Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...

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Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...
Deutschland

                                   DAT E N S C H U T Z

           Big Brother würde
             Mitleid haben
Für eine neue elektronische „Gesundheitskarte“ sollen 72 Millionen
   Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse abliefern. Doch
 Bürgerrechtler rufen zum Boykott, Ärzteverbände leisten Wider-
  stand: Die Chipkarte ebne den Weg in den Überwachungsstaat.

E
      in unscheinbares hellgraues Käst-        bombe“, wie Mediziner beim Deutschen
      chen wurde am Freitag voriger Wo-        Ärztetag warnten, der das Projekt schon
      che während einer kleinen Feier in       zweimal, 2007 und 2008, ablehnte.
den Räumen des Dürener Allgemein- und             Unterstützung finden kritische Medizi-
Sportmediziners Dr. med. Peter Hecking         ner bei den Berliner Oppositionsparteien
an den Praxis-Computer angeschlossen.          und bei Bürgerrechtsgruppen, Verbrau-
Dann führte jemand eine bunte Ausweis-         cherschützern und Datenexperten. In
karte in das Lesegerät ein.                    Deutschland drohe, so das Kölner Komitee
   Für Ärztefunktionäre und Politiker, Bür-    für Grundrechte und Demokratie, ein
gerrechtler und Datenschützer war dieser       „Umbau des Gesundheitssystems zu einem
12. Dezember ein „historischer Tag“ („Die      Kontrollsystem“, das jeden Versicherten
Welt“) – so oder so: Befürworter sehen in      zum „gläsernen Patienten“ mache.
der Installation des grauen Kastens den           Vordergründig streiten die Widersacher
Auftakt zu einer weltweit beispiellosen        um den einzigen auch für Laien wahr-
Modernisierung des Gesundheitswesens,          nehmbaren Teil des neuen Systems: eine
Kritikern dagegen gilt die Box als eine Art    Plastikkarte mit dem Foto des Versicherten
Büchse der Pandora.                            und einem Mikroprozessor-Chip, auf dem
   Sozialpolitiker der großen Parteien und     Ärzte nach derzeitiger Gesetzeslage ihre
Vertreter der Krankenkassen feierten in        Rezepte speichern müssen und sogenann-
Düren den „Startschuss für die flächen-        te Notfalldaten des Patienten auf dessen
deckende Vernetzung von Ärzten, Zahn-          Wunsch speichern können. Zugleich aber
ärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Kran-       taugt die „elektronische Gesundheitskar-
kenkassen, Kammern und Kassenärztlichen        te“ (eGK) als Schlüssel für die gigantischen
Vereinigungen“, wie die NRW-Landes-            Zentralspeicher.
regierung jubelte.                                Nach dem Start der Lesegeräte-Instal-
   Die Verfechter des geplanten Netzwerks      lation sollen vom neuen Jahr an, begin-
erhoffen sich wie Gesundheitsministerin        nend in der Region Nordrhein, alle Versi-
Ulla Schmidt (SPD) „mehr Qualität, mehr        cherten deutschlandweit zügig mit der eGK
Sicherheit und mehr Effizienz im Gesund-       ausgestattet werden. Viele Krankenkassen
heitswesen“. So sollen teure Doppelunter-      haben bereits begonnen, ihren Mitgliedern
suchungen vermieden werden können,             Fotos für die Plastikkarte abzuverlangen;
wenn am Ende des mehrstufigen System-          ausgenommen von der Pflicht zur Abgabe
aufbaus die rund zwei Millionen deutschen      sind lediglich Kinder unter 16 Jahren sowie
Heilberufler mit den Daten der Versicher-      „Schwerpflegebedürftige“.
ten arbeiten.                                     „Es kommt bereits jetzt auf Ihre Mit-
   Das schon 2004 vom Bundesgesetzgeber        wirkung an“, mit diesen Worten fordert
beschlossene neue Datennetz sei so ange-       etwa die Innungskrankenkasse Sachsen
legt, erklärte der nordrhein-westfälische      ihre 700 000 Versicherten auf, ein „farbiges
Gesundheitsstaatssekretär Walter Döllin-       Lichtbild in Passbildqualität“ einzureichen
ger in Düren, dass es sich um „neue An-        – mit „neutralem Gesichtsausdruck und
wendungen“ erweitern lasse – bis hin zum       mit geschlossenem Mund“. Ob die Eintrei-
Zugriff auf „die Vital- und Laborwerte,        bung von insgesamt 72 Millionen Passfotos
den Mutter- oder Röntgenpass, den Impf-        glatt vonstatten geht, ist allerdings fraglich.
pass sowie Angaben zu vorhandenen All-         Denn Ärzte- und Bürgerrechtsorganisa-
ergien“, die lebenslang in zentralen Server-   tionen rufen seit Wochen zum Boykott auf:
farmen gespeichert werden sollen.              „Senden Sie Ihrer Krankenkasse kein Pass-
   In eben dieser Zentralisierung intimer      foto“, fordert das Kölner Grundrechte-Ko-
Daten, die bisher der Obhut des Arztes
anvertraut sind, sieht eine breite Front von                     Operationssaal (in Hamburg)
Skeptikern eine „sozialpolitische Atom-                         Hoffnung auf mehr Qualität
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Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...
Ministerin Schmidt, Ärzte-Protest*
                        Angst vor dem gläsernen Patienten

                             mitee auf Flugblättern. Der Chaos Compu-
                             ter Club rät, „der Kreativität keine Gren-
                             zen“ zu setzen – ein Foto mit Pappnase
                             tue es auch.
                                Unterdessen machen auch Mediziner mo-
                             bil. Die Hamburger Hausärztin Silke Lüder
                             hat mit ihrer Aktion „Stoppt die e-Card“
                             über eine halbe Million Unterschriften ge-
                             gen die „Totalvernetzung“ des Gesundheits-
                             wesens gesammelt. Einen tiefen Einbruch in
                             die Privatsphäre befürchten Praktiker wie
                             der Brühler Internist Jochen Doebel: Sollten
                             die Patientendaten je auf den freien Markt
                             gelangen, könnte sich „der Tripper junger
                             Jahre“ eines Tages als Fluch erweisen, der
                             „Familie und Karriere ruiniert“.
                                Alarm schlug in seiner jüngsten Haupt-
                             versammlung auch der Virchow-Bund, der
                             Verband der niedergelassenen Ärzte. „Der
                             Weg zum Überwachungsstaat ist beschrit-
                             ten“, warnte Vorsitzender Klaus Bittmann.
                             Die Bundesärztekammer kritisierte vori-
                             gen Mittwoch die „überstürzte“ und „has-
                             tige“ Online-Anbindung von Praxen und
                             Kliniken, die bald schon per „elektroni-
                             schem Arztbrief“ kommunizieren sollen,
                             obwohl „fachliche wie auch grundsätzliche
                             Fragen noch ungeklärt“ seien.
                                In Berlin hat vor allem die FDP die
                             Ängste vor dem „größten Datenberg aller
HEINER WITTE / MÜNSTERVIEW

                             Zeiten“ aufgegriffen, der sich laut Ex-Jus-
                             tizministerin Sabine Leutheusser-Schnar-
                             renberger im Gesundheitswesen abzeich-
                             net. Im Bundestag haben die Freidemo-
                             kraten beantragt, das Projekt eGK auf Eis
                             zu legen. Und in Bayern ist es den Libera-
                             len gelungen, ihre Haltung in den Koali-
                             tionsvertrag mit der CSU einzubringen –
                             zum Befremden der Industrie.
                                „Mit großer Sorge verfolgen wir, dass
                             sich die Regierungskoalition in Bayern ge-
                             gen die Ausgabe der eGK ausspricht“, ent-
                             setzte sich vorigen Monat auf der Gesund-
                             heitsmesse Medica der Chef des High-
                             tech-Verbandes Bitkom, August-Wilhelm
                             Scheer. In der Branche hatte die Digitali-
                             sierung des Gesundheitswesens, deren
                             Marktpotential laut einer EU-Studie 60 bis
                             70 Milliarden Euro umfasst, bereits Gold-
                             gräberstimmung aufkommen lassen.
                                Befürworter wie Scheer halten die Be-
                             denken mancher Mediziner für überzogen,
                             wenn nicht für vorgeschoben: „So sicher
                             wie mit der eGK waren die Patientendaten
                             in Deutschland noch nie.“
                                Tatsächlich hat die eGK-Betreiber-
                             gesellschaft Gematik in die Planung des
                             Projekts frühzeitig auch Datenschützer
                             einbezogen. Der Bundesbeauftragte Peter
                             Schaar und seine Länderkollegen be-
                             standen darauf, dass Datensicherheit vor
                             Schnelligkeit rangieren müsse: „Vorgese-
                             hene Einführungstermine dürfen kein An-
ACTION PRESS

                             lass dafür sein, dass von den bestehenden

                             * Beim Deutschen Ärztetag 2007 in Münster.

                                                                          37
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                                                Schlüssel zum Speicher                  Mikrochip mit zur Zeit max.
                                                                                        64 kB Speicher-
                                                Die elektronische                       kapazität                                                Versicherten-
                                                Gesundheitskarte                                                                                          foto

                                                1. Stufe: Verpflichtende Datenspeicherung
                                                  Name, Geburtsdatum, Kranken-
                                                  kasse, Versicherungs- und
                                                  Zuzahlungsstatus (kann online
                                                  geändert werden)                                                                        Kennzeichnung
                                                                                                                                          in Blindenschrift
                                                  Aufnahme von bis zu 10 Rezepten                                                         Rückseite:
                                                  europäische Krankenversicherungskarte                                Name, Kranken-     Versichertenkarte
                                                                                                                   kasse, Kassen- und     für das
                                                                                                                  Versichertennummer      europäische Ausland

                                                2. Stufe: Freiwillige Datenspeicherung                  Sicherungssystem bei Datenzugriff
                                                                                                        Patientendaten
                                                  Liste bisher verordneter Medikamente                  auf der Karte und
                                                  Notfalldaten, z. B. Unverträglichkeiten,              in externen
                                                                                                        Datenspeichern
                                                  chronische Krankheiten, bisherige Eingriffe
                                                  persönliche Arzneimittelrisiken, z. B. in der                  PIN-Nummer             PIN-Nummer
                                                  Schwangerschaft oder mögliche Wechsel-
                                                  wirkungen mit anderen Medikamenten
                                                  komplette Patientenakte mit Arztbriefen,                            Gesund-             Heil-
                                                  Diagnosen und Röntgenbildern                                        heitskarte          berufs-
                                                                                                                                          ausweis
                                                  Speicherung von rezeptfrei erworbenen
                                                  Medikamenten                                          Patient                           Arzt, Apotheker
Bundesdatenschutzbeauftragter Schaar: Auch im Gesundheitswesen soll Datensicherheit vor Schnelligkeit gehen

Datenschutzanforderungen Abstriche ge-          Hauptbahnhof abzukaufen, um sich auf                  genutzt werden dürfen, sofern der Patient
macht werden.“                                  Kosten der Solidargemeinschaft verarzten              ausdrücklich sein Einverständnis erklärt.
   Einige Datenschützer wie der Schleswig-      und medikamentös versorgen zu lassen.                 Zu den freiwilligen Funktionen zählt die
Holsteiner Thilo Weichert wenden sich ge-          „Jeder Skipass weist heutzutage einen              Speicherung aller verordneten Medika-
gen „Horrorszenarien“ von Skeptikern,           höheren Sicherheitsstandard auf als unse-             mente, aller Notfalldaten sowie aller Arzt-
die „nicht zu begründende Ängste“ schür-        re Krankenkassenkarten“, kritisiert die               briefe und Patientenakten.
ten. Weichert unterstellt den Kritikern, sie    Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung.                   Diese freiwilligen Anwendungen ber-
verfolgten unter dem „Deckmäntelchen“           Experten schätzen den Gesamtschaden                   gen einerseits schwer kalkulierbare Risi-
der Sorge um das Patientengeheimnis             durch Kartenmissbrauch auf rund 1,5 Mil-              ken für die Privatsphäre der Patienten,
„ganz andere Interessen“: Viele Medizi-         liarden Euro pro Jahr.                                andererseits macht erst die Nutzung mög-
ner, insbesondere aus kleinen ambulanten           Dabei hätten es die Mediziner in der               lichst vieler dieser Funktionen durch mög-
Praxen, seien verstimmt, weil die Chip-         Hand gehabt, den Missbrauch zu minimie-               lichst viele Versicherte das Gesamtsystem
karten-Einführung sie zwinge, ihre EDV          ren: Sie müssten den Patienten nur, wie in            profitabel.
„für teures Geld zu erneuern und sich           Krankenhäusern üblich, abverlangen, am                   Das belegt eine von der Gematik in Auf-
komplexe EDV-Kenntnisse anzueignen“.            Empfang neben der Kassenkarte auch den                trag gegebene Studie der Düsseldorfer Un-
   Mit harten Bandagen reagiert auch SPD-       Personalausweis vorzulegen. Dazu wären                ternehmensberatung Booz-Allen-Hamil-
Gesundheitsexperte Professor Karl Lau-          nach Umfragen zwar 90 Prozent der Ver-                ton. Danach sind während der ersten fünf
terbach auf die Kritik von Medizinern: Im       sicherten, aber nur 50 Prozent der nieder-            Jahre nach Ausgabe der eGK, sofern den
Kampf gegen die Karte hätten sich „Ärzte-       gelassenen Ärzte bereit; jeder zweite Me-             Versicherten nur die weniger heiklen ge-
gruppen, die Transparenz im Gesundheits-        diziner will nicht als Hilfspolizist der Kran-        setzlich vorgeschriebenen Basisfunktionen
wesen verhindern und ihr Einkommen              kenkassen agieren.                                    zur Verfügung stehen, „sämtliche Anwen-
sichern wollen, geschickt mit idealistischen       So nachvollziehbar der Wunsch der Kas-             dungen defizitär“. Erst nach der Einfüh-
Datenschützern verbündet“.                      sen nach einem Ausweis mit Foto anmutet,              rung der freiwilligen „Anwendungen ,elek-
   Für nicht nachvollziehbar halten die         so unverfänglich scheinen zumindest auf               tronische Patientenakte‘ und ,elektroni-
Kartenverfechter die Kritik an den Passfo-      den ersten Blick zwei weitere gesetzlich              scher Arztbrief‘“ werde der Nutzen höher
tos, auf die nun die Boykottaufrufe zielen.     fixierte Eigenschaften der neuen eGK: Ein             sein als die Gesamtkosten.
Und auch etliche Ärztevertreter räumen          Text auf der Rückseite der Karte ersetzt                 Hochbrisant sind die Angaben der Gut-
ein, dass sehr wohl triftige Gründe für die     den bisherigen papiernen Auslandskran-                achter über die Nutznießer der eGK-Ein-
Einbeziehung eines Lichtbildes sprechen.        kenschein. Und der programmierbare Chip               führung. Die Krankenkassen haben dem-
   Denn mit den 1994 eingeführten unbe-         auf der Vorderseite nimmt die obligatori-             nach die größten Vorteile zu erwarten –
bilderten alten Karten wird vieltausendfach     schen Personendaten auf und dient zum                 etwa durch die Verringerung von Mehrfach-
Missbrauch getrieben. Junkies und illegal       Transport von bis zu zehn „elektronischen             untersuchungen aufgrund der elektroni-
eingewanderte Ausländer, untergetauchte         Rezepten“ vom Arzt zum Apotheker, der                 schen Patientenakten. Binnen zehn Jahren
Straftäter und geldgierige Privatversicherte,   sich die Verordnungen auf den Bildschirm              wächst den Kassen nach Ansicht der Ex-
die ihren Rückerstattungsanspruch retten        holen kann und sich nicht länger über                 perten ein Nettonutzen von etwa 5 Milliar-
wollen – sie alle können derzeit noch die       die Sauklaue von Dr. med. Unleserlich är-             den Euro zu, während Ärzte und Apotheker
Möglichkeit nutzen, eine Versichertenkar-       gern muss.                                            3,5 Milliarden Euro Verlust machen.
te von einem Verwandten oder Kumpel                Alle weiteren Anwendungen der eGK                     Diese Berechnungen erklären zum Teil,
auszuleihen oder einem Hehler hinterm           sollen nach derzeitiger Gesetzeslage nur              weshalb sich viele Ärzte so erbittert wider-
38                                                    d e r   s p i e g e l   5 2 / 2 0 0 8
Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...
setzen. Die Zahlen erhellen aber auch, überforderte Besucher hinterlegte die             Diagnosen, Operationen, Prozeduren und
warum die PR-Experten der Kassen be- Codenummer schließlich der Einfachheit              Dauermedikationen“ umfasst 45 Positio-
reits begonnen haben, ihre Versicherten halber beim Herrn Doktor oder der Sprech-        nen, dazu nicht spezifizierte „weitere An-
mit Briefen und Broschüren auf die frei- stundenhilfe.                                   gaben“. Platz ist auch für eine vom Sa-
willige Nutzung von „Notfalldatensatz“,        Vom zeitraubenden Umgang mit der          nitäter einsehbare „Erlaubniserteilung“ für
„e-Patientenakte“ und „e-Arztbrief“ ein- Geheimzahl zeigten sich Mediziner bei           „den Fall, dass nach meinem Tod eine
zustimmen.                                  Tests in Schleswig-Holstein derart ge-       Spende von Organen/Geweben zur Trans-
   „Aufgrund des großen Nutzenpoten- nervt, dass sie forderten, die Eingabe ei-          plantation in Frage kommt“.
tials“, lautet die zentrale Empfehlung der ner individuellen PIN im Einvernehmen            Widerrufen oder einschränken kann der
Unternehmensberater, „sollten die freiwil- mit dem Patienten „auf optional zu set-       Patient seine einmal erklärte und abge-
ligen Anwendungen möglichst frühzeitig zen“ und stattdessen regelmäßig bloß              speicherte Bereitschaft zur Organspende
eingeführt werden.“ Bei der Freiwilligkeit eine einheitliche triviale Ziffernfolge wie   „nur unter erschwerten Bedingungen“, wie
aber werde es auf Dauer nicht bleiben, arg- 123456 einzutippen. Ein solches Verfahren,   die Bundesärztekammer (BÄK) kritisiert:
wöhnt der FDP-Gesundheitsexperte Daniel heißt es jedoch in einem Gematik-Papier          Der Versicherte benötigt für eine Stornie-
Bahr: Der Bundestagsabgeordnete fürch- vom 3. Dezember, könne „unter gesetz-             rung dieses eGK-Eintrags die „Mitwirkung
tet, „dass aus freiwilligen An-                                                                      eines Heilberufsausweisinha-
wendungen sehr schnell Pflicht-                                                                      bers“ – eine aus Sicht der BÄK
anwendungen werden könnten,                                                                          „problematische Lösung“.
um Doppeluntersuchungen ver-                                                                            Missbrauch will die Gematik
meiden zu können“.                                                                                   etwa durch eine Protokollie-
   Ob freiwillig oder nicht –                                                                        rung aller Zugriffe erschweren.
für all die anfallenden Rönt-                                                                        Die Daten in den Zentralspei-
genbilder und Impfpässe, Blut-                                                                       chern sollen überdies derart

                                                                                                  FRANK DARCHINGER (L.O.); KLERKX / LAIF (R.O.)
werte und Arztbriefe bietet                                                                          codiert werden, dass selbst
der 64-Kilobyte-Mikrochip der                                                                        der „derzeit leistungsfähigste
eGK nicht genügend Platz. Die                                                                        Rechner der Welt schätzungs-
Krankendaten sollen daher in                                                                         weise mehrere Milliarden Jah-
Großrechner ausgelagert wer-                                                                         re“ brauchen würde, um den
den, zu denen wiederum die                                                                           Schlüssel zu knacken.
Chipkarte den Zugang ermög-                                                                             Fachleute reagieren auf sol-
licht.                                                                                               che Aussagen allerdings mit
   Damit, so versichern die Be-                                                                      Skepsis. Bereits in fünf Jahren,
fürworter, sei der Patient stets                                                                     berichtet die „Computerzei-
Herr seiner Daten. Denn ge- Datenspeicher: „100-prozentige Sicherheit gibt es nicht“                 tung“, werde die brandneue
speichert, verändert oder gele-                                                                      Gesundheitskarte wahrschein-
sen werden dürften die intimen                                                                       lich wieder ausgetauscht. Denn
Informationen nur dann, wenn                                                                         das aktuelle Verschlüsselungs-
die eGK und sein Pendant, ein                                                                        verfahren gelte schon als „nicht
elektronischer „Heilberufeaus-                                                                       mehr sicher“.
weis“ (HBA), gleichzeitig in                                                                            Auch eGK-Befürworter wis-
das Lesegerät eingeführt und                                                                         sen, dass die Patientendaten
dazu die jeweiligen Persön-                                                                          nicht völlig unantastbar sein
lichen Identifikationsnummern                                                                        werden. „Nirgends, auch nicht
(PIN) eingetippt werden.                                                                             bei der eGK, gibt es eine
   Auf Missbrauchsrisiken hat                                                                        hundertprozentige Sicherheit“,
die angesehene Gesellschaft für                                                                      räumt der Kieler Datenschüt-
Informatik schon frühzeitig hin-                                                                     zer Weichert ein.
gewiesen: „Angesichts der Viel-                                                                         Gerade die vergangenen Mo-
zahl Zugriffsberechtigter“ –                                                                         nate haben gezeigt, dass es kri-
                                                                                                  MICHAEL STAUDT

rund zwei Millionen Branchen-                                                                        minellen Insidern, Hackern und
angehörige – sei eine „hinrei-                                                                       Datenhändlern immer wieder
chend sichere Zugriffskontrolle                                                                      gelingt, Schutzvorkehrungen zu
überhaupt nicht machbar“. Karten-Kritiker Meissner: „Sehenden Auges ins Chaos“                       überwinden. „Absolute Daten-
Vorgesehen ist die Ausgabe                                                                           sicherheit“, warnt die Hambur-
von Lesegeräten und HBA-Cards an alle lichen Voraussetzungen nicht genehmigt             ger Verbraucherzentrale, „gibt es nicht
Praxen von Ärzten, Zahnärzten und Psy- werden“.                                          einmal bei Bankdaten in Liechtenstein.“
chiatern, an alle Krankenhäuser und Apo-       Verzichtet werden muss auf die Eingabe       Dass die Gematik mit dem Betrieb der
theken, an Homöopathen und Physio- der individuellen Patienten-PIN natur-                eGK-Dateninfrastruktur unter anderem
therapeuten, dazu an andere Heilberufler gemäß bei hilflosen Personen, etwa bei Un-      ausgerechnet die Telekom-Tochter T-Sys-
vom Rettungssanitäter bis zum Orthopädie- fall- oder Schlaganfallopfern. So ist es Sa-   tems beauftragt hat, weckte nach diversen
schuhmacher.                                nitätern, Ärzten und Klinikpersonal mög-     Telekom-Datenskandalen der letzten Mo-
   Schon bei ersten Tests hat sich gezeigt, lich, bei Bedarf ohne Zustimmung des Ver-    nate zusätzliches Misstrauen. Nach dem
dass das angeblich so sichere System aus sicherten neben den Adressdaten auch den        „Telekomgate“ ängstigte sich die FDP-
eGK, HBA und PIN seine Lücken und kompletten Notfalldatensatz auszulesen.                Innenexpertin Gisela Piltz, dass „statt Mil-
Tücken hat. So vergaßen zerstreute und         Und der enthält so einiges: Ob jemand     lionen von Handynummern Millionen von
debile Patienten immer wieder ihre sechs- an Asthma leidet oder ein Glasauge hat,        Krankenakten frei im Internet herumge-
stellige Geheimnummer. Parkinsonkranke Mittel gegen Epilepsie oder gegen Depres-         reicht werden“ könnten.
waren außerstande, die PIN in der vorge- sionen einnimmt – die Liste der direkt auf         Mit anderen Teilen der eGK-Infrastruk-
schriebenen Zeit einzutippen. Mancher der eGK speicherbaren „notfallrelevanten           tur hat die Gematik die Firma Atos World-
                                                 d e r   s p i e g e l   5 2 / 2 0 0 8                                                            39
Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...
Deutschland

line betraut, die neuerdings damit wirbt,                             pierlosen Rezepts sogar „noch größere
dass sie „die gesamte Wertschöpfungsket-                              Probleme“ als die Ärzte. Auch in den
te der eGK-Mehrwertanwendungen ab-                                    Pharmazien werde „das Auslesen der Re-
decken“ könne. Peinlich nur, dass Atos                                zepte als zu lang empfunden“. Darüber
Worldline vorige Woche als jenes Unter-                               hinaus führe Wirrwarr um Pharmazentral-
nehmen Schlagzeilen machte, das Zehn-                                 nummern und Packungsgrößen „oft“ dazu,
tausende abhanden gekommener unver-                                   „dass per Hand das Medikament einge-
schlüsselter Kreditkartendaten der Lan-                               scannt werden muss und damit der elek-
desbank Berlin bearbeitet hatte.                                      tronische Datensatz überflüssig wird“. Das
   Die Kartenbefürworter sehen sich bei                               elektronische Rezept, forderte der Ärzte-
alldem in der Zwickmühle. Einerseits müs-                             tag, müsse aus der Liste der Pflichtanwen-
sen sie verhindern, was der Präsident des                             dungen der Karte gestrichen werden.
Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen                                   Bei der Rezeptausstellung handelt es
Papier, Anfang der Woche, am 25. Jahres-                              sich noch um eine der simpleren Anwen-
tag des Volkszählungsurteils, als „Super-                             dungsmöglichkeiten der eGK. Überhaupt
GAU des Datenschutzes“ beschrieb: eine                                noch nicht erprobt worden sind die von
Zusammenführung von Daten zu Persön-                                  den Kassen propagierten, datenschutz-
lichkeitsprofilen – was technisch kein Pro-                           rechtlich besonders heiklen Online-Op-
blem mehr wäre.                                                       tionen wie die e-Patientenakte und der
   Angesichts der aktuellen Möglichkei-                               e-Arztbrief. „Es fehlen Tests mit Online-
ten, so Papier in seiner Festrede, würde                              Anwendungen“, heißt es in der bayeri-
der einst vielbeschworene Große Bruder                                schen CSU/FDP-Koalitionsvereinbarung:
über die „informationstechnische Stein-                               „Die Einführung der elektronischen Ge-
                                                                      sundheitskarte erscheint derzeit deshalb
                                                                      nicht erfolgversprechend.“
                                                                         Würde sich diese Einstellung durchset-
                                                                      zen, könnte Ulla Schmidts Mammutpro-
                                                                      jekt nach jahrelangem Herumdoktern zu-
                                                                      sammenschnurren auf eine Mini-Lösung,
                                                                      die sehr viel früher realisierbar gewesen
                                                                      wäre: eine schlichte Kassenkarte mit Foto,
                                                                      EU-Krankenscheinfunktion und ein paar
                                                                      administrativen Daten – ohne eine un-
                                                                      durchsichtige, beängstigende Infrastruktur
                                                                      mit zentralen Servern im Hintergrund.
                                                                         Einen „Verzicht auf eine zentrale Spei-
                                                                      chersystematik“ fordert auch Ärztefunk-
                                                                      tionär Bittmann. Die Chipkarte sei im
                                                                      Übrigen technisch längst überholt. Schon
                                              JANNI CHAVAKIS / LAIF

                                                                      daher müsse, wie es auch schon der Ärz-
                                                                      tetag forderte, eine speichermächtigere Al-
                                                                      ternative erprobt werden: beispielsweise
                                                                      ein persönlicher USB-Stick, der alle Pa-
                                                                      tientendaten aufnehmen kann, so dass sie
Karten-Befürworter Lauterbach                                         nicht auf Zentralserver ausgelagert wer-
„Ärzte wollen Transparenz verhindern“                                 den müssen, sondern auch physisch im Be-
                                                                      sitz des Versicherten bleiben.
zeit“ des Jahres 1983 „nur noch mitleidig                                Die Gematik hat sich letzten Monat ein
lächeln“.                                                             Stück weit dem Druck der Ärzte gebeugt:
   Andererseits behindern scharfe Daten-                              Sie hat zugesagt, eine „ergebnisoffene
schutzvorkehrungen die Handhabung der                                 Untersuchung von dezentralen Speicher-
eGK. In der Testregion Flensburg etwa                                 medien in Patientenhand“ vorzunehmen.
dauerte das Einlesen der neuen Karten in                                 Wie auch immer der Konflikt um die
der Arztpraxis viermal so lange wie bisher.                           eGK endet – für Un- und andere Notfälle
„Mit der Karte laufen wir sehenden Auges                              können Gesundheitsbewusste auch ohne
ins Chaos“, warnte Eckehard Meissner,                                 Speicherkarte vorsorgen. „Wer Wert dar-
Sprecher des dortigen Praxisnetzes.                                   auf legt, medizinische Notfalldaten jeder-
   Auch die Speicherung des gesetzlich ver-                           zeit griffbereit zu haben, sollte nicht auf die
ankerten „elektronischen Rezepts“ auf der                             eGK setzen, sondern einen Notfallausweis
Chipkarte hat sich im Test als „nicht pra-                            auf Papier bei sich führen“, empfiehlt die
xistauglich“ erwiesen, wie es in einem Er-                            Hamburger Verbraucherzentrale.
fahrungsbericht der sächsischen Erpro-                                   Denn den Papierausweis könne, im Ge-
bungsgesellschaft SaxMediCard heißt. Das                              gensatz zur elektronischen Karte, „auch
Hantieren mit Ärzte- und Patientenkarten                              ein Arzt lesen, der zufällig privat im Zug
und die immer wieder aufs Neue erforder-                              oder Flugzeug anwesend ist“. Und: „Mit
liche PIN-Eingabe seien im Stress des Pra-                            englischer und französischer Übersetzung
xisalltags „nicht zu bewältigen“.                                     ist er auch in vielen Urlaubsländern lesbar,
   Die sächsischen Apotheker, so der Be-                              wo Lesegeräte für die deutsche eGK kaum
richt weiter, hätten beim Handling des pa-                            erreichbar sind.“              Jochen Bölsche

40                           d e r   s p i e g e l                       5 2 / 2 0 0 8
Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ... Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ... Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ... Big Brother würde Mitleid haben - Für eine neue elektronische "Gesundheitskarte" sollen 72 Millionen Versicherte ihr Passfoto bei der Krankenkasse ...
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