Ausgabe Nr. 19 November 2017 - Erscheint halbjährlich Mit welchem Outfit könntest du dich - GATWU
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Ausgabe Nr. 19 November 2017 Erscheint halbjährlich ISSN 1867-5174 Mit welchem Outfit könntest du dich anfreunden ?
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, „Der Arbeitskräftebedarf und die Berufswünsche Rahmenlehrplan WAT und der Unterrichtseinheit von Jugendlichen driften zunehmend auseinan- „Baumwolle“ (Fairer Handel – Unterrichtsszenari- der. Ursachen hierfür sind u.a. die oftmals fehlen- en, in: Kurzhinweise), bei dem Stichwort „Schüler- de Ausbildungsreife, der nicht mehr zu leugnende firma“, von der „Aussetzung“ des Studienganges Facharbeitermangel, Ausbluten der beruflichen WAT an der Universität Bremen zur Werbung für Bildung und Akademisierungswahn, Flaute in den Lehrerberuf in Israel … den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Stu- diengängen bei gleichzeitiger Überfüllung in den Georg Schulz befasst sich mit den Grundlagen und Geistes- und Sozialwissenschaften.“ fasst Wilfried Merkmalen handelnden Lernens, für das zwei Bei- Wulfers den Inhalt des Bandes „Berufsorientierung spiele – Bau von Bumerangs und „Fidget Spinners“ in der Krise? Der Übergang von der Schule in den (Handkreisel) in dieser Ausgabe enthalten sind. Beruf.“ der Herausgeber Löwenberg, Sauerland und Uhl zusammen – die gleiche These vertreten In unserem biografischen Archiv „Wie kam ich zur Simon Margraf und Sandra Trommsdorf von der Arbeitslehre“ stellen sich u.a. die beiden neuen IHK in ihrem Artikel „Fachkräftemangel und Be- Mitstreiter in der Redaktion des FORUM ARBEITS- rufsorientierung“ und unterstützen sie mit belast- LEHRE, Christin Richter und Sebastian Rosmus, vor. barem Zahlenmaterial. Der Schwerpunkt „Berufs- Wir freuen uns auf weitere Erinnerungen unserer orientierung“ im Bildungspolitischen Forum setzt Leserinnen und Leser! zugleich die Reihe mit Zustandsberichten aus den Bundesländern fort: Aaron Löwenberg, Frank Sau- Nach wie vor ist unser Verband politisch aktiv, was erland und Siegfried Uhl als auch Matthias Rode sich nicht zuletzt an unserer Korrespondenz mit setzen sich mit der Bildungslandschaft in Hessen der Schulverwaltung in Berlin und den vor der auseinander, Rolf Oberliesen, Gilles Renout und Wahl im Bundestag vertretenen Parteien erkennen Christa Sprenger stellen die Lage des Faches WAT, lässt. einschließlich der konkreten Umsetzung an einer Schule, im Land Bremen dar. Insbesondere die als Wie immer berichten wir ausführlich über den Se- solche bezeichnete „Berufsorientierung“ nimmt in mesterabschluss im IBBA der TU Berlin – einige der der Diskussion über unser Fachgebiet seit Jahr- vorgestellten Projekte können durchaus im WAT- zehnten eine herausragende Stellung ein, wobei oft Unterricht umgesetzt werden. verkannt wird, dass vor jeglicher beruflichen Ori- entierung eine Arbeitsorientierung z.B. in schuli- Bitte beachten Sie auch die Hinweise zur GATWU- schen Werkstätten oder in Betriebspraktika liegen Tagung, die wir Zusammenarbeit mit dem LPM sollte. Dieser Diskurs wird uns noch lange beglei- Saarland am 10. und 11. November durchführen ten, wie auch die Frage, wie „Schule 4.0“ unser Fach werden. Sie sind herzlichst eingeladen, daran teil- und die Schulen insgesamt verändern wird. Hans- zunehmen! Liudger Dienel stellt in dieser Ausgabe das Modell- projekt „Ergänzungsschulfach Digitale Welten“ vor. Wir freuen uns über Leserzuschriften, die Weiter- Es wird in Zukunft spannend sein zu sehen, ob da- gabe und Nachforderungen unserer Zeitschrift. mit eine Arbeitslehrevariante auch in den Gymna- sien Einzug hält oder ob das Ergänzungsschulfach Ihr langfristig – wegen fehlender Ausstattung – in der bloßen Theorie verhaftet bleibt. Wer diese Ausgabe aufmerksam liest, wird viele Querbezüge feststellen – von der GATWU in Indien (Garment and Textile Workers Union) zum Berliner (Vorsitzender der GATWU) Forum Arbeitslehre 19 November 2017 1
Inhaltsverzeichnis Editorial Bildungspolitisches Forum Simon Margraf, Sandra Trommsdo Fachkräftemangel und Berufsorientierung 4 Günter Reuel Kurze Geschichte des Berufsbegriffs 7 Aaron Löwenbein, Frank Sauerland und Siegfried Uhl Herausforderungen bei der Berufswahl 9 und der Berufsorientierung Mahias Rode Wieviel Berufsorientierung denn nun noch?!? 13 Rolf Oberliesen, Gilles Renout Zur Lage des Schulfachs „Wirtschaft-Arbeit-Technik“ 17 (WAT) in Bremen Christa Sprenger, Gilles Renout Neue WAT-Fachräume an der Oberschule 21 Kurt-Schumacher-Allee in Bremen-Vahr Ute Leidreiter, Evelyn Böhm-Ukat Noch eine Berufswahlmesse in Berlin? 25 Ein Plädoyer für unseren „Marktplatz – Berufliche Zukunft“ Hans-Liudger Dienel Das Modellprojekt „Ergänzungsschulfach Digitale Welten“ 27 für die Berliner Sekundarstufe II Detmar Grammel GATWU in Indien 33 Detmar Grammel Werbung für den Lehrerberuf in Israel 35 Didaktisches Forum Katja Lauth Schülerfirmen im Unterricht – 36 Kompetenzen für morgen heute fördern Dorothea Schultz Besteuerung von Schülerfirmen 38 Georg Schulz Konzeptuelle Grundlagen und Merkmale 40 des handelnden Lernens Dorothea Schultz Lernaufgaben im Online-Rahmenplan: 45 Globalisierung am Beispiel einer Textilproduktion Michael Janke Bumerangs im Unterricht 47 Robe Heilmann, Christian Schloßnickel, Bau eines Fidget Spinners – Teil 1 49 Peter Zeißler 2 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
Rezensionen und Kurzhinweise Wilfried Wulfers Rezensionen 54 Wilfried Wulfers Kurzhinweise auf Unterrichtsmaterialien 58 Mein Weg zur Arbeitslehre: Poräts Redaktion Mein Weg zur Arbeitslehre 61 Aus der GATWU Reinhold Hoge Ergebnisse der Vorstandswahl 2017 70 Manfred Triebe Schreiben an die Senatsschulverwaltung Berlins 73 Vorstand GATWU GATWU Tagung 2017, 10. und 11. November in Saarbrücken 74 Aus dem IBBA der TU Berlin Günter Reuel Der Semesterabschluss Arbeitslehre am 21. Juli 2017 76 Pamela Jäger und Christopher Töllner Projektarbeiten im Modul ALBA-P4 am IBBA 79 im Sommersemester 201 Dummwöer – aufgespießt Steckenpferd Reitende, Opern Singende 81 und Kostprober und Kostproberinnen SpechtSpäne Verantwortung 81 Autorenverzeichnis 82 Impressum 83 Forum Arbeitslehre 19 November 2017 3
Bildungspolitisches Forum Simon Margraf, Sandra Trommsdo Fachkräemangel und Berufsorientierung „Non scholae sed vitae discimus“ (nicht für die und Fakten sind jedoch oft Mangelware. Deshalb Schule, sondern das Leben lernen wir) – diese untersucht die IHK Berlin in Zusammenarbeit mit Weisheit mussten wir uns schon zu unserer Schul- dem Darmstädter Forschungsinstitut WifOR seit zeit von unseren Lehrern anhören. In Hinblick auf dem Jahr 2012 die Fachkräftebedarfe in Berlin. Jähr- die Berufswahl nach der Schule gelingt Lernen für lich wird dafür der IHK-Fachkräftemonitor mit den das Leben dann besonders gut, wenn Schülerinnen neuesten Daten aktualisiert. Die Prognose des Mo- und Schüler, aber auch ihre Lehrkräfte und Eltern nitors für das Jahr 2017 fällt dann auch negativ aus: frühzeitig die Wirtschaftswelt ins Klassenzimmer Allein in diesem Jahr fehlen den Unternehmen in der bzw. Wohnzimmer holen. Jugendlichen, die früh- Hauptstadt voraussichtlich 41.000 Fachkräfte. zeitig realistische Berufsvorstellungen entwickeln können, gelingt der Einstieg in ihren künftigen Wie passt diese Aussage des Fachkräftemonitors Beruf meist erfolgreicher als bei Jugendlichen, die mit der anfangs beschriebenen positiven Bevölke- keinen oder wenig Kontakt mit Betrieben hatten. rungsentwicklung zusammen? Für dieses Phäno- Wie sieht der Fachkräftebedarf der Wirtschaft aber men sind hauptsächlich drei Ursachen verantwort- aus? Was erwarten Betriebe von Schulabgängern? lich. Erstens entlasten Geburtenüberschüsse den Arbeitsmarkt erst in der langen Frist. Kinder, die heute geboren werden, werden erst in etwa 18 Jah- Der wachsenden Stadt gehen die Fachkräe aus ren dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Berlin trägt somit heute die Last der negativen Bevölke- Seit dem Jahr 2007 kann man in Berlin wieder rungsentwicklung Anfang der Neunziger Jahre. Die eine positive natürliche Bevölkerungsbewegung Schulabgängerzahlen gingen jahrelang zurück. beobachten. So sperrig beschreiben die Experten Die Bewerberzahlen zum Beispiel für betriebliche des Statistischen Landesamtes den Geburtenüber- Ausbildungsplätze sanken. schuss, den die Hauptstadt seit zehn Jahren vorzu- weisen hat. So lange schon werden jährlich mehr Ein zweiter Effekt ist der lang anhaltende wirtschaft- Kinder geboren als Menschen sterben: Tendenz liche Erfolg der Stadt. In den letzten Jahren ist Berlin steigend. Auf eine Berlinerin kommen heute exakt stärker gewachsen als der Bundesdurchschnitt. Die 1,46 Kinder. Das ist zwar schlechter als der Bundes- meisten Zuzügler haben heute bereits den Arbeits- durchschnitt, aber es reicht für ein Bevölkerungsp- vertrag oder den Businessplan in der Tasche, wenn lus. Hinzu kommt, dass Berlin national wie interna- sie in die Stadt kommen. Aber auch die Fachkräfte tional eine Sogwirkung entfaltet. Die Stadt wuchs vor Ort finden jetzt Stellen. Die Arbeitslosigkeit hat in den letzten fünf Jahren um jährlich fast 50.000 sich innerhalb von zehn Jahren nahezu halbiert. Ins- zugezogene Neuberliner. Wenn sich diese Ent- besondere die Jugendarbeitslosigkeit konnte stark wicklung so unverändert fortsetzen würde, könnte verringert werden. Der wirtschaftliche Erfolg schafft die Spreemetropole schon in zehn Jahren die Mar- ständig neue Fachkräftebedarfe. ke von vier Millionen Einwohnern überspringen. Der letzte und schwerwiegendste Grund für den Trotz dieser guten Entwicklung klagen heute viele Fachkräftemangel in Berlin ist aber die demo- Unternehmen über fehlende Bewerbungen. In ei- grafische Entwicklung. Auch die wachsende Stadt nigen Branchen und Berufsgruppen gilt der Fach- wird älter. Die Generation der Babyboomer wird in kräftemangel als gelebte Realität. Konkrete Zahlen den Jahren 2020 – 2025 in Rente gehen. Vor die- 4 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
Zunahme der unklaren Berufsvorstellungen: Quelle: Aus- und Weiterbildungsumfrage 2017, IHK Berlin Die Prozentzahlen geben an, wie viel Prozent der befragten Betriebe über unklare Berufsvorstellungen von Bewerberinnen und Bewerber klagten. sem Hintergrund lässt sich auch die Prognose des lin lässt keine Trendwende in der Ausbildungssi- Fachkräftemonitors erklären: Demnach steigt der tuation erkennen. Beteiligt haben sich 2017 erneut Fachkräftebedarf in Berlin in den nächsten Jahren knapp 500 Berliner Ausbildungsbetriebe. Obwohl rapide an. Diese Entwicklung ist kaum aufzuhalten. das Angebot an Ausbildungsplätzen seit zwei Jah- ren auf Rekordhoch liegt und sich Unternehmen Insbesondere berufliche qualifizierte Fachkräfte immer stärker für ihre Auszubildenden engagieren, fehlen schon heute. Der IHK-Fachkräftemonitor bleiben viele Plätze unbesetzt. Im Ausbildungsjahr zeigt an, dass bereits im Jahr 2017 28.000 beruflich 2016 konnte jeder dritte Berliner Betrieb nicht alle qualifizierte Fachkräfte fehlen. Das entspricht fast Ausbildungsplätze besetzen. Das sind mehr als 70 Prozent der gesamten Fachkräftelücke. Bis zum doppelt so viele wie 2008. Als Hauptursache für Jahr 2030 kann sich dieser Engpass noch verschär- unbesetzte Ausbildungsplätze nennen 75 Prozent fen: Dann könnten sogar acht von zehn fehlenden der befragten Unternehmen, dass keine geeigneten Fachkräften beruflich qualifizierte Personen sein. Bewerbungen vorlagen – 2008 waren es 45 Prozent. In den Unternehmen bleibt damit voraussichtlich In jedem sechsten Betrieb blieben Plätze unbesetzt, jeder fünfte Arbeitsplatz unbesetzt. weil es keine Bewerber gab. Das sind viermal so vie- le Plätze wie 2008. In 19 Prozent der Betriebe mit Die IHK Berlin verschärft daher seit einiger Zeit unbesetzten Plätzen wurden Ausbildungsplätze auch den Druck auf den Berliner Senat und fordert, von den Azubis nicht angetreten. Weiterhin lösten die berufliche Bildung zügig auf die Überholspur in vielen Fällen Azubis ihren Vertrag nach Beginn zu setzen. Mehr als die Hälfte der Berliner Schul- der Ausbildung wieder auf. Das war dreimal häu- absolventen schlägt inzwischen einen Bildungs- figer der Fall als noch vor neun Jahren. Eine gute weg ein, der auf eine Hochschulbildung abzielt. Berufsorientierung kann einen Beitrag leisten, dass Mit Blick auf die Fachkräfteengpässe der Berliner weniger Azubis ihre Ausbildung abbrechen. Wirtschaft geht die Qualifikation des Nachwuchses damit an den Bedarfen der Unternehmen vorbei. 83 Prozent der Betriebe beklagen unklare Berufsvorstel- lungen Jugendlicher Immer mehr Betriebe können nicht alle Ausbildungsplät- ze besetzen - doppelt so viele wie 2008 Die Antwort auf Besetzungsprobleme ist für mehr als jedes zweite Unternehmen die Erschließung Die Aus- und Weiterbildungsumfrage der IHK Ber- neuer Bewerbergruppen, wie z. B. Studienaus- Forum Arbeitslehre 19 November 2017 5
steiger oder Geflüchtete. Auch werden vermehrt anstaltet mehrmals im Jahr Ausbildungsmessen, Praktikumsplätze angeboten, um den Betrieb für auf denen Betriebe Ausbildungsplatz suchende Ju- interessierte Jugendliche zu öffnen. 36 Prozent gendliche treffen. stärken ihr Ausbildungsmarketing, z. B. durch On- line-Kampagnen und vermehrtes Engagement auf Ausbildungsmessen. Zehn Prozent der Unterneh- Duale Ausbildung und Studium sollten in der Berufsori- men versuchen durch das Angebot von Zusatzqua- entierung gleichweige Rolle einnehmen lifikationen und 15 Prozent durch materielle bzw. finanzielle Anreize Bewerber zu gewinnen. Zudem Aus Sicht der Berliner Wirtschaft muss es in Schule erwarten Unternehmen von der neu gegründeten und Elternhaus besser gelingen, Jugendliche auf ihr Jugendberufsagentur eine passgenaue Besetzung Berufsleben vorzubereiten. Kann dies derzeit aber in von Ausbildungsplätzen. Die Ausbildung wird nach einer Schulstunde Wirtschaft-Arbeit-Technik (WAT) Meinung von 35 Prozent der befragten Betriebe ausreichend gelingen, in der das W darüber hinaus durch Ausbildungshemmnisse erschwert. Die un- nur eines von drei Fächern ist? Sicherlich kann eine klaren Berufsvorstellungen vieler Schulabgänger gute Berufsorientierung nicht auf eine Stunde pro sind dabei die größte Hürde. 83 Prozent der Un- Woche begrenzt bleiben. Eines ist sicher: Anknüp- ternehmen beklagen 2017 dieses Phänomen – das fend an die Talente der Jugendlichen, muss es wäh- sind so viele wie nie zuvor. rend der Schulzeit in allen Schulen besser gelingen, dass Jugendliche realistische Berufsvorstellungen Fehlende Motivation und Leistungswille sind ein entwickeln. Insbesondere auch Gymnasien dürfen Zeichen geringer Ausbildungsreife und bereiten in Hinblick auf die großen Fachkräftebedarfe im den Betrieben die meisten Sorgen, wie auch die Bereich der beruflich Qualifizierten nicht einseitig häufig mangelnden Kompetenzen in Mathema- auf ein Studium hin orientieren. Die Realität heute tik und Deutsch. Jedes dritte Unternehmen bietet ist noch zu häufig, dass der Karriereweg der dua- Nachhilfe an, um die Versäumnisse von Schule len Ausbildung eher als Plan B, denn als Königsweg und Elternhaus aufzuholen. Damit der Übergang gesehen wird. Jugendliche, Berufsorientierer, aber von Schule in Ausbildung besser gelingt, ist es aus auch die Eltern unterschätzen die Möglichkeiten, Sicht der Unternehmen daher notwendig, bereits in die eine duale Ausbildung bzw. Aufstiegsfortbil- der Schule den Erwerb von sozialen Kompetenzen, dung bieten. Die beschriebenen Fachkräftebedarfe wie Motivation und Leistungsbereitschaft sowie bei beruflich Qualifizierten sowie die zunehmenden von verbindlichem Basiswissen zu stärken. Die IHK Besetzungsprobleme bei Ausbildungsplätzen soll- Berlin unterstützt dabei tatkräftig. Durch Projekte ten ein klares Signal sein: Die Wirtschaft braucht wie „Partnerschaft Schule-Betrieb“ oder die Verlei- motivierten Nachwuchs insbesondere auch für die hung des Siegels für exzellente Berufsorientierung duale Ausbildung. Wer möchte, dass seine Kinder, werden Schulen angeregt, die Berufsorientierung Enkel oder Schüler fürs Leben lernen, nicht für die zu verbessern. Wenn die Berufswünsche dann fest- Schule, darf den Akademisierungstrend nicht immer stehen, bietet die IHK Berlin konkrete Unterstüt- weiter befeuern, sondern sollte für eine Berufsorien- zung bei der Ausbildungsplatzbesetzung in Form tierung eintreten, die duale Ausbildung und Studi- des Projekts „Passgenaue Besetzung“ an und ver- um als gleichwertige Karrierewege darstellt. Redaktion Gendersprache Autoren in dieser Zeitschrift ist es freigestellt, mer beide Geschlechter gemeint sind (Radfahrer). ob sie die typografisch unschöne und leider die Nicht abgedruckt wird die grammatikalisch fal- gute Absicht verfehlende Aufzählung verwen- sche Form, bei der das Gerundium an die Stelle den möchten (Radfahrer und Radfahrerinnen). des Genus tritt (Radfahrende), Schrägstrichbe- Sie können auch die männliche Form des Genus zeichnungen, das Binnen-I und umschreibende verwenden und einführend bemerken, dass im- geschlechtsneutrale Wortkombinationen. Wir sind für Frauenpower und gegen falsches Deutsch 6 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
Günter Reuel Kurze Geschichte des Berufsbegriffs Auf Luther geht angeblich die religiöse Überhö- Priester muss im Zölibat leben, ein Richter darf hung des Berufs zurück. Zum Beruf wird man von nicht vorbestraft sein. einer höheren Macht „berufen“. Das muss schon zu Luthers Zeiten vor 500 Jahren Zweifel geweckt ha- Der Begriff der „Freien Berufe“ ist verbreitet. Ge- ben, arbeiteten doch die meisten Menschen in der meint sind meist akademische Berufe mit Nieder- Landwirtschaft und das taten sie nolens volens we- lassungsfreiheit, Gebührenfreiheit, selbstbestimm- gen fehlender Alternativen. ten Geschäftszeiten u.a.. Die Sprache ist ein Indikator für die Wertschätzung des Phänomens „Beruf“ in einer Gesellschaft. Ähn- Formen der Arbeit lich wie im Englischen wo profession, occupation, career, job hierarchisch geordnet sind, wird auch Ein Differenzierungsmodell trennt in Hausarbeit im Deutschen die Professionalität als hochkarätig und Erwerbsarbeit. Wirtschaftswissenschaftler apostrophiert und die Jobgesinnung als eher ver- messen der Hausarbeit das Prädikat „nutzenorien- ächtlich. tiert“ zu und der Erwerbsarbeit „gewinnorientiert“. Eine andere Teilung nimmt Hannah Arendt vor. Sie Soziale Ungleichheit war in der mittelalterlichen trennt Herstellen von Arbeit. Herstellungsprozesse, Ständegesellschaft an den Besitz von Grund und die in vielen Fällen mit Berufsarbeit zusammenfal- Boden gekoppelt. Das änderte sich mit der indus- len, sind final orientiert. Das Herstellen hat einen triellen Revolution die den Besitz bzw. die Verfü- Anfang und ein Ende. Arbeit ist für Hannah Arendt gung über Produktionsanlagen als Statusnachweis nie endend. Der Mensch muss täglich wiederkeh- brachte. rende Verrichtungen vornehmen, die seine Exis- tenz ermöglichen. Im 20. und 21. Jahrhundert ist der Beruf das wich- tigste Mittel der Statuszuweisung, so zumindest Von Nachtarbeit ist die Rede, von Kinderarbeit, von die Auffassung von Politologen (Deutsche Verhält- ehrenamtlicher Arbeit, Schwarzarbeit und ande- nisse, eine Sozialkunde Hrsg: Bundeszentrale für ren Formen der Arbeit. Das Kontrastmodell heißt politische Bildung o.J.). Arbeitslosigkeit. Welche Verbindung existiert zwi- schen Arbeit und Beruf? Eine erste trivial anmu- In Alltagsgesprächen, an Stammtischen zumal, tende Feststellung lautet: viele Formen der Arbeit wird verkündet, den Lebensberuf gäbe es nicht werden nicht berufsförmig verrichtet, aber in allen mehr. Die Situation ist differenziert zu sehen. Noch Berufen wird gearbeitet. immer sind akademische Berufe oft Lebensberufe (einmal Arzt, immer Arzt). Daneben gibt es extreme Mobilität beim Bemühen um Erwerbseinkommen. Ist es Aufgabe der allgemeinbildenden Schule, auf Beru- Ein dem Autor bekannter junger Mann wechselte fe vorzubereiten? innerhalb eines Jahres von der Arbeit als Reini- gungskraft zur Mitarbeit bei einer Security-Firma Schließlich gibt es die Berufsschule, diese bereitet und schließlich als Kraftfahrer. qua definitionem auf Berufe vor. Vor noch gar nicht so langer Zeit war an der Schnittstelle zwischen all- Die formale Qualifikation für einen Beruf geschieht gemeinbildender Schule und Berufswahl allein die über Ausbildungswege. Im sogenannten Dualen Berufsberatung zuständig. Diese schickte einen System werden rund 300 Ausbildungswege unter- Ratsuchenden wieder nach Hause, wenn er keiner- schieden. Die Abschlussqualifikation ist relevant lei Neigungen nennen konnte. Diesem Zustand soll für tarifliche Löhne und für Ausübungsberechti- nun in den meisten allgemeinbildenden Schulen gung (Elektriker). Nur noch wenige Berufe setzen abgeholfen werden. Mehr oder weniger „berufene“ Pflichten im Privatleben voraus. Ein katholischer Lehrer sollen die Berufswahlreife fördern. Forum Arbeitslehre 19 November 2017 7
Was gehört zur Berufswahlreife? Seit Bestehen der • Temporäre Mitarbeit in einer Schülerfirma.: Schulpflicht gelten Lesen und Schreiben können die Art der Leistungserstellung beherrschen, sowie die Beherrschung der Grundrechenarten als Marktzugang suchen, Einnahmen und Ausga- unverzichtbar in der modernen Arbeitswelt. War- ben korrekt verbuchen. um es heute vielen Schulabgängern daran mangelt, wird hier nicht weiter hinterfragt. Wird Berufsarbeit mit Menschen, mit Sachen und mit der Aber wir nennen 7 Bausteine, die den Jugendlichen Natur künig die Ausnahme sein? berufswahlreif machen. Diese Bausteine stiften Er- fahrungen, die mit dem Kompetenzgeschwätz und Zunehmend melden sich „Zukunftsforscher“ zu den dazugehörigen Fragebögen wenig zu tun haben. Wort, für die der Bildschirm auf ihrem Schreibtisch die Wirklichkeit ist. Eigentlich könnte man den- • Möglichst viel Frontalunterricht durch Projekt- ken, dass diese Spezies nachdenklich wird, wenn arbeit ersetzen. Ein Projektziel wird gemeinsam sie nach Abschalten des Bildschirms in der Knei- definiert, die verfügbare Zeit festgelegt, die Be- pe ein Bier trinkt, auf die überfüllte U-Bahn wartet, urteilung des Ergebnisses Lerngruppen intern in Muttis Auftrag noch mal zum Supermarkt muss, diskutiert. den verzweifelten Kindern die Matheaufgaben zu • Arbeitserfahrungen in verschiedenen Werkstät- erklären versucht und bei Oma anruft, ob heute ten, Umgang mit Werkstoffen und Werkzeugen, das Essen auf Rädern noch warm war. Das hindert auf Sicherheit und ökologische Verträglichkeit sie nicht zu verkünden, dass immer mehr Berufsar- achten, Neigungen und Abneigungen reflektieren. beit von „Networkern“ verrichtet wird. • Mindestens zwei Betriebspraktika machen. Der Patenbetrieb sollte ausbilden und einen Wir stellen hier eine konträre Hypothese auf. Betriebsrat haben. Das ist nicht immer einfach Schon jetzt zeichnen sich deutlich Schwierigkei- zu realisieren. Das „Betriebspraktikum“ eines ten ab bei der Rekrutierung in folgenden Berufen türkischstämmigen Schülers beim Opa auf dem (Arbeitsverrichtungen) und zwar mit steigender Gemüsemarkt – wo er ohnehin jedes Wochen- Tendenz: ende hilft – ist kein Ersatz. • Ein gut vorbereiteter und ausgewerteter Be- • Pflegeberufe such des Berufsinformationszentrums müsste • Lehrer und Erzieher zur Routine gehören. • Gastwirtsgewerbe und Security • Die bürokratisch verordneten BSO-Teams sind • Handwerker (Renovieren, Recyceln/Demontage) dann die zweitbeste Wahl, wenn der Klassen- • Reinigung/Körperpflege lehrer in Zusammenarbeit mit dem WAT-Lehrer • Landwirtschaft, Tierhaltung, Erntehelfer die Berufswahlreife des Jugendlichen befördert; dann kann man davon ausgehen, dass hier Inti- In allen diesen Formen der Berufs- und Erwerbsar- mität vorherrscht. beit ist jeder auch ein kleiner „Networker“. Haupt- • Auf Elternabenden werden die Eltern angeregt amtliche Networker gibt es natürlich, aber diese und durch Infomaterial unterstützt (auch in legen abends nicht den Hammer weg sondern die türkischer und arabischer Sprache) über ihren Maus. Zuhause angekommen, suchen sie verzwei- eigenen Beruf zu sprechen. Viele Schüler konn- felt nach dem Hammer, denn die Waschmaschinen- ten bei Erhebungen in der Vergangenheit den tür lässt sich nicht öffnen. Im Netz sind alle Ser- Elternberuf nicht nennen. vicefirmen überlastet. Redaktion Bie beachten Sie bei Bestellungen für Ihren dienstlichen Bereich unsere Inserenten, die die Herausgabe des Forum Arbeitslehre unterstützen. 8 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
Aaron Löwenbein, Frank Sauerland und Siegfried Uhl Herausforderungen bei der Berufswahl und der Berufsorientierung Jede Gruppe ist für ihr Fortbestehen auf Nach- hohe Kosten verursachen und ganze Wirtschafts- wuchs angewiesen. Das gilt für soziale Gebilde al- zweige beeinträchtigen. ler Art: für Kleinbetriebe und Großunternehmen, für die staatliche Verwaltung, für Parteien und Ge- Mehrere Studien deuten darauf hin, dass die Al- werkschaften, für die großen nationalen und über- lokationsschwierigkeiten in puncto Ausbildung, nationalen Verbände und genauso für die kleinen Beruf und Arbeitsplatz in den nächsten Jahren in Vereine in der Nachbarschaft. In der ständischen Deutschland eher zu- als abnehmen werden. Die Gesellschaft lagen die Dinge einfach. Der Lebens- folgenden Vorgänge und Sachverhalte legen diese weg war für die allermeisten Menschen vorherbe- Annahme nahe: stimmt. Sie wurden in ihren Stand hineingeboren und traten in festgesetztem Alter in die Sozialge- 1. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die im bilde ein, denen schon ihre Eltern und Voreltern allgemeinbildenden oder im beruflichen Schulwe- angehört haben. Es ist eines der Kernmerkmale sen die Berechtigung zum Studium an einer Hoch- der Moderne, dass die enge Verbindung von Her- schule erwerben, ist über die letzten Jahrzehnte kunft und Lebensweg schwächer geworden und auf mehr als 50 % des Altersjahrgangs gestiegen. in manchen Bereichen ganz weggefallen ist. Vom Gleichzeitig sind die Noten besser geworden. Die Grundsatz her kann heute jeder bei genügender Studierneigung ist groß: Die meisten, die dazu be- Anstrengung in Schule und Ausbildung neue Wege rechtigt sind, nehmen auf kurz oder lang auch tat- beschreiten und beruflich wie von der gesamten sächlich ein Studium auf. Weltauffassung her die in seiner Familie üblichen Pfade hinter sich lassen. 2. Bei einer ganzen Reihe von Berufen wird sich Deutschland nicht dem Beispiel anderer Staaten Die gestiegene Freiheit des einzelnen ist nur die eine verschließen können und die Ausbildung früher Seite der Medaille. Die andere – die Schattenseite – oder später „akademisieren“, d. h. aus dem beruf- ist die Verschärfung des Allokationsproblems. So lichen Schulwesen in die Hochschulen verlagern. wird in der Soziologie die Erscheinung bezeichnet, Das ist bei den Gesundheits-, Pflege- und Erzie- dass bei freier Wahl für manche sozialen Gruppen hungsberufen teilweise bereits geschehen; wahr- (einschließlich der Berufsgruppen) zu viel Nach- scheinlich werden weitere folgen. wuchs zur Verfügung steht und für manche anderen Gruppen zu wenig. Bei einigen Berufen gibt es so- 3. Dem Aufschwung der Hochschulausbildung stehen gar eine ziemlich regelmäßige Abfolge von Überan- angesichts des demographischen Wandels und der gebot und Unterversorgung. Das ist beispielsweise jahrzehntelang rückläufigen Geburtenrate notwen- im Lehrerberuf der Fall, wo sich seit der Entstehung digerweise Einbußen bei der dualen und der voll- der staatlichen Lehrerausbildung im späten 18. und zeitschulischen Berufsausbildung gegenüber. Schon frühen 19. Jahrhundert Zeiten der Lehrerschwemme 2013 gab es mehr Studienanfänger als Schulabgän- und des Lehrermangels abwechseln. ger, die eine Berufsausbildung außerhalb der Hoch- schulen begannen. Daran wird sich – so die Voraussa- Die Allokations-, die Zuordnungs- und Platzie- gen – in den nächsten zwanzig Jahren nichts ändern. rungsschwierigkeiten sind in der offenen Gesell- Die Zahl der Studierenden wird gleichbleiben oder schaft bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich. sogar noch steigen, die Zahl der Auszubildenden im Wo es keine ständische und nur wenig staatliche außerakademischen Bereich weiter sinken. Steuerung gibt, entscheiden die Menschen selbst. Es gehört zum Preis der Freiheit, dass sie neben vielen richtigen manchmal auch falsche Entschei- dungen treffen und damit sich und anderen Nach- * Dieser Beitrag ist zuerst erschienen als Einführung in den von den drei Veassern herausgegebenen Sammelband Berufsorientierung in der Krise? teile einhandeln. Bedenklich wird die Lage dann, Der Übergang von der Schule in den Beruf. Münster/New York: Waxmann, 2017. wenn sich die Fehlentscheidungen häufen: Sie kön- nen für den einzelnen wie gesamtgesellschaftlich → Siehe auch die Rezension von Wilfried Wulfers in diesem He. Forum Arbeitslehre 19 November 2017 9
4. Der Siegeszug der akademischen Ausbildung In der Ratgeberliteratur und in der Presse kann kommt nicht von ungefähr. Er ist in Deutschland man mitunter lesen, dass die hohe Abbrecherquote wie in vielen anderen Staaten aus wirtschafts- und nicht unbedingt ein Grund zur Besorgnis sei. Man- gesellschaftspolitischen Erwägungen erwünscht che Menschen gewönnen erst aus dem Scheitern gewesen und seit den sechziger Jahren von den die Kraft, ernsthaft über ihre berufliche Zukunft Regierungen unterstützt worden. Die Ausweitung nachzudenken. Sie kämen dann im zweiten Anlauf des Hochschulstudiums galt als Königsweg des so- und in einem anderen Ausbildungsgang zum Ziel. zialen Aufstiegs und gleichzeitig als wirtschaftlich Häufig wird auch auf die vielen Berühmtheiten unumgänglich. Der gewaltige Bedarf an Ingenieu- hingewiesen, die die Schule, die Ausbildung oder ren, Lehrern und anderen akademisch ausgebilde- das Studium abgebrochen hätten und trotzdem in ten Fachkräften war nur über die „Ausschöpfung Staat, Politik, Wirtschaft, Kunst und Medien in Spit- der Begabungsreserve“ zu decken. Heute mehren zenränge aufgestiegen seien. sich die Anzeichen, dass die annähernde Verzehn- fachung der Studienanfängerquote ein Pyrrhus- Ein Teil der Zuversicht ist sicher angebracht, auch sieg gewesen ist und der „Akademisierungswahn“ wenn es nicht jeder Schul- und Ausbildungsab- (Julian Nida-Rümelin) die außerakademische Be- brecher bis zum Außenminister bringt. Eines muss rufsausbildung hat ausbluten lassen: rein zahlen- man aber im Auge behalten: Empirisch ist wenig mäßig, aber auch hinsichtlich ihres Ansehens in darüber bekannt, was aus der großen Mehrheit der der Öffentlichkeit. Abbrecher wird und wie viele später doch noch mit Erfolg ein Studium oder sonst eine Berufsausbil- 5. Bei vielen Ausbildungsangeboten – sowohl in- dung abschließen. Sicher ist, dass die Umwege Zeit nerhalb als auch außerhalb der Hochschulen – ist und Geld kosten und für den einzelnen wie für die ein Auseinandertreten von Bedarf und Nachfrage Menschen in seiner Umgebung mit erheblichen festzustellen. In den natur- und ingenieurwissen- seelischen Belastungen verbunden sind. Man kann schaftlichen Studiengängen fehlt es an Studieren- es drehen und wenden, wie man will: Abbrechen den; die geistes- und sozialwissenschaftlichen Stu- heißt immer auch versagen, und das geht an kaum diengänge sind überfüllt. Ein ähnliches Bild bei der jemand spurlos vorüber. Aber auch ohne jeden Be- dualen und vollzeitschulischen Berufsausbildung: zug auf die individuellen psychischen Kosten kann Die Schulabgänger drängen in einige wenige Aus- man aus rein volkswirtschaftlicher Sicht die Frage bildungsberufe in der Industrie, im Einzelhandel, stellen, ob sich unsere Gesellschaft das Phänomen im Dienstleistungsbereich und im Erziehungs-, So- der Abbrüche weiter leisten soll oder kann, nicht zial- und Gesundheitswesen. Die Handwerksberu- zuletzt wegen der oft beträchtlichen Mehrkosten fe – zumal die körperlich anstrengenden, die wenig für eine Mehrfachausbildung, die ganz oder zum angesehenen und die Berufe mit ungewöhnlichen großen Teil vom Steuerzahler zu tragen sind. Arbeitszeiten – werden gemieden. Ein Teil der Aus- bildungsplätze bleibt unbesetzt. Manche Betriebe Von der Grundbeschaffenheit her sind die Schwie- haben sich ganz aus der Ausbildung zurückgezo- rigkeiten bei der Suche nach der richtigen Schul-, gen, weil sich bei ihnen keine geeigneten Bewerbe- Ausbildungs- und Berufslaufbahn keine neue Er- rinnen und Bewerber einfinden. scheinung. Das Ungleichgewicht zwischen An- gebot und Nachfrage, zwischen den Wünschen Bei der Beschreibung der Allokationsschwierigkei- und Erwartungen der Bewerber und den Anfor- ten stehen häufig die abträglichen Folgen für das derungen in den Ausbildungseinrichtungen und Erwerbsleben und die Leistungsfähigkeit der Unter- Betrieben hat auch in der Vergangenheit immer nehmen im Vordergrund. Das ist verständlich, trifft wieder Anlass zu Besorgnis gegeben. Als Gegen- aber nicht die ganze Wahrheit. Neben den wirt- maßnahme ist beispielsweise für bestimmte Man- schaftlichen Verlusten haben Fehlentscheidungen gelberufe geworben und von überlaufenen Aus- bei der Berufswahl nicht selten auch einen hohen bildungs- und Studiengängen abgeraten worden. Preis für die persönlich Betroffenen. Wenn unpas- Man hat – ein anderes Beispiel – die Eingangsvo- sende Ausbildungswege eingeschlagen werden, wird raussetzungen je nach Bedarf strenger gemacht die Ausbildung im Betrieb, in der beruflichen Schu- oder abgesenkt. Auch die nordrhein-westfälische le oder an der Hochschule schnell zur Enttäuschung. Kollegschule der siebziger bis neunziger Jahre, an Viele betrachten sie als notwendiges Übel, das man der die Schülerinnen und Schüler eine Berufsaus- mit zusammengebissenen Zähnen und mit möglichst bildung durchlaufen und zugleich die allgemeine geringem Aufwand hinter sich bringt. Je nach Bereich Hochschulzugangsberechtigung erwerben konn- zwischen 20 und 40 % brechen die Ausbildung ab. ten, war nicht zuletzt als Hilfe bei der Wahl der 10 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
Berufslaufbahn gedacht. Ihre Abgänger hatten intellektuellen und charakterlichen Voraussetzun- mit einiger Wahrscheinlichkeit sowohl eine Vor- gen und die Motivation, um sich um einen Ausbil- stellung von den akademischen als auch von den dungsplatz in seinem Wunschberuf bewerben und außerakademischen Tätigkeitsfeldern erworben. die Ausbildung dann auch mit Erfolg abschließen Sie müssten – so die Erwartung – wegen ihrer grö- zu können? Und falls es daran hapert: Besteht bei ßeren Sachkenntnis besser begründete und we- nüchterner Betrachtung Aussicht, dass man sich niger änderungsanfällige Entscheidungen treffen aufraffen und das Versäumte in vertretbarer Zeit als andere Schülerinnen und Schüler, die weniger aufholen kann? Solche Fragen lassen sich nur dann Einblick und Vergleichsmöglichkeiten hätten. ehrlich und ohne Selbsttäuschung beantworten, wenn man die eigenen Stärken und Schwächen Aus heutiger Sicht ist schwer zu beurteilen, ob einzuschätzen vermag und sein Leistungs- und und wie viel diese und ähnliche Maßnahmen ge- Durchhaltevermögen richtig beurteilen kann. Ge- nützt haben. Aber ganz gleich, ob sie sich bewährt rade im Jugendalter ist das nicht immer der Fall. haben oder nicht: Sie reichen anscheinend nicht Bisweilen werden die eigenen Fähigkeiten unter- aus. Nach wie vor sind viele junge Menschen un- oder überschätzt – Stichwort juveniler Größen- sicher über den richtigen Ausbildungs- und Be- wahn. Hier sind Beratung und Unterstützung bei rufsweg, sie entscheiden sich auf unzureichender der Selbsterkenntnis von Nutzen – und eigene Er- Wissensgrundlage und immer noch unzuträglich fahrungen. viele brechen die Ausbildung oder das Studium ab. Die Kernfrage ist die gleiche wie früher: Was kann Damit sind wir bei Punkt drei angelangt. Als Ent- man dagegen unternehmen? scheidungshilfe haben eigene Erfahrungen be- sonderes Gewicht. Deswegen werden schon wäh- Die Lösung liegt auf der Hand – wenigstens bei rend des Besuchs der allgemeinbildenden Schule allgemeiner Betrachtung vom sicheren Schreib- berufspraktische Tage, Kurzpraktika, Schnupper- tisch aus – und lässt sich in einem Satz zusam- lehren, Girls und Boys Days, Betriebspraktika, menfassen: Man sollte alles daransetzen, dass sich Schülerinformationstage an den Hochschulen und die jungen Menschen rechtzeitig Gedanken über dergleichen mehr angeboten. Sie sollen den Schü- ihre berufliche Zukunft machen und sich für einen lerinnen und Schülern dabei helfen, einen ersten Ausbildungsweg entscheiden, der zu ihren Fähig- Eindruck von den Anforderungen im Beruf zu ge- keiten und Neigungen ebenso passt wie zum vor- winnen und sich über ihre Berufswünsche klarzu- aussichtlichen Bedarf. Damit sie das können, muss werden – im Idealfall unter realistischer Einschät- ihnen die ältere Generation zu den erforderlichen zung der eigenen Möglichkeiten. Entscheidungsgrundlagen verhelfen. Viertens ist eine Vorstellung davon zweckmäßig, Für die Entscheidung wird zunächst einmal Wis- wie es um Angebot und Nachfrage bestellt ist. Wie sen gebraucht, und zwar über die für die Ausbil- sind die Aussichten, später in dem gelernten oder dung erforderlichen Voraussetzungen und über studierten Fach tätig sein zu können? Fehlt der die Anforderungen bei der Ausübung der einzel- Nachwuchs – oder ist der Beruf überlaufen? Wird nen Berufe. Dazu gehören geistige und körperliche er auch künftig gebraucht oder fällt er dem tech- Qualitäten – beispielsweise bestimmte mathemati- nischen Fortschritt zum Opfer? Wie sind die Ver- sche, naturwissenschaftliche oder kaufmännische dienst-, Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglich- Kenntnisse, die Beherrschung der Mutter- und keiten? Solche Fragen sind schwer zu beantworten, vielleicht auch von Fremdsprachen in Wort und vor allem wenn man dafür weit in die Zukunft bli- Schrift, technisches Vorstellungsvermögen, Denk- cken muss. Trotzdem können die Arbeitsmarkt- und Problemlösefähigkeit, außerdem je nach Be- fachleute aufgrund früherer Erfahrungen für vie- ruf Kraft, Gewandtheit und Belastungsfähigkeit. le Berufe mit einiger Sicherheit voraussagen, wie Nicht weniger wichtig sind die außerintellektu- sich der Bedarf in den nächsten Jahren und Jahr- ellen Persönlichkeitsmerkmale: die sozialen und zehnten gestalten wird. Solche Vorhersagen sind moralischen Kompetenzen, das Berufsethos und ungeachtet ihrer unvermeidlichen Unzulänglich- die Arbeitstugenden, Einfühlungsvermögen und keiten als Entscheidungsgrundlage zuverlässiger Geschick im Umgang mit Menschen, ästhetisches als wohlmeinende, aber manchmal wenig durch- Verständnis und gute Umgangsformen. dachte Ratschläge aus dem Bekanntenkreis, ober- flächliche Eindrücke aus dem Fernsehen, schieres Als zweites sollte man bei der Berufswahl über Wunschdenken oder was bei der Lebensplanung sich selbst Bescheid wissen. Verfügt man über die sonst noch hereinspielt. Forum Arbeitslehre 19 November 2017 11
Fünftens: Wenn man als junger Mensch die Sache ben ausdrücklich die berufliche Orientierung im ernst nimmt und die Entscheidung über seinen Fokus. Neben Sachausgaben werden auch Perso- Ausbildungsweg nicht einfach aus dem Gefühl he- nalkosten übernommen. Für die Akquirierung der raus treffen möchte, dann muss man dabei viele Fördermittel sind die Einbindung des schulischen verschiedene Umstände berücksichtigen und mit Fördervereins und die Zusammenarbeit mit dem ihrem Für und Wider gegeneinander abwägen. Schulträger und den Sozialpartnern von Vorteil. Weil kaum jemand gleichzeitig alles Wichtige im Auge behalten kann, bieten sich schriftliche Hil- Viele weitere öffentliche und private Einrichtun- fen für das Sammeln, Ordnen und Gewichten der gen sind ebenfalls in der Berufsorientierung tätig. einzelnen Gesichtspunkte an. Solche Hilfen gibt es Sie treten im Regelfall nicht als Konkurrenten der auf Papier und in elektronischer Form. Einige kann Schulen auf, sondern versuchen mit ihren Ange- man auf eigene Faust durcharbeiten, andere sind boten die schulische Berufsorientierung zu unter- in erster Linie für den Einsatz im Schulunterricht stützen, zu ergänzen und über den Abschluss der gedacht. allgemeinbildenden Schule hinaus fortzuführen. Die außerschulischen Anbieter – einer der bedeu- Die Maßnahmen, mit denen die Berufswahl der tendsten ist die Agentur für Arbeit – arbeiten auch Jugendlichen unterstützt und Fehlentscheidungen untereinander zusammen. Ein Beispiel dafür ist die verringert werden sollen, werden unter dem Na- „Initiative Bildungsketten“, die auf Anregung des men „Berufsorientierung“ zusammengefasst. Die Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Spannbreite ist beträchtlich. Sie reicht von den des Bundesministerium für Arbeit und Soziales ersten Grundschul- oder sogar Kindergartenaus- und der Bundesagentur für Arbeit entstanden ist flügen zu Betrieben und öffentlichen Einrichtun- und der Abstimmung der verschiedenen Einzel- gen bis zu den Informationstagen für Abiturienten maßnahmen und ihrer Träger dienen soll. und Hochschulabsolventen. Der Schwerpunkt liegt am Ende der Sekundarstufe I, wo üblicherweise Nach der Breite und Vielfalt des Angebots zu ur- in allen Schulformen die Betriebserkundungen teilen, ist für die Berufsorientierung gut gesorgt. und -praktika stattfinden. Die Hauptlast tragen Wenigstens auf dem Papier. Die Grundschwierig- die Schulen und die dort tätigen Lehrkräfte. Siekeiten sind allerdings noch die gleichen wie in den haben, wie es zum Beispiel im hessischen Erlass sechziger und siebziger Jahren. Teilweise haben zur Ausgestaltung der Berufs- und Studienori- sie – wie das Allokationsproblem – zugenommen. entierung in Schulen vom 8. Juni 2015 heißt, dieDer technische Fortschritt und die Digitalisie- rung beschleunigen den Wandel der beruflichen Aufgabe, ihre „Schülerinnen und Schüler … fächer- übergreifend auf [die] Berufswahl und Berufsaus-Anforderungen, und entsprechend schwierig sind übung vorzubereiten“. Zu diesem Zweck sollen dieVoraussagen über den künftigen Bedarf an akade- „Schulen … neutrale und umfassende Beratungen misch und außerakademisch ausgebildeten Fach- kräften. Weil immer noch viele junge Menschen über Qualifikationsmöglichkeiten (gewährleisten)“. „Am Ende ihrer schulischen Laufbahn“ sollen „die mit falschen Erwartungen und ohne die nötigen Voraussetzungen eine Ausbildung beginnen, ist Schülerinnen und Schüler … in der Lage sein, eine ihren Kompetenzen entsprechende fundierte Be- und bleibt die Berufsorientierung eine der wich- rufs- oder Studienwahlentscheidung zu treffen tigsten erzieherischen Aufgaben. Das Angebot an und die dann an sie gestellten Anforderungen zu Informationsunterlagen, Unterrichtsmaterialien, bewältigen“ (§ 1). Beratungsmöglichkeiten und Entscheidungshilfen ist riesig und das Wissen immer noch gering, wel- Viele allgemeinbildende und berufliche Schulen che Maßnahmen im Verhältnis zum Aufwand am fühlen sich mit der großen Aufgabe der beruf- meisten Nutzen versprechen und welche weniger lichen Vorbereitung alleingelassen. Nicht ganz gut abschneiden. Es könnte sogar Fälle geben, wo ohne Grund: Um der Vielfalt der Problemstellun- die Anstrengungen ohne Wirkung verpuffen oder gen und Erziehungsaufgaben gerecht werden zu die unerwünschten Nebenwirkungen die Vorteile können, sind Zusatzmittel nötig, die der Dienst- überwiegen. herr allein nicht in vollem Umfang aufzubringen vermag. Eine große Unterstützung sind daher neben den Stiftungen die einschlägigen Landes- und Bundesprogramme, die in aller Regel mit den entsprechenden Förderprogrammen der Europä- ischen Union korrespondieren. Viele davon ha- 12 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
Mahias Rode Wieviel Berufsorientierung denn nun noch?!? Der Erlass zur Ausgestaltung der Berufs- und Stu- OloV steht für: „Optimierung der lokalen Vermilungsarbeit im Übergang dienorientierung in Schulen vom 8. Juli 2015, ABl. Schule – Beruf“. OloV wurde 2005 als ein Projekt des Hessischen Paktes für 7/2015, S. 7/17, §18 ist ein weiterer Schritt zur Des- Ausbildung ins Leben gerufen. Seit 2013 hat der Hessische Landesausschuss organisation der Berufsorientierung und des Ar- für Berufsbildung mit einem eigenen Unterausschuss OloV die Steuerung der beitslehreunterrichts im mittleren Bildungsgang OloV-Strategie auf Landesebene übernommen. an Hessischen Schulen. Der Landesausschuss für Berufsbildung setzt sich zusammen aus einer gleichen Anzahl von Beauragten der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der War es schon zu Zeiten eines dreiwöchigen Prak- obersten Landesbehörden. Die Geschässtelle liegt beim Hessischen Wi- tikums organisatorisch schwierig, die Praktikums- schasministerium. (siehe Stichwosuche OloV Hessen) vor- und -nachbereitung nebst Durchführung in die Hände von Lehrkräften mit der Lehrbefähigung Redaktion für AL zu legen, dürfte dies durch diese Änderung künftig noch schwieriger werden. So haben etwa viele Schulleitungen in einer Dienstversammlung des Schulamtsbezirks Hersfeld-Rotenburg/Werra- den hat: Erlass zur Ausgestaltung der Berufs- und Meissner-Kreis (HRWM) angekündigt, die Verord- Studienorientierung in Schulen vom 8. Juni 2015 nung nicht umzusetzen, weil sie dies schlicht und (ABl. 7/2015), Seite 8/17, § 20. An anderer Stelle einfach aus organisatorischen Gründen und aus wird darauf verwiesen, dass „externe und interne Gründen des Personalmangels nicht können. Weiterbildungen zur Qualifizierung der Lehrkräf- te allgemeinbildender Schulen für die Vermittlung Generell werden Betriebspraktika oft von Klassen- zielgerichteter Berufs- und Studienorientierung im lehrerinnen und Klassenlehrern vorbereitet, betreut Fortbildungskonzept allgemeinbildender Schulen und ausgewertet. Diese gängige Praxis an vielen verankert werden.“ ( ebd., S. 6/17, §17). Hessischen Schulen hat den Vorteil, dass die Lehr- kräfte Experten für Ihre Schülerinnen und Schüler Der Lehrplan für das Fach Arbeitslehre ordnet das sind, was eine gute Grundlage für die Durchfüh- Betriebspraktikum dagegen klipp und klar dem rung der Praktika ist. Betrachtet man hingegen die AL-Unterricht zu. Auf der anderen Seite steht die didaktischen Konzepte, stellt man fest, dass diese OloV-Aussage, dass die Berufsorientierung als eine kaum über das bloße Ausprobieren eines Berufs- integrale Aufgabe aller Unterrichtsfächer anzuse- feldes hinausgehen und viele der im Lehrplan auf- hen sei. Positiv betrachtet kann man dies als einen gelisteten Unterrichtsinhalte (z.B. Betriebsorgani- Gestaltungsspielraum der Schulen ansehen, die die sation, Mensch und Maschine, neue Produkte oder neue Verordnung nach ihren Rahmenbedingungen Dienstleistungen, Arbeitsplatzgestaltung, Arbeits- ausgestalten können. Negativ betrachtet wird dies und Unfallschutz, Berufe im Wandel, der Prakti- zu einem weiteren Anstieg von fachfremd durch- kumsbetrieb in der Wirtschaftsregion usw.) keine geführtem AL-Unterricht führen. An den Klassen- Berücksichtigung finden. Der Misere folgend, wer- lehrerinnen und Klassenlehrern wird es mit großer den die Berichtshefte von Drittanbietern von vie- Wahrscheinlichkeit hängenbleiben, ob sie dies nun len Lehrkräften dankbar angenommen, was ja auch gern möchten oder nicht. Vermutlich wird damit ganz im Sinne des OloV-Konzepts und der Berufs- gleich der AL-Unterricht in einer ganzen Jahr- orientierung ist. gangsstufe (R8 oder R9) verknüpft werden. Offen ist seit der Novelle, wo die Praktika curricu- An dieser Stelle sei einmal plakativ auf Unterschie- lar verortet sind. Es ist lediglich gesagt, dass die de zwischen Arbeitslehre und Berufsorientierung Vor- und Nachbereitung im Unterricht stattzufin- verwiesen: Forum Arbeitslehre 19 November 2017 13
Arbeitslehre Die Abbildung zeigt eine Einlegemappe mit Ge- weberücken aus meinem AL-Unterricht. Während der etwa 10-stündigen Epoche werden zunächst Mappen in Einzelarbeit nach dem Lehrgangsprin- zip durch die SuS gebaut. Es ähnelt dem Werk- unterricht wie in den 1960er Jahren. Doch dann folgt oft der gemeinsame Entschluss, eine Vielzahl von Mappen für den Verkauf in der Schulgemeinde herzustellen. Daran knüpfen viel Aspekte an, die Berufsorientierung über „Werken“ hinausgehen, wie: Wieviel kostet ei- ne Mappe? – Wie verkaufen wir die Mappen? – Wie Ein Bild aus der Probierwerkstatt des Schnupper- machen wir Reklame? – Was, wenn jemand eine Re- praktikums der Kreishandwerkerschaft in Bad klamation einreicht? – Wie organisieren wir die Ar- Hersfeld: An einer Vielzahl von Stationen werden beit? – Was machen wir mit dem Gewinn? Fertigkeiten gemessen bzw. Zeiten gestoppt, die für bestimmte Aufgaben gebraucht werden. Hier geht Dies sind nur einzelne der vielen Facetten, die es offensichtlich um das Hand- und Fingergeschick zeigen, dass Arbeitslehreunterricht auf ganzheit- beim Sortieren von Karteikarten. Auf ähnliche Wei- lichen (Handlungs-)Produkten und prozessorien- se werden Muttern auf Schrauben gedreht (und tiert aufgebaut ist, wobei dem Ergebnis immer eine wieder abgedreht), Drähte gebogen und so weiter. Schlüsselrolle zukommt. Aspekte von Verbraucher- Jeder kennt das bizarre Getue. Daraus werden dann erziehung, ökonomischer Bildung, Unfallverhü- im Ergebnis meist ziemlich kühne Aussagen über tung und Gesundheitsschutz, Umweltschutz und berufliche Eignungen der Probanden abgeleitet, Theorie-Praxis-Verzahnung sind hier neben vielen die maßgeblich für die weitere Berufswegebera- weiteren ebenso vertreten wie die Berufswahlvor- tung sind. Am Ende hat manch ein Schüler derma- bereitung. Berufsorientierung hat da einen klaren ßen die Nase voll davon, dass er dann doch lieber Platz in der AL, aber das Beispiel macht trotz der zu einer weiterführenden Schule geht ... Manchmal Verkürzung deutlich, dass AL weit über Berufsori- bringt es den Probanden aber auch weiter. entierung hinaus geht! Betrachte ich nun die Entwicklungen in den letz- ten Jahren, stelle ich eine immer stärkere Verschie- bung der Kräfte fest: In den 1990er Jahren war die Berufsorientierung ein integraler Bestandteil der AL – heute erlebe ich die AL als integralen Be- standteil von Berufsorientierung bzw. als deren Zubringer! Die Berufsorientierung mutiert zum or- ganisierenden Prinzip des Schulalltags in der Mit- telstufe. Und das geht stärker zu Lasten des AL-Un- terrichts, als zu Lasten irgendeines anderen Fachs. Von Seiten des HKM wird in diesem Kontext fast nur noch über Berufsorientierung geredet. Dass das Praktikum konzeptuell curricular eindeutig in der Arbeitslehre verortet ist (vgl. Lehrplan Ar- beitslehre, Bildungsgang Realschule, Seite 19 - 20), macht die Umsetzung der Verordnung nicht ein- facher. Im Schuljahr 2014/ 2015 wurden über 71 % der AL-Stunden fachfremd unterrichtet (siehe Drucksache 19/3194, Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD betref- fend Stärkung der Berufsorientierung und Arbeits- lehre in Schule und Unterricht vom 4.3.2016, Seite 19, Antwort auf Frage 53) - Tendenz weiter steigend 14 Forum Arbeitslehre 19 November 2017
(siehe Drucksache 18/7598, Kleine Anfrage der Deutsch- oder Politiklehrer haben. Die Hauptsache Abgeordneten Cárdenas betreffend Arbeitslehre- ist, dass sie mit Herzblut mit den jungen Menschen Unterricht vom 3.7.2013, Seite 2, Antwort auf Frage arbeiten.“ (ebd., S. 5098) 3). In einer von derart von fachfremd erteiltem Un- terricht geprägten Realität dürfte es in den meisten So habe ich es noch gar nicht betrachtet, Herr Hessischen Schulen schwer möglich sein, klare cur- Klein. Warum soll denn ein Deutschlehrer nicht riculare Absprachen zu treffen, um die Bildungs- auch Chemie oder Physik unterrichten? Haupt- standards zu erreichen. sache, er macht es mit Herzblut! Ach nein, so will ich es gar nicht betrachten! Vielmehr muss ich da All das auf der Basis von immer mehr fachfremdem ganz klar sagen: „Ein Politiker mit Sachverstand AL-Unterricht treibt an manchen Stellen Auswüch- an der richtigen Stelle ist mir lieber als 10 Politi- se, von denen die Landtagsabgeordneten nichts ker, die mit Herzblut arbeiten.“ Noch besser wäre ahnen, als sie am 18. Mai 2016 über die große An- natürlich Sachverstand und Herzblut, für Schüler frage der SPD-Fraktion zum Thema „Stärkung der und für Bürger. Nordpol und Südpol lassen eben- Berufsorientierung und Arbeitslehre in Schule falls grüßen, vergleiche ich die Landtagsdebatte und Unterricht“ debattieren (Hessischer Landtag, mit dem Disput in der Gesamtkonferenz an mei- Plenarprotokoll 19/73 vom 18.5.2016). Es ist schon ner Dienststelle. Dort fällt die neue Verordnung auf kennzeichnend für die Debatte, dass im Kern Fra- sehr wenig Gegenliebe und viele bezweifeln, ob die gen über Arbeitslehreunterricht gestellt werden Verantwortlichen wissen, was sie tun. Ich kann gar und diese mit Aussagen über Berufsorientierung nicht glauben, dass hier von ein und derselben Sa- beantwortet werden. Dabei zeigen die Fragen der che geredet wird, so unterschiedlich wird da argu- SPD in ihrer großen Anfrage unter der Federfüh- mentiert. Deshalb rege ich an dieser Stelle an: rung des bildungspolitischen Sprechers Christoph Degen ziemlich deutlich auf Probleme, die sich seit • dass Abgeordnete des Landtags, Mitarbeiter Jahren verdichten. Mit Ausnahme der SPD greift der Schulverwaltung und Schulämter sich stär- keine Fraktion die Probleme der Arbeitslehre auf. ker (wenn auch nur sporadisch) mit konkretem Die Aussprache wird hingegen als willkommene Unterricht bzw. mit konkreten Berufsorientie- Gelegenheit angenommen, die Erfolge des HKM rungsmaßnahmen beschäftigen und genau dort mit dem OloV-Konzept noch einmal als rundum po- wo die Schülerinnen und Schüler sind, unter- sitiv darzustellen. Es wird dabei nicht erwähnt, dass richten, hospitieren, beobachten und organisie- sich Berufsorientierung in einem völlig anderen ren. Ich finde meine tägliche Arbeit oft in den wirtschaftlichen Umfeld betrieben wird als noch politischen Auseinandersetzungen und Verwal- vor 15 Jahren, als es kaum Ausbildungsstellen gab. tungsvorschriften nicht wieder. Ich erlebe es als Das müsste ja in die Bilanz über die Anstrengungen abstrakt, wie sich die Administration mit Unter- zur Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit richt beschäftigt. Ich würde manchmal gern mit mit einbezogen werden, wenn man das gründlich demjenigen, der sich so etwas wie die oben be- betrachtet. Ich habe den Eindruck, man will es auch sagte Verordnung ausdenkt, reden. Es ist immer nur oberflächlich betrachten. Einzig die Aussage unmöglich im HKM oder im AfL zu erfahren, des Bildungspolitischen Sprechers der CDU, dem welche Person konkret dahinter steckt. Man hat Herrn Abgeordneten Hugo Klein, zeigt etwas dif- sich auf eine schlimme Weise von der konkreten ferenzierter auf, wo die Reise hingeht: „Ein Kollege, Unterrichtsrealität entfernt. Warum? der fachfremd in Berufsorientierungsmaßnahmen eingesetzt ist, kann wertvoller sein als 10 Kollegen, • mehr fachliche Kompetenz im Arbeitslehre- die Arbeitslehre summa cum laude abgeschlossen unterricht, und mehr Expertise in der Be- haben. Denn er arbeitet mit Herzblut.[…] Es ist we- rufsorientierung! Die berufsorientierenden niger entscheidend, ob sie jetzt einen Abschluss Aktivitäten im Sinne des OloV-Konzepts haben als Arbeitslehrelehrer oder einen Abschluss als einen Raum eingenommen, der weit über eine Forum Arbeitslehre 19 November 2017 15
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