Bibliotheken ohne Bestand? - Klaus Kempf - De Gruyter
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Bibliothek, Forschung und Praxis 2014; 38(3): 365–397 Klaus Kempf Bibliotheken ohne Bestand? Bestandsaufbau unter digitalen Vorzeichen Zusammenfassung: Über Jahrhunderte war die Bibliothek Parallel dazu werden sich ausgewählte Bibliotheken in in ihrem Dienstleistungsangebot primär auf die eigene sog. virtuellen Forschungsumgebungen engagieren. Dies Sammlung fixiert. Mit dem Aufkommen der digitalen In- verlangt jedoch von ihnen, ein deutlich erweitertes und formation, der Entwicklung des Internet und der Heraus- am konkreten Bedarf des jeweiligen Forschungsvor- bildung der sog. Hybridbibliothek erfolgte ein Paradig- habens orientiertes Dienstleistungsportefeuille aufzubau- menwechsel: An die Stelle der traditionellen Bestands- en, wobei die Sammlung und Vorhaltung von Informati- und Medienorientierung trat das neue Paradigma einer on nur ein Teil der erwarteten Gesamtleistung sein wird. primären Service- und Nutzerorientierung. Der Samm- Fazit: Welches Schicksal die Bibliotheken als Institution lungsbegriff erlebt eine Erweiterung in dem nun auch auch nehmen werden, ihre Sammlungen und ihre Sam- lizenzierte (digitale) Medien zum „Bestand“ einer Biblio- melaktivität werden auch in der Welt von morgen gefragt thek gezählt werden. Das vermehrte Publizieren im Wege sein. des Open Access stellt die grundlegende Funktion der Schlüsselwörter: Sammlung; Bestandsaufbau; Erwer- Sammlung – und damit der Bibliothek –, nämlich dauer- bung; digitale Bibliothek; Hybridbibliothek haft Zugang zur Information zu schaffen, radikal in Frage. Vor diesem Hintergrund und der Tendenz, dass sich in Libraries without Holdings? Collection Development in der all-digital-world von morgen das Sammlungsobjekt the Digital Age radikal verändern wird – der Text und damit die klassi- sche Publikation als dominierende Form der Informati- Abstract: For centuries the library was preliminary focu- onsvermittlung im Wissenschaftsbetrieb dankt zu Guns- sed in its range of services on its own collection. With the ten einer neuen Hegemonie des Bildes und/oder rise of digital information, the development of the Internet multipler Darstellungs- bzw. Wissensvermittlungsformen and the development of the so called hybrid library a ab – müssen auch der Sammlungsgedanke und die Art paradigm shift took place: The traditional orientation on des Bestandsaufbaus neu gedacht werden. Das Schlag- collections and media was replaced by the new paradigm wort heißt hier künftig: radikale Arbeitsteilung. Nur noch of service and user orientation. The concept of library wenige, bevorzugt große und besonders leistungsfähige collections is expanded by the addition of licensed (digi- Bibliotheken werden sich überhaupt der systematischen tal) media which are now included in the “holdings” of a Sammlung von „Content“, welcher Art und in welcher library. More and more information resources are publi- Form auch immer, widmen. Diese Sammlungen werden shed according to ‘open access’ policies and radically call jedoch global und spartenübergreifend, d. h. in Abstim- into question the basic idea of collections – and thus of mung nicht nur mit anderen Bibliotheken, sondern auch libraries – which is providing permanent access to infor- den anderen Gedächtniseinrichtungen, wie Archiven und mation. Against this background and the tendency, that Museen gepflegt werden. Die durchschnittliche wissen- the collection object in the all-digital-world of tomorrow schaftliche Bibliothek, d. h. vor allem die Hochschulbi- will change dramatically – the text and the traditional bliotheken werden sich mit viel bescheideneren, eng am publication as the dominant form of information ex- tatsächlichen Bedarf der jeweiligen Klientel orientierten change in academic life resigns in favour of a new hege- (digitalen) Sammlungen bescheiden müssen. Eine Auf- mony of the image and/or multiple forms of representing wertung erfahren die Sondersammlungen auch auf loka- information and disseminating knowledge – also the col- ler Ebene, sofern sie einzigartiges Sammelgut enthalten. lection concept and the practice of collection develop- Damit können auch kleinere Einrichtungen mittels ihrer ment has to be rethought. In future the catchword is Repositorien zu dem sich entwickelnden, weltweiten called: radical division of labour. Only a few, preferably open access-dominierten „Sammlungsmosaik“ beitragen. large-scale and especially high-performance libraries, will deal with the systematic collection of “content” in any Klaus Kempf: Klaus.Kempf@bsb-muenchen.de kind and form whatsoever. Those collections, however, Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
366 Klaus Kempf will be maintained globally and across all divisions, this 1 Einleitung means in coordination not only with other libraries but also with other memory institutions, such as archives and Das Sammeln, d. h. der Auf- und Ausbau der eigenen Be- museums. The average academic library, especially the stände, hat seit Bestehen der modernen Bibliotheken de- university libraries, will remain with far more modest ren Denken und Handeln bestimmt. Die organisatorischen (digital) collections, oriented closely towards the actual Strukturen und Abläufe der Bibliothek haben bis heute needs of their respective users. Special collections also on den Bestandsaufbau als Ausgangspunkt für alle weiteren local level will be revalued, provided that they contain Überlegungen und Maßnahmen.1 Die eigene Sammlung unique collection items. Thereby also smaller institutions bzw. deren Ausbau und Pflege als wesentlicher Bezugs- can contribute with their repositories to the developing, punkt gilt auch für das Verhältnis der Bibliothek zum worldwide, open access dominated “collection mosaic”. Benutzer. Im Mittelpunkt der meisten bibliothekarischen In parallel, selected libraries will engage in so-called “vir- Servicekonzepte steht bis heute die eigene Sammlung, tual research environments” (VRE). This, however, requi- deren Vermittlung und Bereitstellung in unterschiedlicher res them to build up a clearly extended service portfolio Form. Man kann es mit Francis Miksa auf die kurze und oriented towards the needs of the respective research pro- griffige Formel bringen: „Die Bibliothek, wenn sie etwas ject, whereby the collection and provision of information ist, dann ist sie eine Sammlung, wenn es keine Sammlung is only part of the expected overall performance. In con- mehr gibt, gibt es auch keine Bibliothek mehr“.2 clusion: Whichever destiny libraries as institutions will Im elektronischen Zeitalter, mit dem Aufkommen der take, their collections and their collection activities will digitalen Information und vor allem mit deren Verbrei- be in demand also in tomorrow’s world. tungsmöglichkeiten über das Internet ist diese Gewissheit ins Wanken geraten. Sie ist mit Fragezeichen versehen Keywords: Collection; collection building; acquisition; worden, ja es kommt sogar zu einer radikalen Infragestel- holding; digital library; hybrid library lung des bisher existierenden, uns vertrauten, bestands- zentrierten Bibliotheksparadigmas: „Die Zukunft der bi- bliothekarischen Sammlung wird sein, dass es keine DOI 10.1515/bfp-2014-0057 Sammlung(en) mehr gibt“ oder „Die Bibliothek wird alles sein, aber keine Sammlung mehr“ hört man aus amerika- nischen Bibliothekskreisen.3 Nicht nur die zentrale Bedeu- Inhalt tung der Sammlung, ihrer Pflege und ihres weiteren Aus- baus, ihre Notwendigkeit an sich wird in Frage gestellt. Die 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 wissenschaftliche Bibliothekswelt ist in einer wesentli- 2 Der Bestandsaufbau in der „gedruckten Welt“ von chen Grundsatzfrage, ja in ihrem Selbstverständnis ver- gestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 unsichert. Alternative Konzepte werden diskutiert, eine 3 Der Bestandsaufbau in der „Hybridbibliothek“ . 369 grundlegende Neuausrichtung des bibliothekarischen Ar- 3.1 Die „Kulturrevolution“ Internet . . . . . . . . . . . . 369 beitens und des Servicekonzepts wird verlangt. 3.2 Definition und Konzept der „Hybridbibliothek“ . 371 Zur Neuorientierung gehört zum einen, sich die 3.3 Sammeln in der „Hybridbibliothek“ . . . . . . . . . 373 Grundlagen und historischen Wurzeln des tradierten, auf 3.4 Das Phänomen „Open Access“ . . . . . . . . . . . . . 376 der eigenen Sammlung aufsetzenden Bibliothekskonzepts 3.5 Von der kooperativen Erwerbung über die „Virtuel- zu vergegenwärtigen und sich klar zu machen, wo wir le Fachbibliothek (ViFa)“ zum „Fachinformations- derzeit stehen, also eine tiefgreifende, durchaus auch dienst (FID)“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 4 Bestandsaufbau in der „all-digital-world" von mor- 1 Die großen nachgeordneten Funktionsbereiche Erschließung, Be- gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 nutzungsdienste und Archivierung setzen alle auf dem Funktions- 4.1 Neudefinition von Sammlungsidee und konzept 384 bereich Bestandsaufbau auf. 4.2 Globaler arbeitsteiliger Bestandsaufbau und … . 386 2 Das Zitat „A library, if anything, is a collection. If there is no collecti- 4.3 … spartenübergreifendes Sammeln als Regelfall in on, there is no library.“ ist dem Beitrag von Miksa, Francis: The Future der Online-Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 of the Reference II: A paradigm of academic library organization. In: Collection & Research Library News (October 1989) S. 780–790, S. 781 4.4 Erweiterter Sammlungs(objekt)begriff oder die entnommen. Bibliothek als Teil „Virtueller Forschungsumgebun- 3 Vgl. Anderson, Rick: Collections 2021: The Future of the Library gen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Ccollection is not a Collection. In: Serials 24 (3) (2011) S. 211–215, 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 S. 211. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
Bibliotheken ohne Bestand? 367 selbstkritische Ist-Analyse zu betreiben. Zum anderen ist allem keine Bibliothek aus.5 Der Erwerb von Büchern und es notwendig zu fragen, wie der Sammlungsgedanke und das Herausbilden eines Bestandes sollte gewissen Anschaf- dessen Umsetzung, ein wie auch immer betriebener Be- fungsgrundsätzen genügen. Die theoretische Forderung standsaufbau unter radikal veränderten Rahmenbedin- der Neuzeit war die Universalität. Formuliert wurde sie erst- gungen aussehen kann und im Gefolge die Frage zu stel- mals von Gabriel Naudé. In seinem 1627 und dann erneut len, wie die Bibliothek von morgen und ihre Funktion 1644 erschienen Werk Advis pour dresser une bibliothèque aussehen kann. Wenden wir uns zunächst dem Gestern formulierte er das Ziel, umfassend auch das „häretische“ und damit dem Ursprung der bibliothekarischen Samm- und scheinbar wertlose zu sammeln, um auf dieser Grund- lungsidee zu. lage zu einem unabhängigen Gesamturteil zu kommen.6 G.W. Leibniz ging noch einen Schritt weiter. Er setzte das Anlegen von Büchersammlungen in einen sozioöko- nomischen Kontext, ja er sah im Aufbau von Wissensspei- 2 Der Bestandsaufbau in der chern und ‑Nachweissystemen als Teile einer fortschritts- „gedruckten Welt“ von gestern fördernden wissenschaftlichen Infrastruktur eine zentrale Aufgabe des territorialen Wohlfahrtsstaates. Dabei war Die moderne Bibliothek hat ihren Ursprung in der zweiten sein Ziel, den enzyklopädischen Bibliotheksbestand stand- Hälfte des 16. Jahrhunderts. Damals als sich in Europa big ortunabhängig und mehrdimensional zu indizieren. Wenn bang-artig eine neue Idee des Sammelns von Kuriosità und er sich in Hannover bzw. Wolfenbüttel auf die „Kern-Bü- natürlichen wundersamen Dingen zwischen Adeligen und cher“ zu den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen be- aufkommendem Bürgertum ausbreitete, was in die Schaf- schränken wollte, so war dies primär wirtschaftlichen fung sog. Kunst-und Wunderkammern mündete, schlug Überlegungen geschuldet, d. h. der Knappheit und vor al- auch die Geburtsstunde der bibliothekarischen Sammlun- lem der fehlende Stetigkeit der für die fortlaufende An- gen. Den zeit- und kulturgeschichtlichen Hintergrund bil- schaffung der Literatur benötigten finanziellen Mittel.7 deten die Entdeckungen neuer Erdteile und (See-)Ver- An der Universität Göttingen wurde erst Anfang des kehrswege sowie bahnbrechende Erfindungen, wie z. B. 18. Jahrhunderts diesem Umstand abgeholfen und der für des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johann die moderne Bibliothek und deren Bestandsaufbau kenn- Gutenberg, die wiederum vielfältige Innovationsschübe in zeichnende Aspekt der Nachhaltigkeit nahm in Form einer Wirtschaft und Gesellschaft weit über die nunmehr erheb- fortlaufenden Erwerbung aufgrund eines steten, für die lich erleichterte und vor allem beschleunigte Medienpro- damaligen Verhältnisse üppigen (Gesamt-)Budgets Gestalt duktion hinaus zur Folge hatte. Im Gefolge der sich daraus an.8 Göttingen blieb aber über sehr lange Zeit eine Aus- ergebenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Um- nahme. Von einigen wenigen Fällen abgesehen dominierte brüche ergaben sich neue Wert- und Nützlichkeitsvorstel- daher bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eine sprung- lungen. Der rein materielle und/oder religiöse Wert von Dingen, wie er noch in den mittelalterlichen Schatzsamm- lungen zum Ausdruck kommt, tritt in den Hintergrund. 5 Die Begriffe „Bibliothek“ und „Sammlung“ waren über lange Zeit Wichtiger sind nun den Sammlungsobjekten innewohnen- synonym gebraucht worden. Vgl. Navitel, Colette: Bibliotheca selon Morhof. In: Fumaroli, Marc (Hrsg): Les premiers siècles de la Républi- de Eigenschaften, die auf Information und Wissen abstel- que européenne des Lettres. Paris 2005, S. 430 ff. len bzw. befördern, dazu treten gegebenenfalls ästhetische 6 Vgl. Damien, Robert: Bibliothèque et état. Naissance d’une raison Aspekte sowie der Erkenntnisgewinn, der sich aus der politique dans la France du XVIIe siècle. Paris 1995. Sammlung unterschiedlicher Objekte ergibt.4 7 Hartbecke, Karin (Hrsg.): Zwischen Fürstenwillkür und Beim Büchersammeln trat sehr bald das Interesse am Menschheitswohl – Gottfried Wilhelm Leibniz als Bibliothekar. In: Inhalt, also am Informationsgehalt gegenüber dem ästhe- Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie (Sonderband 95) (2008) S. 13 f. und S. 18. tisch geleiteten Interesse an dem Gegenstand Buch in den 8 Es ist hier notwendig, zu unterscheiden zwischen einem recht Vordergrund. Alleine, viele Bücher anzuhäufen, macht bescheidenen, aber regelmäßig und verlässlich bereit gestellten jedoch noch keine Sammlung, keinen Bestand und vor Grundetat sowie immer wieder erfolgten, recht üppigen, etwaige Aus- gabenüberziehungen abdeckende Sonderzuweisungen, wie es in Göt- tingen öfter der Fall war. Insgesamt war die Finanzausstattung so gut, 4 Vgl. dazu ausführlich mit weiteren Hinweisen zu Einzelaspekten dass die Universitätsbibliothek Göttingen in vergleichsweise kurzer Enderle, Wilfried: Bibliotheken und die Genese der Sammlungskultur Zeit zur führenden wissenschaftlichen Bibliothek der Epoche aufstei- in der frühen Neuzeit. In: Brinzinger, Klaus-Rainer u. a. (Hrsg.): Bi- gen konnte. Vgl. ausführlich: Kind-Doerne, Christiane: Die Nieder- bliotheken: Tore zur Welt des Wissens. 101. Deutscher Bibliothekartag sächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: ihre Bestän- in Hamburg 2012, Hildesheim (u. a.) 2013, S. 303–315. de und Einrichtungen in Geschichte und Gegenwart. Wiesbaden 1986. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
368 Klaus Kempf hafte, d. h. anlass- und gelegenheitsbezogene, oftmals raturerwerb. In der bibliothekarischen Praxis dominierten durch politische Ereignisse (Stichwort: Säkularisierung) natürlich schon mit Blick auf die sehr unterschiedlichen begründete Bestandsmehrung.9 Die „goldene Zeit“ des Be- Budgetverhältnisse Mischlösungen. Dabei herrschte eine standsaufbaus hat ihren Beginn im letzten Drittel des rein lokale Sicht der Dinge vor. Im Unterschied zu anderen 19. Jahrhunderts. Wissenschaft und Forschung hatten jetzt bibliothekarischen Themen, wie insbesondere im Bereich einen ganz anderen Stellenwert. Der rasante technische der Katalogisierung, wo es vergleichsweise früh zu natio- Fortschritt und der damit verbundene enorme, die gesamte nalen und schließlich zu einem internationalen Meinungs- westliche Hemisphäre erfassende wirtschaftliche Auf- austausch und sogar zu verbindlichen Absprachen sowie schwung machten auch vor den Bibliotheken nicht halt. Standardisierungsversuchen kam, wurden Bestandsauf- Die Staats-, Landes- und Nationalbibliotheken wurden von baufragen und Fragen der Bestandsentwicklung als rein ihrer äußeren Anmutung her, aber auch unter dem Aspekt institutionsbezogene, ja bibliotheksindividuelle Themati- ihrer Bestandsgrößen zu nationalen Aushängeschildern. ken eingestuft und schon auf nationaler Ebene unter dem Die Universitätsbibliotheken vervielfachten ihre Bestän- Aspekt möglicher Arbeitsteilung kaum erörtert.11 Über- de – dank entsprechender Budgets zum einen als Reaktion legungen über einen etwaigen regional oder auch national auf die beträchtlich gestiegene Nachfrage seitens der For- abgestimmten Ausbau der Bestände im Sinne von koope- schenden bzw. Lehrenden und Studierenden nach wissen- rativen Erwerbungs- und Sammlungsabsprachen blieben schaftlicher Literatur, zum anderen, aber das betraf im in allen Ländern, einschließlich den USA mit einer ein- Prinzip alle Bibliotheken, das weit überproportional ge- zigen Ausnahme entweder rein theoretischer Natur oder wachsene Publikationsaufkommen und damit einher- endeten als Stückwerk.12 gehend das immer reicher werdende Literaturangebot. An der Spitze der neuen „Bestandsmillionäre“ rangierten die 11 Dies ist sicherlich mit ein Grund, warum die Themen Erwerbungs- Bibliotheken der amerikanischen (privaten) Eliteuniver- politik und Methodik des Bestandsaufbaus sowie die Frage der sitäten, aber auch die deutschen Universitätsbibliotheken schriftlichen Abfassung und Offenlegung eines ausgearbeiteten und erlebten hier einen bis dahin, was Bestandsmehrung und aktuell gehaltenen Erwerbungsprofils über Jahrzehnte eigentlich bis -größe angeht, nicht gekannten Aufschwung. heute ein Schattendasein führen und führt. Vgl. dazu u. a. die Aus- führungen von Griebel, Rolf: Bestandsaufbau und Erwerbungspolitik Der Bestandsaufbau wurde jetzt zu einer Kernaufgabe in universitären Bibliothekssystemen: Versuch einer Standortbestim- der (wissenschaftlichen) Bibliothekare. Sie hatten sich als mung. Berlin 1994, S. 22 ff. eigene Berufsgruppe etabliert bzw. sich mit einem zeitge- 12 Kooperativen Bestandsaufbau gab es in Deutschland schon seit mäßen Berufsbild versehen. In Deutschland gab es seit den Reformen Althoffs in Preußen, die durch die Notgemeinschaft der 1909 in der Theorie und dann ab den 20er-Jahren des deutschen Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg und mit besonde- letzten Jahrhunderts auch in der Praxis das Berufsbild des rem Erfolg durch das Sondersammelgebietsprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt Fachreferenten.10 Zu dessen Hauptaufgaben zählte der Be- wurden. Auch die im Bibliotheksplan 1973 enthaltenen Aufgabentei- standsaufbau. Dabei unterscheidet man zwischen unter- lungen zwischen den einzelnen Bibliothekstypen stellt letztlich auf schiedlichen Konzepten, nämlich zwischen dem sog. fre- kooperative Sammlungsüberlegungen ab und bezog sogar die öffent- quenz- oder bedarfsorientierten und dem systematischen lichen Bibliotheken in ein umfassendes Netz der Literaturversorgung Bestandsaufbau. Das Ideal ist letzterer, d. h. der über die ein. Außerdem ermöglichte die Gründung und das rasche Aufblühen der regionalen Bibliotheksverbünde in den 60er- und 70er-Jahren des Befriedigung des bloßen Tagesbedarf der zu versorgenden letzten Jahrhunderts, die aus ganz anderen Motiven erfolgte, im Nutzergruppe hinausreichende, den künftigen Bedarf anti- Bestandsaufbau – dank einer verbesserten bibliographischen Aus- zipierende sowie eine ausgeglichene, also möglichst alle kunft und darauf aufbauend einer erheblich beschleunigten sowie Aspekte eines Wissenschaftsfaches einschließende Be- umfangreicheren Fernleihe – zumindest indirekt eine gewisse Erwer- standsentwicklung gleichermaßen berücksichtigende Lite- bungskoordination mit sich. Vgl. ganz allgemein zu diesem Zeitraum Mittler, Elmar: Bibliotheken im historischen Prozess. In: Umlauf, Konrad; Gradmann, Stefan (Hrsg.): Handbuch Bibliothek. Geschichte, 9 Vgl. Buzas, Ladislaus: Deutsche Bibliotheksgeschichte der Neuzeit Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2012, S. 345–348. Was die Beispiele (1500–1800). Elemente des Buch-und Bibliothekswesens. Bd. 2. Wies- aus dem Ausland betrifft vgl. näher Dorfmüller, Kurt: Bestandsaufbau baden 1976, S. 129–134. an wissenschaftlichen Bibliotheken. Frankfurt a. M. 1989, S. 81–84; 10 Vgl. hierzu umfassend mit der gesamten Diskussion um die Auf- frühere Studien zum gleichen Themen finden sich im Liber Bulletin gabenstellung des Fachreferats von seinen Anfängen (1909) bis in die 30: General Assembly. Zürich 1987. Acquisition: Principles, Coordina- Gegenwart Enderle, Wilfried: Selbstverantwortliche Pflege bibliothe- tion, Cooperation. Graz 1988 und bei Collins, Judith; Finer, Ruth: karischer Bestände und Sammlungen. Zu Genese und Funktion wis- National Acquisition Policies and Systems: A comparative study of senschaftlicher Fachreferate in Deutschland 1909–2011. In: existing systems and possible models. Wetherby, England 1981 (Im BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis (nachfolgend zitiert BFP) 36 (1) Auftrag der IFLA bearbeitet) zit. nach Dorfmüller (Anm. 12) S. 238. Die (2012) S. 24–31. Ausnahme bildete das System der überregionalen Literaturversor- Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
Bibliotheken ohne Bestand? 369 Fast das gesamte 20. Jahrhundert war dank anhalten- gesamte Informations- und Kommunikationskultur und der wirtschaftlicher Prosperität, dies gilt grundsätzlich damit Wissenschaft und Forschung, ja die Gesellschaft auch für die jeweiligen Nachkriegszeiten, die weitere Be- ganz allgemein weltweit tiefgreifend zu verändern: „Whe- standsentwicklung im Sinne eines steten Wachstums und rever communication changes, foundations of society Ausbaus der (lokalen) Bestände eigentlich nie in Frage change.“15 Der Umbruch ist so gewaltig, dass es durchaus gestellt. Im Gegenteil. Die Vervollständigung der eigenen angebracht erscheint, von einer „(Informations-)Kultur- Sammlungen und die geradezu expansiv betriebene Be- revolution“ zu sprechen. Wie so oft in der Menschheits- standsmehrung waren zu einem Dogma eigener Art geron- geschichte haben Zeitgenossen epochaler Veränderungen nen. Bestandsgröße wurde bis in die jüngste Vergangen- Mühe, historische Ereignisse in ihrer ganzen Tragweite zu heit hinein – eine Untersuchung weist dies nunmehr für erkennen und einzuordnen. Das war zur Zeit Gutenbergs die US-amerikanischen Universitätsbibliotheken explizit so und heute ist es nicht anders. nach – mit Bestandsqualität, ja der Qualität einer Biblio- Die (gedruckten und digitalen) Veröffentlichungen thek schlechthin gleichgesetzt. Darüber hinaus war man – zum Thema Internet und seinen vielfältigen Aus- bzw. unter US-amerikanischen Bibliothekaren – der festen Wechselwirkungen sind mittlerweile Legion.16 An dieser Überzeugung, dass mit den Sammlungen bleibende Werte Stelle kann nicht näher darauf eingegangen werden. Das von herausragender strategischer Bedeutung geschaffen Phänomen Internet soll jedoch in seinen quantitativen und und damit das Prestige der eigenen Hochschule nachhaltig qualitativen Dimensionen zumindest ansatzweise umris- befördert würden.13 sen werden. Mit Blick auf das hier zu behandelnde Thema soll insbesondere schlaglichtartig vor Augen geführt wer- den, welcher dramatische Wandel sich in jüngster Vergan- genheit im sog. informationellen Umfeld der Bibliotheken 3 Der Bestandsaufbau in der vollzogen hat bzw. sich bis heute vollzieht und wie sehr „Hybridbibliothek“ 14 damit die tradierten bibliothekarischen Service- und Leis- tungserstellungskonzepte in Frage gestellt werden. 3.1 Die „Kulturrevolution“ Internet Zunächst ein Wort zur produzierten Informationsmen- ge. Nicht umsonst spricht man heute von einer „Informati- Die Digitalisierung von Information und vor allem das Auf- onsflut“: Soviel Information, vor allem soviel an Informati- kommen und scheinbar unbegrenzte Expandieren des onszuwachs gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte. Internets ist nicht nur ein informationstechnologischer Das weltweite (gedruckte) Literaturaufkommen wächst Quantensprung, sondern diese Erfindung ist dabei, die jährlich nach wie vor um ca. 2–3 %. Jedes Jahr erscheinen zur Frankfurter Buchmesse, der weltgrößten Veranstaltung dieser Art, ca. 100 000 Bücher neu. Aber das ist bezogen gung, der sog. Sondersammelgebietsplan der DFG. Vgl. dazu ausführ- lich weiter unten S. 380 ff. auf die Informationsgesamtproduktion weltweit nur noch 13 Auch die Ende der 1970er-Jahre im Rahmen der sog. Pittsburgh eine Randgröße.17 Der eigentliche „information big bang“ Library-Fallstudie von Allen Kent erhobenen (und bekannt gemach- spielt sich im digitalen Bereich ab. Die weltweit verfügbare ten) teilweise extrem geringen Benutzungsquoten einzelner Samm- Informationsmenge belief sich nach einer Untersuchung lungen führten zu keinem Umdenken. Dazu und zum Sammlungs- Ende 2011 auf 1,8 Zettabyte, also 1,8 Billionen Gigabytes.18 verhalten bzw. Selbstverständnis bedeutender amerikanischen Universitätsbibliotheken ganz allgemein vgl. ausführlich die Unter- suchung von Jones, David E.: Collection Growth in Postwar America: A Critique of Policy and Practice. In: Library Trends. Research Into 15 Burda, Hubert: The Digital Wunderkammer. 10 Chapters on the Practice 61 (3) (2013) S. 587–612. In Deutschland brachte erstmals die Iconic Turn. München 2011, S. 20. Stellungnahme des Wissenschaftsrats zum weiteren Ausbau der Ma- 16 Allein der OPAC der Bayerischen Staatsbibliothek weist bei einer gazinkapazitäten und damit verknüpft die explizite Aufforderung an Schlagwortsuche (durchgeführt am 28. Januar 2013) 24 912 einschlä- die Bibliotheken, entbehrliches Schrifttum ab sofort und konsequent gige Werke nach. auszusondern, eine gewisse Trendwende. Vgl. Wissenschaftsrat: 17 Wie bereits eine im November 2000 veröffentlichte Studie der Empfehlungen zum Magazinbedarf wissenschaftlicher Bibliotheken. University of California in Berkeley feststellte. Vgl. Sasse, Dörte: Nur Köln 1986. noch 0,003 Prozent aller Informationen werden gedruckt. US-ame- 14 Generell zum Thema Bestandsaufbau in der „Hybridbibliothek“ rikanische Forscher analysieren weltweite Datenströme. In: Die Welt vgl. Kempf, Klaus: Erwerben und Beschaffen in der „Hybridbiblio- (1.11.2000) S. 39. Die Untersuchung ist einzusehen über http://www. thek“. Lösungsansätze der Bayerischen Staatsbibliothek. In: Entwick- attitudeweb.be/doc/resources/studies/how_much_information_prod lungen und Bestände. Bayerische Bibliotheken im Übergang zum uced_world_year_en.pdf. 21. Jahrhundert. Hermann Holzbauer zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 18 Der Begriff Information ist hier in einem sehr weiten Sinne ge- 2003, S. 35–68. braucht. Damit wird keine Aussage zur inhaltlichen Relevanz bzw. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
370 Klaus Kempf Sie verdoppelt sich in einem Rhythmus von etwa zwei nomen korrespondiert seinerseits wieder mit den immer Jahren, liegt also mittlerweile beim Doppelten der vorste- kürzer werdenden „Informations- bzw. Wissenshalbwert- hend genannten Werte.19 Die Produktion wissenschaftli- zeiten“, was wiederum die Informations(verbreitungs)zy- cher Information bleibt von dieser rasanten Entwicklung klen erhöht. Die Notwendigkeit, das Wissen stetig aktuell natürlich nicht verschont. Sie ist nach den Forschungen zu halten und damit sich stetig neu informieren zu müssen, von Derek de Solla Price in den zurückliegenden 300 Jah- mündet in das heute so oft postulierte „Lebenslange Ler- ren exponentiell gewachsen.20 Über alle Wissenschaftsdis- nen“, womit sich der Kreis von Informationsproduktion ziplinen hinweg hat sich das Wissen seit der Mitte des und Informationsrezeption wieder schließt. 17. Jahrhunderts fast im Sinne eines Naturgesetzes etwa Dem Internet wird auch eine „Demokratisierung“ von alle 10–20 Jahre verdoppelt. Im digitalen Zeitalter ist zu- Information nachgesagt. Nach der oben zitierten Berkeley mindest in ausgewählten Fächern eine weitere Beschleuni- Studie, befindet sich die Mehrheit an Information heute in gung festzustellen. Hier geht man heute teilweise von ei- privaten Haushalten bzw. wird von Individuen erzeugt nem 5–12‑jährigen Zyklus aus.21 und vorgehalten.23 Der eigentliche epochale Fortschritt ist Zu dieser „Informationsflut“ gesellt sich eine neue aber nicht so sehr die Möglichkeit des Einzelnen, Informa- Informationsqualität.22 Digitale Information ist prinzipiell tion jederzeit abrufen zu können, sondern er besteht vor nicht nur orts- und zeitungebunden, abruf- bzw. nutzbar, allem in der grundsätzlichen Möglichkeit für jedermann, sie erlaubt auch eine bis dahin nicht gekannte Flexibilität aktiv, zeit- und ortsunabhängig ins Informationsgesche- in ihrer Übertragbarkeit und ihrer Weiterverarbeitung. Es hen einzugreifen, d. h., eigenständig Information zu erzeu- werden darüber hinaus – Stichwort Multimedia – ganz gen, also veröffentlichen und verbreiten zu können. Das neue Dimensionen in der Kombination unterschiedlicher gilt natürlich vor allem auch für die Produktion und Ver- Informations- und Dokumentationsformen, also von Text, breitung wissenschaftlicher Information. Man kann sagen, Foto und Film sowie Grafik, Animation und Ton erreicht. der Wissenschaftler in seiner Funktion als Autor emanzi- Die jüngste Entwicklung ist die weltweit zu verzeichnende, piert sich von der bisherigen, über Jahrhunderte festgefüg- explosionsartige Verbreitung und Nutzung von mobilen ten sog. Informations- bzw. Wertschöpfungskette: Autor – Datenendgeräten (iPad, Smartphone usw.) unterschied- Verlag – Buchhandel – Bibliothek – Leser.24 Das sog. Self- lichster Art und der damit abrufbaren Informationsange- Publishing ist ein anhaltender Hype.25 bote. Der Nutzer kann jetzt wirklich 24 Stunden von über- Das Internet eröffnet aber nicht nur dem einzelnen all in der Welt ganz nach persönlichem Geschmack auf ungeahnte neue Perspektiven, sondern entfaltet auch eine Informationen jeglicher Form und Inhalt zurückgreifen, gewaltige gesamtwirtschaftliche Sogwirkung. Laut dem sie weiter verarbeiten und speichern. amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Gary Hammel Die neuen Informationsmöglichkeiten und -formen hat es nicht nur bezogen auf den Informationsmarkt son- bleiben nicht ohne Folgen auf das Informations- bzw. Re- dern ganz allgemein bewirkt, dass zeptionsverhalten der Menschen. Letzteres ist insgesamt ‒ lokale Monopole an den Märkten aufgebrochen und sehr viel punktueller und fraktaler geworden. Dieses Phä- ‒ Markteintrittsbarrieren für „Newcomer“ erheblich ab- gesenkt wurden.26 zur Qualität der in diese Untersuchung einbezogenen Informationen Information ist in der heute oft und viel beschworenen im weitesten Sinne getroffen. 19 http://germany.emc.com/leadership/programs/digital-universe. „Wissensgesellschaft“ der wichtigste Rohstoff. Die Erzeu- htm. 20 Vgl. de Solla Price, Derek: Little Science, Big Science. Frankfurt a. M. 1974. De Solla Price hat sich bei seinen Aussagen auf die Aus- 23 56 % der digitalen Information liegt auf privaten PCs bzw. nach wertung von Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften ge- einer neueren Studie wurden im Jahr 2011 75 % aller Informationen stützt. durch Individuen erzeugt. Vgl. Sasse (Anm. 17). 21 http://de.wikipedia.org/wiki/Informationsexplosion. Zimmer hin- 24 Vgl. Simon, Theresia: Die Positionierung einer Universitäts- und gegen geht davon aus, dass sich die Menge wissenschaftlich relevanter Hochschulbibliothek in der Wissensgesellschaft. Eine bibliotheks- Information alle 12 Jahre verdoppelt. Vgl. Zimmer, Dieter E.: Die Bib- politische und strategische Betrachtung. Frankfurt a. M. 2006, S. 58 liothek der Zukunft: Text und Schrift in den Zeiten des Internet. Ham- mit Abb. 1. burg 2000, S. 66. Allein in den letzten zwei bis drei Jahren (also in den 25 Zu den unterschiedlichen Formen mit weiteren Nachweisen vgl.: Jahren 1997–1999) – so zitiert er den namhafte Chemiker Eli M. Noam – http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstverlag. wurde z. B. im Bereich der Chemie dank der digitalen Möglichkeiten 26 Vgl. Interview mit Gary Hammel: „World Tonight“, BBC Radio 4 mehr wissenschaftlich publiziert als im gesamten Zeitraum vor dem (1. November 1999), zitiert bei: Pinfield, Stephen; Hampson, Andrew: 20. Jahrhundert. Vgl. ebd. S. 47. Partnership and Customer Service in the Hybrid Library. In: The New 22 Hier ist nicht die Qualität der Informationsinhalte gemeint. Review of Information and Library Research (1999) S. 115. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
Bibliotheken ohne Bestand? 371 gung bzw. der Umgang mit Information verspricht erheb- am Informationsmarkt sowie den unmittelbar daran an- liche Gewinnchancen und Renditen.27 Neue Marktteilneh- grenzenden Märkten, z. B. dem für Aus- und Weiterbildung mer drängen mit Nachdruck auf den global gewordenen i. w. S., stand auch Pate bei der Geburt des Begriffs und Informations- und Medienmarkt und machen den alteinge- des Konzepts der „Hybridbibliothek“. sessenen Akteuren in der Informationskette (Verlag, Buch- handel, Bibliothek) die oligopolisierten oder gar mono- polisierten Aktionsfelder streitig. Es sind ganz neue Typen 3.2 Definition und Konzept der von Informationsanbietern, wie die Suchmaschinenent- „Hybridbibliothek“ wickler bzw. -betreiber Google & Co. entstanden. Der Infor- mationsmarkt wurde und wird dadurch in allen Bereichen „Hybrid“ heißt nach dem Brockhaus „aus Verschiedenem gehörig durcheinander gewirbelt. In einem scharfen glo- zusammengesetzt; von zweierlei Herkunft; zwitterhaft“.31 balen Wettbewerb wird letztlich ausgemacht, wer die Ge- Die Verbindung dieses Begriffs mit dem Terminus „Biblio- winner und Verlierer dieses historischen Umbruchs sein thek“ stammt aus der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und werden. kommt von britischen Bibliothekaren.32 Der Begriff „hybrid Was heißt dies nun für die Bibliotheken? Ihre einstige library“ lässt mehrere Deutungsmuster zu. Sutton,33 der dominierende Rolle in vielen Bereichen der (qualifizierten) den Begriff zum ersten Mal gebrauchte, stellt einen evolu- Informationsversorgung haben sie bereits seit geraumer torischen Aspekt in den Vordergrund. Er sieht eine logi- Zeit weitgehend eingebüßt. Jetzt wird es für sie auch in sche Entwicklung von der traditionellen Bibliothek, über Bereichen, die sie nach wie vor als ihr „Kerngeschäft“ die „automatisierte Bibliothek“, hier wird gedruckte Infor- reklamieren, bald keine wettbewerbsfreien Nischen mehr mation automatisiert verwaltet bzw. angeboten hin zur geben.28 Sie werden sich dem Phänomen Wettbewerb in „Hybridbibliothek“ und schließlich zur „digitalen Biblio- vollem Umfang stellen müssen. Dabei kommt es einerseits thek“, welche nur noch digitale Information verwaltet und zu einem sich verschärfenden (Qualitäts-)Wettbewerb der anbietet. Insofern ist die „Hybridbibliothek“ ein zwangs- Bibliotheken untereinander,29 andererseits, und das wiegt sehr viel schwerer, kommt es zum Konkurrenzkampf mit deutliche Spuren hinterlassen. Die „klassischen“ Auskunftsdienste den neuen, sich auf dem Informationsmarkt etablierenden sind mit teilweise über 75 %, die Ausleihzahlen mit im Durchschnitt und immer ungestümer auch in das „core business“ der 50 % Rückgang in nur wenigen Jahren dramatisch eingebrochen. Im Bibliotheken eindringenden kommerziellen Dienstleis- Detail vgl. Anderson, Rick: The Crisis in Research Librarianship. In: tern.30 Der Wettbewerb als neues und belebendes Element The Journal of Academic Librarianship 37 (4) (2011) S. 289–290; An- derson, Rick: Print on the Margins: Overall circulation as an indicator of library use is less important than the behavior of the individual 27 Dies ist der eigentliche Grund, weswegen sich seit geraumer Zeit library user at your college or university. In: Library Journal 136 (11) mehr und mehr Branchenfremde im Verlags- und Medienwesen tum- (2011) S. 38–39; Regazzi, John J.: Constrained? An Analysis of meln und Mischkonzerne entstehen, die nur noch sehr entfernt, u. U. U.S. Academic Library Shifts in Spending, Staffing and Utilization, auch gar nichts mit dem Selbstverständnis und den Aktivitäten eines 1998–2008. In: College & Research Libraries (September 2012) S. 449– „klassischen“ Verlags zu tun haben. Vgl. näher zu diesem Phänomen 468, S. 466 f. Schiffrin, André: Verlage ohne Verleger: Über die Zukunft der Bücher. 31 Vgl. Brockhaus – Die Enzyklopädie: http://www.brockhaus-en Berlin 2000. zyklopaedie.de/be21_article.php. 28 Amazon hatte im Oktober 2012 bekannt gegeben, dass ab sofort 32 Der Begriff „hybrid library“ entspringt einer Umbruchsituation. Er Kunden auch in Deutschland, wie schon seit geraumer Zeit in den wurde in Großbritannien im Zusammenhang mit der Debatte um eine USA kostenlos E‑Books entleihen können. Damit tritt der weltgrößte weitgehende Hochschul- bzw. Bildungsreform und damit einher- elektronische Buchhändler (und mittlerweile auch von vielen ande- gehend eine Neuausrichtung der Bibliothekskonzepte bzw. der Neu- ren Waren und Produkten) in direkte Konkurrenz vor allem zu den positionierung der Bibliotheken in einem durch stetig wachsenden öffentlichen Bibliotheken und deren gerade entwickeltem „Onleihe- Wettbewerb bestimmtes Bildungs- bzw. Wissenschaftsumfeld gebo- Service“ für E‑Books. Vgl.: http://www.androidnext.de/news/ama ren. Umfassend zur Geschichte des Begriffs und dem dahinter stehen- zon-kindle-ebook-verleih-ab-ende-oktober-auch-in-deutschland. Zur den Bibliothekskonzept vgl. Oppenheim, Charles; Smithson, Daniel: sog. Onleihe, dem Ausleihservice für Online-Medien der öffentlichen What is the Hybrid Library? In: Journal of Information Science 25 (2) Bibliotheken im deutschen Sprachraum, vgl. näher: http://de.wikipe (1999) S. 97–112; für den deutschen Sprachraum vgl. Wissenschafts- dia.org/wiki/Onleihe. rat: Empfehlungen zur digitalen Informationsversorgung durch 29 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich Dugall, Berndt: Bibliotheken Hochschulbibliotheken vom 13. Juli 2001, S. 29, unter http://www.wi zwischen strukturellen Veränderungen, Kosten, Benchmarking und ssenschaftsrat.de/texte/4935-01.pdf. Wettbewerb. In: ABI Technik 33 (2) (2013) S. 86–95, S. 94. 33 Vgl. Sutton, Stuart A.: Future Service Models and the Convergence 30 Die nichtbibliothekarischen Informationsalternativen haben im of Functions: the reference librarian as technician, author and con- „Kerngeschäft“ der US-amerikanischen wissenschaftlichen Bibliothe- sultant. In: Low, Kathleen (ed.): The Roles of Reference Librarians, ken, wie z. B. bei der Buchausleihe oder auch den Auskunftsdiensten, Today and Tomorrow. New York 1996, S. 125–143. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
372 Klaus Kempf läufiger, aber in seiner Zeitdauer auch absehbarer „evolu- delns machen.37 Damit steht bei einer Dienstleistung nicht tionsbedingter Zwischenschritt“, eine vorübergehende Er- mehr das Potential des lokalen Bestandes, der eigenen scheinung. Sutton betont dann auch „the balance of print Sammlung bzw. Sammlungen im Vordergrund, sondern and digital information leans increasingly toward the digi- im Zweifelsfall wird unter Beachtung der jeweiligen Rech- tal“.34 Mehrheitlich herrscht in der Literatur die Auffas- tesituation primär auf Fremdressourcen zugegriffen und sung, dass dieser transitorische Zustand noch geraume die Bibliothek tritt nur noch rein vermittelnd als Intermedi- Zeit anhalten wird. Dabei wird je nach Bibliothekstyp bzw. är, nicht mehr aus eigenen Ressourcen schöpfend, in Er- dessen konkreter Aufgabenstellung der Anteil der digita- scheinung. Das kommt natürlich einem Paradigmenwech- len Information, wie von Sutton vorhergesagt, im Zeit- sel gleich.38 Die eigene (lokale) Bestandsbildung und ablauf ein mehr oder minder deutliches Übergewicht ge- Sammlungstätigkeit wird nicht mehr als prioritär bei der genüber der gedruckten gewinnen. Konzeption des Dienstleistungskonzepts, sondern nur Was ist der Inhalt des Hybridbibliothekkonzepts? noch als eine (!) Möglichkeit unter mehreren gesehen, um Stellvertretend für mehrere Autoren sei hier Murray zi- die Informationsbedürfnisse des Benutzers möglichst tiert:35 „[…] (a hybrid library is, Anm. des Verf.) a managed rasch, effektiv und komfortabel befriedigen zu können.39 environment providing integrated and contextualised ac- Diese konzeptionelle Neuorientierung ist gleichzeitig cess to an extensible range of information services inde- Ausgangspunkt und Eckpfeiler einer neu zu entwickeln- pendent of location, format, media and curatorial domain den Kooperations- und Wettbewerbsstrategie der Biblio- within an business framework“. Wo und was ist das Neue thek. Letztere verdient hier ausdrücklich Erwähnung, da bei diesem Konzept? Das Neben- und/oder Miteinander sich das Verhältnis der Bibliothek zu anderen Einrichtun- unterschiedlicher Medientypen in Bibliotheken ist nichts gen in ihrem unmittelbaren und mittelbaren Umfeld ver- Neues, dieses wird von vielen Bibliotheken seit geraumer mehrt „hybrid“, d. h. ambivalent im Sinne eines neuen Zeit mehr oder minder erfolgreich praktiziert. Seit einiger Rollenverständnisses und einer neuen Arbeitsteilung ge- Zeit bieten Bibliotheken ihren Nutzern auch bereits digita- staltet. Davon betroffen sein kann das Verhältnis zu un- le Informationen in unterschiedlicher Form (on- und off- mittelbar angrenzenden anderen Organisationseinheiten line) an, ohne dass deswegen von einer konzeptionellen der gleichen Institution, wie z. B. im Falle einer Hochschul- Neuausrichtung die Rede ist. Neu bei dem vorstehenden bibliothek das Verhältnis zum hochschuleigenen Rechen- Konzept ist die Forderung nach einer eindeutigen, ja radi- zentrum und/oder zu den Fakultäten, also zu den Wis- kalen Nutzerakzentuierung des „hybriden“ Informations- senschaftlern. Betroffen sein können aber auch die angebots.36 Die Bibliothek soll nicht mehr vordergründig Beziehungen zu anderen Informationseinrichtungen, wie bestands- oder medienbezogen planen, organisieren bzw. Archiven und Museen oder auch zu kommerziellen Dienst- agieren, sondern den Nutzer mit seinen sehr unterschiedli- leistungsunternehmen, also Buchhandlungen, Zeitschrif- chen Informationsbedürfnissen zum obersten Ziel und tenagenturen oder auch den neuen Marktteilnehmern, wie zum alleinigen Maßstab ihres gesamten Planens und Han- den sog. E-Book-Aggregatoren und den (kommerziellen) Suchmaschinenbetreibern. Hier wird es vermehrt zu einem neuen Mit- und Gegeneinander kommen. Phasen der Ko- operation werden mit Phasen des Wettbewerbs wechseln, 34 Vgl. ebd. S. 126. aus Partnern werden eventuell Konkurrenten und umge- 35 Murray, R.: The Millennium Challenge – Towards the Hybrid Library (unveröffentlichter Vortrag). Zitiert nach: Oppenheim; Smith- kehrt. son (Anm. 32) S. 100. Mit einer ähnlichen Akzentuierung s. a. Rus- bridge, Chris: Towards the Hybrid Library. In: D-Lib Magazine (July/ August 1998) unter http://www.dlib.org/dlib/july98/rusbridge/07rus bridge.html. 37 Zu den sich dramatisch ändernden Nutzerbedürfnissen im digita- 36 Eine wesentliche Aufgabenstellung der Hybrid-Bibliothek ist na- len Umfeld vgl. Gashaw, Kebede: The Changing Information Needs of türlich, dass sie dem sog. Medienbruch aktiv begegnet, d. h., dass sie Users in Electronic Information Environments. In: The Electronic die in ihrer Hand befindlichen konventionellen und digitalen Infor- Library 20 (1) (2002) S. 14–21. mationsressourcen zu einem schlüssigen Serviceangebot bündelt 38 Schmolling, Regine: Paradigmenwechsel in wissenschaftlichen und dabei der Nutzerperspektive den Vorrang vor allem anderen gibt. Bibliotheken? Versuche einer Standortbestimmung. In: Bibliotheks- Vgl. dazu näher Horstkemper, Gregor: Informationsbündelung, Lite- dienst 35 (9) (2001) S. 1038–1039. raturversorgung, Publikationsunterstützung – Bibliothekarische 39 Vgl. näher Kempf, Klaus: Zugang zum Wissen. Die Bibliothek als Dienstleistungen für die Geschichtswissenschaften im Umbruch. In: Ort der Verfügbarkeit und Vermittlung von Information. In: Die Teß- Griebel, Rolf; Ceynowa, Klaus (Hrsg.): Information, Innovation, Inspi- mann. Friedrich-Teßmann-Sammlung der Österreichischen Aka- ration. 450 Jahre Bayerische Staatsbibliothek. München 2008, demie der Wissenschaften (1957–2012). Landesbibliothek Dr. Fried- S. 437–455, S. 437 ff. rich Teßmann (1982–2012), Wien-Bozen 2012, S. 129–141. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
Bibliotheken ohne Bestand? 373 3.3 Sammeln in der „Hybridbibliothek“ Erwerb ist daher besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Erwerbungsgrundsätze und Beschaffungswege der Die Umsetzung des Hybridbibliothekkonzepts beginnt „alten“ gedruckten Welt haben in der „neuen“ digitalen zwangsläufig im Bereich Bestandsaufbau und Erwerbung. Welt ihre Gültigkeit zumindest teilweise, wenn nicht ganz Der Sammlungsbegriff muss neu definiert werden, das eingebüßt.42 Die spezifischen technisch-organisatorischen Sammelverhalten muss sich ändern und die Sammlung Eigenschaften der digitalen Information und die bei ihrem muss sich neu formieren und vor allem präsentieren. Dies Bezug sowie bei ihrem Einsatz zu beachtenden rechtlichen diktieren vor allem die Besonderheiten der digitalen Me- Besonderheiten verlangen nach anderen Erwerbungs- dien, aus denen sich veränderten Kooperationsmöglich- grundsätzen und anderen Beschaffungsmethoden. Die Hy- keiten (im Bibliotheksbereich) ergeben, die aber auch ver- bridbibliothek, die ja konventionellen und digital-multi- änderte Konkurrenzverhältnisse am Informationsmarkt, medialen Medien gleichzeitig gerecht werden muss, wie oben erwähnt, zur Folge haben. Ausschlagend für eine verlangt vor diesem Hintergrund beim Bestandsaufbau neu auszurichtende Sammelpolitik ist eine weitere Varia- einen „virtuosen Methodenmix“.43 ble im unmittelbaren Umfeld der Bibliotheken, nämlich Bei den gedruckten Materialien lässt sich das Erwer- das einschneidend veränderte und sich weiter verändern- ben in der Regel an folgenden Grundsätzen festmachen: de Nutzerverhalten.40 Aber der Reihe nach. 1. Der Erwerb erfolgt vorrangig „just in case“, d. h. bei Der ganz überwiegende Teil der Bibliotheken erwirbt Erscheinen oder Vorliegen eines Werks mit Blick auf nach wie vor – in Abhängigkeit von den jeweiligen finan- einen eventuellen künftigen Bedarf. ziellen Möglichkeiten – in erheblichem Umfang analoge, 2. Die Erwerbungsentscheidung richtet sich bei jedem d. h. gedruckte Materialien. Ein Gutteil oder gar schon das einzelnen Buch- oder Zeitschriftentitel primär am loka- Gros des für den Medienerwerb zur Verfügung stehenden len Bestand und an den im Erwerbungsprofil formu- Budgets wird jedoch mittlerweile in zahlreichen wissen- lierten Kriterien aus. schaftlichen Bibliotheken, d. h. vor allem in den Univer- 3. Die Entscheidung trifft der (fachlich) zuständige Bi- sitätsbibliotheken, für den Erwerb von digitalen Informati- bliothekar, i. d. R. der Fachreferent, der die Gesamt- onsressourcen aufgewandt.41 Ihrem Sammeln, ihrem bestandsentwicklung in seinem Verantwortungs- bereich im Blick hat.44 4. Der Erwerb – bei Neuerscheinungen im Regelfall auf 40 Alle Untersuchungen zum Nutzerverhalten, vor allem unter den dem Kaufwege – hat zur Folge, dass die Bibliothek an führenden US-amerikanischen Forschungs- und Universitätsbiblio- dem Werk Eigentum erwirbt und das Werk auf Dauer theken zeigen, dass heute fast kein einziger (!) Benutzer, weder For- Bestandteil des „Buchkapitals“ der Bibliothek wird. scher noch Student, seine Informations- bzw. Literaturrecherche Aber nicht nur das: Sie verfügt wie bei anderen Wirt- mehr auf der Bibliotheks-Website startet. Hier dominieren eindeutig schaftsgütern über alle Eigentumsrechte, d. h., sie die bekannten Suchmaschinen bzw. deren Einstiegsseiten. Vgl. von der zahlreich dazu erschienen Literatur u. a. Connaway, Lynn; Dickey, kann damit nach eigenem Gutdünken verfahren, u. a. Timothy: The Digital Information Seeker. Report of the Findings from Selected OCLC-RIN, and JISC Committee (JISC). Bristol 2010, online unter: http://www.jisc.ac.uk/media/documents/publications/repors the 21st Century. In: College & Research Libraries (September 2007) /2010/digitalinformationseekerreport.pdf und ganz neu die Studie S. 418–444, S. 440 und Tab. 8. des University Leadership Council „Redefining the academic library: 42 Leggate, Peter: Acquiring Electronic Products in the Hybrid Libra- Managing the migration to Digital Information Services“, online un- ry: Prices, Licences, Platforms and Users. In: Serials 11 (2) (1998) ter: http://www.uab.edu/library/images/documents/redefining-the- S. 103–108. academic-library.pdf, vor allem die Abb. auf S. 17. 43 So Bilo, Albert: Anpassung oder Strukturwandel. Elektronische 41 Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken gaben 2011/12 im Publikationen und digitale Bibliotheken aus der Sicht bibliothekari- Durchschnitt rund 40 % ihres gesamten Medienbudgets für den Er- scher Praxis. In: Tröger, Beate (Hrsg.): Wissenschaft Online. Elektro- werb, d. h. die Lizenzierung von e-Ressourcen aus, wobei die nisches Publizieren in Bibliothek und Hochschule (ZfBB-Sonderheft, Schwankungsbreite zwischen den einzelnen Einrichtungen erheblich 80). Frankfurt a. M. 2000, S. 128. sind: http://www.bibliotheksstatistik.de/eingabe/dynrep/index.php. 44 Dies gilt im Prinzip auch dann, wenn die Bibliothek diesen Ar- Bei den US-amerikanischen wissenschaftlichen Bibliotheken waren beitsschritt mittels eines sog. „approval plan“ im Wege des Outsour- es nach Angaben der ARL nach einer Umfrage von 2010 bei vielen cing von einer Buchhandlung vornehmen lässt. Zum Thema Outsour- Mitgliedsbibliotheken schon über 50 % der für den Medienerwerb cing und Approval Plan vgl. ausführlich Kempf, Klaus: Progetti di zur Verfügung stehenden Finanzmittel. Vgl. Potter, William Gray outsourcing e approval plans. 10 anni di esperienza in una grande et al.: ARL Profiles: Research Libraries 2010, S. 31, online: http:// biblioteca di ricerca. Il caso della Bayerische Staatsbibliothek. In: www.arl.org/stats/index/profiles/; zur Entwicklung bis 2004 mit sta- Current Issues in Collection Development: Italian and Global Per- tistischen Nachweisen und Kommentierung vgl. ausführlich Lewis, spectives. Atti del Convegno internazionale sullo Sviluppo delle Rac- David W.: A strategy for Academic Libraries in the First Quarter of colte. Bologna 2006, S. 137–148. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
374 Klaus Kempf es verleihen und zwar auch – im Rahmen der 3. Bei den e-Medien dominiert der Sammelerwerb.48 Bei Fernleihe – an Benutzer anderer Bibliotheken. E-Books sind dies oft sog. Paketkäufe entweder direkt 5. Mit dem konventionellen Medienerwerb, z. B. einem von den Verlagen oder über entsprechend kompetente Buch, ergeben sich für die Bibliothek zunächst keine Buchhändler oder auch über die neuen Akteure am weiteren komplexen organisatorisch-technischen Frage- Medienmarkt, in diesem Fall die sog. E-Book-Aggrega- und Problemstellungen. Das erworbene Werk wird in toren. Letztere sind Dienstleistungsunternehmen, die den Bestand eingereiht, d. h. inventarisiert, erschlos- von Verlagen, die selbst keine Vertriebsorganisation sen, ins Regal gestellt und bei Bedarf wird es entlie- aufbauen wollen oder können, den Vertrieb der E- hen. Das ist alles. Book-Produktion verlagsübergreifend übernehmen.49 Der Erwerb kann dabei auch über sog. konsortiale Ein- Beim Erwerb digitaler Medien gelten hingegen ganz ande- kaufsgemeinschaften von Bibliotheken erfolgen. In re Grundsätze und Regeln: den letzten Jahren haben sich diese Zusammenschlüs- 1. Der Erwerb und die Beschaffung erfolgt hier primär se im Bibliothekswesen weltweit durchgesetzt.50 Es nach sog. „just in time“-Überlegungen. Entscheidend gibt Konsortien in unterschiedlichster Gliederung, re- ist nicht mehr die Frage der langfristigen, ausgegliche- gionale, nationale und internationale Zusammen- nen Bestandsentwicklung und ein vermutetes künfti- schlüsse. Sie sollen die Marktmacht der nachfragen- ges Nutzerinteresse, sondern der unmittelbare Nutzer- den Bibliotheken gerade gegenüber den großen wunsch, möglichst unterfüttert durch eine statistisch Wissenschaftsverlagen stärken. Die Konsortien erwer- nachweis- bzw. überprüfbare tatsächliche Nutzung ben grundsätzlich für oder im Auftrag ihrer Mitglieder der einzelnen (Zeitschriften-/Datenbank-/E-Book-)Ti- alle möglichen, kommerziell vertriebenen e-Ressour- tel.45 Ein vorsorgeorientierter Bestandsaufbau findet cen. Im Vordergrund stehen jedoch Zeitschriften, Da- so gut wie nicht mehr statt.46 tenbanken und E-Books. Es haben sich die unter- 2. Die Titelauswahl und die Erwerbungsentscheidung schiedlichsten Erwerbungsmodelle herausgebildet. werden zunehmend auf den Nutzer verlagert oder die- Der einst in seinen unterschiedlichen Varianten domi- sem sogar im technischen Sinne direkt im Rahmen nierende sog. big deal, d. h., die am Konsortium betei- eines sog. patron driven acquisition-Service (PDA) ligten Bibliotheken erwerben ganze oder Teile von überlassen. Die vorsorglich in den lokalen OPAC sei- Verlagsprogrammen, auch Ressourcen, die sie viel- ner Heimatbibliothek eingestellten bibliographischen leicht kaum oder gar nicht benötigen. Dieses Mehr an Daten erlauben es dem Nutzer im Rahmen seiner Lite- eigentlich nicht benötigter Information bringt jedoch raturrecherche Bestellungen auch auf (gedruckte und auf das einzelne, damit erworbene Werk und/oder die elektronische) Monographien aufzugeben, die noch gar nicht zum Bestand der Bibliothek gehören. Der für Driven Acquisition of e-Books. In: College & Research Libraries (Sep- die Erwerbung eigentlich zuständige Bibliothekar ist tember 2012) S. 469–492. hier i. d. R. nur noch die sekundäre, verifizierende In- 48 Womit de facto eine Aufgabe der Preisbindung, wie sie in Län- stanz.47 dern, wie in Deutschland für die gedruckte Literatur bzw. deren Einzelerwerb üblich, ja vom Gesetzgeber verbindlich vorgegeben ist, einhergeht. Vgl. http://www.preisbindungsgesetz.de/content/faq/10 45 Hier hat sich mit COUNTER eine Instanz entwickelt, die für Ver- 82-e-book-preisbindung.htm. lage/Produzenten und Bibliotheken/Nutzer beidseitig akzeptable Sta- 49 Zu dem gesamten Thema E-Book-Erwerbung vgl. ausführlich tistiken sorgt. Vgl. dazu näher: http://www.projectcounter.org/abou Hammerl, Michaela; Kempf, Klaus; Schäffler, Hildegard: E-Books in t.html. wissenschaftlichen Bibliotheken. Versuch einer Bestandsaufnahme. 46 Vgl. hierzu die Aussagen von Bernd Dugall wiedergegeben von In: ZfBB 55 (2008) S. 68–78; zur E-Book-Marktsituation in der EU vgl. Berghaus-Sprengel, Anke: „Die Situation erfordert radikal neue Musinelli, Christina: Editech 2011: e-Books and Much More in Europa. Kooperationsformen unter den Bibliotheken in Deutschland“. Biblio- In: Publishing Research Quarterly 27 (2011), S. 288–295. Zur Situation theken zwischen Kooperation und Konkurrenz in Zeiten der Hoch- bei den amerikanischen wissenschaftlichen Bibliotheken: Blummer, schulautonomie. Veranstaltung der gemeinsamen Managementkom- Barbara; Kenton, Jeffrey: Best Practices for Integrating E-books in mission von dbv und VDB am 5. und 6. Juni in Dortmund. In: B.I.T. Academic Libraries: A Literature Review from 2005 to Present. In: online 16 (4) (2013) S. 336–339. Collection Management 37 (2012) S. 65–97. 47 Zur PDA-Erwerbung und den damit verbundenen Problemen im 50 In den USA kennt man Konsortien bei Bibliotheken für alle mögli- Detail vgl. Walters, William H.: Patron-Driven Acquisition and the chen Fragestellungen bereits sehr viel länger. Im Bereich Medien- Educational Mission of the Academic Library. In: Library Resources & erwerb hat sich dieses Phänomen dann seit den 90er-Jahren des Technical Services (nachfolgend zitiert: LRTS) 56 (3) (2012) S. 199– letzten Jahrhunderts quasi rund um den Globus etabliert. Vgl. Turner, 213; Fischer, Karen S.; Wright, Michael; Clatanoff, Kathleen et. al.: Christine N.: E-Resource Acquisitions in Academic Library Consortia Give ’Em What They Want: A One-Year Study of Unmediated Patron- In: LRTS 58 (1) (2014) S. 33–48. Unauthenticated Download Date | 1/23/20 3:11 AM
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