B1 Laufen, Springen, Werfen - Leichtathletik

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B1 Laufen, Springen, Werfen - Leichtathletik
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B1 Laufen, Springen, Werfen – Leichtathletik
SILKE BRAND

Das Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen wurde in früheren sportdidaktischen
Konzepten fast ausschließlich im Sinne der Sportart Leichtathletik interpretiert (z. B.
im sog. „Sportartenkonzept“; vgl. Kap. A3). In der didaktisch-methodischen Fachlite-
ratur gilt die Leichtathletik bis heute als eine „Kernsportart“ (z. B. SÖLL, 1996), der
auch in außerunterrichtlichen Sportveranstaltungen in Form der Bundesjugendspiele
große Bedeutung beigemessen wird (z.B. DLV, 2009). Im Sportunterricht steht in der
Regel die Vermittlung ausgewählter Disziplinen und Techniken der olympischen
Leichtathletik im Vordergrund, wobei in jüngerer Zeit auch weitere Varianten in das
aktuelle Programm der Bundesjugendspiele mit aufgenommen wurden („Vielseitig-
keitswettbewerb der Grundsportarten“ sowie „sportartübergreifender Mehrkampf der
drei Grundsportarten“, vgl. DLV, 2009, S. 5).
   Infolge der Konzentration auf die (olympische) Leichtathletik ist bisher (zu) wenig
beachtet worden, dass die drei Bewegungsweisen im Bewegungsfeld Laufen, Sprin-
gen, Werfen elementare Bestandteile fast aller weiteren Bewegungsfelder sind (vgl.
DLV, 2010), die sich zudem durch eine einzigartige Historizität auszeichnen. Aus
diesem Grund wird das Bewegungsfeld in den neuen Lehrplänen in einen erweiterten
didaktischen Kontext gestellt, in dem die Sportart Leichtathletik zwar noch immer ei-
nen zentralen Stellenwert einnimmt, dabei jedoch auch berücksichtigt wird, dass die-
se Sportart gleichsam die „Spitze des Eisbergs“ dieses weitaus vielfältigeren Bewe-
gungsfeldes darstellt. Laufen Springen und Werfen beinhaltet in den aktuellen Lehr-
plänen neben leichtathletische Disziplinen auch Themen wie Orientierungslauf sowie
Kombinationsformen (Duathlon, Biathlon), Spielformen sowie Mannschaftswettkämp-
fe: „Laufen, Springen und Werfen mit veränderten und auch selbst gewählten Sinn-
richtungen – als Spielformen oder Mannschaftswettbewerbe“ (vgl. z.B. HESSISCHES
KULTUSMINISTERIUM, 2010, S. 8ff.).
   Den Korpus dieses „Eisbergs“ an Erfahrungsmöglichkeiten und Bildungspotenzia-
len sichtbar und didaktisch fruchtbar zu machen ist Ziel des vorliegenden Kapitels. Zu
diesem Zweck erfolgt zunächst in der gebotenen Kürze eine Darstellung der histori-
schen Entwicklung des Laufens, Springens und Werfens (1). Es wird verdeutlicht,
dass es sich dabei um motorische Grundweisen der menschlichen Phylogenese
handelt, die schon sehr früh kulturell überformt und in pädagogische Kontexte ge-
stellt worden sind. Auf diesen historischen Erkenntnissen aufbauend werden im
nächsten Schritt verschiedene Ebenen ästhetischer Erfahrungspotenziale des Bewe-
gungsfeldes analysiert und auf die Pädagogischen Perspektiven der aktuellen Sport-
lehrpläne bezogen (2). Dem schließt sich eine Erörterung subjektorientierter Lehr-/
Lerntheorien im Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen an (3), die abschließend
anhand einer exemplarischen Unterrichtseinheit zum Thema „schnelles Laufen über
Hindernisse“ konkretisiert werden (4).
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1     Zur Idee und Historie des Bewegungsfeldes Laufen, Springen,
      Werfen

Laufen, Springen und Werfen stellen Bewegungsweisen dar, die dem Menschen an-
geboren sind und deren Kultivierung historisch sehr weit rückblickend nachgewiesen
werden können:
     „ … denn die Ausbildung körperlich-motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten und be-
     stimmter Bewegungsformen und -techniken im Zusammenhang des Heranwachsens und
     der Gesamterziehung von Kindern und Jugendlichen (aber prinzipiell auch von Erwach-
     sene und älteren Personen) spielt seit Menschengedenken und in allen Ländern eine –
     wenn auch unterschiedliche – Rolle.“ (HOFMANN & KRÜGER, 2009, S. 32).

Am Beispiel des Laufens lässt dich die kulturelle Überformung einer phylogeneti-
schen Bewegungsweise besonders treffend nachzeichnen (vgl. zusammenfassend
KRÜGER, 2004, S. 43ff.). In der Frühgeschichte des Menschen spielte das ausdau-
ernde Laufen als zentrale Grundfähigkeit des Jagens bereits eine entscheidende
Rolle (z.B. „persistence hunting“: ein ausdauerndes Hetzen von Tieren als existenz-
sichernde Maßnahme; vgl. GOTAAS, 2009). Auf späteren zivilisatorischen Entwick-
lungsstufen traten weitere funktionale Bedeutungen hinzu wie z.B. Botenläufe, so-
wohl in der hellenischen Kultur als auch in anderen Kulturformen wie die der Inkas.
Bei den Inkas entstand aus der Vernetzung vieler Informationen durch die Botenläu-
fer sogar ein hoch entwickeltes Kommunikationssystem durch einen regen Informati-
onsaustausch (vgl. ebd.).
   Laufen und analog dazu auch das Springen und Werfen können also als motori-
sche Grundweisen des Menschseins betrachtet werden, die in der Geschichte vielfäl-
tig kultiviert und mit unterschiedlichsten Sinnperspektiven belegt worden sind:
     „Für ägyptische Königssöhne und Pharaonen war … eine breite sportliche und athleti-
     sche Ausbildung ebenso unverzichtbar wie für griechische Helden und römische Feldher-
     ren, oder auch für Ritter und Knappen im europäischen Mittelalter, Samurai in Japan oder
     Häuptlingssöhne und Stammesfürsten auf dem amerikanischen und afrikanischen Konti-
     nent.“ (HOFMANN & KRÜGER, 2009, S. 33).

In der antiken Welt zählten diese Bewegungsweisen bei religiösen Festveranstaltun-
gen zu den konstitutiven Elementen. Sie waren oftmals ein charaktergebender Teil
von Ritualen, wie z.B. der Lauf innerhalb des ägyptischen „Jubiläumsfests“, der dazu
diente, die physische sowie magische Kraft des regierenden Königs zu erneuern. Im
Rahmen der antiken olympischen Spiele zählten Speerwurf, (Weit-)Sprung, Diskus-
wurf sowie der (Kurzstrecken-)Lauf zum Kern des Pentathlons, der durch das ab-
schließende Ringen ergänzt wurde.
   In den homerischen Epen (Ilias und Odyssee), in denen der agonalen Dimension
anhand der zentralen Begriffe aretē und timē“ ein besonderer Wert beigemessen
wird, tritt ein deutlicher erzieherischer Bezug bei der Ausübung der motorischen
Grundweisen hinzu: Der zentrale Beweggrund für die nach modernem Verständnis
„sportlichen“ Agōnen war das Streben nach Tapferkeit, Ruhm und Tugend (Begriff
der aretē) und Ehre (Begriff der timē), die als Charakteristik des Ideals der aristeia
(Exzellenz) galten (vgl. W EILER, 1974). Der homerische Held verkörpert dieses Ideal,
3

wobei sich der „tüchtige Krieger“ durch die aretē von einem „normalen Mann“ unter-
scheidet (vgl. im Überblick KRÜGER, 2004, S. 119 ff.).
   Nachdem z.B. dem Laufen im 16. Und 17 Jahrhundert eine gänzlich andere Be-
deutung zugeschrieben wurde – Laufen wird hier u.a. als „eine Kultur des Geläch-
ters“ beschrieben (vgl. SCHIFFER, 2010, S. 302), das die Zuschauer zum Lachen an-
regen sollte – wird das erste Messen von Laufleistungen parallel zur industriellen
Entwicklung datiert (vgl. ebd.). Erst ab diesem Zeitpunkt, zu dem dies auch technisch
möglich war, wurden Rekorde festgehalten. Aufgrund der Einführung von Rekorden
mussten standardisierte Laufdistanzen festgelegt werden. Diese Entwicklung erreich-
te einen ersten Höhepunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20.
Jahrhunderts mit Entstehung der modernen Olympischen Spiele. Historisch betrach-
tet steht das Messen von Leistungen und Festhalten derselben (Rekord von lat.
recordari = sich erinnern, merken) also ganz am Ende der Kultivierung der motori-
schen Grundweisen des Laufens, Springens und Werfens.
   Zusammenfassend sollte der einführende historische Exkurs Folgendes verdeutli-
chen: Laufen, Springen und Werfen als motorische Grundweisen sind dem Men-
schen phylogenetisch, d.h. jenseits aller (sportiver) Kultivierung ursprünglich zu Ei-
gen. Sie sind deshalb nicht nur auf die Idee der modernen Olympischen Spiele
(„citius, altius, fortius“) und des Rekordes („Leistungen messen“) beschränkt, sondern
zeichnete sich in der Geschichte der Menschheit durch viele weitere „Sinnhaftigkei-
ten“ aus. Es kann zudem festgehalten werden, dass diese Formen des Sich Bewe-
gens schon sehr früh in einen pädagogischen Kontext gestellt worden sind.

2     Bildungspotenziale und Pädagogische Perspektiven des
      Bewegungsfeldes Laufen, Springen, Werfen

Wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, gilt die Leichtathletik in traditionellen sportdi-
daktischen Konzepten als eine „Kernsportart“ des Sportunterrichts. In der einflussrei-
chen Taxonomie der Unterrichtsinhalte des „Sportartenkonzepts“ (vgl. Kap. A3) von
SÖLL (1996, S. 24) steht die Leichtathletik als „Sport im engeren Sinne“ sogar im
Zentrum der Unterrichtsinhalte, wobei sie diese Position u.a. mit dem Rudern und
dem Gewichtheben teilt (s. Abb. 1). Die Quantifizierbarkeit der körperlichen Leistung
in den Dimensionen „Zentimeter, Gramm, Sekunden“ (c-g-s) ist das charakteristische
verbindende Element zwischen diesen „Sportarten im engeren Sinne“.
   Ausgehend von der Fokussierung der Messbarkeit der leichtathletischen Leistun-
gen besteht für Vertreter des Sportartenprogrammes das Hauptziel des Sportunter-
richts in der Vermittlung konditioneller Fähigkeiten und motorischer Fertigkeiten, die
dann später gemessen werden sollen. Dabei wird die normierte Sportart als einziger
unverfälschter, ernsthafter und „wahrer“ Sport bezeichnet, deren „Strukturformel“ da-
rin bestehe, „körperliche Leistungsfähigkeit möglichst verlustfrei in messbare Leis-
tung umzusetzen“ (SÖLL, 1996, S. 36). Als Unterrichtsinhalte dominieren ausgewähl-
te Techniken bzw. Technikelemente der jeweiligen leichtathletischen Disziplin sowie
die Beschränkung auf die Quantifizierbarkeit der sportlichen Lauf-, Spring- und Wurf-
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leistung den Sportunterricht, die sich am Wettkampfgeschehen und -normen der mo-
dernen Olympischen Spiele orientieren.

Abb. 1: Das „Eigentliche“ des Sports (aus SÖLL, 1996, S. 24; Hervorhebung durch Verf.).

Resümierend bleibt festzuhalten, dass das Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen
bis in die jüngste Zeit eine didaktische Auslegung im Sinne des olympischen Mottos
„citius, altius, fortius“, verbunden mit einer Orientierung an der Messbarkeit der Be-
wegungsleistungen, erfahren hat. Unterrichtsmethodisch dominierte die methodische
Übungsreihe (MÜR), in deren Verlauf sachlogisch bedeutsame Elemente einer im
Kontext der (olympischen) Spitzenleichtathletik entwickelten „Optimaltechnik“ zu-
nächst zerlegt wurden, um deren Komponenten dann einzeln zu üben und schließlich
zu einem Ganzen zusammenzuführen (z.B. BAUERSFELD & SCHRÖTER 1998; kritisch
dazu vgl. bereits DIETRICH & LANDAU, 1990, S. 181ff.).1
   Dieser eindimensionalen didaktischen Auslegung des Bewegungsfeldes liegt ein
funktionales Bewegungsverständnis zugrunde, das ausschließlich am Erfüllen von
Normen orientiert ist. Wie in Kapitel A4 bildungstheoretisch begründet, sollte in einem
Erziehenden Sportunterricht jedoch das kulturelle Bewegungshandeln im Mittelpunkt
stehen, das im Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen, so z.B. beim Hürdenlauf,
geradezu idealtypisch durch eine „freiwillige Selbsterschwernis“ des Bewegungshan-
delns charakterisiert ist: Man stellt sich vorsätzlich Hindernisse in den Weg, um an-
schließend darüber springen zu können. Die ästhetischen Potenziale dieser „Eigen-
welt“ des Bewegungsfeldes für die Schüler zu eröffnen ist die zentrale Aufgabe des
Sportunterrichts unter dem Aspekt der Bewegungsbildung.

1
    Vgl. auch die Erläuterungen zum didaktischen Stellenwert der „Methodischen Übungsreihe“ in Kapi-
    tel A5.
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Anhand eines Mehrebenen-Modells des Bewegungsfeldes, das nicht dessen nor-
mierte Bewegungsabläufe, sondern dessen ästhetische Erfahrungspotenziale diffe-
renziert, soll der Unterschied bzw. Gegensatz zum Sportartenkonzept verdeutlicht
werden (s. Abb. 2). Am Beispiel des Springens wird gezeigt, wie sich dessen Bedeu-
tung und damit verbunden auch dessen ästhetisches Potenzial in Abhängigkeit von
der Entwicklungsphase und dem Kompetenzniveau verändern:
• Auf der ersten, prozessualen Ebene wird von der alltäglichen Beobachtung aus-
  gegangen, dass Kinder vor Freude springen und sich am Springen freuen. Dieses
  Springen soll nichts in der Welt bewirken, es liegt noch kein Bezugskriterium zur
  Einschätzung einer erbrachten Leistung vor, das Kind geht vollständig im Prozess
  des Springens auf.
• Ein Leistungskriterium tritt auf der nächsten Ebene hinzu, wenn im späteren Kin-
  desalter versucht wird, ein Hindernis als Herausforderung im Sprung zu überwin-
  den. Die leitende Bezugsnorm ist als nominal (ja/nein) zu klassifizieren, weil es
  dabei um die Frage geht, ob das Hindernis überwunden wird oder nicht. Im Falle
  des Erfolgs wird die Schwierigkeit als neue Herausforderung gesteigert, d.h. man
  wagt sich an ein höheres bzw. weiteres Hindernis.2
• Auf der nächsten Ebene gewinnt die komparative Bezugsnorm der Leistung in
  Form des Wettbewerbs bzw. Wettkampfs mit anderen Menschen auch eine sozia-
  le Bedeutung. Hier wird der Erfolg der Bewegungshandlung nicht mehr nur indivi-
  duell („schaff‘ ich‘s oder schaff‘ ich’s nicht“) aufs Spiel gesetzt. Vielmehr spielt auf
  dieser Ebene erstmals die sportliche Codierung Sieg/Niederlage (vgl. grundlegend
  BETTE 1999) eine Rolle, die auf den vorangehenden Stufen noch keine Bewandt-
  nis hatte. Jedoch besteht auf dieser komparativen Erfahrungsebene keine Not-
  wendigkeit, die erbrachten Bewegungsleistungen zu messen.
• Die Zahl als Kenngröße für Bewegungsleistungen in den Intervallskalen der physi-
  kalischer Dimensionen (c-g-s) ist erst dann zwingend erforderlich, wenn einer ab-
  soluten Bezugsnorm genügt werden soll, die von der Leistungssituation entkoppelt
  ist. Im Leistungssport wird diese Bezugsnorm durch den Rekord symbolisiert. Im
  Bereich des Schulsports sind sog. jahrgangsspezifische Normtabellen (z.B. Bun-
  desjugendspiele) nicht-absolute Sonderformen der Quantifizierung (vgl. SÖLL,
  1996, S. 153ff.). Die Gemeinsamkeit mit dem Rekord besteht darin, dass die er-
  brachte Bewegungsleistung nicht mehr auf den konkreten, situativen Vergleich im
  Wettbewerb, sondern auf ein abstraktes Kriterium bezogen wird. Dafür werden
  normierte (Mess-)Instrumente und Bewegungsumwelten benötigt, um der ermittel-
  ten Zahl als Quantität der Leistung eine Bedeutung zu verleihen.

2
    Der berühmte Dessauer Sprunggraben der Philanthropen im 18. Jahrhundert, der sich von drei auf
    acht Fuß verbreiterte, folgte bereits dieser zunächst nominalen und anschließend sich steigernden
    Bezugsnorm des Springens.
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Abb. 2: Ebenen ästhetischer Erfahrungspotentiale im Bewegungsfeld „Laufen, Springen, Werfen“ –
       aufgezeigt am Beispiel „Springen“.

In der Zusammenschau der didaktischen Analyse des Bewegungsfeldes sind die fol-
genden beiden Punkte von besonderer Bedeutung:
• Die genannten Ebenen sind in der Weise ineinander verschachtelt, dass die ur-
  sprünglichen ästhetischen Potenziale stets auch in den späteren Ebenen erhalten
  bleiben. So ist das Flug- bzw. Rhythmus-Erlebnis des kindlichen Springens durch-
  aus auch im Erlebnis des leichtathletischen Weitsprungs oder Hürdenlaufs prä-
  sent, allerdings in einem sportlicher Wettkampf überformt, dessen objektives Er-
  gebnis in Form einer standardisierten Messung quantifiziert werden kann (wenn-
  gleich nicht unbedingt muss).
• Aus didaktischer Sicht ist ferner zu beachten, dass höhere Ebenen nicht mit einem
  „höherwertigen“ ästhetischen Erlebnis gleichzusetzen sind. Gemäß dem anthropo-
  logischen Prinzip des „abnehmenden subjektiven Ertrages bei zunehmender Er-
  folgssicherheit“ ermöglichen es die Kulturformen des Laufens, Springens und Wer-
  fens vielmehr, die ursprünglich direkt zugänglichen ästhetischen Erfahrungspoten-
  ziale auch in späteren Entwicklungsphasen zu erhalten (vgl. dazu Kap. A1). Dies
  ist ihr eigentlicher überindividueller Sinn und hier zeigt sich ihr kultureller Wert z.B.
  in Form der Disziplinen der Leichtathletik.
Demnach sind Leistungen im Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen zwar durch-
aus messbar, jedoch ist das Messen keinesfalls der Sinn des Bewegungsfeldes: Die
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Zahl steht ganz am Ende der ästhetischen Stufenleiter - nicht an deren Anfang.3 Aus
diesem Grund sollte im Sportunterricht die Stufenfolge der ästhetischen Potenziale
des Bewegungsfeldes von unten nach oben inszeniert werden, also vom freudvollen
Erleben des Bewegungsprozesses Ausgang nehmen (vgl. Abb. 2).
   Wie in Kapitel A4 ausführlich erörtert, folgen die neuen Lehrpläne mit der Einfüh-
rung der Bewegungsfelder weitgehend dieser Interpretation des Unterrichtsgegen-
standes, den sie zudem mit Pädagogischen Perspektiven in Verbindung bringen. Ziel
dieses Erziehenden Sportunterrichts ist nicht allein der Erwerb von Bewegungskom-
petenzen, sondern darin integriert auch die Persönlichkeitsbildung der Schüler. Da-
bei werden neben der in der Leichtathletik traditionell fokussierten Perspektive Leis-
tung auch andere pädagogische Momente in den Blick genommen wie z.B. Körperer-
fahrung, Gesundheit sowie Kooperation. So sieht z.B. der hessische Lehrplan Sport
– G8 Rhythmisches Laufen: Laufen und Sprinten über Hindernisse als verbindlichen
Unterrichtsinhalt für die Klasse 6 vor. Als fakultative Unterrichtsinhalte wird die Ver-
größerung der Abstände, die Erhöhung der Hindernisse sowie das Laufen im Dreier-
rhythmus benannt (HKM, 2010, S. 40). Bei allen Inhalten steht in dieser Klassenstufe
die pädagogischer Perspektive „Sinneswahrnehmungen verbessern, Bewegungser-
lebnis und Körpererfahrung erweitern“ im Vordergrund (HKM, 2010, S. 40). In der
Jahrgangsstufe 7 wird diese Perspektive durch „die Leichtathletik-Leistung nicht ab-
solut, sondern relativ sehen“ ergänzt.
   Generelle unterrichtsmethodische Möglichkeiten für die Vermittlung der Inhalte
des Bewegungsfeldes unter Berücksichtigung pädagogischer Perspektiven werden in
den nachfolgenden Kapiteln exemplarisch aufgeschlüsselt.

3       Lehr-/Lernansätze im Bewegungsfeld Laufen, Springen,
        Werfen

Die didaktische Bedeutung der Qualität von Lehr-Lernprozessen wurde in Kapitel A5
detailliert erörtert. Dabei wurden u.a. die phänomenologischen Vermittlungsprinzipien
von THOLEY (1987) fokussiert, die eine hohe Lernqualität durch die Einbeziehung des
Subjektes und dessen Erlebniswelt in den Unterrichtsprozess gewährleisten. Mit
Blick auf das vorliegende Bewegungsfeld soll dies am Beispiel des Hürdenlaufs kurz
erläutert werden.
   Das Prinzip Ganzheitlichkeit ist so zu deuten, dass Laufen, Springen und Werfen
strukturell anhand zentraler Knotenpunkte der Bewegung vermittelt werden. Beim
schnellen Laufen über Hindernisse (Hürdenlauf)4 ist dies nicht die exakte Kopie einer

3
  Wie die in Abschnitt 1 dargestellten historischen Ursprünge zeigen, ist das „Messen“ auch nicht der
  eigentliche Sinn der Sportart Leichtathletik, sondern der Vergleich. Hier wird besonders deutlich,
  dass das vorliegende erfahrungsorientierte didaktische Konzept des Bewegungsfeldes Laufen,
  Springen, Werfen den Begründungszusammenhang des „Sportartenkonzepts“, in dem die
  Quantifizierbarkeit als Kern der Leichtathletik interpretiert wird, geradezu in das Gegenteil verkehrt.
  Anders formuliert: Der didaktische Grundgedanke des Bewegungsfeldes wird vom „Kopf“ (Messen)
  wieder auf die „Füße“ (Erleben) gestellt.
4
  Vgl. die in Abschnitt 4 dargestellte Unterrichtseinheit.
8

idealtypischen Körperhaltung während der Überquerung des Hindernisses (Hürden-
schritt), sondern das nahe Heranlaufen an das Hindernis und das schnelle Trittfassen
dahinter. Damit sind auch die Prinzipien Erlebnisorientierung und Sachlichkeit ange-
sprochen, denn nun ist der Lernende gehalten, einen spezifischen, ihm angenehmen
Laufrhythmus zu finden, der ihn flüssig an das Hindernis „heranträgt“. Infolgedessen
fokussiert der Lernprozess nicht eine bestimmte Körperhaltung über der Hürde (Ich-
Haftigkei“), sondern lenkt die Aufmerksamkeit des Lernenden auf das Bewegungs-
problem, das darin besteht, (nur) so nahe an das Hindernis heran zu laufen, wie er
dahinter schnell wieder Tritt fassen kann. Die Hürdenüberquerung, die als Verbin-
dung zwischen Heranlaufen und Trittfassen „gezeigt“ wird, legt eine funktionale „Hal-
tung“ über dem Hindernis insoweit nahe, dass dsyfunktionale Körperhaltungen durch
das nicht-gelöste Bewegungsproblem unmittelbar rückgemeldet werden.
   Die phänomenologischen Vermittlungsprinzipien der Variabilität sowie der überge-
ordneten schöpferischen Freiheit weisen enge Bezüge zu dem aktuellen systemdy-
namischen Ansatz des differenziellen Lernens auf. Da dieser Ansatz in jüngerer Zeit
insbesondere im Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen Anwendung gefunden
hat (vgl. SCHÖLLHORN u.a., 2009), soll er im Folgenden etwas ausführlicher darge-
stellt werden. Die systemdynamische Lerntheorie basiert auf einem nicht-linearen
Verständnis biologischer Systeme. Infolgedessen soll einerseits der Individualität ei-
nes motorischen Lernprozesses als „instabiles System“ mehr Beachtung zukommen.
Andererseits wird davon ausgegangen, dass der Wechsel zwischen stabilen Zustän-
den nur über das kurzfristige Vorliegen von Instabilitäten möglich ist (zusammenfas-
send SCHÖLLHORN, 1999).5
   Der systemdynamische Ansatz ist vor allem in technikorientierten Sportdisziplinen
wie z.B. die technischen Disziplinen der Leichtathletik wie Hürdenlauf und Hoch-
sprung umgesetzt worden. Davon ausgehend, dass die im menschlichen Organis-
mus ablaufenden Prozesse im Wesentlichen nicht-linearer Natur sind, wird gefolgert,
dass die Zieltechnik (Technikleitbild) im Training interpoliert, also gleichsam „ver-
fälscht“ werden sollte. Dies bedeutet, dass der Lernende durch gezielte Variation ei-
ne Optimallösung individuell erarbeitet und eben nicht möglichst exakt eine vorgege-
ben Bewegung „kopiert“. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es eine je individu-
ell unterschiedliche, optimale Lösung des Bewegungsproblems gibt. Unterrichtsme-
thodisch werden folgenden Variationsoptionen vorgeschlagen (vgl. SCHÖLLHORN u.a.,
2009, S. 38):
• Variation von Anfangs- und Endbedingungen einer Bewegung;
• Variation von Merkmalsumfängen;
• Variation des äußeren und inneren Bewegungsrhythmus.
Diese phänomenologischen und systemdynamischen Vermittlungsprinzipien sind an
aktuelle unterrichtsmethodische Beiträge der Sportpädagogik anschlussfähig. Am

5
    Idealtypisch bedeutet dies z.B.: Stabiler Zustand a: Laufen über Hindernisse rhythmisch, aber mit
    hohem Abstand über den Hindernissen möglich. – Instabilität: Rhythmizität geht teilweise verloren. –
    Stabiler Zustand b: Rhythmizität und dichtes Überqueren der Hindernisse ist möglich.
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Beispiel des Hürdenlaufes und insbesondere an der Frage, was Hürdenlauf über-
haupt bedeutet, zeigt z.B. LANGE (2006, S. 6) auf, dass die didaktische Entscheidung
das methodische Vorgehen wesentlich beeinflusst:
        „Entweder A: Ein ökonomisch, schnelles Geradeauslaufen über regelmäßige stehende,
        gleich hohe Hindernisse? Oder B: Ein schnelles, wagnishaltiges Aufbrechen und rhyth-
        misch-effizientes Gestalten sowie Einverleiben eines Laufraumes?“

Anhand des jeweiligen Sachverständnisses zeigt er auf, wie die methodische Konse-
quenz (A: methodische, additive Übungsreihe, B: am Bewegungsproblem den
Laufraum aktiv erschließen) lautet. Dieses aktive Erschließen kann durch einen er-
lebnisorientierten, variablen Lernweg angestoßen werden, der dem lehrplanspezifi-
schen Doppelauftrag des Sportunterrichts Rechnung trägt.6 Dieser Weg sollte vom
Lehrenden als ein Ermöglichungsraum im Sinne schöpferischer Freiheit inszeniert
werden. Insofern scheint die methodische Entscheidung „B“ von LANGE (2006) aus
dem obigen Beispiel die Einlösung des Doppelauftrages eher zu begünstigen. Um
diesem Anspruch gerecht zu werden, muss also das „Ästhetische“ der Sportart – an-
ders formuliert: das einzigartige, möglichst positiv belegte Erfahrungs- und Wahr-
nehmungspotential der jeweiligen Art des Springens, Laufens und Werfens – her-
ausgearbeitet werden.
   Nach SCHERER (2009a) sind die übergeordneten Kennzeichen eines bewegungs-
ästhetischen Potentials in folgenden Merkmalen zu finden:
• Bewegungen zeichnen sich durch Flüchtigkeit aus, es gibt kein fassbares Ergeb-
  nis, sondern „nur“ das Bewegen um seiner selbst willen; d.h, es wird keine „Funk-
  tionserfüllung“ verfolgt. Im optimalen Fall entsteht durch den Übungsprozess ein
  Gefühl von Leichtigkeit, wobei dieses Üben ohne eine Wiederholung „des immer
  Selben“ ablaufen sollte.
• Dies bedeutet für den vorliegenden Inhalt: nicht immer das Gleiche üben, die Be-
  wegungsaufgabe darf nicht zu schwer, aber auch nicht zu leicht sein.
Genau hier setzt der phänomenologische bzw. differenzielle Lernansatz an. Fehler
werden als Lernchance verstanden und nicht „eingreifend“ korrigiert. Dies bedeutet
allerdings nicht, dass dieser Lernansatz einer Beliebigkeit unterworfen ist. Die Aufga-
be des Lehrers besteht vielmehr darin, einen Erfahrungsraum zu eröffnen, in dem im
Sinne des übergeordneten Ziels optimal exploriert werden kann.7
   Die gängigen unterrichtsmethodischen Handreichungen für den Sportunterricht
zielen jedoch in der Regel auf die „Kinder- und Jugendleichtathletik“ als Sportart ab
(z.B. BADER u.a., 2003 und 2004) und sind häufig für die Praxisfelder Schule und
Verein konzipiert (vgl. z.B. KATZENBOGNER & MEDLER, 1993a, b). Bewegungsfeldori-
entierte Ansätze finden sich bisher nur vereinzelt und sind eher in der Minderzahl
(vgl. bereits BRODTMANN & LANDAU, 1982 sowie SCHERER, 2001; LANGE, 2006; BECK-

6
    Vgl. dazu w.u. das Unterrichtsbeispiel in Abschnitt 4. Dieser Anspruch zeigt sich in dem Unterrichts-
    prinzip Gleichrangigkeit von Weg und Ziel (vgl. Kap. A4) sowie den in Abb. 1 in diesem Kapitel ver-
    anschaulichten Ebenen ästhetischer Erfahrungspotentiale.
7
    Auf die Parallelität zum genetischen Lehren und Lernen in der Sportspieldidaktik sei an dieser Stelle
    hingewiesen (vgl. z.B. LOIBL, 2006 sowie Kap. B5).
10

MANN,  2011). Insgesamt muss nach Sichtung der fachdidaktischen und methodischen
Literatur zum Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen resümierend festgestellt
werden, dass einerseits das Erfahrungspotential des vielfältigen Bewegungsfeldes
derzeit mit wenig Bezug zu der hier im Zentrum stehenden bildungsorientierten Inter-
pretation betrachtet wird und eine Spezifizierung von Inhalten und Methoden gemäß
dem Doppelauftrag in der gängigen Literatur eine untergeordnete Rolle spielt.
   Aus diesem Grund werden im Folgenden die vereinzelt vorliegenden bewegungs-
feldorientierten didaktischen Ansätze aufgegriffen und weitergeführt. Aufgrund der
Zusammensetzung des Bewegungsfeldes aus drei motorischen Grundweisen mit all
seinen Erscheinungsformen, die im vorliegenden Rahmen natürlich nicht in Gänze
berücksichtigt werden können, wird eine Bewegungsweise des Laufens – nämlich
das schnelle Laufen über Hindernisse – herausgegriffen. Das schnelle Laufen über
Hindernisse birgt besonderes Erfahrungspotential in sich: Ein Rhythmisieren des
Laufens wird durch die Bewegungsaufgabe ermöglicht, aber nicht vorgegeben. Das
besondere ästhetische Potential dieser „Mischform“ aus Laufen und Springen be-
steht darin, dass die optimale Kombination von Laufen und Springen – wenn man
eben alle Hindernisse „überläuft“ und nicht überspringt – zwischen schnell laufen,
möglichst nicht springen und rhythmisierend laufen liegt. Die individuell optimale
Kombination zweier motorischer Grundweisen innerhalb des Bewegungsfeldes ist
demnach die Herausforderung und führt, wenn sie gelingt, zu einer besonderen
Rhythmuserfahrung.
   Aus diesem didaktisch-methodischen Grundverständnis können nun exemplari-
sche Unterrichtsempfehlungen entwickelt werden, wobei die beiden Leitfragen eines
Erziehenden Sportunterrichts im Bewegungsfeld Laufen, Springen, Werfen im Mittel-
punkt stehen:
• Was macht den besonderen Reiz des Bewegungsfeldes (hier exemplarisch das
  schnelle Laufen über Hindernisse) aus?
• Wie kann eine Unterrichtseinheit zum Thema „Schnelles Laufen über Hindernisse“
  beide gleichwertigen Teile des Doppelauftrages (Erziehung zum und durch Sport)
  einlösen?
Folgt man zunächst der Frage nach dem spezifischen Reiz, so wird deutlich, dass
beim Hürdenlaufen der Laufraum durch schnelles Überqueren der Hindernisse
gleichsam aufgebrochen wird. Um dies zeitoptimal zu gestalten, darf man das Hin-
dernis – wie es eigentlich nahe läge – nicht weiträumig überspringen; vielmehr muss
es in möglichst geringem Abstand überquert werden. Diese Situation im Sinne einer
Herausforderung in den Lernhorizont der Schüler zu bringen ist die erste unterrichtli-
che Aufgabe.
   Durch Überlaufen, also Unterbrechen des reinen, schnellen Laufens - ohne jedoch
zu springen, entsteht ein spezifischer Laufrhythmus zwischen den Hürden bzw. Hin-
dernissen, der durch folgende Dialektik aufrecht erhalten werden kann: Wenn man
schnell sein will, muss man nicht nur schnell an das Hindernis „´ranlaufen“, sondern
auch schnell wieder vom Hindernis „wegkommen“ und beides zugleich gelingt nur,
wenn man möglichst wenig „fliegt“. Das eigentliche Sprinten wird somit möglichst
11

kurz unterbrochen. Nur durch dieses Wechselspiel kann ein Bewegungsfluss entste-
hen, der als rhythmisch wahrnehmbar ist. Genau dieses Rhythmuserlebnis gilt es
den Schülern zu ermöglichen, indem ihnen ein Weg dorthin gezeigt wird, der sich
ihnen nicht „von selbst“ erschließen würde.
   Um der zweiten Leitfrage nachzugehen kann an dieser Stelle auf den differentiel-
len Lernansatz aus Abschnitt 3 zurückgegriffen werden, da dieser durch gezielte Ex-
plorationsstrategien (z.B. das Variieren eines externen Rhythmus) den Schüler dazu
veranlasst, seinen inneren Rhythmus zu modifizieren bzw. zu verändern. Dies ge-
schieht in jeder Laufphase auf unterschiedliche Art und Weise (z.B. anderen Rhyth-
musgeber wählen oder schneller und langsamer den Rhythmus induzieren). Wenn
die Schüler nun selbständig diese „Verwirrung“ stiften und über die jeweilige motori-
sche Konsequenz bzw. Lösung beratschlagen, wird mit dem Bewegungslernen auch
die Urteilsfähigkeit und Kooperation gefordert und damit (potenziell) gefördert.

4     Exemplarische Unterrichtseinheit: Schnelles Laufen über
      Hindernisse

Im Folgenden wird nun eine in der Jahrgangsstufe 7 einer integrierten Gesamtschule
(gymnasialer Zweig) durchgeführte Unterrichtseinheit (UE) im Überblick vorgestellt,
reflektiert und eine Doppelstunde (DS) exemplarisch im Detail beschrieben. Das
Thema der Unterrichtseinheit lautete „Schnelles Laufen über Hindernisse“. Deren Ziel
lässt sich wie folgt zusammenfassen:
     „Die Schüler bewältigen möglichst schnell eine Strecke x (ca. 30-50m) mit einer festge-
     setzten Anzahl (4) von Hindernissen durch ein möglichst effizientes Überqueren, wobei
     der Abstand zwischen den Hindernissen konstant, aber durch die Schüler selbständig
     (individuell) ‚justiert‘ und auch die Höhe je individuell gewählt wird.“

Als Hindernisse wurden Bananenkartons gewählt, da sie sich unterschiedlich aufstel-
len lassen, also individuell in der Höhe anzupassen sind. Das Zeigen und Finden
lassen eines individuell passenden Abstandes bzw. das Wählen aus vorgegebenen
Abstands-Optionen orientierte sich an einem problemorientierten Lern-Lehransatz.
Die Schüler wurden zudem angehalten, ihren individuellen Lernprozess in vorstruktu-
rierten Lerntagebüchern zu dokumentieren und gleichzeitig auch zu reflektieren.
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Tab. 1: Themen der Unterrichtseinheit (UE) im Überblick.

    UE        Ziele

   1. DS      wenig in der Luft sein

              wenig in der Luft sein, so wenige Schritte wie möglich, aber so viele wie not-
   2. DS      wendig zwischen den Hindernissen durchführen – einen optimalen Hindernis-
              abstand finden

              variabel rhythmisierend schnell laufend die Hindernisse überqueren – welche
   3. DS
              Folgen hat ein Variieren für meinen Lauf?

              die eigene Leistung in Relation zu anderen bewerten – ein „Wettkampf der
   4. DS
              Rhythmen“

Die konkrete Umsetzung der Unterrichtseinheit über vier Doppelstunden (s. Tab. 1)
erfolgte in drei Schritten:
• In einem ersten Schritt ging es um das Rhythmisieren von Laufwegen mit Hilfe von
  Hindernissen (1. DS). Zu diesem Zweck wurde anhand eines Hindernisparcours,
  in dem die Hindernisse kreuz und quer standen (also nicht in gerader Linie), erar-
  beitet, dass man schneller über eine gerade Laufbahn mit Hindernissen laufen und
  seinen eigenen Laufrhythmus finden kann, wenn man nicht (zu) hoch über Hin-
  dernisse „fliegt“. Generell stand die Entwicklung sinnvoller Handlungsstrategien im
  Vordergrund, wobei Umsetzungsversuche durch entsprechend vereinfachte Ar-
  rangements erleichtert wurden (z.B. Bananenkartons als Hindernisse). Dadurch
  wurde das Bewegungsproblem zu einer individuellen Herausforderung, deren Lö-
  sungsstrategie selbstbestimmt und damit optimal dosiert entwickelt werden konn-
  te.
• Im zweiten Schritt sollte die gleichmäßige Schrittanzahl zwischen den Hindernis-
  sen thematisiert und (heraus-)gefordert werden (2. DS). Dies führte im optimalen
  Fall zu einem schnellen, rhythmisierenden Laufen zwischen den Hindernissen. Die
  Abstände sollten von den Schülern variiert und je optimal justiert werden. Als Er-
  gebnis entstanden Hindernisbahnen, die unterschiedliche Abstände (eben die von
  den Schülern erarbeiteten) aufweisen.
• Im dritten Schritt wurden dann die beiden vorher erarbeiteten Ergebnisse (über
  dem Hindernis       „möglichst wenig über das Hindernis springen“, zwischen den
  Hindernissen      “der eigene Rhythmus und der Abstand der Hindernisse passen
  zusammen“) vertieft (3. DS). Es wurde durch ein gezieltes Verändern des je ange-
  nehmen Laufrhythmus (durch einen von außen gegebenen Rhythmus) über die
  Konsequenzen „geforscht“. Im Zentrum stand die Frage: „Wie beeinflusst das Ver-
  ändern des Rhythmus meinen eigenen Lauf?“.
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Hier wird die Verbindung zum w.o. in Abschnitt 3 beschriebenen differenziellen Leh-
ren und Lernen deutlich, denn die von außen gegebenen Rhythmusänderungen soll-
ten durchaus „Verwirrung“ erzeugen. Die Anpassung der Schritte ermöglichte einen
reflexiven Umgang mit der Bewegungsaufgabe, der in leiblicher und verbaler Interak-
tion mit einem Übungspartner stattfand. Generell galt in allen drei Phasen: Die Paare
bzw. Gruppen durften nicht alleine gelassen werden, der Lehrer sollte bemüht sein,
eine „stille“ Beraterschaft einzunehmen. Dies bedeutete, Probleme von kooperativen
Gruppen zu identifizieren und sich bei Problemen als Gesprächspartner anzubieten.
Die Kernfragen, die im sokratischen Gespräch leitend waren, sollten dann auch bei
solchen Gesprächen in Kleingruppen Verwendung finden (vgl. Kap. A5 und B6). Hier
einige Beispiele aus der Unterrichtseinheit:
• „Was passiert, wenn ihr/Du das Hindernis höher macht?“,
• „Was passiert, wenn ihr/Du einen längeren Abstand zwischen den Hindernissen
  wählt?
• „Was macht Euer/Dein Körper über dem Hindernis?“
• „Gibt es ein Bein, mit dem ihr Euch lieber vor dem Hindernis abdrückt?“
• „Wie weit geht ihr/ gehst Du vom Boden weg – vor dem Hindernis?“
Gemeinsam war diesen sokratischen Leitfragen, dass sie die Knotenpunkte einer
effizienten Überquerungsstrategie thematisierten.
   Durch die Gruppeneinteilung bzw. Partneraufgaben waren die Schüler angehalten,
gemeinsam zu einer Lösung kommen. Dabei jedoch sollte jeder die für sich ange-
messenen Lösungen – im genetischen Sinne Hypothesen – testen, also z.B. indivi-
duelle Höhen und Abstände festlegen oder Schnelligkeitsgrenzen zwischen den Hin-
dernissen herausfinden. Abb. 3 fasst die didaktische Grundstruktur der Unterrichts-
einheit zusammen.
   Zum Abschluss der vier Doppelstunden wurde ein „Wettkampf der Rhythmen“
durchgeführt (4. DS). Dabei traten zunächst Kinder gegeneinander an, die im Laufe
der Unterrichtsstunden den gleichen Rhythmus „erforscht“ hatten (es wurden nur
Rhythmen zwischen 3 und 6 Schritten erarbeitet), anschließend traten „unterschiedli-
che Rhythmen gegeneinander an“ (z.B. ein 3er Rhythmus gegen einen 5er Rhyth-
mus). Es war natürlich möglich, dass die Abstände der Hindernisse individuell unter-
schiedlich waren: Sowohl auf der Bahn mit längerem Hindernisabständen gab es
Kinder, die einen 4er Rhythmus realisierten als auch auf einer Bahn mit geringerem
Abstand. Im abschließenden Unterrichtsgespräch wurde thematisiert, dass auch un-
terschiedliche Rhythmen gleich schnell sein können – es handelt sich eben um ein
individuelles Gestalten des Laufraumes aufgrund unterschiedlicher, anthropometri-
scher Voraussetzungen (Körper- bzw. Gliedergröße, daraus folgend die Schrittlän-
ge).
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Abb. 3: Didaktische Grundstruktur der Unterrichtseinheit „Schnelles Laufen über Hindernisse“.

Zur Verdeutlichung des Vermittlungswegs wird die dritte Doppelstunde der Unter-
richtseinheit abschließend detaillierter vorgestellt. Das Thema lautete „Welche Fol-
gen hat ein Variieren des Rhythmus für meinen Lauf?“ (s. Tab. 1). Der DS voraus
gingen die Erarbeitung des Phänomens „Hindernisse in den eigenen Laufraum integ-
rieren und insbesondere „so wenig Schritte wie möglich, aber so viel Schritte wie nö-
tig absolvieren“ sowie „so kurz wie möglich in der Luft fliegen“. Dies beinhaltete die
Erarbeitung eines je individuell angenehmen8 Abstandes zwischen den Hindernissen.
Zudem wurde individuell justiert, mit wie vielen Schritten zwischen den Hindernissen
die Schüler besonders gut zu recht kamen, ob diese immer in der Anzahl gleichblei-
bend waren.
   Das Ergebnis stellen die in Abb. 4 aufgeführten Laufwege dar, die einen je unter-
schiedlichen Abstand zwischen den Hindernissen aufweisen. In der vorliegenden
dritten Doppelstunde ging es darum, Variabilität im eigenen Laufen zu erfahren und
Veränderungen im eigenen rhythmisierenden Laufen mit Konsequenzen zu belegen
(z.B. „ich werde langsamer - warum? Die Überquerung der Hindernisse wird schwie-
riger, das Laufen fühlt sich nicht mehr so leicht an“). Hierzu wurde zunächst ein Mu-
sikbeispiel zur Erwärmung dargeboten, zu dem die Schüler über eine Hindernisbahn
ihrer Wahl laufen konnten (s. Abb. 4). Die Abstände zwischen den Hindernissen in
diesen Bahnen wurden aus den erarbeiteten Abständen der vorangehenden Stunden
übernommen: Vier Bahnen, parallel in der Halle angeordnet, je vier Hindernisse. Die
Erarbeitung der individuellen Abstände erfolgte in der zweiten Doppelstunde und
wurde dort als Ergebnis gesichert.

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    Eine andere Spielart kann darin bestehen, individuell „unangenehme“ Abstände zu wählen, um die
    Grenzen des Variationsspielraumes auszuloten.
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Abb. 4: Aufbau der Laufbahnen in der Halle (Bananenkisten) in der 3. Doppelstunde; alle Laufwege
        hatten unterschiedliche Abstände zwischen den Hindernissen (Streckenlänge: 30m).

Anschließend wurde in einem kurzen Einführungsgespräch wiederholt, was letzte
Stunde erarbeitet wurde:
     „Ich muss so kurz wie möglich in der Luft fliegen und so wenige Schritte wie möglich,
     aber so viele wie notwendig zwischen den Hindernissen machen“.

Bezugnehmend auf den externen Rhythmus (zunächst Musik) äußerten die Schüler
folgerichtig, dass dieser irritierend wirkte und es ihnen dadurch schwerer gefallen
war, ihren Hindernisparcours zu bewältigen. Diese Äußerungen aufgreifend wurde in
dieser Unterrichtsstunde sodann eine Arbeitskarte (s. Abb.5) ausgegeben, die in
Kleingruppen bearbeitet werden sollte. Jede Gruppe wurde mit Orff-Instrumenten
ausgestattet (Klanghölzer, Triangeln, Tambourin, kleine Trommeln) und es wurde
ihnen die Aufgabe gestellt, einem Gruppenmitglied einen Rhythmus vorzugeben, an
den dieser seinen Laufrhythmus anpassen sollte. Wenn auch unbeabsichtigt, kam
dazu noch die Irritation durch andere Laufgruppen, die auf den „Parallelbahnen“ ar-
beiteten. In einer kurzen Reflexionsphase gab der Lehrer den zusätzlichen Hinweis,
den Rhythmus während des Laufens zu verändern („mal schneller, mal langsamer
den Rhythmus vorgeben“). Im anschließenden, sokratisch geführten Unterrichtsge-
spräch wurden die nachfolgenden Leifragen diskutiert:
• Was bewirkt ein Rhythmus, der von außen (Instrument) kommt?
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• Was passiert, wenn er mir zu langsam erscheint?
• Was passiert mit meinen Schritten/meinem Rhythmus, wenn er zu schnell ist?

Arbeitskarte der Gruppe

Gruppenname: ……………………………………………………………………………..
             ……………………………………………………………………………..….
                             …………………………………..….

Folgende Fragen beantwortet ihr und präsentiert sie anschließend
→ Was passiert, wenn der vorgegebene Takt zu schnell ist?
→ Was passiert, wenn der vorgegebene Takt zu langsam ist?
Hier ist Platz zum Eintragen:

Wenn…         dann war Unser Lauf …
Takt/Rhythmus Vor dem nächsten Hindernis:
zu langsam
              Nach dem nächsten Hindernis:
                                Hindernis:

Takt/Rhythmus Vor dem nächsten Hindernis:
zu schnell
              Nach dem nächsten Hindernis:

Takt/Rhythmus
gerade richtig

Abb. 5: Arbeitskarte zur 3. Doppelstunde.

Auf den Arbeitskarten ließen sich u.a. nachfolgende Aussagen finden:
Takt/Rhythmus war zu langsam:
• vor dem Hindernis:
  „Man musste viel zu viel springen, weil die Schritte zu groß und langsam sind.“
• nach dem Hindernis:
  „Wir saßen ja fast auf dem Boden! Unser Popo war zu weit hinten!“
  „man hätte fast die Kiste getroffen, weil man keinen Schwung hatte.“
Takt/Rhythmus war zu schnell:
• vor dem Hindernis:
  „Wir sind früher abgesprungen.“
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• nach dem Hindernis:
  „Wir haben nach dem Hindernis ganz kleine schnelle Schritte gemacht.“
  „Es ist schwer, wieder in irgendeinen Rhythmus zu kommen, alles geht zu
  schnell.“
Die Äußerungen belegen, dass wichtige Kernpunkte durch die Schüler selbständig
erarbeitet wurden: Die Schrittlänge beeinflusst das Tempo, zu große Schritte lassen
den Körperschwerpunkt zu weit nach hinten „wandern“, man trifft nach der Hürde den
Körperschwerpunkt nicht mehr („man trifft sich nicht“). Auch in den Lerntagebüchern
(s. Abb. 6) ließen sich zum Zusammenhang zwischen rhythmischem Laufen und
schnell Hindernisse überwinden sehr reflektierte Äußerungen finden:
Ich habe gelernt, …
• „dass der Rhythmus mein Laufen ganz viel beeinflusst“
• „dass der Rhythmus die Schnelligkeit beeinflusst“
• „wie viele Schritte am besten für mich sind“
• „was mein eigener Rhythmus ist“
• „wie ich bei verschiedenen Rhythmen laufe. Mal schneller, mal langsamer“
• „wie schnell man ist bei langsamer Musik, wie schnell man ist bei schneller Musik
  ist“

Abb. 6: Lerntagebuch zur Unterrichtseinheit. (--> Schrift zu klein)
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Die Selbstaussagen der Schüler zeigen, dass die Modifikationen der Bewegungsauf-
gabe den Schülern zeigte, wie sie „ihren“ Rhythmus finden können, um Hindernisse
so schnell wie möglich zu überlaufen.
   Im Unterschied zum Lernansatz des kooperativen Lernens (vgl. Kap. A5 und B6)
stand weniger die Förderung der Teamfähigkeit im Vordergrund als vielmehr die re-
flexive Durchdringung einer bestimmten Lösungsstrategie für ein Bewegungsprob-
lem. Die dargestellten Schüleraussagen weisen darauf hin, dass die selbständige
Lösung von motorischen Problemen im Sinne einer ästhetischen Rhythmus-
Erfahrung zur Bewegungsbildung der Schüler beigetragen hat (vgl. auch TREBELS,
1998). Dabei hat sich das Anregen zum Nachdenken – bzw. wie es die Schüler be-
nannten: „zum Erforschen“ – als durchaus erfolgversprechender Weg der Vermittlung
erwiesen, um die (leibliche) Urteilsfähigkeit der Schüler zu fördern.
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