief der Techno- Implementierung auf den Britischen Inseln auch logietransfer auch hier äußerst schleppend. Von in Britanniens Empire exportieren wollte.26 In den knapp 15 000 Lokomotiven, die zwischen Indien wurde die erste Versuchsstrecke zwischen 1853 und 1947 auf dem indischen Subkontinent Bombay und Thane bereits 1853 eröffnet. Ab den zum Einsatz kamen, wurden weniger als 700 in 1860er Jahren erfolgte dann der rasante Ausbau Indien selbst produziert. Der Rest wurde – zum des Streckennetzes, der Indiens Eisenbahnnetz beträchtlichen Nutzen der britischen Schwerin- bereits kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrie- dustrie – aus Großbritannien importiert.31 Auch ges zum viertgrößten weltweit machte.27 Diese in anderer Hinsicht erweist sich das häufig pos- tulierte Korrelat zwischen kolonialem Eisen- bahnbau und Modernisierungsagenda als proble- 25 Douglas M. Peers, State Power and Colonialism, in: Peers/ matisch: Der Historiker Ravi Ahuja hat zurecht Gooptu (Anm. 13), S. 41. darauf hingewiesen, dass die Konstruktion eines 26 Vgl. Marian Aguiar, Tracking Modernity: India’s Railway and the Culture of Mobility, Minneapolis 2011. Für eine de- taillierte kultur- und sozialgeschichtliche Analyse der Rolle der 28 Vgl. beispielsweise Ferguson 2011 (Anm. 4), S. 225. Eisenbahnen in Britisch-Indien siehe auch Aparijita Mukho- 29 Vgl. David Arnold, Science, Technology and Medicine in Bri- padhyay, Imperial Technology and „Native“ Agency: A Social tish India, Cambridge 2000, S. 110 f.; Karl Marx, Die zukünftigen History of Railways in Colonial India, Abingdon 2018. Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: Karl Marx– 27 Vgl. John Hurd, A Huge Railway System, But No Sustained Friedrich Engels Werke, Bd. 9, Berlin (Ost) 1960, S. 220–226. Economic Development. The Company Perspective, 1884–1939: 30 Vgl. Ian J. Kerr, Engines of Change: The Railroads That Built Some Hypotheses, in: Ian J. Kerr (Hrsg.), 27 Down. New Depar- India, Ranikhet 2007, S. 71–85. tures in Indian Railway Studies, Ranikhet 2007, S. 316. 31 Vgl. Arnold (Anm. 29), S. 111. 08
Indische Unabhängigkeit APuZ beträchtlichen Teils des Streckennetzes unter pri- sche Gepflogenheiten und die als überlegen emp- mitivsten Bedingungen und durch die planmä- fundene politische Kultur Großbritanniens hin- ßige Ausbeutung ungeschulter indischer Arbeit gewiesen. Eine radikale Reform von Verwaltung er*innen, viele von ihnen Frauen und Kinder, und Politik galt insofern als besonders begrüßens- realisiert wurde.32 Besondere Erwähnung ver- wert, als vorkoloniale Herrschaftsformen in Indi- dient dabei der gezielte Einsatz der arbeitslosen en und anderen „orientalischen“ Gesellschaften ab Landbevölkerung, die von den großen Versor- dem späten 18. Jahrhundert im Westen häufig als gungskrisen im letzten Viertel des 19. Jahrhun- rückständig, irrational und despotisch porträtiert derts betroffen war. Weil die verantwortlichen wurden.35 Eine erfolgreiche „Hebung“ der kolo- Kolonialbeamten keine falschen Anreize setzen nisierten Eliten durch das Verbreiten europäischer wollten, erhielten die Opfer der Hungersnöte ihre Werte und Standards galt vielen daher als Kern- kärgliche Lebensmittelration nur, wenn sie ihre element der selbstauferlegten Zivilisationsmission Arbeitskraft für kolonialstaatliche Infrastruktur- des Raj. Auch in diesem Fall ist jedoch Skepsis ge- projekte zur Verfügung stellten. Ein beachtlicher boten: Eine kritiklose Übernahme des imperialen Teil der Straßen und Eisenbahntrassen, die in den Fortschrittsnarrativs würde wiederum den Blick letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts von auf eine Reihe problematischer Aspekte verstel- den Briten in Indien angelegt wurden, kam daher len, die für Indien mit der Einführung moderner durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der vul- Verwaltungspraktiken und selektiver Elemente nerabelsten Gruppen der indischen Bevölkerung der repräsentativen Demokratie verbunden waren. zustande.33 Diese zentrale Rolle von erzwunge- Schon die Bediensteten der OIK sahen die ner Arbeit legt den Schluss nahe, das vermeintli- Verwaltung der riesigen Territorien, die unter che Modernisierungsprojekt Eisenbahnbau habe ihrer Kontrolle standen, und die Beherrschung durchaus auch vormoderne – um nicht zu sagen einer ethnisch, sprachlich und religiös äußerst antimoderne – Züge getragen. heterogenen Bevölkerung als gewaltige Heraus- Gleichzeitig verhinderte die Angst der Ko- forderung an. Dieser suchten sie dadurch zu be- lonialregierung vor einem Eingriff in die Selbst- gegnen, dass sie ihre Wissenslücken bezüglich regulierung des Marktes, dass man das Potenzial Land und Leuten schlossen. Seit den 1770er Jah- der neuen Transporttechnik nutzte, um Getrei- ren wurde die Beherrschung des Subkontinents deüberschüsse aus anderen Provinzen Indiens in somit auch von einem Prozess permanenter Wis- die vom Hunger betroffenen Gebiete im Süden sensproduktion begleitet. In Kollaboration mit zu schaffen, wodurch vermutlich das Leben von einheimischen „Experten“ – insbesondere schrif- Hunderttausenden Menschen hätte gerettet wer- tenkundige religiöse Eliten wie beispielsweise den können.34 hinduistische Brahmanen oder muslimische Ge- lehrte (Ulama) spielten hierbei eine entscheiden- KNOWING THE COUNTRY: de Rolle – studierten die neuen Herrscher un- WISSENSCHAFTLICHE ter anderem indische Sprachen und Religionen. DATENERHEBUNG Noch wichtiger aber war es, unmittelbar verwert- bare Wissensbestände zu erschließen, die ihnen Apologet*innen des Empire haben häufig auf die einen Einblick in lokale Formen der Jurisdiktion angeblich segensreiche Wirkung der Etablierung oder bewährte Methoden der Steuererhebung ge- eines rationalen Verwaltungsapparates und des währten sowie die kommerzielle Nutzung loka- Heranführens der lokalen Eliten an demokrati- ler Heilkräuter oder Nutzfrüchte erlaubte.36 Die Tatsache, dass das Kolonialregime von dem großen indischen Aufstand Mitte der 1850er 32 Vgl. Ravi Ahuja, „The Bridge-Builders“. Some Notes on Rail- ways, Pilgrimage and the British „Civilizing Mission“ in Colonial India, in: Fischer-Tiné/Mann (Anm. 3), S. 195–216. 35 Vgl. Nicholas Dirks, The Scandal of Empire: India and the 33 Vgl. Stuart Sweeney, Indian Railways and Famines, Making of Imperial Britain, Cambridge, MA 2006, S. 272–279. 1875–1914: Magic Wheels and Empty Stomachs, in: Essays in Siehe dazu ausführlich Jennifer Pitts, A Turn to Empire. The Rise Economic and Business History Bd. 26/2008, S. 147–158. of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton 2006. 34 Für eine detaillierte Analyse der Rolle des Kolonialstaates 36 Vgl. dazu Bernard S. Cohn, Colonialism and Its Forms of beim Management der großen Hungerkrisen im spätkolonialen Knowledge. The British in India, Princeton 1996; Harald Fischer- Indien vgl. auch Mike Davis, Late Victorian Holocausts: El Nino Tiné, Pidgin-Knowledge: Wissen und Kolonialismus, Zürich–Ber- Famines and the Making of the Third World, London 2001. lin 2013. 09
APuZ 30–31/2022 Jahre überrascht worden war, wurde weithin als zugänglich war, leistete der Kultivierung militan- Beleg dafür gelesen, dass man noch nicht über das ter Identitätspolitiken Vorschub und beförderte nötige Herrschaftswissen verfügte. In den De- insbesondere die Rivalität zwischen den Angehö- kaden nach 1860 wurden daher die Anstrengun- rigen der beiden größten Religionsgemeinschaf- gen zur wissenschaftlichen Durchdringung und ten, Hindus und Muslimen. Durch die schrittwei- Kategorisierung der beherrschten Territorien in se Einführung von Elementen der repräsentativen Südasien und ihrer Bewohner*innen weiter in- Demokratie im Rahmen der Verfassungsreformen tensiviert und systematisiert. In einer Reihe groß- von 1909, 1921 und 1935 wurde die Frage der je- angelegter surveys versuchte der Kolonialstaat, die weiligen Gruppengröße zudem mit dem Zugang Topografie und die geostrategische und kommer- zu politischer Macht verknüpft und bereits beste- zielle Nutzbarkeit Indiens zu erfassen und zu do- hende interne Konflikte und Spaltungen der indi- kumentieren. Gleichzeitig sollte die junge Wis- schen Gesellschaft zusätzlich befördert. senschaft der Anthropologie Erkenntnisse über Den Briten die Alleinschuld für diese Ent- die castes and tribes of India, also die verschie- wicklungen zuzuweisen, würde allerdings die denen Hindukasten und die sogenannte Stam- Handlungsmacht der indischen Bevölkerung in mesbevölkerung in den abgelegen Regionen des unzulässiger Weise negieren. Schon lange vor Subkontinents, liefern.37 Den wichtigsten Ein- der Herrschaftsübernahme der OIK hatten in- schnitt stellte jedoch fraglos die Einführung einer dische Herrscher des Öfteren in kleinerem Maß- im Zehnjahresturnus eingeführten Volkzählung in stab versucht, Volkszählungen durchzuführen den 1870er Jahren dar. Bis 1921 wurden im Rah- und statistische Daten für eine möglichst effekti- men dieses Zensus auch detaillierte Fragen nach ve Steuerveranlagung zu erheben.39 Somit fanden der Religions- und Kastenzugehörigkeit der Be- die kolonialen Verwaltungsreformen nicht in ei- völkerung gestellt, von deren Beantwortung man nem Vakuum statt, sondern schlossen an indige- sich wichtige Hinweise für die Optimierung von ne Praktiken an. Es würde auch gewiss zu kurz Verwaltung und größere Gerechtigkeit bei der po- greifen, in der kolonialen Zähl- und Kategorisie- litischen Repräsentation einzelner Bevölkerungs- rungswut die Hauptursache für die zusammen gruppen versprach.38 Wie39 häufig in kolonialen mit der Entlassung in die Unabhängigkeit er- Kontexten wurde die ursprüngliche Intention der folgten Teilung des britischen Kolonialreichs in Verantwortlichen für dieser Verwaltungsmaßnah- Südasien in die beiden verfeindeten Bruderstaa- me jedoch bald völlig von deren unerwünschten ten Indien und Pakistan zu sehen. Gleichwohl ist Nebenwirkungen überlagert. Durch den Zwang, unbestritten, dass sie diese Entwicklung zumin- sich auf eine einzige religiöse und soziale Identi- dest katalysierten. Entscheidender für das zen- tät festzulegen, verschwand die in der Praxis bis trale Argument dieses Beitrages ist jedoch, dass dato vorhandene Flexibilität der sozialen und re- auch dieses Beispiel zeigt, wie sehr die populäre ligiösen Ordnung, und die Religionsgemeinschaf- Gleichsetzung der britischen Kolonialherrschaft ten und Kasten wurden gleichsam zu rigiden mo- in Indien mit einer gesellschaftlichen Modernisie- nolithischen Blöcken eingefroren. Die präzise rungsagenda und der Verbreitung von Rationalis- Quantifizierung der jeweiligen Gruppengröße, mus, Säkularismus und Egalitarismus in die Irre die nun in den mit Grafiken und statistischen Ta- führt. Ungeachtet der teilweise wohlmeinenden bellen angereicherten Zensusberichten allgemein Intentionen der kolonialen Eliten führte die er- hoffte Rationalisierung der Verwaltung zu einer Stärkung und Verhärtung „vormoderner“ Identi- 37 Vgl. exemplarisch Edgar Thurston, Castes and Tribes of täten und leistete damit einmal mehr eher einer South India, Madras 1909. politisch fatalen „Traditionalisierung“ als einer 38 Vgl. R. B. Bhagat, Census Enumeration, Religious Identity and Communal Polarization in India, in: Asian Ethnicity 4/2013, Modernisierung Indiens Vorschub. S. 434–448; Padmanabh Samarendra, Census in Colonial India and the Birth of Caste, in: Economic and Political Weekly HARALD FISCHER-TINÉ 33/2011, S. 51–58; Michael Haan, Numbers in Nirvana: How ist Professor für die Geschichte der modernen Welt the 1872–1921 Indian Censuses Helped Operationalise „Hindu- an der ETH Zürich mit einem Schwerpunkt auf der ism“, in: Religion 1/2005, S. 13–30. 39 Vgl. Sumit Guha, The Politics of Identity and Enumeration Geschichte Indiens im 19. und 20. Jahrhundert in in India c. 1600–1990, in: Comparative Studies in Society and ihren imperialen und globalen Bezügen. History 1/2003, S. 148–167. harald.fischertine@gess.ethz.ch 10
Indische Unabhängigkeit APuZ Indien im 18. Jahrhundert Südasien im 18. Jahrhundert 70° 75° 80° 85° 90° 95° 35° Kabul Peschawar In d Srinagar u s Chorasan C h i n e s i s c h e s R e i c h Amritsar Faisalabad Lahore Chandigarh Ti b e t Ludhiana 30° Multan Lhasa N e Delhi p a Ga l ng Kathmandu Sukkur e Avadh Bhutan Rajpu t a n a s Jaipur t ra Agra Lacknau Gorakhpur m apu Sindh Jodhpur Brah Cawnpore Bihar Hyderabad Gwalior Allahabad Benares Patna 25° Kota Ga Varanasi us ng es In d Bun Dhaka eis del kh B e n g a l e n Nördlicher Wendekr Ahmadabad an Ranchi Indore Bhopal Jabalpur Chandarnagar Serampore d Rajkot Cambay Dannemarksnagore 95° G u j a r a t Kalkutta Konbaung la Burhanpur ns Porbandar Surat Nagpur ho Raipur Balasore a B Berar Nagpur s Cuttack Daman s 20° Diu Dadra Nasik i r Bassein Nagar Aurangabad Golf von O Insel Salsette Haveli a Bombay Go dav ri Brahmapur Bengalen Tschoul Pune Hyderabad r s ka 1 S ar Bimilipatnam Hyderabad l. Vishakhapatnam Arabisches rd Kakinada Nö Yanam Kris Meer hn a Vijayawada Palikol Masulipatnam 15° Goa Nizapatam c Armagon M i Mysore Pulicat Madras a t Bhatkal Bangalore Mylapore l a Mangalore Sadras Andamanen a 1 Pondichéry Parangipettai b Cannanore n Mahe Cuddalore a Coimbatore Trankebar Calicut r Thanjavur Karikal r 10° Nagapattinam Kranganur Nagaposttinam a Cochin Tra Madurai Jaffna v an C Oddeway Torre cor Quilon Tuticorin Colachel Ceylon e Golf von Mannar Nikobaren ab 1796 brit. Neu-Dänemark Colombo Kandy 5° Malediven Indischer Ozean Mogulreich Gebietsstand 1793 um 1700 um 1793 Marathenkonföderation Koloniale Stützpunkte weitere unabhängige Fürstenstaaten britisch portugiesisch britische Kolonie 1: 20 000 000 70°niederländisch dänisch 75° 80° portugiesische Kolonie 85° 90° 0 500 km französisch wechselnde Kontrolle niederländische Kolonie Äquator 0° 1 1741–1754 französisch © mr-kartographie, Gotha 2022 dänische Kolonie 11
APuZ 30–31/2022 AUF DEM WEG ZU UNABHÄNGIGKEIT UND TEILUNG Widerstand gegen die koloniale Herrschaft in Britisch-Indien Kama Maclean Auf die Dekolonisierung Britisch-Indiens folgten me der Muslime akzeptiert, obwohl es durchaus 1947 die Teilung des Landes, die von ethnischer auch Muslime gab, die sich von der Muslimliga Gewalt begleitet wurde, und die Gründung zwei- nicht vertreten fühlten.01 er Staaten, dem mehrheitlich hinduistischen Indi- In der vom INC geführten Massenbewe- en und dem mehrheitlich muslimischen Pakistan. gung schwang stets auch ein radikaler antikolo- In diesem Beitrag beleuchte ich die historischen, nialer Nationalismus mit, der politische Gewalt politischen und gesellschaftlichen Kräfte im Zu- als Mittel der Eskalation bei der Dekolonisierung sammenhang mit dem Widerstand gegen die Ko- einsetzte. Gewalttätige Aktionen wurden zwar lonialherrschaft und gehe der Frage nach, warum schnell unterbunden, aber dennoch von nationa- die Religion im Kampf um die Befreiung ein so listischen Organisationen genutzt, um den Briten großes Spaltungspotenzial entwickelte. aufzuzeigen, welche Folgen eine Verweigerung Das Zusammentreffen verschiedener Fakto- politischer Reformen haben könnte.02 Daraus ren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schuf entwickelte sich ein Muster, bei dem konstitutio- die Bedingungen für eine nationalistische Mas- nelle Reformen mit repressiver Notstandsgesetz- senbewegung, die nicht ignoriert werden konnte. gebung verbunden wurde. Durch die Ausweitung Der Indische Nationalkongress (Indian Nation der Notstandsgesetze, die die bürgerlichen Frei- al Congress; INC) hatte im Laufe der Zeit den heiten außer Kraft setzten, aber gleichzeitig eine Druck auf die britische Kolonialregierung immer stärkere Vertretung der indischen Bevölkerung weiter erhöht. 1885 mit dem Ziel gegründet, den in der Regierung ermöglichten, legte der spätko- indischen Einfluss in der Politik auszubauen, hat- loniale Staat den Grundstein für einen Staat mit te die Kongresspartei in der Zwischenkriegszeit weit reichenden Befugnissen.03 Dass sich der- ein Programm des gewaltlosen Protests, des Boy- artige Maßnahmen in Indien bis heute gehalten kotts und des zivilen Ungehorsams entwickelt, haben, einschließlich der aus dem 19. Jahrhun- um politische Reformen durchzusetzen. Ur- dert stammenden Gesetze gegen Aufwiegelung, sprünglich wurde dieses Programm auch von der ist Teil seines kolonialen Erbes und wird der- 1906 gegründeten All-indischen Muslimliga un- zeit vom indischen Verfassungsgericht auf seine terstützt, doch zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Rechtmäßigkeit überprüft. Briten bereit erklärten, bei einer Reihe von Kon- ferenzen in London über politische Reformen zu NATUR DES KOLONIALSTAATS sprechen, hatten sich zwischen dem INC unter der Führung von Jawaharlal Nehru (1889–1964) In diesem Zusammenhang ist zu beachten, wie und der Muslimliga bereits tiefe politische Grä- die imperialen Ziele und die Kolonialpolitik ben aufgetan. Die Muslimliga hatte sich in den des britischen Empire den Charakter des indi- 1930er und 1940er Jahren nicht den Aktionen schen Antikolonialismus prägten. Für das bri- des INC angeschlossen, sondern weiterhin stra- tische Weltreich war die Kolonialisierung Süd- tegische Verbindungen zur Regierung gepflegt. asiens extrem lukrativ. Wirtschaftshistoriker Ihr Anführer Muhammad Ali Jinnah (1876–1948) haben das Ausmaß der Abhängigkeit gegen- hatte dank seiner Unterstützung der Briten im über den Briten aufgezeigt, in das Indien auf- Ersten Weltkrieg großes Ansehen erworben und grund der politischen Ökonomie des Kolonia- wurde von den Kolonialherren als einzige Stim- lismus Mitte des 19. Jahrhunderts geriet.04 Diese 12
Indische Unabhängigkeit APuZ Entwicklung wurde durch die Fortschritte in für die Anhänger des Imperialismus, die davon der Dampfschifffahrt Ende des 19. Jahrhunderts ausgegangen waren, dass die britische Herrschaft noch verstärkt, durch die der Export indischer in Indien unerschütterlich war. Agrarprodukte – Baumwolle, Jute, Tee –, der für In der aktuellen Forschung wird das Ausmaß die Industrielle Revolution1234 in England essenziell der direkt oder indirekt angewandten Gewalt be- war, immer effizienter wurde. Umgekehrt wurde tont, mit der im gesamten britischen Empire ver- Indien zu einem wichtigen Absatzmarkt für bri- sucht wurde, die Kontrolle zu bewahren.06 Die- tische Produkte. Diese finanziellen Motive wur- ser Trend in der Geschichtswissenschaft löst die den jedoch von einer liberalen imperialen Ideo- Interpretation ab, dass die Briten vor allem libe- logie überlagert, die sich einer zivilisatorischen rale Ziele gehabt hätten und das Leben der Kolo- Mission verschrieben hatte, um Indien Prinzipi- nisierten durch die Gaben der Moderne in Form en des Individualismus und des Fortschritts nä- von Bildung, Wissenschaft und Vernunft zu ver- her zu bringen, die dem Land nach Ansicht der bessern suchten. Um die oft gewalttätigen Reak- Briten fehlten. Das verstörende Ausmaß der Ge- tionen auf den kolonialen Staat zu verstehen, soll- walt, auf das die Briten zurückgriffen, um dieses te man sich daher mit der Gewalt beschäftigen, vermeintlich liberale Projekt umzusetzen, zeugt mit der die Briten ihre Dominanz in Südasien vom Widerspruch, der dem britischen Imperia- durchsetzten, von Institutionen wie dem Militär lismus zugrunde lag.05 und der Polizei bis hin zur alltäglichen „weißen Bereits vor dem gewaltsamen Aufstand von Gewalt“ gegen die einheimische Bevölkerung, 1857, in dessen Folge die britische Krone die die für den Kolonialismus so typisch war.07 Wenn Herrschaft über die Territorien der Britischen man dieses Geflecht von Gewalt und Macht in Ostindien-Kompanie übernahm, hatte es in Indi- Südasien berücksichtigt, kann man die bei der en eine lange Geschichte des Widerstands gege- Dekolonisierung von 1947 auftretende ethnische ben. Der Aufstand erfolgte als Reaktion auf die Gewalt besser verstehen. Politik der Ostindien-Kompanie, einer Handels- Aus Sicht der Briten war einer der wichtigs- gesellschaft, die zum Schutz und zur Erweite- ten Faktoren, die zum Aufstand von 1857 führ- rung ihrer Interessen eine eigene Armee mit in- ten, der in der indischen Bevölkerung herrschen- dischen Soldaten unterhielt. Im Mai 1857 lehnten de Eindruck, ihre religiösen Praktiken würden sich einige indische Regimenter dieser Armee ge- durch die interventionistische Politik der Ostin- gen die britischen Befehlshaber auf. Der sich da- dien-Kompanie und durch die von ihr eingeführ- raus entwickelnde Aufstand war der größte in ei- ten Technologien bedroht. Dazu kam, dass christ- ner langen Reihe kleinerer Rebellionen gegen die liche Missionare unterstützt und die Inder im Kompanie, die seit dem 17. Jahrhundert in Indi- Vergleich zu anderen Untertanen im Empire dis- en aktiv war. Die Brutalität der Aufständischen kriminiert wurden. Der Stellenwert, den man die- und das Ausmaß der „großen indischen Meute- sen Anliegen beimaß, zeigt sich in der von Köni- rei“ überraschten viele Briten. Dass sich die in- gin Victoria 1858 erlassenen Proklamation, die für dischen Sepoys gegen ihre britischen Komman- diejenigen, die den britischen Imperialismus in die deure erhoben und von verschiedenen Teilen der Verantwortung nehmen wollten, eine der Magna Bevölkerung unterstützt wurden, war ein Schock Carta vergleichbare Bedeutung erlangte. Das Ver- sprechen der Königin, sich nicht in religiöse An- 01 Vgl. Ali Usman Qasmi/Megan Robb (Hrsg.), Muslims Against gelegenheiten einzumischen, für eine Gleichbe- the Muslim League. Critiques of the Idea of Pakistan, Cambridge handlung der Inder als Untertanen im Empire zu 2017. sorgen und eine gleichberechtigte Beschäftigung 02 Vgl. Kama Maclean, A Revolutionary History of Interwar im indischen öffentlichen Dienst zu garantieren, India: Violence, Image, Voice and Text, New York 2015. 03 Vgl. Durba Ghosh, Gentlemanly Terrorist. Political Violence wurde zu einem entscheidenden Dreh- und An- and the Colonial State in India, 1919–1947, Cambridge 2017, gelpunkt der britischen Kolonialregierung in In- S. 18. dien und ihrem leicht antikolonialen Kurs. 04 Vgl. David Washbrook, Political Economy of Colonialism in India, in: Harald Fischer-Tiné/Maria Framke (Hrsg.), Routledge Handbook of the History of Colonialism in South Asia, London 06 Vgl. Caroline Elkins, Legacy of Violence: A History of the 2022, S. 23–35, hier S. 29. British Empire, London 2022. 05 Vgl. Antoinette Burton, The Trouble With Empire: Challen- 07 Vgl. Jonathan Saha, Everyday Violence in British India, in: ges to Modern British Imperialism, New York 2015. History Compass 11/2011, S. 844–853. 13
APuZ 30–31/2022 Mit aus diesem Grund erhielt die Religion die zahlreichen Sekten und Identitäten und mach- ab Ende des späten 19. Jahrhunderts eine größe- ten den „Hinduismus“ zu einer übergreifenden re politische Bedeutung: Sie bot einen Bereich, in Kategorie, um eine Reihe unterschiedlicher reli- dem ein koloniales Eingreifen nicht erlaubt war. giöser Praktiken zu beschreiben. Im 19. Jahrhun- Die Einmischung in religiöse Belange konnte von dert hätten sich nur wenige Menschen in Indien frühen Nationalisten zu Recht als Bruch impe- mit dieser Bezeichnung identifiziert, allerdings rialer Versprechen angeprangert werden: Politi- konnten sie genau sagen, ob sie Muslime waren sche Proteste nahmen ihren Anfang im religiösen oder nicht. Als monotheistische Religion war der Kontext, weil sie dort artikuliert werden k onnten. Islam für den Kolonialstaat leichter einzuord- nen, selbst wenn die Wahrnehmung gelegentlich RELIGION UND KOLONIALSTAAT von Ängsten vor wahhabitischen oder panisla- mistischen Verschwörungen verzerrt war.09 Be- Religiöse Konflikte waren in Südasien nicht neu, reits bei der ersten Volkszählung zeigte sich, dass doch vor der Expansion des modernen Koloni- ein erheblicher Anteil der Bevölkerung aus Mus- alstaats waren sie meist lokal begrenzt und von limen bestand, und ab den 1880er Jahren such- kurzer Dauer: Die Gemeinschaften nutzten den te die britische Kolonialregierung in Indien nach öffentlichen Raum gemeinsam, daher war der Möglichkeiten, Schutzmechanismen für „religi- Anreiz groß, Lösungen für ein Miteinander zu öse Minderheiten“ in die staatliche Struktur ein- finden. Die Art und Weise, wie sich religiöse zubauen. Einige Muslime hatten tatsächlich auch Identitäten unter dem Druck und den Interven- am Aufstand von 1857 teilgenommen und neigten tionen des Kolonialstaats entwickelten, form- nach Meinung des einflussreichen Kolonialbeam- ten die Politik neu. Die Ausrichtung der Politik ten W. W. Hunter ohnehin zum Fanatismus und an religiösen Kategorien spiegelte zum Teil die fühlten sich „verpflichtet“, gegen die Königin Erfahrungen aus Europa wider, wo die Religi- zu rebellieren. Diese Tendenzen wollte man auf- on eine grundlegende Rolle in staatlichen An- merksam beobachten, zudem bemühten sich die gelegenheiten gespielt hatte und man sie daher Akteure der Kolonialpolitik, liberale und moder- aus der Politik heraushalten wollte. Die Reli- nisierende Kräfte im indischen Islam zu stärken, gionen in Südasien auf den privaten Bereich zu um die Loyalität gegenüber der Krone zu för- beschränken, war schwierig, weil sich die Sitten dern. Und so wurden religiöse Identitäten durch und Bräuche von Hindus und Muslimen um öf- den Kolonialstaat politisiert. fentliche Einrichtungen wie Tempel oder Mo- scheen drehten, um Feste und Gebete, und weil KRITIK AN DER sie in kulturelle Ausdrucksformen wie Texte, KOLONIALHERRSCHAFT Sprache und Ernährung eingebettet waren. Die Unterschiede im gemeinschaftlichen Leben von In den 1860er Jahren schuf der Kolonialstaat Hindus und Muslimen sollten sich abhängig von ein umfassendes gesetzliches Rahmenwerk, das den Parametern vertiefen, mit denen die Koloni- sein alleiniges Gewaltmonopol festigen und po- alherrschaft Aktivismus und Lobbyarbeit gegen- tenzielle gewalttätige Bedrohungen ausschal- über dem Staat gesetzlich regelte. Von grundle- ten sollte. Dazu gehörten Gesetze, die umher- gender Bedeutung war dabei die Vorstellung von ziehende Menschen kriminalisierten, ein Gesetz der Rolle des Staates beim Umgang mit Minder- zur Kontrolle des Waffenbesitzes und der Mur- heiten und ihrem Schutz. derous Outrages Act, der dem Staat in der sen- Die Kategorisierung der Religionen in Indien siblen Region an der nordwestlichen Grenze und das Verständnis ihrer Bedeutung wurde durch weitreichende Befugnisse einräumte, um „fanati- den Kolonialstaat im Rahmen von vermeintlich sche“ Gewalttaten zu ahnden und Urteile ohne wissenschaftlichen Projekten wie ethnografischen eine Möglichkeit zur Revision sofort zu voll- Erhebungen und Volkszählungen neu gestaltet.08 strecken.10 Diese außerordentliche Macht wurde Überwältigt von der Komplexität der indischen von Gesetzen gestützt, die nicht nur gewalttäti- Religionen abstrahierten die Verantwortlichen 09 Vgl. Mark Condos, The Insecurity State. Punjab and the 08 Vgl. Brian A Hatcher, Reordering Religion in Colonial South Making of Colonial Power in British India, Oxford 2017, S. 146. Asia, in: Fischer-Tiné/Framke (Anm. 4), S. 62–76. 10 Vgl. ebd., S. 142. 14
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