Bibliotheken ohne Bestand? - Klaus Kempf - De Gruyter

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Bibliotheken ohne Bestand? - Klaus Kempf - De Gruyter
Bibliothek, Forschung und Praxis 2014; 38(3): 365–397

Klaus Kempf

Bibliotheken ohne Bestand?
Bestandsaufbau unter digitalen Vorzeichen

Zusammenfassung: Über Jahrhunderte war die Bibliothek        Parallel dazu werden sich ausgewählte Bibliotheken in
in ihrem Dienstleistungsangebot primär auf die eigene        sog. virtuellen Forschungsumgebungen engagieren. Dies
Sammlung fixiert. Mit dem Aufkommen der digitalen In-        verlangt jedoch von ihnen, ein deutlich erweitertes und
formation, der Entwicklung des Internet und der Heraus-      am konkreten Bedarf des jeweiligen Forschungsvor-
bildung der sog. Hybridbibliothek erfolgte ein Paradig-      habens orientiertes Dienstleistungsportefeuille aufzubau-
menwechsel: An die Stelle der traditionellen Bestands-       en, wobei die Sammlung und Vorhaltung von Informati-
und Medienorientierung trat das neue Paradigma einer         on nur ein Teil der erwarteten Gesamtleistung sein wird.
primären Service- und Nutzerorientierung. Der Samm-          Fazit: Welches Schicksal die Bibliotheken als Institution
lungsbegriff erlebt eine Erweiterung in dem nun auch         auch nehmen werden, ihre Sammlungen und ihre Sam-
lizenzierte (digitale) Medien zum „Bestand“ einer Biblio-    melaktivität werden auch in der Welt von morgen gefragt
thek gezählt werden. Das vermehrte Publizieren im Wege       sein.
des Open Access stellt die grundlegende Funktion der
                                                             Schlüsselwörter: Sammlung; Bestandsaufbau; Erwer-
Sammlung – und damit der Bibliothek –, nämlich dauer-
                                                             bung; digitale Bibliothek; Hybridbibliothek
haft Zugang zur Information zu schaffen, radikal in Frage.
Vor diesem Hintergrund und der Tendenz, dass sich in
                                                             Libraries without Holdings? Collection Development in
der all-digital-world von morgen das Sammlungsobjekt
                                                             the Digital Age
radikal verändern wird – der Text und damit die klassi-
sche Publikation als dominierende Form der Informati-        Abstract: For centuries the library was preliminary focu-
onsvermittlung im Wissenschaftsbetrieb dankt zu Guns-        sed in its range of services on its own collection. With the
ten einer neuen Hegemonie des Bildes und/oder                rise of digital information, the development of the Internet
multipler Darstellungs- bzw. Wissensvermittlungsformen       and the development of the so called hybrid library a
ab – müssen auch der Sammlungsgedanke und die Art            paradigm shift took place: The traditional orientation on
des Bestandsaufbaus neu gedacht werden. Das Schlag-          collections and media was replaced by the new paradigm
wort heißt hier künftig: radikale Arbeitsteilung. Nur noch   of service and user orientation. The concept of library
wenige, bevorzugt große und besonders leistungsfähige        collections is expanded by the addition of licensed (digi-
Bibliotheken werden sich überhaupt der systematischen        tal) media which are now included in the “holdings” of a
Sammlung von „Content“, welcher Art und in welcher           library. More and more information resources are publi-
Form auch immer, widmen. Diese Sammlungen werden             shed according to ‘open access’ policies and radically call
jedoch global und spartenübergreifend, d. h. in Abstim-      into question the basic idea of collections – and thus of
mung nicht nur mit anderen Bibliotheken, sondern auch        libraries – which is providing permanent access to infor-
den anderen Gedächtniseinrichtungen, wie Archiven und        mation. Against this background and the tendency, that
Museen gepflegt werden. Die durchschnittliche wissen-        the collection object in the all-digital-world of tomorrow
schaftliche Bibliothek, d. h. vor allem die Hochschulbi-     will change dramatically – the text and the traditional
bliotheken werden sich mit viel bescheideneren, eng am       publication as the dominant form of information ex-
tatsächlichen Bedarf der jeweiligen Klientel orientierten    change in academic life resigns in favour of a new hege-
(digitalen) Sammlungen bescheiden müssen. Eine Auf-          mony of the image and/or multiple forms of representing
wertung erfahren die Sondersammlungen auch auf loka-         information and disseminating knowledge – also the col-
ler Ebene, sofern sie einzigartiges Sammelgut enthalten.     lection concept and the practice of collection develop-
Damit können auch kleinere Einrichtungen mittels ihrer       ment has to be rethought. In future the catchword is
Repositorien zu dem sich entwickelnden, weltweiten           called: radical division of labour. Only a few, preferably
open access-dominierten „Sammlungsmosaik“ beitragen.         large-scale and especially high-performance libraries, will
                                                             deal with the systematic collection of “content” in any
Klaus Kempf: Klaus.Kempf@bsb-muenchen.de                     kind and form whatsoever. Those collections, however,

                                                                                                        Unauthenticated
                                                                                        Download Date | 1/23/20 3:11 AM
366             Klaus Kempf

will be maintained globally and across all divisions, this                      1 Einleitung
means in coordination not only with other libraries but
also with other memory institutions, such as archives and                       Das Sammeln, d. h. der Auf- und Ausbau der eigenen Be-
museums. The average academic library, especially the                           stände, hat seit Bestehen der modernen Bibliotheken de-
university libraries, will remain with far more modest                          ren Denken und Handeln bestimmt. Die organisatorischen
(digital) collections, oriented closely towards the actual                      Strukturen und Abläufe der Bibliothek haben bis heute
needs of their respective users. Special collections also on                    den Bestandsaufbau als Ausgangspunkt für alle weiteren
local level will be revalued, provided that they contain                        Überlegungen und Maßnahmen.1 Die eigene Sammlung
unique collection items. Thereby also smaller institutions                      bzw. deren Ausbau und Pflege als wesentlicher Bezugs-
can contribute with their repositories to the developing,                       punkt gilt auch für das Verhältnis der Bibliothek zum
worldwide, open access dominated “collection mosaic”.                           Benutzer. Im Mittelpunkt der meisten bibliothekarischen
In parallel, selected libraries will engage in so-called “vir-                  Servicekonzepte steht bis heute die eigene Sammlung,
tual research environments” (VRE). This, however, requi-                        deren Vermittlung und Bereitstellung in unterschiedlicher
res them to build up a clearly extended service portfolio                       Form. Man kann es mit Francis Miksa auf die kurze und
oriented towards the needs of the respective research pro-                      griffige Formel bringen: „Die Bibliothek, wenn sie etwas
ject, whereby the collection and provision of information                       ist, dann ist sie eine Sammlung, wenn es keine Sammlung
is only part of the expected overall performance. In con-                       mehr gibt, gibt es auch keine Bibliothek mehr“.2
clusion: Whichever destiny libraries as institutions will                            Im elektronischen Zeitalter, mit dem Aufkommen der
take, their collections and their collection activities will                    digitalen Information und vor allem mit deren Verbrei-
be in demand also in tomorrow’s world.                                          tungsmöglichkeiten über das Internet ist diese Gewissheit
                                                                                ins Wanken geraten. Sie ist mit Fragezeichen versehen
Keywords: Collection; collection building; acquisition;
                                                                                worden, ja es kommt sogar zu einer radikalen Infragestel-
holding; digital library; hybrid library
                                                                                lung des bisher existierenden, uns vertrauten, bestands-
                                                                                zentrierten Bibliotheksparadigmas: „Die Zukunft der bi-
                                                                                bliothekarischen Sammlung wird sein, dass es keine
DOI 10.1515/bfp-2014-0057
                                                                                Sammlung(en) mehr gibt“ oder „Die Bibliothek wird alles
                                                                                sein, aber keine Sammlung mehr“ hört man aus amerika-
                                                                                nischen Bibliothekskreisen.3 Nicht nur die zentrale Bedeu-
Inhalt                                                                          tung der Sammlung, ihrer Pflege und ihres weiteren Aus-
                                                                                baus, ihre Notwendigkeit an sich wird in Frage gestellt. Die
1     Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366      wissenschaftliche Bibliothekswelt ist in einer wesentli-
2     Der Bestandsaufbau in der „gedruckten Welt“ von                           chen Grundsatzfrage, ja in ihrem Selbstverständnis ver-
      gestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367     unsichert. Alternative Konzepte werden diskutiert, eine
3     Der Bestandsaufbau in der „Hybridbibliothek“ . 369                        grundlegende Neuausrichtung des bibliothekarischen Ar-
3.1   Die „Kulturrevolution“ Internet . . . . . . . . . . . . 369               beitens und des Servicekonzepts wird verlangt.
3.2   Definition und Konzept der „Hybridbibliothek“ . 371                            Zur Neuorientierung gehört zum einen, sich die
3.3   Sammeln in der „Hybridbibliothek“ . . . . . . . . . 373                   Grundlagen und historischen Wurzeln des tradierten, auf
3.4   Das Phänomen „Open Access“ . . . . . . . . . . . . . 376                  der eigenen Sammlung aufsetzenden Bibliothekskonzepts
3.5   Von der kooperativen Erwerbung über die „Virtuel-                         zu vergegenwärtigen und sich klar zu machen, wo wir
      le Fachbibliothek (ViFa)“ zum „Fachinformations-                          derzeit stehen, also eine tiefgreifende, durchaus auch
      dienst (FID)“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
4     Bestandsaufbau in der „all-digital-world" von mor-
                                                                                1 Die großen nachgeordneten Funktionsbereiche Erschließung, Be-
      gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
                                                                                nutzungsdienste und Archivierung setzen alle auf dem Funktions-
4.1   Neudefinition von Sammlungsidee und konzept 384                           bereich Bestandsaufbau auf.
4.2   Globaler arbeitsteiliger Bestandsaufbau und … . 386                       2 Das Zitat „A library, if anything, is a collection. If there is no collecti-
4.3   … spartenübergreifendes Sammeln als Regelfall in                          on, there is no library.“ ist dem Beitrag von Miksa, Francis: The Future
      der Online-Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389          of the Reference II: A paradigm of academic library organization. In:
                                                                                Collection & Research Library News (October 1989) S. 780–790, S. 781
4.4   Erweiterter Sammlungs(objekt)begriff oder die
                                                                                entnommen.
      Bibliothek als Teil „Virtueller Forschungsumgebun-                        3 Vgl. Anderson, Rick: Collections 2021: The Future of the Library
      gen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391    Ccollection is not a Collection. In: Serials 24 (3) (2011) S. 211–215,
5     Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395   S. 211.

                                                                                                                              Unauthenticated
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selbstkritische Ist-Analyse zu betreiben. Zum anderen ist                allem keine Bibliothek aus.5 Der Erwerb von Büchern und
es notwendig zu fragen, wie der Sammlungsgedanke und                     das Herausbilden eines Bestandes sollte gewissen Anschaf-
dessen Umsetzung, ein wie auch immer betriebener Be-                     fungsgrundsätzen genügen. Die theoretische Forderung
standsaufbau unter radikal veränderten Rahmenbedin-                      der Neuzeit war die Universalität. Formuliert wurde sie erst-
gungen aussehen kann und im Gefolge die Frage zu stel-                   mals von Gabriel Naudé. In seinem 1627 und dann erneut
len, wie die Bibliothek von morgen und ihre Funktion                     1644 erschienen Werk Advis pour dresser une bibliothèque
aussehen kann. Wenden wir uns zunächst dem Gestern                       formulierte er das Ziel, umfassend auch das „häretische“
und damit dem Ursprung der bibliothekarischen Samm-                      und scheinbar wertlose zu sammeln, um auf dieser Grund-
lungsidee zu.                                                            lage zu einem unabhängigen Gesamturteil zu kommen.6
                                                                         G.W. Leibniz ging noch einen Schritt weiter. Er setzte das
                                                                         Anlegen von Büchersammlungen in einen sozioöko-
                                                                         nomischen Kontext, ja er sah im Aufbau von Wissensspei-
2 Der Bestandsaufbau in der                                              chern und ‑Nachweissystemen als Teile einer fortschritts-
  „gedruckten Welt“ von gestern                                          fördernden wissenschaftlichen Infrastruktur eine zentrale
                                                                         Aufgabe des territorialen Wohlfahrtsstaates. Dabei war
Die moderne Bibliothek hat ihren Ursprung in der zweiten                 sein Ziel, den enzyklopädischen Bibliotheksbestand stand-
Hälfte des 16. Jahrhunderts. Damals als sich in Europa big               ortunabhängig und mehrdimensional zu indizieren. Wenn
bang-artig eine neue Idee des Sammelns von Kuriosità und                 er sich in Hannover bzw. Wolfenbüttel auf die „Kern-Bü-
natürlichen wundersamen Dingen zwischen Adeligen und                     cher“ zu den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen be-
aufkommendem Bürgertum ausbreitete, was in die Schaf-                    schränken wollte, so war dies primär wirtschaftlichen
fung sog. Kunst-und Wunderkammern mündete, schlug                        Überlegungen geschuldet, d. h. der Knappheit und vor al-
auch die Geburtsstunde der bibliothekarischen Sammlun-                   lem der fehlende Stetigkeit der für die fortlaufende An-
gen. Den zeit- und kulturgeschichtlichen Hintergrund bil-                schaffung der Literatur benötigten finanziellen Mittel.7
deten die Entdeckungen neuer Erdteile und (See-)Ver-                          An der Universität Göttingen wurde erst Anfang des
kehrswege sowie bahnbrechende Erfindungen, wie z. B.                     18. Jahrhunderts diesem Umstand abgeholfen und der für
des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johann                      die moderne Bibliothek und deren Bestandsaufbau kenn-
Gutenberg, die wiederum vielfältige Innovationsschübe in                 zeichnende Aspekt der Nachhaltigkeit nahm in Form einer
Wirtschaft und Gesellschaft weit über die nunmehr erheb-                 fortlaufenden Erwerbung aufgrund eines steten, für die
lich erleichterte und vor allem beschleunigte Medienpro-                 damaligen Verhältnisse üppigen (Gesamt-)Budgets Gestalt
duktion hinaus zur Folge hatte. Im Gefolge der sich daraus               an.8 Göttingen blieb aber über sehr lange Zeit eine Aus-
ergebenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Um-                   nahme. Von einigen wenigen Fällen abgesehen dominierte
brüche ergaben sich neue Wert- und Nützlichkeitsvorstel-                 daher bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eine sprung-
lungen. Der rein materielle und/oder religiöse Wert von
Dingen, wie er noch in den mittelalterlichen Schatzsamm-
lungen zum Ausdruck kommt, tritt in den Hintergrund.                     5 Die Begriffe „Bibliothek“ und „Sammlung“ waren über lange Zeit
Wichtiger sind nun den Sammlungsobjekten innewohnen-                     synonym gebraucht worden. Vgl. Navitel, Colette: Bibliotheca selon
                                                                         Morhof. In: Fumaroli, Marc (Hrsg): Les premiers siècles de la Républi-
de Eigenschaften, die auf Information und Wissen abstel-
                                                                         que européenne des Lettres. Paris 2005, S. 430 ff.
len bzw. befördern, dazu treten gegebenenfalls ästhetische               6 Vgl. Damien, Robert: Bibliothèque et état. Naissance d’une raison
Aspekte sowie der Erkenntnisgewinn, der sich aus der                     politique dans la France du XVIIe siècle. Paris 1995.
Sammlung unterschiedlicher Objekte ergibt.4                              7 Hartbecke, Karin (Hrsg.): Zwischen Fürstenwillkür und
     Beim Büchersammeln trat sehr bald das Interesse am                  Menschheitswohl – Gottfried Wilhelm Leibniz als Bibliothekar. In:
Inhalt, also am Informationsgehalt gegenüber dem ästhe-                  Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie (Sonderband 95)
                                                                         (2008) S. 13 f. und S. 18.
tisch geleiteten Interesse an dem Gegenstand Buch in den
                                                                         8 Es ist hier notwendig, zu unterscheiden zwischen einem recht
Vordergrund. Alleine, viele Bücher anzuhäufen, macht                     bescheidenen, aber regelmäßig und verlässlich bereit gestellten
jedoch noch keine Sammlung, keinen Bestand und vor                       Grundetat sowie immer wieder erfolgten, recht üppigen, etwaige Aus-
                                                                         gabenüberziehungen abdeckende Sonderzuweisungen, wie es in Göt-
                                                                         tingen öfter der Fall war. Insgesamt war die Finanzausstattung so gut,
4 Vgl. dazu ausführlich mit weiteren Hinweisen zu Einzelaspekten         dass die Universitätsbibliothek Göttingen in vergleichsweise kurzer
Enderle, Wilfried: Bibliotheken und die Genese der Sammlungskultur       Zeit zur führenden wissenschaftlichen Bibliothek der Epoche aufstei-
in der frühen Neuzeit. In: Brinzinger, Klaus-Rainer u. a. (Hrsg.): Bi-   gen konnte. Vgl. ausführlich: Kind-Doerne, Christiane: Die Nieder-
bliotheken: Tore zur Welt des Wissens. 101. Deutscher Bibliothekartag    sächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: ihre Bestän-
in Hamburg 2012, Hildesheim (u. a.) 2013, S. 303–315.                    de und Einrichtungen in Geschichte und Gegenwart. Wiesbaden 1986.

                                                                                                                       Unauthenticated
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hafte, d. h. anlass- und gelegenheitsbezogene, oftmals                 raturerwerb. In der bibliothekarischen Praxis dominierten
durch politische Ereignisse (Stichwort: Säkularisierung)               natürlich schon mit Blick auf die sehr unterschiedlichen
begründete Bestandsmehrung.9 Die „goldene Zeit“ des Be-                Budgetverhältnisse Mischlösungen. Dabei herrschte eine
standsaufbaus hat ihren Beginn im letzten Drittel des                  rein lokale Sicht der Dinge vor. Im Unterschied zu anderen
19. Jahrhunderts. Wissenschaft und Forschung hatten jetzt              bibliothekarischen Themen, wie insbesondere im Bereich
einen ganz anderen Stellenwert. Der rasante technische                 der Katalogisierung, wo es vergleichsweise früh zu natio-
Fortschritt und der damit verbundene enorme, die gesamte               nalen und schließlich zu einem internationalen Meinungs-
westliche Hemisphäre erfassende wirtschaftliche Auf-                   austausch und sogar zu verbindlichen Absprachen sowie
schwung machten auch vor den Bibliotheken nicht halt.                  Standardisierungsversuchen kam, wurden Bestandsauf-
Die Staats-, Landes- und Nationalbibliotheken wurden von               baufragen und Fragen der Bestandsentwicklung als rein
ihrer äußeren Anmutung her, aber auch unter dem Aspekt                 institutionsbezogene, ja bibliotheksindividuelle Themati-
ihrer Bestandsgrößen zu nationalen Aushängeschildern.                  ken eingestuft und schon auf nationaler Ebene unter dem
Die Universitätsbibliotheken vervielfachten ihre Bestän-               Aspekt möglicher Arbeitsteilung kaum erörtert.11 Über-
de – dank entsprechender Budgets zum einen als Reaktion                legungen über einen etwaigen regional oder auch national
auf die beträchtlich gestiegene Nachfrage seitens der For-             abgestimmten Ausbau der Bestände im Sinne von koope-
schenden bzw. Lehrenden und Studierenden nach wissen-                  rativen Erwerbungs- und Sammlungsabsprachen blieben
schaftlicher Literatur, zum anderen, aber das betraf im                in allen Ländern, einschließlich den USA mit einer ein-
Prinzip alle Bibliotheken, das weit überproportional ge-               zigen Ausnahme entweder rein theoretischer Natur oder
wachsene Publikationsaufkommen und damit einher-                       endeten als Stückwerk.12
gehend das immer reicher werdende Literaturangebot. An
der Spitze der neuen „Bestandsmillionäre“ rangierten die
                                                                       11 Dies ist sicherlich mit ein Grund, warum die Themen Erwerbungs-
Bibliotheken der amerikanischen (privaten) Eliteuniver-                politik und Methodik des Bestandsaufbaus sowie die Frage der
sitäten, aber auch die deutschen Universitätsbibliotheken              schriftlichen Abfassung und Offenlegung eines ausgearbeiteten und
erlebten hier einen bis dahin, was Bestandsmehrung und                 aktuell gehaltenen Erwerbungsprofils über Jahrzehnte eigentlich bis
-größe angeht, nicht gekannten Aufschwung.                             heute ein Schattendasein führen und führt. Vgl. dazu u. a. die Aus-
                                                                       führungen von Griebel, Rolf: Bestandsaufbau und Erwerbungspolitik
     Der Bestandsaufbau wurde jetzt zu einer Kernaufgabe
                                                                       in universitären Bibliothekssystemen: Versuch einer Standortbestim-
der (wissenschaftlichen) Bibliothekare. Sie hatten sich als            mung. Berlin 1994, S. 22 ff.
eigene Berufsgruppe etabliert bzw. sich mit einem zeitge-              12 Kooperativen Bestandsaufbau gab es in Deutschland schon seit
mäßen Berufsbild versehen. In Deutschland gab es seit                  den Reformen Althoffs in Preußen, die durch die Notgemeinschaft der
1909 in der Theorie und dann ab den 20er-Jahren des                    deutschen Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg und mit besonde-
letzten Jahrhunderts auch in der Praxis das Berufsbild des             rem Erfolg durch das Sondersammelgebietsprogramm der Deutschen
                                                                       Forschungsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt
Fachreferenten.10 Zu dessen Hauptaufgaben zählte der Be-
                                                                       wurden. Auch die im Bibliotheksplan 1973 enthaltenen Aufgabentei-
standsaufbau. Dabei unterscheidet man zwischen unter-                  lungen zwischen den einzelnen Bibliothekstypen stellt letztlich auf
schiedlichen Konzepten, nämlich zwischen dem sog. fre-                 kooperative Sammlungsüberlegungen ab und bezog sogar die öffent-
quenz- oder bedarfsorientierten und dem systematischen                 lichen Bibliotheken in ein umfassendes Netz der Literaturversorgung
Bestandsaufbau. Das Ideal ist letzterer, d. h. der über die            ein. Außerdem ermöglichte die Gründung und das rasche Aufblühen
                                                                       der regionalen Bibliotheksverbünde in den 60er- und 70er-Jahren des
Befriedigung des bloßen Tagesbedarf der zu versorgenden
                                                                       letzten Jahrhunderts, die aus ganz anderen Motiven erfolgte, im
Nutzergruppe hinausreichende, den künftigen Bedarf anti-               Bestandsaufbau – dank einer verbesserten bibliographischen Aus-
zipierende sowie eine ausgeglichene, also möglichst alle               kunft und darauf aufbauend einer erheblich beschleunigten sowie
Aspekte eines Wissenschaftsfaches einschließende Be-                   umfangreicheren Fernleihe – zumindest indirekt eine gewisse Erwer-
standsentwicklung gleichermaßen berücksichtigende Lite-                bungskoordination mit sich. Vgl. ganz allgemein zu diesem Zeitraum
                                                                       Mittler, Elmar: Bibliotheken im historischen Prozess. In: Umlauf,
                                                                       Konrad; Gradmann, Stefan (Hrsg.): Handbuch Bibliothek. Geschichte,
9 Vgl. Buzas, Ladislaus: Deutsche Bibliotheksgeschichte der Neuzeit    Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2012, S. 345–348. Was die Beispiele
(1500–1800). Elemente des Buch-und Bibliothekswesens. Bd. 2. Wies-     aus dem Ausland betrifft vgl. näher Dorfmüller, Kurt: Bestandsaufbau
baden 1976, S. 129–134.                                                an wissenschaftlichen Bibliotheken. Frankfurt a. M. 1989, S. 81–84;
10 Vgl. hierzu umfassend mit der gesamten Diskussion um die Auf-       frühere Studien zum gleichen Themen finden sich im Liber Bulletin
gabenstellung des Fachreferats von seinen Anfängen (1909) bis in die   30: General Assembly. Zürich 1987. Acquisition: Principles, Coordina-
Gegenwart Enderle, Wilfried: Selbstverantwortliche Pflege bibliothe-   tion, Cooperation. Graz 1988 und bei Collins, Judith; Finer, Ruth:
karischer Bestände und Sammlungen. Zu Genese und Funktion wis-         National Acquisition Policies and Systems: A comparative study of
senschaftlicher Fachreferate in Deutschland 1909–2011. In:             existing systems and possible models. Wetherby, England 1981 (Im
BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis (nachfolgend zitiert BFP) 36 (1)     Auftrag der IFLA bearbeitet) zit. nach Dorfmüller (Anm. 12) S. 238. Die
(2012) S. 24–31.                                                       Ausnahme bildete das System der überregionalen Literaturversor-

                                                                                                                  Unauthenticated
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Bibliotheken ohne Bestand?             369

    Fast das gesamte 20. Jahrhundert war dank anhalten-                  gesamte Informations- und Kommunikationskultur und
der wirtschaftlicher Prosperität, dies gilt grundsätzlich                damit Wissenschaft und Forschung, ja die Gesellschaft
auch für die jeweiligen Nachkriegszeiten, die weitere Be-                ganz allgemein weltweit tiefgreifend zu verändern: „Whe-
standsentwicklung im Sinne eines steten Wachstums und                    rever communication changes, foundations of society
Ausbaus der (lokalen) Bestände eigentlich nie in Frage                   change.“15 Der Umbruch ist so gewaltig, dass es durchaus
gestellt. Im Gegenteil. Die Vervollständigung der eigenen                angebracht erscheint, von einer „(Informations-)Kultur-
Sammlungen und die geradezu expansiv betriebene Be-                      revolution“ zu sprechen. Wie so oft in der Menschheits-
standsmehrung waren zu einem Dogma eigener Art geron-                    geschichte haben Zeitgenossen epochaler Veränderungen
nen. Bestandsgröße wurde bis in die jüngste Vergangen-                   Mühe, historische Ereignisse in ihrer ganzen Tragweite zu
heit hinein – eine Untersuchung weist dies nunmehr für                   erkennen und einzuordnen. Das war zur Zeit Gutenbergs
die US-amerikanischen Universitätsbibliotheken explizit                  so und heute ist es nicht anders.
nach – mit Bestandsqualität, ja der Qualität einer Biblio-                    Die (gedruckten und digitalen) Veröffentlichungen
thek schlechthin gleichgesetzt. Darüber hinaus war man –                 zum Thema Internet und seinen vielfältigen Aus- bzw.
unter US-amerikanischen Bibliothekaren – der festen                      Wechselwirkungen sind mittlerweile Legion.16 An dieser
Überzeugung, dass mit den Sammlungen bleibende Werte                     Stelle kann nicht näher darauf eingegangen werden. Das
von herausragender strategischer Bedeutung geschaffen                    Phänomen Internet soll jedoch in seinen quantitativen und
und damit das Prestige der eigenen Hochschule nachhaltig                 qualitativen Dimensionen zumindest ansatzweise umris-
befördert würden.13                                                      sen werden. Mit Blick auf das hier zu behandelnde Thema
                                                                         soll insbesondere schlaglichtartig vor Augen geführt wer-
                                                                         den, welcher dramatische Wandel sich in jüngster Vergan-
                                                                         genheit im sog. informationellen Umfeld der Bibliotheken
3 Der Bestandsaufbau in der                                              vollzogen hat bzw. sich bis heute vollzieht und wie sehr
  „Hybridbibliothek“                     14
                                                                         damit die tradierten bibliothekarischen Service- und Leis-
                                                                         tungserstellungskonzepte in Frage gestellt werden.
3.1 Die „Kulturrevolution“ Internet                                           Zunächst ein Wort zur produzierten Informationsmen-
                                                                         ge. Nicht umsonst spricht man heute von einer „Informati-
Die Digitalisierung von Information und vor allem das Auf-               onsflut“: Soviel Information, vor allem soviel an Informati-
kommen und scheinbar unbegrenzte Expandieren des                         onszuwachs gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte.
Internets ist nicht nur ein informationstechnologischer                  Das weltweite (gedruckte) Literaturaufkommen wächst
Quantensprung, sondern diese Erfindung ist dabei, die                    jährlich nach wie vor um ca. 2–3 %. Jedes Jahr erscheinen
                                                                         zur Frankfurter Buchmesse, der weltgrößten Veranstaltung
                                                                         dieser Art, ca. 100 000 Bücher neu. Aber das ist bezogen
gung, der sog. Sondersammelgebietsplan der DFG. Vgl. dazu ausführ-
lich weiter unten S. 380 ff.                                             auf die Informationsgesamtproduktion weltweit nur noch
13 Auch die Ende der 1970er-Jahre im Rahmen der sog. Pittsburgh          eine Randgröße.17 Der eigentliche „information big bang“
Library-Fallstudie von Allen Kent erhobenen (und bekannt gemach-         spielt sich im digitalen Bereich ab. Die weltweit verfügbare
ten) teilweise extrem geringen Benutzungsquoten einzelner Samm-          Informationsmenge belief sich nach einer Untersuchung
lungen führten zu keinem Umdenken. Dazu und zum Sammlungs-
                                                                         Ende 2011 auf 1,8 Zettabyte, also 1,8 Billionen Gigabytes.18
verhalten bzw. Selbstverständnis bedeutender amerikanischen
Universitätsbibliotheken ganz allgemein vgl. ausführlich die Unter-
suchung von Jones, David E.: Collection Growth in Postwar America:
A Critique of Policy and Practice. In: Library Trends. Research Into     15 Burda, Hubert: The Digital Wunderkammer. 10 Chapters on the
Practice 61 (3) (2013) S. 587–612. In Deutschland brachte erstmals die   Iconic Turn. München 2011, S. 20.
Stellungnahme des Wissenschaftsrats zum weiteren Ausbau der Ma-          16 Allein der OPAC der Bayerischen Staatsbibliothek weist bei einer
gazinkapazitäten und damit verknüpft die explizite Aufforderung an       Schlagwortsuche (durchgeführt am 28. Januar 2013) 24 912 einschlä-
die Bibliotheken, entbehrliches Schrifttum ab sofort und konsequent      gige Werke nach.
auszusondern, eine gewisse Trendwende. Vgl. Wissenschaftsrat:            17 Wie bereits eine im November 2000 veröffentlichte Studie der
Empfehlungen zum Magazinbedarf wissenschaftlicher Bibliotheken.          University of California in Berkeley feststellte. Vgl. Sasse, Dörte: Nur
Köln 1986.                                                               noch 0,003 Prozent aller Informationen werden gedruckt. US-ame-
14 Generell zum Thema Bestandsaufbau in der „Hybridbibliothek“           rikanische Forscher analysieren weltweite Datenströme. In: Die Welt
vgl. Kempf, Klaus: Erwerben und Beschaffen in der „Hybridbiblio-         (1.11.2000) S. 39. Die Untersuchung ist einzusehen über http://www.
thek“. Lösungsansätze der Bayerischen Staatsbibliothek. In: Entwick-     attitudeweb.be/doc/resources/studies/how_much_information_prod
lungen und Bestände. Bayerische Bibliotheken im Übergang zum             uced_world_year_en.pdf.
21. Jahrhundert. Hermann Holzbauer zum 65. Geburtstag. Wiesbaden         18 Der Begriff Information ist hier in einem sehr weiten Sinne ge-
2003, S. 35–68.                                                          braucht. Damit wird keine Aussage zur inhaltlichen Relevanz bzw.

                                                                                                                        Unauthenticated
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370            Klaus Kempf

Sie verdoppelt sich in einem Rhythmus von etwa zwei                         nomen korrespondiert seinerseits wieder mit den immer
Jahren, liegt also mittlerweile beim Doppelten der vorste-                  kürzer werdenden „Informations- bzw. Wissenshalbwert-
hend genannten Werte.19 Die Produktion wissenschaftli-                      zeiten“, was wiederum die Informations(verbreitungs)zy-
cher Information bleibt von dieser rasanten Entwicklung                     klen erhöht. Die Notwendigkeit, das Wissen stetig aktuell
natürlich nicht verschont. Sie ist nach den Forschungen                     zu halten und damit sich stetig neu informieren zu müssen,
von Derek de Solla Price in den zurückliegenden 300 Jah-                    mündet in das heute so oft postulierte „Lebenslange Ler-
ren exponentiell gewachsen.20 Über alle Wissenschaftsdis-                   nen“, womit sich der Kreis von Informationsproduktion
ziplinen hinweg hat sich das Wissen seit der Mitte des                      und Informationsrezeption wieder schließt.
17. Jahrhunderts fast im Sinne eines Naturgesetzes etwa                          Dem Internet wird auch eine „Demokratisierung“ von
alle 10–20 Jahre verdoppelt. Im digitalen Zeitalter ist zu-                 Information nachgesagt. Nach der oben zitierten Berkeley
mindest in ausgewählten Fächern eine weitere Beschleuni-                    Studie, befindet sich die Mehrheit an Information heute in
gung festzustellen. Hier geht man heute teilweise von ei-                   privaten Haushalten bzw. wird von Individuen erzeugt
nem 5–12‑jährigen Zyklus aus.21                                             und vorgehalten.23 Der eigentliche epochale Fortschritt ist
     Zu dieser „Informationsflut“ gesellt sich eine neue                    aber nicht so sehr die Möglichkeit des Einzelnen, Informa-
Informationsqualität.22 Digitale Information ist prinzipiell                tion jederzeit abrufen zu können, sondern er besteht vor
nicht nur orts- und zeitungebunden, abruf- bzw. nutzbar,                    allem in der grundsätzlichen Möglichkeit für jedermann,
sie erlaubt auch eine bis dahin nicht gekannte Flexibilität                 aktiv, zeit- und ortsunabhängig ins Informationsgesche-
in ihrer Übertragbarkeit und ihrer Weiterverarbeitung. Es                   hen einzugreifen, d. h., eigenständig Information zu erzeu-
werden darüber hinaus – Stichwort Multimedia – ganz                         gen, also veröffentlichen und verbreiten zu können. Das
neue Dimensionen in der Kombination unterschiedlicher                       gilt natürlich vor allem auch für die Produktion und Ver-
Informations- und Dokumentationsformen, also von Text,                      breitung wissenschaftlicher Information. Man kann sagen,
Foto und Film sowie Grafik, Animation und Ton erreicht.                     der Wissenschaftler in seiner Funktion als Autor emanzi-
Die jüngste Entwicklung ist die weltweit zu verzeichnende,                  piert sich von der bisherigen, über Jahrhunderte festgefüg-
explosionsartige Verbreitung und Nutzung von mobilen                        ten sog. Informations- bzw. Wertschöpfungskette: Autor –
Datenendgeräten (iPad, Smartphone usw.) unterschied-                        Verlag – Buchhandel – Bibliothek – Leser.24 Das sog. Self-
lichster Art und der damit abrufbaren Informationsange-                     Publishing ist ein anhaltender Hype.25
bote. Der Nutzer kann jetzt wirklich 24 Stunden von über-                        Das Internet eröffnet aber nicht nur dem einzelnen
all in der Welt ganz nach persönlichem Geschmack auf                        ungeahnte neue Perspektiven, sondern entfaltet auch eine
Informationen jeglicher Form und Inhalt zurückgreifen,                      gewaltige gesamtwirtschaftliche Sogwirkung. Laut dem
sie weiter verarbeiten und speichern.                                       amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Gary Hammel
     Die neuen Informationsmöglichkeiten und -formen                        hat es nicht nur bezogen auf den Informationsmarkt son-
bleiben nicht ohne Folgen auf das Informations- bzw. Re-                    dern ganz allgemein bewirkt, dass
zeptionsverhalten der Menschen. Letzteres ist insgesamt                     ‒ lokale Monopole an den Märkten aufgebrochen und
sehr viel punktueller und fraktaler geworden. Dieses Phä-                   ‒ Markteintrittsbarrieren für „Newcomer“ erheblich ab-
                                                                                 gesenkt wurden.26

zur Qualität der in diese Untersuchung einbezogenen Informationen
                                                                            Information ist in der heute oft und viel beschworenen
im weitesten Sinne getroffen.
19 http://germany.emc.com/leadership/programs/digital-universe.
                                                                            „Wissensgesellschaft“ der wichtigste Rohstoff. Die Erzeu-
htm.
20 Vgl. de Solla Price, Derek: Little Science, Big Science. Frankfurt
a. M. 1974. De Solla Price hat sich bei seinen Aussagen auf die Aus-        23 56 % der digitalen Information liegt auf privaten PCs bzw. nach
wertung von Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften ge-             einer neueren Studie wurden im Jahr 2011 75 % aller Informationen
stützt.                                                                     durch Individuen erzeugt. Vgl. Sasse (Anm. 17).
21 http://de.wikipedia.org/wiki/Informationsexplosion. Zimmer hin-          24 Vgl. Simon, Theresia: Die Positionierung einer Universitäts- und
gegen geht davon aus, dass sich die Menge wissenschaftlich relevanter       Hochschulbibliothek in der Wissensgesellschaft. Eine bibliotheks-
Information alle 12 Jahre verdoppelt. Vgl. Zimmer, Dieter E.: Die Bib-      politische und strategische Betrachtung. Frankfurt a. M. 2006, S. 58
liothek der Zukunft: Text und Schrift in den Zeiten des Internet. Ham-      mit Abb. 1.
burg 2000, S. 66. Allein in den letzten zwei bis drei Jahren (also in den   25 Zu den unterschiedlichen Formen mit weiteren Nachweisen vgl.:
Jahren 1997–1999) – so zitiert er den namhafte Chemiker Eli M. Noam –       http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstverlag.
wurde z. B. im Bereich der Chemie dank der digitalen Möglichkeiten          26 Vgl. Interview mit Gary Hammel: „World Tonight“, BBC Radio 4
mehr wissenschaftlich publiziert als im gesamten Zeitraum vor dem           (1. November 1999), zitiert bei: Pinfield, Stephen; Hampson, Andrew:
20. Jahrhundert. Vgl. ebd. S. 47.                                           Partnership and Customer Service in the Hybrid Library. In: The New
22 Hier ist nicht die Qualität der Informationsinhalte gemeint.             Review of Information and Library Research (1999) S. 115.

                                                                                                                      Unauthenticated
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Bibliotheken ohne Bestand?            371

gung bzw. der Umgang mit Information verspricht erheb-                  am Informationsmarkt sowie den unmittelbar daran an-
liche Gewinnchancen und Renditen.27 Neue Marktteilneh-                  grenzenden Märkten, z. B. dem für Aus- und Weiterbildung
mer drängen mit Nachdruck auf den global gewordenen                     i. w. S., stand auch Pate bei der Geburt des Begriffs und
Informations- und Medienmarkt und machen den alteinge-                  des Konzepts der „Hybridbibliothek“.
sessenen Akteuren in der Informationskette (Verlag, Buch-
handel, Bibliothek) die oligopolisierten oder gar mono-
polisierten Aktionsfelder streitig. Es sind ganz neue Typen             3.2 Definition und Konzept der
von Informationsanbietern, wie die Suchmaschinenent-                        „Hybridbibliothek“
wickler bzw. -betreiber Google & Co. entstanden. Der Infor-
mationsmarkt wurde und wird dadurch in allen Bereichen                  „Hybrid“ heißt nach dem Brockhaus „aus Verschiedenem
gehörig durcheinander gewirbelt. In einem scharfen glo-                 zusammengesetzt; von zweierlei Herkunft; zwitterhaft“.31
balen Wettbewerb wird letztlich ausgemacht, wer die Ge-                 Die Verbindung dieses Begriffs mit dem Terminus „Biblio-
winner und Verlierer dieses historischen Umbruchs sein                  thek“ stammt aus der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und
werden.                                                                 kommt von britischen Bibliothekaren.32 Der Begriff „hybrid
     Was heißt dies nun für die Bibliotheken? Ihre einstige             library“ lässt mehrere Deutungsmuster zu. Sutton,33 der
dominierende Rolle in vielen Bereichen der (qualifizierten)             den Begriff zum ersten Mal gebrauchte, stellt einen evolu-
Informationsversorgung haben sie bereits seit geraumer                  torischen Aspekt in den Vordergrund. Er sieht eine logi-
Zeit weitgehend eingebüßt. Jetzt wird es für sie auch in                sche Entwicklung von der traditionellen Bibliothek, über
Bereichen, die sie nach wie vor als ihr „Kerngeschäft“                  die „automatisierte Bibliothek“, hier wird gedruckte Infor-
reklamieren, bald keine wettbewerbsfreien Nischen mehr                  mation automatisiert verwaltet bzw. angeboten hin zur
geben.28 Sie werden sich dem Phänomen Wettbewerb in                     „Hybridbibliothek“ und schließlich zur „digitalen Biblio-
vollem Umfang stellen müssen. Dabei kommt es einerseits                 thek“, welche nur noch digitale Information verwaltet und
zu einem sich verschärfenden (Qualitäts-)Wettbewerb der                 anbietet. Insofern ist die „Hybridbibliothek“ ein zwangs-
Bibliotheken untereinander,29 andererseits, und das wiegt
sehr viel schwerer, kommt es zum Konkurrenzkampf mit
                                                                        deutliche Spuren hinterlassen. Die „klassischen“ Auskunftsdienste
den neuen, sich auf dem Informationsmarkt etablierenden
                                                                        sind mit teilweise über 75 %, die Ausleihzahlen mit im Durchschnitt
und immer ungestümer auch in das „core business“ der                    50 % Rückgang in nur wenigen Jahren dramatisch eingebrochen. Im
Bibliotheken eindringenden kommerziellen Dienstleis-                    Detail vgl. Anderson, Rick: The Crisis in Research Librarianship. In:
tern.30 Der Wettbewerb als neues und belebendes Element                 The Journal of Academic Librarianship 37 (4) (2011) S. 289–290; An-
                                                                        derson, Rick: Print on the Margins: Overall circulation as an indicator
                                                                        of library use is less important than the behavior of the individual
27 Dies ist der eigentliche Grund, weswegen sich seit geraumer Zeit     library user at your college or university. In: Library Journal 136 (11)
mehr und mehr Branchenfremde im Verlags- und Medienwesen tum-           (2011) S. 38–39; Regazzi, John J.: Constrained? An Analysis of
meln und Mischkonzerne entstehen, die nur noch sehr entfernt, u. U.     U.S. Academic Library Shifts in Spending, Staffing and Utilization,
auch gar nichts mit dem Selbstverständnis und den Aktivitäten eines     1998–2008. In: College & Research Libraries (September 2012) S. 449–
„klassischen“ Verlags zu tun haben. Vgl. näher zu diesem Phänomen       468, S. 466 f.
Schiffrin, André: Verlage ohne Verleger: Über die Zukunft der Bücher.   31 Vgl. Brockhaus – Die Enzyklopädie: http://www.brockhaus-en
Berlin 2000.                                                            zyklopaedie.de/be21_article.php.
28 Amazon hatte im Oktober 2012 bekannt gegeben, dass ab sofort         32 Der Begriff „hybrid library“ entspringt einer Umbruchsituation. Er
Kunden auch in Deutschland, wie schon seit geraumer Zeit in den         wurde in Großbritannien im Zusammenhang mit der Debatte um eine
USA kostenlos E‑Books entleihen können. Damit tritt der weltgrößte      weitgehende Hochschul- bzw. Bildungsreform und damit einher-
elektronische Buchhändler (und mittlerweile auch von vielen ande-       gehend eine Neuausrichtung der Bibliothekskonzepte bzw. der Neu-
ren Waren und Produkten) in direkte Konkurrenz vor allem zu den         positionierung der Bibliotheken in einem durch stetig wachsenden
öffentlichen Bibliotheken und deren gerade entwickeltem „Onleihe-       Wettbewerb bestimmtes Bildungs- bzw. Wissenschaftsumfeld gebo-
Service“ für E‑Books. Vgl.: http://www.androidnext.de/news/ama          ren. Umfassend zur Geschichte des Begriffs und dem dahinter stehen-
zon-kindle-ebook-verleih-ab-ende-oktober-auch-in-deutschland. Zur       den Bibliothekskonzept vgl. Oppenheim, Charles; Smithson, Daniel:
sog. Onleihe, dem Ausleihservice für Online-Medien der öffentlichen     What is the Hybrid Library? In: Journal of Information Science 25 (2)
Bibliotheken im deutschen Sprachraum, vgl. näher: http://de.wikipe      (1999) S. 97–112; für den deutschen Sprachraum vgl. Wissenschafts-
dia.org/wiki/Onleihe.                                                   rat: Empfehlungen zur digitalen Informationsversorgung durch
29 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich Dugall, Berndt: Bibliotheken       Hochschulbibliotheken vom 13. Juli 2001, S. 29, unter http://www.wi
zwischen strukturellen Veränderungen, Kosten, Benchmarking und          ssenschaftsrat.de/texte/4935-01.pdf.
Wettbewerb. In: ABI Technik 33 (2) (2013) S. 86–95, S. 94.              33 Vgl. Sutton, Stuart A.: Future Service Models and the Convergence
30 Die nichtbibliothekarischen Informationsalternativen haben im        of Functions: the reference librarian as technician, author and con-
„Kerngeschäft“ der US-amerikanischen wissenschaftlichen Bibliothe-      sultant. In: Low, Kathleen (ed.): The Roles of Reference Librarians,
ken, wie z. B. bei der Buchausleihe oder auch den Auskunftsdiensten,    Today and Tomorrow. New York 1996, S. 125–143.

                                                                                                                       Unauthenticated
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372           Klaus Kempf

läufiger, aber in seiner Zeitdauer auch absehbarer „evolu-               delns machen.37 Damit steht bei einer Dienstleistung nicht
tionsbedingter Zwischenschritt“, eine vorübergehende Er-                 mehr das Potential des lokalen Bestandes, der eigenen
scheinung. Sutton betont dann auch „the balance of print                 Sammlung bzw. Sammlungen im Vordergrund, sondern
and digital information leans increasingly toward the digi-              im Zweifelsfall wird unter Beachtung der jeweiligen Rech-
tal“.34 Mehrheitlich herrscht in der Literatur die Auffas-               tesituation primär auf Fremdressourcen zugegriffen und
sung, dass dieser transitorische Zustand noch geraume                    die Bibliothek tritt nur noch rein vermittelnd als Intermedi-
Zeit anhalten wird. Dabei wird je nach Bibliothekstyp bzw.               är, nicht mehr aus eigenen Ressourcen schöpfend, in Er-
dessen konkreter Aufgabenstellung der Anteil der digita-                 scheinung. Das kommt natürlich einem Paradigmenwech-
len Information, wie von Sutton vorhergesagt, im Zeit-                   sel gleich.38 Die eigene (lokale) Bestandsbildung und
ablauf ein mehr oder minder deutliches Übergewicht ge-                   Sammlungstätigkeit wird nicht mehr als prioritär bei der
genüber der gedruckten gewinnen.                                         Konzeption des Dienstleistungskonzepts, sondern nur
     Was ist der Inhalt des Hybridbibliothekkonzepts?                    noch als eine (!) Möglichkeit unter mehreren gesehen, um
Stellvertretend für mehrere Autoren sei hier Murray zi-                  die Informationsbedürfnisse des Benutzers möglichst
tiert:35 „[…] (a hybrid library is, Anm. des Verf.) a managed            rasch, effektiv und komfortabel befriedigen zu können.39
environment providing integrated and contextualised ac-                       Diese konzeptionelle Neuorientierung ist gleichzeitig
cess to an extensible range of information services inde-                Ausgangspunkt und Eckpfeiler einer neu zu entwickeln-
pendent of location, format, media and curatorial domain                 den Kooperations- und Wettbewerbsstrategie der Biblio-
within an business framework“. Wo und was ist das Neue                   thek. Letztere verdient hier ausdrücklich Erwähnung, da
bei diesem Konzept? Das Neben- und/oder Miteinander                      sich das Verhältnis der Bibliothek zu anderen Einrichtun-
unterschiedlicher Medientypen in Bibliotheken ist nichts                 gen in ihrem unmittelbaren und mittelbaren Umfeld ver-
Neues, dieses wird von vielen Bibliotheken seit geraumer                 mehrt „hybrid“, d. h. ambivalent im Sinne eines neuen
Zeit mehr oder minder erfolgreich praktiziert. Seit einiger              Rollenverständnisses und einer neuen Arbeitsteilung ge-
Zeit bieten Bibliotheken ihren Nutzern auch bereits digita-              staltet. Davon betroffen sein kann das Verhältnis zu un-
le Informationen in unterschiedlicher Form (on- und off-                 mittelbar angrenzenden anderen Organisationseinheiten
line) an, ohne dass deswegen von einer konzeptionellen                   der gleichen Institution, wie z. B. im Falle einer Hochschul-
Neuausrichtung die Rede ist. Neu bei dem vorstehenden                    bibliothek das Verhältnis zum hochschuleigenen Rechen-
Konzept ist die Forderung nach einer eindeutigen, ja radi-               zentrum und/oder zu den Fakultäten, also zu den Wis-
kalen Nutzerakzentuierung des „hybriden“ Informations-                   senschaftlern. Betroffen sein können aber auch die
angebots.36 Die Bibliothek soll nicht mehr vordergründig                 Beziehungen zu anderen Informationseinrichtungen, wie
bestands- oder medienbezogen planen, organisieren bzw.                   Archiven und Museen oder auch zu kommerziellen Dienst-
agieren, sondern den Nutzer mit seinen sehr unterschiedli-               leistungsunternehmen, also Buchhandlungen, Zeitschrif-
chen Informationsbedürfnissen zum obersten Ziel und                      tenagenturen oder auch den neuen Marktteilnehmern, wie
zum alleinigen Maßstab ihres gesamten Planens und Han-                   den sog. E-Book-Aggregatoren und den (kommerziellen)
                                                                         Suchmaschinenbetreibern. Hier wird es vermehrt zu einem
                                                                         neuen Mit- und Gegeneinander kommen. Phasen der Ko-
                                                                         operation werden mit Phasen des Wettbewerbs wechseln,
34 Vgl. ebd. S. 126.
                                                                         aus Partnern werden eventuell Konkurrenten und umge-
35 Murray, R.: The Millennium Challenge – Towards the Hybrid
Library (unveröffentlichter Vortrag). Zitiert nach: Oppenheim; Smith-
                                                                         kehrt.
son (Anm. 32) S. 100. Mit einer ähnlichen Akzentuierung s. a. Rus-
bridge, Chris: Towards the Hybrid Library. In: D-Lib Magazine (July/
August 1998) unter http://www.dlib.org/dlib/july98/rusbridge/07rus
bridge.html.                                                             37 Zu den sich dramatisch ändernden Nutzerbedürfnissen im digita-
36 Eine wesentliche Aufgabenstellung der Hybrid-Bibliothek ist na-       len Umfeld vgl. Gashaw, Kebede: The Changing Information Needs of
türlich, dass sie dem sog. Medienbruch aktiv begegnet, d. h., dass sie   Users in Electronic Information Environments. In: The Electronic
die in ihrer Hand befindlichen konventionellen und digitalen Infor-      Library 20 (1) (2002) S. 14–21.
mationsressourcen zu einem schlüssigen Serviceangebot bündelt            38 Schmolling, Regine: Paradigmenwechsel in wissenschaftlichen
und dabei der Nutzerperspektive den Vorrang vor allem anderen gibt.      Bibliotheken? Versuche einer Standortbestimmung. In: Bibliotheks-
Vgl. dazu näher Horstkemper, Gregor: Informationsbündelung, Lite-        dienst 35 (9) (2001) S. 1038–1039.
raturversorgung, Publikationsunterstützung – Bibliothekarische           39 Vgl. näher Kempf, Klaus: Zugang zum Wissen. Die Bibliothek als
Dienstleistungen für die Geschichtswissenschaften im Umbruch. In:        Ort der Verfügbarkeit und Vermittlung von Information. In: Die Teß-
Griebel, Rolf; Ceynowa, Klaus (Hrsg.): Information, Innovation, Inspi-   mann. Friedrich-Teßmann-Sammlung der Österreichischen Aka-
ration. 450 Jahre Bayerische Staatsbibliothek. München 2008,             demie der Wissenschaften (1957–2012). Landesbibliothek Dr. Fried-
S. 437–455, S. 437 ff.                                                   rich Teßmann (1982–2012), Wien-Bozen 2012, S. 129–141.

                                                                                                                   Unauthenticated
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Bibliotheken ohne Bestand?            373

3.3 Sammeln in der „Hybridbibliothek“                                   Erwerb ist daher besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
                                                                        Die Erwerbungsgrundsätze und Beschaffungswege der
Die Umsetzung des Hybridbibliothekkonzepts beginnt                      „alten“ gedruckten Welt haben in der „neuen“ digitalen
zwangsläufig im Bereich Bestandsaufbau und Erwerbung.                   Welt ihre Gültigkeit zumindest teilweise, wenn nicht ganz
Der Sammlungsbegriff muss neu definiert werden, das                     eingebüßt.42 Die spezifischen technisch-organisatorischen
Sammelverhalten muss sich ändern und die Sammlung                       Eigenschaften der digitalen Information und die bei ihrem
muss sich neu formieren und vor allem präsentieren. Dies                Bezug sowie bei ihrem Einsatz zu beachtenden rechtlichen
diktieren vor allem die Besonderheiten der digitalen Me-                Besonderheiten verlangen nach anderen Erwerbungs-
dien, aus denen sich veränderten Kooperationsmöglich-                   grundsätzen und anderen Beschaffungsmethoden. Die Hy-
keiten (im Bibliotheksbereich) ergeben, die aber auch ver-              bridbibliothek, die ja konventionellen und digital-multi-
änderte Konkurrenzverhältnisse am Informationsmarkt,                    medialen Medien gleichzeitig gerecht werden muss,
wie oben erwähnt, zur Folge haben. Ausschlagend für eine                verlangt vor diesem Hintergrund beim Bestandsaufbau
neu auszurichtende Sammelpolitik ist eine weitere Varia-                einen „virtuosen Methodenmix“.43
ble im unmittelbaren Umfeld der Bibliotheken, nämlich                       Bei den gedruckten Materialien lässt sich das Erwer-
das einschneidend veränderte und sich weiter verändern-                 ben in der Regel an folgenden Grundsätzen festmachen:
de Nutzerverhalten.40 Aber der Reihe nach.                              1. Der Erwerb erfolgt vorrangig „just in case“, d. h. bei
     Der ganz überwiegende Teil der Bibliotheken erwirbt                    Erscheinen oder Vorliegen eines Werks mit Blick auf
nach wie vor – in Abhängigkeit von den jeweiligen finan-                    einen eventuellen künftigen Bedarf.
ziellen Möglichkeiten – in erheblichem Umfang analoge,                  2. Die Erwerbungsentscheidung richtet sich bei jedem
d. h. gedruckte Materialien. Ein Gutteil oder gar schon das                 einzelnen Buch- oder Zeitschriftentitel primär am loka-
Gros des für den Medienerwerb zur Verfügung stehenden                       len Bestand und an den im Erwerbungsprofil formu-
Budgets wird jedoch mittlerweile in zahlreichen wissen-                     lierten Kriterien aus.
schaftlichen Bibliotheken, d. h. vor allem in den Univer-               3. Die Entscheidung trifft der (fachlich) zuständige Bi-
sitätsbibliotheken, für den Erwerb von digitalen Informati-                 bliothekar, i. d. R. der Fachreferent, der die Gesamt-
onsressourcen aufgewandt.41 Ihrem Sammeln, ihrem                            bestandsentwicklung in seinem Verantwortungs-
                                                                            bereich im Blick hat.44
                                                                        4. Der Erwerb – bei Neuerscheinungen im Regelfall auf
40 Alle Untersuchungen zum Nutzerverhalten, vor allem unter den             dem Kaufwege – hat zur Folge, dass die Bibliothek an
führenden US-amerikanischen Forschungs- und Universitätsbiblio-             dem Werk Eigentum erwirbt und das Werk auf Dauer
theken zeigen, dass heute fast kein einziger (!) Benutzer, weder For-       Bestandteil des „Buchkapitals“ der Bibliothek wird.
scher noch Student, seine Informations- bzw. Literaturrecherche             Aber nicht nur das: Sie verfügt wie bei anderen Wirt-
mehr auf der Bibliotheks-Website startet. Hier dominieren eindeutig
                                                                            schaftsgütern über alle Eigentumsrechte, d. h., sie
die bekannten Suchmaschinen bzw. deren Einstiegsseiten. Vgl. von
der zahlreich dazu erschienen Literatur u. a. Connaway, Lynn; Dickey,       kann damit nach eigenem Gutdünken verfahren, u. a.
Timothy: The Digital Information Seeker. Report of the Findings from
Selected OCLC-RIN, and JISC Committee (JISC). Bristol 2010, online
unter: http://www.jisc.ac.uk/media/documents/publications/repors        the 21st Century. In: College & Research Libraries (September 2007)
/2010/digitalinformationseekerreport.pdf und ganz neu die Studie        S. 418–444, S. 440 und Tab. 8.
des University Leadership Council „Redefining the academic library:     42 Leggate, Peter: Acquiring Electronic Products in the Hybrid Libra-
Managing the migration to Digital Information Services“, online un-     ry: Prices, Licences, Platforms and Users. In: Serials 11 (2) (1998)
ter: http://www.uab.edu/library/images/documents/redefining-the-        S. 103–108.
academic-library.pdf, vor allem die Abb. auf S. 17.                     43 So Bilo, Albert: Anpassung oder Strukturwandel. Elektronische
41 Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken gaben 2011/12 im       Publikationen und digitale Bibliotheken aus der Sicht bibliothekari-
Durchschnitt rund 40 % ihres gesamten Medienbudgets für den Er-         scher Praxis. In: Tröger, Beate (Hrsg.): Wissenschaft Online. Elektro-
werb, d. h. die Lizenzierung von e-Ressourcen aus, wobei die            nisches Publizieren in Bibliothek und Hochschule (ZfBB-Sonderheft,
Schwankungsbreite zwischen den einzelnen Einrichtungen erheblich        80). Frankfurt a. M. 2000, S. 128.
sind: http://www.bibliotheksstatistik.de/eingabe/dynrep/index.php.      44 Dies gilt im Prinzip auch dann, wenn die Bibliothek diesen Ar-
Bei den US-amerikanischen wissenschaftlichen Bibliotheken waren         beitsschritt mittels eines sog. „approval plan“ im Wege des Outsour-
es nach Angaben der ARL nach einer Umfrage von 2010 bei vielen          cing von einer Buchhandlung vornehmen lässt. Zum Thema Outsour-
Mitgliedsbibliotheken schon über 50 % der für den Medienerwerb          cing und Approval Plan vgl. ausführlich Kempf, Klaus: Progetti di
zur Verfügung stehenden Finanzmittel. Vgl. Potter, William Gray         outsourcing e approval plans. 10 anni di esperienza in una grande
et al.: ARL Profiles: Research Libraries 2010, S. 31, online: http://   biblioteca di ricerca. Il caso della Bayerische Staatsbibliothek. In:
www.arl.org/stats/index/profiles/; zur Entwicklung bis 2004 mit sta-    Current Issues in Collection Development: Italian and Global Per-
tistischen Nachweisen und Kommentierung vgl. ausführlich Lewis,         spectives. Atti del Convegno internazionale sullo Sviluppo delle Rac-
David W.: A strategy for Academic Libraries in the First Quarter of     colte. Bologna 2006, S. 137–148.

                                                                                                                      Unauthenticated
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374           Klaus Kempf

      es verleihen und zwar auch – im Rahmen der                        3.   Bei den e-Medien dominiert der Sammelerwerb.48 Bei
      Fernleihe – an Benutzer anderer Bibliotheken.                          E-Books sind dies oft sog. Paketkäufe entweder direkt
5.    Mit dem konventionellen Medienerwerb, z. B. einem                      von den Verlagen oder über entsprechend kompetente
      Buch, ergeben sich für die Bibliothek zunächst keine                   Buchhändler oder auch über die neuen Akteure am
      weiteren komplexen organisatorisch-technischen Frage-                  Medienmarkt, in diesem Fall die sog. E-Book-Aggrega-
      und Problemstellungen. Das erworbene Werk wird in                      toren. Letztere sind Dienstleistungsunternehmen, die
      den Bestand eingereiht, d. h. inventarisiert, erschlos-                von Verlagen, die selbst keine Vertriebsorganisation
      sen, ins Regal gestellt und bei Bedarf wird es entlie-                 aufbauen wollen oder können, den Vertrieb der E-
      hen. Das ist alles.                                                    Book-Produktion verlagsübergreifend übernehmen.49
                                                                             Der Erwerb kann dabei auch über sog. konsortiale Ein-
Beim Erwerb digitaler Medien gelten hingegen ganz ande-                      kaufsgemeinschaften von Bibliotheken erfolgen. In
re Grundsätze und Regeln:                                                    den letzten Jahren haben sich diese Zusammenschlüs-
1. Der Erwerb und die Beschaffung erfolgt hier primär                        se im Bibliothekswesen weltweit durchgesetzt.50 Es
    nach sog. „just in time“-Überlegungen. Entscheidend                      gibt Konsortien in unterschiedlichster Gliederung, re-
    ist nicht mehr die Frage der langfristigen, ausgegliche-                 gionale, nationale und internationale Zusammen-
    nen Bestandsentwicklung und ein vermutetes künfti-                       schlüsse. Sie sollen die Marktmacht der nachfragen-
    ges Nutzerinteresse, sondern der unmittelbare Nutzer-                    den Bibliotheken gerade gegenüber den großen
    wunsch, möglichst unterfüttert durch eine statistisch                    Wissenschaftsverlagen stärken. Die Konsortien erwer-
    nachweis- bzw. überprüfbare tatsächliche Nutzung                         ben grundsätzlich für oder im Auftrag ihrer Mitglieder
    der einzelnen (Zeitschriften-/Datenbank-/E-Book-)Ti-                     alle möglichen, kommerziell vertriebenen e-Ressour-
    tel.45 Ein vorsorgeorientierter Bestandsaufbau findet                    cen. Im Vordergrund stehen jedoch Zeitschriften, Da-
    so gut wie nicht mehr statt.46                                           tenbanken und E-Books. Es haben sich die unter-
2. Die Titelauswahl und die Erwerbungsentscheidung                           schiedlichsten Erwerbungsmodelle herausgebildet.
    werden zunehmend auf den Nutzer verlagert oder die-                      Der einst in seinen unterschiedlichen Varianten domi-
    sem sogar im technischen Sinne direkt im Rahmen                          nierende sog. big deal, d. h., die am Konsortium betei-
    eines sog. patron driven acquisition-Service (PDA)                       ligten Bibliotheken erwerben ganze oder Teile von
    überlassen. Die vorsorglich in den lokalen OPAC sei-                     Verlagsprogrammen, auch Ressourcen, die sie viel-
    ner Heimatbibliothek eingestellten bibliographischen                     leicht kaum oder gar nicht benötigen. Dieses Mehr an
    Daten erlauben es dem Nutzer im Rahmen seiner Lite-                      eigentlich nicht benötigter Information bringt jedoch
    raturrecherche Bestellungen auch auf (gedruckte und                      auf das einzelne, damit erworbene Werk und/oder die
    elektronische) Monographien aufzugeben, die noch
    gar nicht zum Bestand der Bibliothek gehören. Der für
                                                                        Driven Acquisition of e-Books. In: College & Research Libraries (Sep-
    die Erwerbung eigentlich zuständige Bibliothekar ist                tember 2012) S. 469–492.
    hier i. d. R. nur noch die sekundäre, verifizierende In-            48 Womit de facto eine Aufgabe der Preisbindung, wie sie in Län-
    stanz.47                                                            dern, wie in Deutschland für die gedruckte Literatur bzw. deren
                                                                        Einzelerwerb üblich, ja vom Gesetzgeber verbindlich vorgegeben ist,
                                                                        einhergeht. Vgl. http://www.preisbindungsgesetz.de/content/faq/10
45 Hier hat sich mit COUNTER eine Instanz entwickelt, die für Ver-      82-e-book-preisbindung.htm.
lage/Produzenten und Bibliotheken/Nutzer beidseitig akzeptable Sta-     49 Zu dem gesamten Thema E-Book-Erwerbung vgl. ausführlich
tistiken sorgt. Vgl. dazu näher: http://www.projectcounter.org/abou     Hammerl, Michaela; Kempf, Klaus; Schäffler, Hildegard: E-Books in
t.html.                                                                 wissenschaftlichen Bibliotheken. Versuch einer Bestandsaufnahme.
46 Vgl. hierzu die Aussagen von Bernd Dugall wiedergegeben von          In: ZfBB 55 (2008) S. 68–78; zur E-Book-Marktsituation in der EU vgl.
Berghaus-Sprengel, Anke: „Die Situation erfordert radikal neue          Musinelli, Christina: Editech 2011: e-Books and Much More in Europa.
Kooperationsformen unter den Bibliotheken in Deutschland“. Biblio-      In: Publishing Research Quarterly 27 (2011), S. 288–295. Zur Situation
theken zwischen Kooperation und Konkurrenz in Zeiten der Hoch-          bei den amerikanischen wissenschaftlichen Bibliotheken: Blummer,
schulautonomie. Veranstaltung der gemeinsamen Managementkom-            Barbara; Kenton, Jeffrey: Best Practices for Integrating E-books in
mission von dbv und VDB am 5. und 6. Juni in Dortmund. In: B.I.T.       Academic Libraries: A Literature Review from 2005 to Present. In:
online 16 (4) (2013) S. 336–339.                                        Collection Management 37 (2012) S. 65–97.
47 Zur PDA-Erwerbung und den damit verbundenen Problemen im             50 In den USA kennt man Konsortien bei Bibliotheken für alle mögli-
Detail vgl. Walters, William H.: Patron-Driven Acquisition and the      chen Fragestellungen bereits sehr viel länger. Im Bereich Medien-
Educational Mission of the Academic Library. In: Library Resources &    erwerb hat sich dieses Phänomen dann seit den 90er-Jahren des
Technical Services (nachfolgend zitiert: LRTS) 56 (3) (2012) S. 199–    letzten Jahrhunderts quasi rund um den Globus etabliert. Vgl. Turner,
213; Fischer, Karen S.; Wright, Michael; Clatanoff, Kathleen et. al.:   Christine N.: E-Resource Acquisitions in Academic Library Consortia
Give ’Em What They Want: A One-Year Study of Unmediated Patron-         In: LRTS 58 (1) (2014) S. 33–48.

                                                                                                                   Unauthenticated
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