Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...
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Deutschland DAT E N S C H U T Z Big Brother würde Mitleid haben Für eine neue elektronische „Gesundheitskarte“ sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse abliefern. Doch Bürgerrechtler rufen zum Boykott, Ärzteverbände leisten Wider- stand: Die Chipkarte ebne den Weg in den Überwachungsstaat. E in unscheinbares hellgraues Käst- bombe“, wie Mediziner beim Deutschen chen wurde am Freitag voriger Wo- Ärztetag warnten, der das Projekt schon che während einer kleinen Feier in zweimal, 2007 und 2008, ablehnte. den Räumen des Dürener Allgemein- und Unterstützung finden kritische Medizi- Sportmediziners Dr. med. Peter Hecking ner bei den Berliner Oppositionsparteien an den Praxis-Computer angeschlossen. und bei Bürgerrechtsgruppen, Verbrau- Dann führte jemand eine bunte Ausweis- cherschützern und Datenexperten. In karte in das Lesegerät ein. Deutschland drohe, so das Kölner Komitee Für Ärztefunktionäre und Politiker, Bür- für Grundrechte und Demokratie, ein gerrechtler und Datenschützer war dieser „Umbau des Gesundheitssystems zu einem 12. Dezember ein „historischer Tag“ („Die Kontrollsystem“, das jeden Versicherten Welt“) – so oder so: Befürworter sehen in zum „gläsernen Patienten“ mache. der Installation des grauen Kastens den Vordergründig streiten die Widersacher Auftakt zu einer weltweit beispiellosen um den einzigen auch für Laien wahr- Modernisierung des Gesundheitswesens, nehmbaren Teil des neuen Systems: eine Kritikern dagegen gilt die Box als eine Art Plastikkarte mit dem Foto des Versicherten Büchse der Pandora. und einem Mikroprozessor-Chip, auf dem Sozialpolitiker der großen Parteien und Ärzte nach derzeitiger Gesetzeslage ihre Vertreter der Krankenkassen feierten in Rezepte speichern müssen und sogenann- Düren den „Startschuss für die flächen- te Notfalldaten des Patienten auf dessen deckende Vernetzung von Ärzten, Zahn- Wunsch speichern können. Zugleich aber ärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Kran- taugt die „elektronische Gesundheitskar- kenkassen, Kammern und Kassenärztlichen te“ (eGK) als Schlüssel für die gigantischen Vereinigungen“, wie die NRW-Landes- Zentralspeicher. regierung jubelte. Nach dem Start der Lesegeräte-Instal- Die Verfechter des geplanten Netzwerks lation sollen vom neuen Jahr an, begin- erhoffen sich wie Gesundheitsministerin nend in der Region Nordrhein, alle Versi- Ulla Schmidt (SPD) „mehr Qualität, mehr cherten deutschlandweit zügig mit der eGK Sicherheit und mehr Effizienz im Gesund- ausgestattet werden. Viele Krankenkassen heitswesen“. So sollen teure Doppelunter- haben bereits begonnen, ihren Mitgliedern suchungen vermieden werden können, Fotos für die Plastikkarte abzuverlangen; wenn am Ende des mehrstufigen System- ausgenommen von der Pflicht zur Abgabe aufbaus die rund zwei Millionen deutschen sind lediglich Kinder unter 16 Jahren sowie Heilberufler mit den Daten der Versicher- „Schwerpflegebedürftige“. ten arbeiten. „Es kommt bereits jetzt auf Ihre Mit- Das schon 2004 vom Bundesgesetzgeber wirkung an“, mit diesen Worten fordert beschlossene neue Datennetz sei so ange- etwa die Innungskrankenkasse Sachsen legt, erklärte der nordrhein-westfälische ihre 700 000 Versicherten auf, ein „farbiges Gesundheitsstaatssekretär Walter Döllin- Lichtbild in Passbildqualität“ einzureichen ger in Düren, dass es sich um „neue An- – mit „neutralem Gesichtsausdruck und wendungen“ erweitern lasse – bis hin zum mit geschlossenem Mund“. Ob die Eintrei- Zugriff auf „die Vital- und Laborwerte, bung von insgesamt 72 Millionen Passfotos den Mutter- oder Röntgenpass, den Impf- glatt vonstatten geht, ist allerdings fraglich. pass sowie Angaben zu vorhandenen All- Denn Ärzte- und Bürgerrechtsorganisa- ergien“, die lebenslang in zentralen Server- tionen rufen seit Wochen zum Boykott auf: farmen gespeichert werden sollen. „Senden Sie Ihrer Krankenkasse kein Pass- In eben dieser Zentralisierung intimer foto“, fordert das Kölner Grundrechte-Ko- Daten, die bisher der Obhut des Arztes anvertraut sind, sieht eine breite Front von Operationssaal (in Hamburg) Skeptikern eine „sozialpolitische Atom- Hoffnung auf mehr Qualität 36 d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 8
Ministerin Schmidt, Ärzte-Protest* Angst vor dem gläsernen Patienten mitee auf Flugblättern. Der Chaos Compu- ter Club rät, „der Kreativität keine Gren- zen“ zu setzen – ein Foto mit Pappnase tue es auch. Unterdessen machen auch Mediziner mo- bil. Die Hamburger Hausärztin Silke Lüder hat mit ihrer Aktion „Stoppt die e-Card“ über eine halbe Million Unterschriften ge- gen die „Totalvernetzung“ des Gesundheits- wesens gesammelt. Einen tiefen Einbruch in die Privatsphäre befürchten Praktiker wie der Brühler Internist Jochen Doebel: Sollten die Patientendaten je auf den freien Markt gelangen, könnte sich „der Tripper junger Jahre“ eines Tages als Fluch erweisen, der „Familie und Karriere ruiniert“. Alarm schlug in seiner jüngsten Haupt- versammlung auch der Virchow-Bund, der Verband der niedergelassenen Ärzte. „Der Weg zum Überwachungsstaat ist beschrit- ten“, warnte Vorsitzender Klaus Bittmann. Die Bundesärztekammer kritisierte vori- gen Mittwoch die „überstürzte“ und „has- tige“ Online-Anbindung von Praxen und Kliniken, die bald schon per „elektroni- schem Arztbrief“ kommunizieren sollen, obwohl „fachliche wie auch grundsätzliche Fragen noch ungeklärt“ seien. In Berlin hat vor allem die FDP die Ängste vor dem „größten Datenberg aller HEINER WITTE / MÜNSTERVIEW Zeiten“ aufgegriffen, der sich laut Ex-Jus- tizministerin Sabine Leutheusser-Schnar- renberger im Gesundheitswesen abzeich- net. Im Bundestag haben die Freidemo- kraten beantragt, das Projekt eGK auf Eis zu legen. Und in Bayern ist es den Libera- len gelungen, ihre Haltung in den Koali- tionsvertrag mit der CSU einzubringen – zum Befremden der Industrie. „Mit großer Sorge verfolgen wir, dass sich die Regierungskoalition in Bayern ge- gen die Ausgabe der eGK ausspricht“, ent- setzte sich vorigen Monat auf der Gesund- heitsmesse Medica der Chef des High- tech-Verbandes Bitkom, August-Wilhelm Scheer. In der Branche hatte die Digitali- sierung des Gesundheitswesens, deren Marktpotential laut einer EU-Studie 60 bis 70 Milliarden Euro umfasst, bereits Gold- gräberstimmung aufkommen lassen. Befürworter wie Scheer halten die Be- denken mancher Mediziner für überzogen, wenn nicht für vorgeschoben: „So sicher wie mit der eGK waren die Patientendaten in Deutschland noch nie.“ Tatsächlich hat die eGK-Betreiber- gesellschaft Gematik in die Planung des Projekts frühzeitig auch Datenschützer einbezogen. Der Bundesbeauftragte Peter Schaar und seine Länderkollegen be- standen darauf, dass Datensicherheit vor Schnelligkeit rangieren müsse: „Vorgese- hene Einführungstermine dürfen kein An- ACTION PRESS lass dafür sein, dass von den bestehenden * Beim Deutschen Ärztetag 2007 in Münster. 37
Deutschland programmierbarer Schlüssel zum Speicher Mikrochip mit zur Zeit max. 64 kB Speicher- Die elektronische kapazität Versicherten- Gesundheitskarte foto 1. Stufe: Verpflichtende Datenspeicherung Name, Geburtsdatum, Kranken- kasse, Versicherungs- und Zuzahlungsstatus (kann online geändert werden) Kennzeichnung in Blindenschrift Aufnahme von bis zu 10 Rezepten Rückseite: europäische Krankenversicherungskarte Name, Kranken- Versichertenkarte kasse, Kassen- und für das Versichertennummer europäische Ausland 2. Stufe: Freiwillige Datenspeicherung Sicherungssystem bei Datenzugriff Patientendaten Liste bisher verordneter Medikamente auf der Karte und Notfalldaten, z. B. Unverträglichkeiten, in externen Datenspeichern chronische Krankheiten, bisherige Eingriffe persönliche Arzneimittelrisiken, z. B. in der PIN-Nummer PIN-Nummer Schwangerschaft oder mögliche Wechsel- wirkungen mit anderen Medikamenten komplette Patientenakte mit Arztbriefen, Gesund- Heil- Diagnosen und Röntgenbildern heitskarte berufs- ausweis Speicherung von rezeptfrei erworbenen Medikamenten Patient Arzt, Apotheker Bundesdatenschutzbeauftragter Schaar: Auch im Gesundheitswesen soll Datensicherheit vor Schnelligkeit gehen Datenschutzanforderungen Abstriche ge- Hauptbahnhof abzukaufen, um sich auf genutzt werden dürfen, sofern der Patient macht werden.“ Kosten der Solidargemeinschaft verarzten ausdrücklich sein Einverständnis erklärt. Einige Datenschützer wie der Schleswig- und medikamentös versorgen zu lassen. Zu den freiwilligen Funktionen zählt die Holsteiner Thilo Weichert wenden sich ge- „Jeder Skipass weist heutzutage einen Speicherung aller verordneten Medika- gen „Horrorszenarien“ von Skeptikern, höheren Sicherheitsstandard auf als unse- mente, aller Notfalldaten sowie aller Arzt- die „nicht zu begründende Ängste“ schür- re Krankenkassenkarten“, kritisiert die briefe und Patientenakten. ten. Weichert unterstellt den Kritikern, sie Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung. Diese freiwilligen Anwendungen ber- verfolgten unter dem „Deckmäntelchen“ Experten schätzen den Gesamtschaden gen einerseits schwer kalkulierbare Risi- der Sorge um das Patientengeheimnis durch Kartenmissbrauch auf rund 1,5 Mil- ken für die Privatsphäre der Patienten, „ganz andere Interessen“: Viele Medizi- liarden Euro pro Jahr. andererseits macht erst die Nutzung mög- ner, insbesondere aus kleinen ambulanten Dabei hätten es die Mediziner in der lichst vieler dieser Funktionen durch mög- Praxen, seien verstimmt, weil die Chip- Hand gehabt, den Missbrauch zu minimie- lichst viele Versicherte das Gesamtsystem karten-Einführung sie zwinge, ihre EDV ren: Sie müssten den Patienten nur, wie in profitabel. „für teures Geld zu erneuern und sich Krankenhäusern üblich, abverlangen, am Das belegt eine von der Gematik in Auf- komplexe EDV-Kenntnisse anzueignen“. Empfang neben der Kassenkarte auch den trag gegebene Studie der Düsseldorfer Un- Mit harten Bandagen reagiert auch SPD- Personalausweis vorzulegen. Dazu wären ternehmensberatung Booz-Allen-Hamil- Gesundheitsexperte Professor Karl Lau- nach Umfragen zwar 90 Prozent der Ver- ton. Danach sind während der ersten fünf terbach auf die Kritik von Medizinern: Im sicherten, aber nur 50 Prozent der nieder- Jahre nach Ausgabe der eGK, sofern den Kampf gegen die Karte hätten sich „Ärzte- gelassenen Ärzte bereit; jeder zweite Me- Versicherten nur die weniger heiklen ge- gruppen, die Transparenz im Gesundheits- diziner will nicht als Hilfspolizist der Kran- setzlich vorgeschriebenen Basisfunktionen wesen verhindern und ihr Einkommen kenkassen agieren. zur Verfügung stehen, „sämtliche Anwen- sichern wollen, geschickt mit idealistischen So nachvollziehbar der Wunsch der Kas- dungen defizitär“. Erst nach der Einfüh- Datenschützern verbündet“. sen nach einem Ausweis mit Foto anmutet, rung der freiwilligen „Anwendungen ,elek- Für nicht nachvollziehbar halten die so unverfänglich scheinen zumindest auf tronische Patientenakte‘ und ,elektroni- Kartenverfechter die Kritik an den Passfo- den ersten Blick zwei weitere gesetzlich scher Arztbrief‘“ werde der Nutzen höher tos, auf die nun die Boykottaufrufe zielen. fixierte Eigenschaften der neuen eGK: Ein sein als die Gesamtkosten. Und auch etliche Ärztevertreter räumen Text auf der Rückseite der Karte ersetzt Hochbrisant sind die Angaben der Gut- ein, dass sehr wohl triftige Gründe für die den bisherigen papiernen Auslandskran- achter über die Nutznießer der eGK-Ein- Einbeziehung eines Lichtbildes sprechen. kenschein. Und der programmierbare Chip führung. Die Krankenkassen haben dem- Denn mit den 1994 eingeführten unbe- auf der Vorderseite nimmt die obligatori- nach die größten Vorteile zu erwarten – bilderten alten Karten wird vieltausendfach schen Personendaten auf und dient zum etwa durch die Verringerung von Mehrfach- Missbrauch getrieben. Junkies und illegal Transport von bis zu zehn „elektronischen untersuchungen aufgrund der elektroni- eingewanderte Ausländer, untergetauchte Rezepten“ vom Arzt zum Apotheker, der schen Patientenakten. Binnen zehn Jahren Straftäter und geldgierige Privatversicherte, sich die Verordnungen auf den Bildschirm wächst den Kassen nach Ansicht der Ex- die ihren Rückerstattungsanspruch retten holen kann und sich nicht länger über perten ein Nettonutzen von etwa 5 Milliar- wollen – sie alle können derzeit noch die die Sauklaue von Dr. med. Unleserlich är- den Euro zu, während Ärzte und Apotheker Möglichkeit nutzen, eine Versichertenkar- gern muss. 3,5 Milliarden Euro Verlust machen. te von einem Verwandten oder Kumpel Alle weiteren Anwendungen der eGK Diese Berechnungen erklären zum Teil, auszuleihen oder einem Hehler hinterm sollen nach derzeitiger Gesetzeslage nur weshalb sich viele Ärzte so erbittert wider- 38 d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 8
setzen. Die Zahlen erhellen aber auch, überforderte Besucher hinterlegte die Diagnosen, Operationen, Prozeduren und warum die PR-Experten der Kassen be- Codenummer schließlich der Einfachheit Dauermedikationen“ umfasst 45 Positio- reits begonnen haben, ihre Versicherten halber beim Herrn Doktor oder der Sprech- nen, dazu nicht spezifizierte „weitere An- mit Briefen und Broschüren auf die frei- stundenhilfe. gaben“. Platz ist auch für eine vom Sa- willige Nutzung von „Notfalldatensatz“, Vom zeitraubenden Umgang mit der nitäter einsehbare „Erlaubniserteilung“ für „e-Patientenakte“ und „e-Arztbrief“ ein- Geheimzahl zeigten sich Mediziner bei „den Fall, dass nach meinem Tod eine zustimmen. Tests in Schleswig-Holstein derart ge- Spende von Organen/Geweben zur Trans- „Aufgrund des großen Nutzenpoten- nervt, dass sie forderten, die Eingabe ei- plantation in Frage kommt“. tials“, lautet die zentrale Empfehlung der ner individuellen PIN im Einvernehmen Widerrufen oder einschränken kann der Unternehmensberater, „sollten die freiwil- mit dem Patienten „auf optional zu set- Patient seine einmal erklärte und abge- ligen Anwendungen möglichst frühzeitig zen“ und stattdessen regelmäßig bloß speicherte Bereitschaft zur Organspende eingeführt werden.“ Bei der Freiwilligkeit eine einheitliche triviale Ziffernfolge wie „nur unter erschwerten Bedingungen“, wie aber werde es auf Dauer nicht bleiben, arg- 123456 einzutippen. Ein solches Verfahren, die Bundesärztekammer (BÄK) kritisiert: wöhnt der FDP-Gesundheitsexperte Daniel heißt es jedoch in einem Gematik-Papier Der Versicherte benötigt für eine Stornie- Bahr: Der Bundestagsabgeordnete fürch- vom 3. Dezember, könne „unter gesetz- rung dieses eGK-Eintrags die „Mitwirkung tet, „dass aus freiwilligen An- eines Heilberufsausweisinha- wendungen sehr schnell Pflicht- bers“ – eine aus Sicht der BÄK anwendungen werden könnten, „problematische Lösung“. um Doppeluntersuchungen ver- Missbrauch will die Gematik meiden zu können“. etwa durch eine Protokollie- Ob freiwillig oder nicht – rung aller Zugriffe erschweren. für all die anfallenden Rönt- Die Daten in den Zentralspei- genbilder und Impfpässe, Blut- chern sollen überdies derart FRANK DARCHINGER (L.O.); KLERKX / LAIF (R.O.) werte und Arztbriefe bietet codiert werden, dass selbst der 64-Kilobyte-Mikrochip der der „derzeit leistungsfähigste eGK nicht genügend Platz. Die Rechner der Welt schätzungs- Krankendaten sollen daher in weise mehrere Milliarden Jah- Großrechner ausgelagert wer- re“ brauchen würde, um den den, zu denen wiederum die Schlüssel zu knacken. Chipkarte den Zugang ermög- Fachleute reagieren auf sol- licht. che Aussagen allerdings mit Damit, so versichern die Be- Skepsis. Bereits in fünf Jahren, fürworter, sei der Patient stets berichtet die „Computerzei- Herr seiner Daten. Denn ge- Datenspeicher: „100-prozentige Sicherheit gibt es nicht“ tung“, werde die brandneue speichert, verändert oder gele- Gesundheitskarte wahrschein- sen werden dürften die intimen lich wieder ausgetauscht. Denn Informationen nur dann, wenn das aktuelle Verschlüsselungs- die eGK und sein Pendant, ein verfahren gelte schon als „nicht elektronischer „Heilberufeaus- mehr sicher“. weis“ (HBA), gleichzeitig in Auch eGK-Befürworter wis- das Lesegerät eingeführt und sen, dass die Patientendaten dazu die jeweiligen Persön- nicht völlig unantastbar sein lichen Identifikationsnummern werden. „Nirgends, auch nicht (PIN) eingetippt werden. bei der eGK, gibt es eine Auf Missbrauchsrisiken hat hundertprozentige Sicherheit“, die angesehene Gesellschaft für räumt der Kieler Datenschüt- Informatik schon frühzeitig hin- zer Weichert ein. gewiesen: „Angesichts der Viel- Gerade die vergangenen Mo- zahl Zugriffsberechtigter“ – nate haben gezeigt, dass es kri- MICHAEL STAUDT rund zwei Millionen Branchen- minellen Insidern, Hackern und angehörige – sei eine „hinrei- Datenhändlern immer wieder chend sichere Zugriffskontrolle gelingt, Schutzvorkehrungen zu überhaupt nicht machbar“. Karten-Kritiker Meissner: „Sehenden Auges ins Chaos“ überwinden. „Absolute Daten- Vorgesehen ist die Ausgabe sicherheit“, warnt die Hambur- von Lesegeräten und HBA-Cards an alle lichen Voraussetzungen nicht genehmigt ger Verbraucherzentrale, „gibt es nicht Praxen von Ärzten, Zahnärzten und Psy- werden“. einmal bei Bankdaten in Liechtenstein.“ chiatern, an alle Krankenhäuser und Apo- Verzichtet werden muss auf die Eingabe Dass die Gematik mit dem Betrieb der theken, an Homöopathen und Physio- der individuellen Patienten-PIN natur- eGK-Dateninfrastruktur unter anderem therapeuten, dazu an andere Heilberufler gemäß bei hilflosen Personen, etwa bei Un- ausgerechnet die Telekom-Tochter T-Sys- vom Rettungssanitäter bis zum Orthopädie- fall- oder Schlaganfallopfern. So ist es Sa- tems beauftragt hat, weckte nach diversen schuhmacher. nitätern, Ärzten und Klinikpersonal mög- Telekom-Datenskandalen der letzten Mo- Schon bei ersten Tests hat sich gezeigt, lich, bei Bedarf ohne Zustimmung des Ver- nate zusätzliches Misstrauen. Nach dem dass das angeblich so sichere System aus sicherten neben den Adressdaten auch den „Telekomgate“ ängstigte sich die FDP- eGK, HBA und PIN seine Lücken und kompletten Notfalldatensatz auszulesen. Innenexpertin Gisela Piltz, dass „statt Mil- Tücken hat. So vergaßen zerstreute und Und der enthält so einiges: Ob jemand lionen von Handynummern Millionen von debile Patienten immer wieder ihre sechs- an Asthma leidet oder ein Glasauge hat, Krankenakten frei im Internet herumge- stellige Geheimnummer. Parkinsonkranke Mittel gegen Epilepsie oder gegen Depres- reicht werden“ könnten. waren außerstande, die PIN in der vorge- sionen einnimmt – die Liste der direkt auf Mit anderen Teilen der eGK-Infrastruk- schriebenen Zeit einzutippen. Mancher der eGK speicherbaren „notfallrelevanten tur hat die Gematik die Firma Atos World- d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 8 39
Deutschland line betraut, die neuerdings damit wirbt, pierlosen Rezepts sogar „noch größere dass sie „die gesamte Wertschöpfungsket- Probleme“ als die Ärzte. Auch in den te der eGK-Mehrwertanwendungen ab- Pharmazien werde „das Auslesen der Re- decken“ könne. Peinlich nur, dass Atos zepte als zu lang empfunden“. Darüber Worldline vorige Woche als jenes Unter- hinaus führe Wirrwarr um Pharmazentral- nehmen Schlagzeilen machte, das Zehn- nummern und Packungsgrößen „oft“ dazu, tausende abhanden gekommener unver- „dass per Hand das Medikament einge- schlüsselter Kreditkartendaten der Lan- scannt werden muss und damit der elek- desbank Berlin bearbeitet hatte. tronische Datensatz überflüssig wird“. Das Die Kartenbefürworter sehen sich bei elektronische Rezept, forderte der Ärzte- alldem in der Zwickmühle. Einerseits müs- tag, müsse aus der Liste der Pflichtanwen- sen sie verhindern, was der Präsident des dungen der Karte gestrichen werden. Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Bei der Rezeptausstellung handelt es Papier, Anfang der Woche, am 25. Jahres- sich noch um eine der simpleren Anwen- tag des Volkszählungsurteils, als „Super- dungsmöglichkeiten der eGK. Überhaupt GAU des Datenschutzes“ beschrieb: eine noch nicht erprobt worden sind die von Zusammenführung von Daten zu Persön- den Kassen propagierten, datenschutz- lichkeitsprofilen – was technisch kein Pro- rechtlich besonders heiklen Online-Op- blem mehr wäre. tionen wie die e-Patientenakte und der Angesichts der aktuellen Möglichkei- e-Arztbrief. „Es fehlen Tests mit Online- ten, so Papier in seiner Festrede, würde Anwendungen“, heißt es in der bayeri- der einst vielbeschworene Große Bruder schen CSU/FDP-Koalitionsvereinbarung: über die „informationstechnische Stein- „Die Einführung der elektronischen Ge- sundheitskarte erscheint derzeit deshalb nicht erfolgversprechend.“ Würde sich diese Einstellung durchset- zen, könnte Ulla Schmidts Mammutpro- jekt nach jahrelangem Herumdoktern zu- sammenschnurren auf eine Mini-Lösung, die sehr viel früher realisierbar gewesen wäre: eine schlichte Kassenkarte mit Foto, EU-Krankenscheinfunktion und ein paar administrativen Daten – ohne eine un- durchsichtige, beängstigende Infrastruktur mit zentralen Servern im Hintergrund. Einen „Verzicht auf eine zentrale Spei- chersystematik“ fordert auch Ärztefunk- tionär Bittmann. Die Chipkarte sei im Übrigen technisch längst überholt. Schon JANNI CHAVAKIS / LAIF daher müsse, wie es auch schon der Ärz- tetag forderte, eine speichermächtigere Al- ternative erprobt werden: beispielsweise ein persönlicher USB-Stick, der alle Pa- tientendaten aufnehmen kann, so dass sie Karten-Befürworter Lauterbach nicht auf Zentralserver ausgelagert wer- „Ärzte wollen Transparenz verhindern“ den müssen, sondern auch physisch im Be- sitz des Versicherten bleiben. zeit“ des Jahres 1983 „nur noch mitleidig Die Gematik hat sich letzten Monat ein lächeln“. Stück weit dem Druck der Ärzte gebeugt: Andererseits behindern scharfe Daten- Sie hat zugesagt, eine „ergebnisoffene schutzvorkehrungen die Handhabung der Untersuchung von dezentralen Speicher- eGK. In der Testregion Flensburg etwa medien in Patientenhand“ vorzunehmen. dauerte das Einlesen der neuen Karten in Wie auch immer der Konflikt um die der Arztpraxis viermal so lange wie bisher. eGK endet – für Un- und andere Notfälle „Mit der Karte laufen wir sehenden Auges können Gesundheitsbewusste auch ohne ins Chaos“, warnte Eckehard Meissner, Speicherkarte vorsorgen. „Wer Wert dar- Sprecher des dortigen Praxisnetzes. auf legt, medizinische Notfalldaten jeder- Auch die Speicherung des gesetzlich ver- zeit griffbereit zu haben, sollte nicht auf die ankerten „elektronischen Rezepts“ auf der eGK setzen, sondern einen Notfallausweis Chipkarte hat sich im Test als „nicht pra- auf Papier bei sich führen“, empfiehlt die xistauglich“ erwiesen, wie es in einem Er- Hamburger Verbraucherzentrale. fahrungsbericht der sächsischen Erpro- Denn den Papierausweis könne, im Ge- bungsgesellschaft SaxMediCard heißt. Das gensatz zur elektronischen Karte, „auch Hantieren mit Ärzte- und Patientenkarten ein Arzt lesen, der zufällig privat im Zug und die immer wieder aufs Neue erforder- oder Flugzeug anwesend ist“. Und: „Mit liche PIN-Eingabe seien im Stress des Pra- englischer und französischer Übersetzung xisalltags „nicht zu bewältigen“. ist er auch in vielen Urlaubsländern lesbar, Die sächsischen Apotheker, so der Be- wo Lesegeräte für die deutsche eGK kaum richt weiter, hätten beim Handling des pa- erreichbar sind.“ Jochen Bölsche 40 d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 8
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