BILDUNGSHORIZONTE - Universität Tübingen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ausgabe 3 - Dezember 2018
BILDUNGSHORIZONTE
Magazin des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung
SCHWERPUNKT Was ist guter Unterricht? Einblicke in die aktuelle Forschung
UNTERRICHTSQUALITÄT Feedback per Fragebogen: Schülerrückmeldungen im Fokus
Schule digital: Neue Medien im UnterrichtBILDUNGSHORIZONTE
Liebe Leserin,
lieber Leser,
Ausgabe 3 - Dezember 2018
„Wir müssen eine bessere Schul- und Un-
terrichtsqualität mit höchster Priorität zu
unserem Ziel machen“, erklärte unlängst 04 KURZ NOTIERT
Baden-Württembergs Ministerpräsident
Winfried Kretschmann. Sichtbares Signal
dafür sind zwei Institute, die Kultusminis- SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT
terin Susanne Eisenmann eröffnen wird.
Sie sollen unter anderem die Qualität von 06 WAS IST GUTER UNTERRICHT?
Schule und Unterricht prüfen und die Aus- Einblicke in den aktuellen Forschungsstand
bildung von Lehrkräften verbessern.
09 FEEDBACK PER FRAGEBOGEN
Worauf es bei Schülerrückmeldungen ankommt
Dies ist der richtige Weg: Die Forschung
zeigt, dass die Qualität des Unterrichts 11 SCHULE DIGITAL
ein entscheidender Faktor für die schuli- Wie neue Medien sich sinnvoll im Unterricht nutzen lassen
sche Entwicklung von Schülerinnen und
Schülern ist. 14 AUFGEPASST!
Ein Feedback-Tool für die Aufmerksamkeit im Klassenzimmer
Unterricht ist gleichzeitig ein vielschich-
tiges, hoch komplexes Geschehen mit
mehreren Einflussfaktoren. Entsprechend 16 LEAD GRADUATE SCHOOL & RESEARCH NETWORK
komplex und vielfältig sind auch die For-
17 AUS DEN MEDIEN
schung hierzu und die Empfehlungen,
wie ‚guter‘ Unterricht gelingen kann.
18 NACHGEFRAGT
In dieser Ausgabe der Bildungshorizon- 19 IMPRESSUM
te geben wir Einblicke in den aktuellen
Forschungsstand und fragen, worauf es
bei Schülerrückmeldungen zum Unterricht
ankommt. Wir zeigen, wie sich digitale
Medien sinnvoll im Unterricht einsetzen
lassen und stellen ein Feedback-Tool vor,
Das Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung ist ein eigenes Forschungsinstitut innerhalb der Universität Tübingen, an dem rund das unsere Wissenschaftlerinnen und
50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler grundlegende gesellschaftlich relevante Fragen von Bildungsprozessen mit anspruchsvol- Wissenschaftler entwickeln, um die
len Methoden bearbeiten. Das Hector-Institut wird in großen Teilen durch die Hector Stiftung II sowie das Ministerium für Wissenschaft, Aufmerksamkeit von Schülerinnen und
Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg finanziert. Es ist federführend am LEAD Graduate School & Research Network be- Schülern zu erfassen.
teiligt, das im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder gefördert wird. www.hib.uni-tuebingen.de
Ihr Redaktionsteam
3KURZ NOTIERT KURZ NOTIERT
HAUSAUFGABEN SCHULISCHER WAS MACHT JUNGE
MACHEN FLEISS ZAHLT LEHRKRÄFTE
GEWISSENHAFT SICH AUS ERFOLGREICH?
Wer seine Hausaufgaben sorg- Oft geschmähte schulische „Se- Welche Faktoren sind es, die
fältig erledigt, erzielt möglicher- kundärtugenden“ wie Fleiß oder erfolgreiche Lehrerinnen und
FÜR MATHE
weise nicht einfach nur bessere Verantwortungsgefühl haben of- Lehrer ausmachen? Mit dieser
Noten: Schülerinnen und Schüler, fenbar einen erheblichen Einfluss Frage haben sich Wissenschaft-
Eine Unterrichtseinheit MOTIVIEREN die ihre Hausaufgaben gründlich auf das spätere Leben, und zwar lerinnen und Wissenschaftler des
zum Nutzen von Mathe- und genau bearbeiten, weisen BEGABTE unabhängig von der eigenen Hector-Instituts und der Univer-
KINDER
matik motiviert besonders Kinder, deren Eltern sich wenig zudem eine günstigere Entwick- Intelligenz sowie von Bildung sität Freiburg in zwei Studien
Kinder, deren Eltern sich
für Mathematik interessieren, lung der allgemeinen Gewissen- oder Einkommen der Eltern. Ver- beschäftigt.
FRÜHZEITIG
wenig für das Fach inter-
essieren. profitieren mehr von einer haftigkeit auf als diejenigen, die antwortungsvolle Teenager, die Sie untersuchten unter ande-
unterstützenden Maßnahme zur sich dabei nur wenig anstrengen. FÖRDERN Interesse an schulischen Themen rem, welche Rolle das pädago-
Steigerung der Motivation als Zu diesem Ergebnis kam eine zeigen und ihre Aufgaben erle- gisch-psychologische Wissen
Kinder, deren Eltern Mathematik Studie des Hector-Instituts, in Wie leistungsstarke und poten- digen, haben nicht nur bessere junger Lehrkräfte für deren
als wichtig erachten. Das haben der Schülerinnen und Schüler ziell leistungsfähige Schülerin- Noten in der Schule, sondern sind beruflichen Erfolg spielt:
Bildungsforscherinnen und aus Haupt- und Realschulen in nen und Schülern bereits in der auch nach 50 Jahren noch erfolg- Schülerinnen und Schüler nah-
-forscher des Hector-Instituts Baden-Württemberg und Mittel- Grundschule besser gefördert reicher im Beruf und verdienen men die Lehrkräfte mit hohem
in einer Studie herausgefunden. schulen in Sachsen sowie deren werden können, haben Wis- besser als Gleichaltrige, die kein pädagogisch-psychologsichen
In einer speziellen Unterrichtsein- Eltern ab der 5. Klasse über drei senschaftlerinnen und Wissen- großes Interesse für die Schule Wissen zum Beispiel als weniger
heit vermittelten sie Neuntkläss- Jahre zu ihrem Hausaufgaben- schaftler des Hector-Instituts mitbrachten. Zu diesem Ergeb- erschöpft wahr und konnten
lern, wie und in welchen Berei- verhalten befragt wurden. in Zusammenarbeit mit dem nis kam ein Forscherteam des ihren Erklärungen besser folgen.
chen Mathematik für ihr eigenes In der Regel nimmt die Gewissen- Leibniz-Institut für Bildungsfor- Hector-Instituts, der University Das Forscherteam stellte au-
Leben oder ihren Wunschberuf haftigkeit vor allem unter jungen schung und Bildungsinformation of Houston und der University ßerdem fest, dass diejenigen
von Bedeutung sein könnte. Die Teenagern deutlich ab. Schüle- (DIPF) in Frankfurt am Main in of Illinois in Urbana-Champaign. Lehrkräfte ihre Kompetenz zur
Motivation der Schülerinnen und rinnen und Schüler, die sich bei mehreren Studien untersucht. „Das Beeindruckende an diesem effizienten Klassenführung
Schüler wurde davor und danach ihren Aufgaben angestrengt hat- Sie fanden heraus, dass der Ergebnis ist, dass unser Verhal- besonders steigern können, die
mittels Fragebögen erfasst. ten, waren von dieser Entwick- Besuch eines Förderprogramms ten beeinflusst, was aus uns bereit sind, über ihre Erfahrun-
Es zeigte sich ein „Robin-Hood- lung jedoch nicht oder weniger begabten und hochbegabten wird, und nicht nur, wie wir von gen im Unterricht zu reflektieren. Für das erfolgreiche
Effekt“ in dem Sinne, dass die stark betroffen. „Dies zeigt, dass Kindern hilft, ihre ohnehin schon der Natur oder unseren Eltern Ein nicht zu hohes Unterrichts- Unterrichten spielt
„Motivationslücke“ zwischen Hausaufgaben nicht nur für die guten Noten in Deutsch und ausgestattet wurden“, kommen- deputat und ein konstruktiv das pädagogisch-
psychologische Wis-
Kindern aus Elternhäusern mit schulische Leistung wichtig und Mathematik nochmals zu ver- tiert Marion Spengler, Erstautorin unterstützender Mentor wirkten sen junger Lehrkräfte
unterschiedlichem Interesse an sinnvoll sind, sondern auch für bessern und dass sie durch den der Studie. sich zudem positiv auf die emoti- eine zentrale Rolle.
Mathematik durch die Inter- die Persönlichkeitsentwicklung Besuch eines speziellen Kurses onale Erschöpfung von Lehrkräf-
vention verringert wurde. Die – vorausgesetzt, sie werden ein ungewöhnlich reifes Wissen- ten im Referendariat aus. „Im
Wissenschaftlerinnen und Wis- gründlich erledigt“, sagt Richard schaftsverständnis entwickelten. Hinblick auf die hohe Abbruch-
senschaftler erklären das damit, Göllner, Erstautor der Studie. Auch konnten sie nach dem rate unter Berufsanfängerinnen
dass nützliche Informationen Besuch eines Präsentationstrai- und -anfängern wäre es sinnvoll,
Nicht nur bessere
benachteiligten Kindern beson- nings naturwissenschaftliche Noten: Wer in der
diese Befunde in der Lehreraus-
ders zugutekamen: Schülerinnen Inhalte besonders gut kommu- Schule fleißig ist, bildung zu berücksichtigen, um
und Schüler aus Familien, die nizieren. Die Studien wurden an ist auch später im junge Lehrkräfte besser in ihrer
der Mathematik weniger nah Beruf erfolgreicher. Entwicklung zu unterstützen“,
den Hector Kinderakademien
stehen, erhielten Informationen, durchgeführt, die an 66 Stand- resümiert Thamar Voss, Junior-
die für sie komplett neu waren, orten in Baden-Württemberg professorin für Empirische Schul-
und wurden so zum Nachdenken Kurse für besonders begabte und und Unterrichtsentwicklungs-
angeregt. hochbegabte Grundschulkinder forschung an der Universität
zusätzlich zum regulären Schul- Freiburg.
unterricht anbieten.
4 5SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT
WAS IST Lange, vielleicht zu lange, ist man davon In den letzten Jahrzehnten wurden viele Sowohl Frontalunterricht als auch Grup-
GUTER
(zum Teil erbitterte) Debatten darüber ge- penarbeit können richtig gut umgesetzt
ausgegangen, dass es nicht entscheidend führt, wie gutes Unterrichten auszusehen und wirksam sein – aber auch beide richtig
hat: Frontalunterricht – auf jeden oder auf schlecht. Allein die Tatsache, dass die Lehr-
sei, wie Kinder und Jugendliche unterrich- gar keinen Fall? Sollen die Schülerinnen kraft die Schülerinnen und Schüler zu einer
und Schüler in Gruppen- und Partnerarbeit Gruppenarbeit zusammensetzt, hat noch
UNTERRICHT?
tet werden. Verglichen mit Faktoren wie lernen, oder hält sie das vom Lernen ab? keinen Effekt. Das bedeutet im Umkehr-
Und schließlich die jüngste Kontroverse schluss jedoch nicht, dass Sichtstrukturen
dem familiären Hintergrund seien die Ef- um digitale Medien in der Schule: Während irrelevant sind. Sie eröffnen die Möglichkei-
Tablets für die einen die längst überfälli- ten für das, was auf der Ebene „darunter“
fekte des Unterrichts zu vernachlässigen ge Überwindung der „Kreidezeit“ bringen, passiert. Tablets beispielsweise haben im
befürchten andere die „digitale Demenz“.
– so die verbreitete Meinung. Neuere For-
Sicht- und
schung zeigt hingegen, dass die Qualität
Gruppenarbeit allein Tiefenstrukturen
hat noch keinen Effekt im Unterricht
des Unterrichts einer der wichtigsten Fak-
In der empirischen Unterrichtsforschung Wie bei einem Eisberg ist nur ein
toren für die schulische Entwicklung von kleiner Teil des Unterrichts sicht-
hat sich in den letzten Jahren eine Sicht-
weise durchgesetzt, die diese Kontroversen bar (Sichtstrukturen), während
Schülerinnen und Schülern ist. Allerdings der wesentlich größere Teil unter
relativiert, da sie nicht den Kern des Pro-
blems treffen. Sinnvoller ist es, zwischen so der Wasseroberfläche verborgen
geht man heute davon aus, dass nicht
genannten Sicht- und Tiefenstrukturen zu bleibt (Tiefenstrukturen).
bestimmte Unterrichtsmethoden an sich unterscheiden: Vieles von dem, was heftig
Was sich in der Eisberg-Meta-
diskutiert wird, befindet sich auf der Ebene
pher unter Wasser befindet, wird
wirksam sind, sondern dass es darauf an- der Sichtstrukturen – betrifft also Aspekte,
in der Empirischen Bildungs-
die jeder, der ein Klassenzimmer betritt,
forschung „Lehr-Lern-Prozesse“
Einblicke in den aktuellen Forschungsstand kommt, welche Qualität die in der Klasse sofort erfassen kann: Findet beispielsweise
gerade Projektarbeit oder Frontalunterricht
genannt. Sie sind nicht auf den
Von Benjamin Fauth ersten Blick zugänglich, daher
ablaufenden Lehr-Lern-Prozesse haben – statt? Aktuelle Forschungsergebnisse zei-
braucht es zu ihrer Erfassung be-
gen jedoch, dass es gar nicht so entschei-
sondere Forschungsmethoden.
und hohe Qualität hier auf unterschiedli- dend ist, wie diese Sichtstrukturen ausge-
staltet sind, wenn es um den Lernerfolg von
che Weise zu erreichen ist. Kindern und Jugendlichen geht.
…
6 7SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT
… Unterricht das Potenzial, bestimmte Lernformen überhaupt zu ermöglichen. Ob und wie
diese dann genutzt und ausgestaltet werden, ist eine Frage der Tiefenstrukturen, die auch
als Basisdimensionen von Unterrichtsqualität bezeichnet werden.
Sie adressieren die drei zentralen Ziele von Unterricht: Die Schülerinnen und Schüler müs-
sen erstens aufmerksam und diszipliniert sein, damit Unterricht stattfinden kann. Sie müs-
sen zweitens motiviert sein zu lernen. Drittens sollten sie am Ende einer Lerneinheit die
Feedback per Fragebogen
wesentlichen Zusammenhänge verstanden haben.
Seit einiger Zeit können Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkraft per Fragebogen beurteilen.
Sichtstrukturen: Sowohl Frontalunterricht als Drei Dimensionen von Unterricht
auch Gruppenarbeit können gut und wirksam
umgesetzt sein, aber auch genauso schlecht
Doch längst nicht alle Fragen sind für ein Schülerfeedback geeignet.
Die drei Dimensionen umfassen nun jene Merkmale von Unterricht, die dafür sorgen, diese
und unwirksam. Ziele zu erreichen: Es braucht eine Klassenführung, die den Unterricht klar strukturiert, Stö-
Worauf es ankommt, erklärt Richard Göllner,
rungen rechtzeitig erkennt und so sicherstellt, dass die Zeit für das Lernen verwendet wird.
Um die Schülerinnen und Schüler zu motivieren, ist eine konstruktive Unterstützung durch
die Lehrkraft nötig und eine Atmosphäre in der Klasse, die von Wertschätzung und Respekt
der sich in einer groß angelegten Studie damit befasst.
geprägt ist. Und um Lernen und Verstehen zu ermöglichen, braucht es die kognitive Ak-
tivierung der Lernenden durch intellektuell herausfordernde Aufgaben, die am Vorwissen
anknüpfen, so dass sich die Schülerinnen und Schüler intensiv mit den Unterrichtsinhalten Ist mein Unterricht gut? Welche Dinge ge- Schülerbefragungen tivieren“. Wird dies bejaht, ist nicht klar,
auseinandersetzen. lingen mir, was könnte ich verbessern? Wie ob die Lehrkraft nun gut erklären oder gut
sind fester Bestandteil
hat sich mein Unterricht im Laufe des letz- motivieren kann. Zudem sind die Aussagen
Aufwändige Methoden für belastbare Ergebnisse ten Schuljahres verändert? Fragen wie die-
des Schuljahres sprachlich oft zu komplex, um schnell und
se sind nicht nur aus Sicht der Forschung, eindeutig verstanden zu werden: „Unser
Mittlerweile haben eine ganze Reihe von empirischen Untersuchungen gezeigt, dass diese sondern auch für Lehrkräfte von zentraler An vielen Schulen, wie etwa dem Uh- Mathelehrer nimmt sich Zeit, um einzelnen
Basisdimensionen von Unterricht positiv mit der Entwicklung von Schülerinnen und Schü- Bedeutung. land-Gymnasium in Tübingen (siehe Kas- Schülern nicht verstandene Dinge zu erklä-
lern zusammenhängen – und das nicht nur im Hinblick auf ihre Leistung, sondern auch ten Seite 10), gehören solche Befragungen ren.“ Oder sie spiegeln statt der Beschrei-
auf ihr fachbezogenes Interesse und ihre Motivation. Da man aber die Tiefenstrukturen Um sie zu beantworten, nutzen viele inzwischen zum festen Bestandteil eines bung einer Lehrkraft eher die Meinung oder
– anders als die Sichtstrukturen – nicht direkt beobachten kann, braucht es sehr gute Schulen inzwischen so genannte Schü- Schuljahres und werden von den Schülerin- Einstellung der Schülerinnen und Schüler
Erhebungsinstrumente und zum Teil aufwändige Methoden, um belastbare Ergebnisse zu lerfeedbacks. Dabei bearbeiten Schüle- nen und Schülern sehr ernst genommen. wider: „Mir ist es wichtig, dass meine Lehr-
erhalten: Das können Schüler- und Lehrer-Befragungen zum Unterricht sein, Videoanaly- rinnen und Schüler Fragebögen – etwa kraft den Unterricht an das Tempo der ein-
sen mit begleitenden Tests oder Ratings durch Beobachter im Klassenraum. zum Ausmaß an Unterstützung durch Jedoch nutzen Schulen höchst unterschied- zelnen Schülerinnen und Schüler anpasst.“
die Lehrkraft, zum Unterrichtstempo, zur liche, häufig auch selbst entwickelte Frage-
An der Entwicklung dieser Instrumente und Methoden arbeiten die Wissenschaftlerinnen Verständlichkeit von Erklärungen oder bögen. Dabei handelt es sich vielfach um Mit solchen Fragen wird es schwer, Schüler-
und Wissenschaftler am Hector-Institut in unterschiedlichen Forschungsprojekten (siehe zum Anspruchsniveau von Übungsauf- eine lose Sammlung von Fragen und Aussa- feedbacks sinnvoll zu nutzen, da die Ergeb-
Benjamin Fauth Seite 9 und 14). Zudem untersuchen sie in unterschiedlichen Projekten, welche Effekte gaben. Lehrkräfte können sich auf diese gen, die nicht eindeutig einem Qualitätsbe- nisse nicht wirklich aussagekräftig sind. Die
ist Juniorprofessor für Empirische Bildungsfor- die Qualität des Unterrichts mit neuen Medien auf die Entwicklung von Schülerinnen und Weise in regelmäßigen Abständen Fee- reich zugeordnet werden können: „Meine Lehrkräfte verschenken damit das Potenzi-
schung. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem Schülern hat (siehe Seite 11). Was sie dabei antreibt? Die Frage, worauf es bei gutem Un- dback zur Qualität ihres eigenen Unter- Lehrkraft drückt sich klar und verständlich al, das Feedback für die eigene Unterrichts-
Fragen der Unterrichtsqualität. terricht wirklich ankommt. richts einholen. aus und kann mich für den Unterricht mo- entwicklung zu nutzen.
8 9SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT
… Fragebögen haben sich in
der Praxis bewährt
Dabei gibt es inzwischen zahlreiche Frage-
bögen, die sich in der Praxis bewährt haben.
In der Datenbank zur Qualität von Schule
(DaQS) beispielsweise, die am Deutschen
Institut für Internationale Pädagogische
Forschung (DIPF) in Frankfurt aufgebaut „Es braucht feste Strukturen“
wurde, können Lehrkräfte häufig einge-
setzte Fragebögen einsehen.
3 Fragen an Andrejs Petrowski,
Schulleiter des Uhland-Gymnasiums in
Auch das Hector-Institut hat im vergange- Tübingen, das den vom Hector-Institut
nen Jahr einen Fragebogen zur Erfassung entwickelten Fragebogen im Rahmen
der Unterrichtsqualität aus Schülersicht einer Evaluationswoche eingesetzt hat.
entwickelt. Dieser enthält Fragen aus ei-
ner Vielzahl von Qualitätsbereichen, die die Wie kamen Sie auf die Idee,
Lehrkräfte entweder vollständig oder in Schülerinnen und Schüler um ihr Feedback zu bitten?
Teilen im Unterricht verwenden können.
Guter Unterricht ist uns wichtig. Und
Zunächst wurde der Fragebogen im Rah- der kann nur gelingen, wenn man von
denen Rückmeldung bekommt, die er be-
men einer groß angelegten Studie empi-
trifft.
Schule digital
risch erprobt. Insgesamt nahmen im Som-
mer 2018 knapp 6.500 Schülerinnen und Wie gehen die Schülerinnen und Schüler damit um,
Schüler aus allen Schulformen der fünften ihre Lehrkräfte so frei beurteilen zu können?
bis zehnten Klassenstufe an der Erprobung
teil. Der Vorteil dabei: Der Fragebogen wird
Es kommt darauf an, wie die Befragung
nicht nur empirisch geprüft, sondern es durchgeführt wird. Wenn man es regelmä-
wird gleichzeitig eine Vergleichsgrundlage ßig macht, besteht die Gefahr von Über-
geschaffen, die künftig jede Lehrkraft nut- druss; es muss wohl dosiert geschehen.
zen kann, um die eigenen Befragungser- Und es hängt davon ab, was danach pas-
siert, also ob die Ergebnisse aufgegrif- DIGITALE MEDIEN IM UNTERRICHT SIND UMSTRITTEN.
gebnisse einzuordnen.
fen werden. Es braucht feste Strukturen
sowohl dafür, in welchem Abstand solche DABEI KOMMT ES GAR NICHT SO SEHR AUF DAS OB UND WIE VIEL,
Befragungen stattfinden, als auch für die
Rückmeldungen an die Schülerinnen und SONDERN VOR ALLEM AUF DAS WIE AN.
Schüler.
Von Kathleen Stürmer
Wie sind die Reaktionen im Kollegium,
Aus unserem Alltag sind sie nicht mehr wegzudenken, in deutsche die Wissenschaft selbst hat bisher vor allem untersucht, wie häufig
und was geschieht mit den Ergebnissen?
Klassenzimmer haben sie jedoch im internationalen Vergleich noch digitale Medien im Unterricht verwendet werden, anstatt zu prü-
kaum Einzug gehalten: digitale Medien. Während die Bildungspo- fen, wie sie im Unterricht genutzt werden können, um das Lehren
Richard Göllner Wir erhalten größtenteils viel Zustim-
mung, diskutieren aber auch gleichzei- litik die Ausstattung der Schulen mit der entsprechenden Technik und Lernen sinnvoll zu unterstützen.
ist Senior Researcher und Nachwuchsgruppenlei-
tig darüber, was die richtige Form ist nun mit großen Schritten und milliardenschweren Programmen
ter am Hector-Institut für Empirische Bildungs-
und wie wir als Schule einen einheit- vorantreibt, reißt die Debatte um das Für und Wider der Digitalisie- Ob und unter welchen Bedingungen das gelingen kann, unter-
forschung. Er erforscht unter anderem die Nut- lichen Weg finden. Die Ergebnisse ver- rung nicht ab. Politik, Verbände, Lehrkräfte und Eltern diskutieren, suchen nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Hec-
zung von Schülerbeurteilungen des Unterrichts bleiben bei den Lehrkräften, die selbst
inwieweit unser Bildungssystem Kinder und Jugendliche angemes- tor-Instituts und des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM).
zum Verständnis individueller Lehr-Lernprozesse. entscheiden, wie sie diese nutzen. Wir
fragen nicht nach. Künftig wollen wir sen auf die digitalisierte Umwelt vorbereitet und welche Rolle diese Einige Studien finden im Rahmen des Schulversuchs des Landes
aber Hilfestellung bei der Auswertung in Schule und Unterricht spielen sollte. Baden-Württemberg „tabletBW – Tablets an allgemeinbildenden
è DaQS – Datenbank zur Qualität von Schule: und Umsetzung anbieten und als Schule Gymnasien“ statt, der vom Kultusministerium initiiert wurde. Mit
https://daqs.fachportal-paedagogik.de/questi- gemeinsam agieren. Kritiker stellen oft den pädagogischen Nutzen neuer Medien in Fra- ihm soll auch geprüft werden, welche langfristigen Effekte der Ein-
onnaire ge, ohne dass belastbare Forschungsbefunde dazu vorliegen. Auch satz digitaler Medien im Unterricht hat.
10 11SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT
den individuellen Lernstand anpassen lassen. Und sie können in-
DER SCHULVERSUCH teraktives Lernen fördern, indem sie die Austauschmöglichkeiten
„tabletBW“ zwischen Schülerinnen und Schülern erhöhen.
In den Schuljahren 2016/2017 bis 2020/2021 werden 28
Die Forschung zum Lernen mit digitalen Medien hat in der Ver-
Schulklassen der Jahrgangsstufen 7 bis 9 ausgewählter Gym-
gangenheit dazu beigetragen, solche Potenziale zu erkennen. Ein
nasien in Baden-Württemberg mit Tablets ausgestattet. Wei-
nächster Schritt muss nun darin bestehen, diese Erkenntnisse zu
tere 28 Klassen nehmen als Kontrollgruppe teil.
nutzen, um digitale Unterrichtsmaterialien optimal zu gestalten,
Die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte werden
und zu untersuchen, unter welchen Bedingungen diese so in den
halbjährlich befragt, wie motiviert sie sind und welche kog-
Unterricht integriert werden können, dass sie das Lernen fördern.
nitiven Fähigkeiten sie zur Nutzung digitaler Medien beim
Lernen mitbringen. Außerdem erfassen die Forscherinnen und
Forscher die Art der Nutzung sowie die Unterrichtsqualität.
TIEFENSTRUKTUREN SIND
Zum ersten Messzeitpunkt haben rund 1.100 Schülerinnen
VORAUSSETZUNG
und Schüler sowie 153 ihrer Lehrpersonen an der Befragung
teilgenommen.
Was man bereits weiß: Unabhängig von den verwendeten Werk-
Tablet-Lernprogramme zeugen muss Unterricht so gestaltet sein, dass sich die Schüle-
geben den Schüle- rinnen und Schüler aktiv mit dem Lerninhalt auseinandersetzen
rinnen und Schülern DIGITALE MEDIEN HABEN können. In der Forschung zur Unterrichtseffektivität ist man sich
nach jeder Aufgabe POTENZIAL weitestgehend einig, dass Unterricht an Qualität gewinnt, wenn
ein individuelles Feed- Lehrkräfte Wert auf sogenannte Tiefenstrukturen wie kogniti-
back und unter- Danach zu fragen, ob Tablets, Smartphones und Co. sich generell ve Aktivierung, Klassenführung und konstruktive Unterstützung
stützen so den Lern- positiv auf das Lernen auswirken, kommt der Frage gleich, welches legen (siehe Seite 7).
prozess konstruktiv. Werkzeug sich am besten eignet, um ein Haus zu bauen. Digitale
Medien gelten als kognitive Werkzeuge zur Wissensvermittlung. Und digitale Medien können genau hierbei helfen: Tablet-Lern-
Sie zu verwenden ist nur dann didaktisch sinnvoll, wenn sie einen programme im naturwissenschaftlichen oder sprachlichen Be-
spezifischen Mehrwert zu den Lernzielen leisten oder wenn das reich geben den Schülerinnen und Schülern nach jeder Aufgabe
Lehren und Lernen durch sie effizienter und effektiver wird. ein individuelles Feedback und unterstützen so den Lernprozess
konstruktiv. Virtuelle Experimente und Simulationen in den natur-
Neue Medien haben dabei gegenüber traditionellen ein besonderes wissenschaftlichen Fächern oder dynamisierende Erklärungen im
Potenzial: Mit ihnen lassen sich Lerninhalte multimedial vermitteln, Mathematikunterricht können wiederum einen Beitrag zur kogniti-
indem man beispielsweise Video- und Textformate kombiniert. Sie ven Aktivierung leisten.
können adaptives Lernen unterstützen, da sich Aufgaben rasch an
DAS DIGITALE DIGITALE MEDIEN UND
GESCHICHTSBUCH “MBOOK“ UNTERRICHTSQUALITÄT
è www.tablet-tuebingen.de
Gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Fachdidaktik Will man anhand von Schülerfeedback (siehe Seite 9) he-
und Informatik analysierte das Hector-Institut für Empirische rausfinden, wie sich die Verwendung von digitalen Medien
Bildungsforschung in einer früheren Studie, wie die Nutzung auf die Unterrichtsqualität auswirkt, ist es wichtig, dass die
des digitalen Geschichtsbuchs „mBook“ mit der Kompetenzent- Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, ihre Urteile nicht
wicklung der Lernenden zusammenhängt. auf den gesamten Unterricht zu beziehen, sondern zwischen Kathleen Stürmer
Unterrichtssituationen mit und ohne digitale Medien unter- ist Inhaberin des Lehrstuhls für „Lehr- und Lernarrangements in den
Im Rahmen des Tablet-Schulversuchs wird nun untersucht, wie scheiden können. Im Rahmen des Schulversuchs „tabletBW“ Fachdidaktiken“, der sowohl am Hector-Institut als auch an der Tübin-
man Lehrkräfte am besten darin unterstützt, mit dem mBook wird geprüft, inwiefern Schülerinnen und Schüler die Unter- gen School of Education (TüSE) angesiedelt ist. Ihr Forschungsinteresse
zu unterrichten, und ob Schülerinnen und Schüler damit besser richtsqualität der Stunden, in denen sie mit Tablets arbeiten, liegt in der Verknüpfung der Forschung zur Unterrichtseffektivität mit
lernen. und jener ohne Tablets getrennt voneinander einschätzen. Die der Lehrerforschung. Als Mitglied des Steering Boards koordiniert sie
Befunde zeigen, dass sie mit Blick auf die Klassenführung sehr den Forschungsverbund zwischen Hector-Institut und dem Leibniz-In-
gut in der Lage sind, zwischen den beiden Unterrichtsformen stitut zur lernwirksamen Nutzung von Tablets im Unterricht, der an den
zu differenzieren. Schulversuch tabletBW des Landes Baden-Württemberg angelehnt ist.
12 13SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT SCHWERPUNKT UNTERRICHTSQUALITÄT
hand von Kopf- und Körperhaltung sowie Gesichtsausdruck, wie
Wer ist hier aufmerksam? aufmerksam die Probanden gerade sind.“
Vor allem jungen Lehrkräften fällt es schwer,
immer alle Schülerinnen und Schüler
im Blick zu haben. Computerbasierte Auswertung so gut
wie von Menschenhand
Zuerst muss aber geprüft werden, wie zuverlässig das Tool arbei-
tet. „Wir müssen die computerbasierte Auswertung mindestens
genauso gut hinkriegen, wie wenn sie ein Mensch durchführen
würde“, betont Patricia Goldberg. „Dank der computerbasierten
Auswertung können wir dann den Aufmerksamkeitsstatus über
längere Zeit verfolgen.“ So soll es möglich werden, später in ei-
ner Klasse gewisse Aufmerksamkeitsmuster zu erkennen. Ab-
weichungen von diesem Muster würden dann bedeuten, dass die
Schülerinnen und Schüler gerade nicht aufmerksam sind.
Bis das Tool so weit ist, dass es in der Lehrerausbildung eingesetzt
werden kann, braucht es noch Zeit. Die ihm zugrundeliegenden
Methoden aus der Informatik sind aber bereits für weitere For-
schungsprojekte interessant, um den Zusammenhang zwischen
verschiedenen Unterrichtssituationen und dem Lernerfolg zu un-
tersuchen. Sollten bisher Aufmerksamkeitsmuster in einer Klasse
beobachtet werden, musste das eine Person übernehmen. Deren
Arbeit könnte nun ein Computer leisten. Dass das funktionieren
A U F G E PA S S T !
kann, hat der Informatiker Ömer Sümer bereits mit Daten aus ei-
nem vorangegangenen Projekt bewiesen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus München hatten
Wie gut gelingt es Lehrkräften, ihre Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, die Aufmerksamkeit von Lehrkräften unter die Lupe genommen:
Dazu wurden angehende Lehrkräfte in einer realen Unterrichts-
wo sie benötigt wird? Und umgekehrt: Wie gut erkennen sie, ob ihre Schülerinnen
situation mit einer Eyetracking-Brille ausgestattet, die ihre Au-
und Schüler aufmerksam sind? Ein Feedback-Tool soll helfen. genbewegungen aufzeichnete. Gleichzeitig filmte eine statische
Kamera das Unterrichtsgeschehen. Damit ließ sich zum einen er-
Selten sind alle Kinder einer Klasse aufmerksam. Es wird getuschelt, mieren kann. Auch als Teil der Lehrerausbildung könnte ein solches fassen, wo die Lehrkraft hinschaut, zum anderen ließ sich aber
gekichert, gemalt und geträumt. Dabei ist Aufmerksamkeit eine Tool bereits wertvolle Hinweise liefern, vor allem aber soll es ein auch anhand des Videos erkennen, wie aufmerksam die Schüle-
zentrale Voraussetzung für den Lernerfolg. Aus der aktuellen For- Forschungsinstrument sein. „Mit dem Feedback-Tool ließe sich zum rinnen und Schüler jeweils gerade waren.
schung weiß man, dass sich Lehrkräfte deutlich darin unterschei- Beispiel anhand einer Skala oder mit Farben darstellen, wie auf-
den, wie erfolgreich sie die Aufmerksamkeit ihrer Schülerinnen und merksam die Schüler gerade sind“, erklärt Patrica Goldberg, Dokto- Zunächst wurden die Daten von Hand ausgewertet: Es wurde also
Schüler fördern und lenken. randin am Hector-Institut. ganz einfach gezählt, wie oft die Lehrkraft in welche Richtung
schaut. Dabei wurde deutlich, dass sich die Lehrkräfte stark darin
In der Fachsprache fallen dazu Begriffe wie “Classroom Management” Das ist allerdings momentan noch Zukunftsmusik. Zunächst unterschieden, auf wen sie ihren Fokus richteten, und ihre Auf-
und “Kognitive Aktivierung”. Hinzu kommt, dass Lehrkräfte nicht geht es für das Team aus Bildungsforschern, Psychologen und merksamkeit nur einigen wenigen Schülerinnen und Schüler galt.
immer im Blick haben, wie aufmerksam ihre Schülerinnen und Schü- Informatikern darum, die Voraussetzungen für die Entwicklung Das Feedback-Tool
ler gerade sind, vor allem unerfahrenen Lehrkräften fällt das schwer. eines solchen Tools zu erarbeiten. Ömer Sümer hat nun eben diese Daten mit Methoden des maschi- wird im Rahmen des Projekts „Eine kognitive
nellen Sehens und Lernens analysiert und kam zu den gleichen Schnittstelle zur Verbesserung des Unterrichts:
Schneller erkennen, wer gerade nicht aufmerksam ist Die zentrale Frage: Wie kann man die Aufmerksamkeit von Ergebnissen. „Im nächsten Schritt wollen wir uns das Ganze nicht Analyse der Aufmerksamkeit im Klassenzim-
Schülerinnen und Schülern messen? „Um das herauszufinden, nur quantitativ, sondern auch qualitativ anschauen“, sagt Patricia mer“ am Leibniz-WissenschaftsCampus Tübin-
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Tübingen entwi- filmen wir in unserer ersten Studie zunächst Studierende mit Goldberg. „Wir wollen herausfinden, wie der Aufmerksamkeitsfokus gen entwickelt. Dieser ist ein interdisziplinärer
ckeln daher ein Feedback-Tool, das die Aufmerksamkeit der Schü- mehreren Kameras, während sie ihrer Lehrkraft zuhören“, sagt der Lehrkraft mit dem Aufmerksamkeitsstatus der Schülerinnen und Forschungsverbund des Leibniz-Instituts für
lerinnen und Schüler misst und die Lehrkräfte darüber direkt infor- Patricia Goldberg. „Dann errechnet ein Computerprogramm an- Schüler zusammenhängt.“ Wissensmedien und der Universität Tübingen.
14 15LEAD GRADUATE SCHOOL & RESEARCH NETWORK AUS DEN MEDIEN
Interview aus DIE ZEIT No. 44 vom 25.10.2018 (gekürzte Fassung)
Informatik zum Anfassen IN DER STRESS FALLE
Mit dem lebensgroßen Brettspiel „Schildkröten & Krabben“
Was sie auslöst und wie man wie- Abiturienten stehen also unter dem alten Bundesländern tatsächlich von mehr
unternehmen Grundschulkinder an den Hector Kinderakademien Druck, stets alles zu geben? Stress berichtet. Dagegen scheint das
der herausfindet, erklärt der
erste Schritte im Programmieren Nicht nur Abiturienten, sondern wir alle, Stressempfinden in den ostdeutschen
Bildungsforscher Ulrich Trauwein also auch die Eltern der heutigen Schüler, Bundesländern, die traditionell das acht-
die das Selbstoptimieren durchaus vor- jährige Gymnasium haben, unauffällig zu
leben. Abiturienten sind nicht nur in der sein. Das zeigt erneut: Neben objektiven
INTERVIEW: MADLEN OTTENSCHLÄGER Faktoren kommt es auf die Verarbeitung
Schule mit Druck konfrontiert, sondern in
Hölzerne Krabben und Schildkröten tummeln sich auf einer zwei mal zwei Meter großen allen Lebensbereichen. der Anforderungen an.
Spielmatte, daneben sitzen Grundschulkinder in Zweierteams. Mithilfe von Spielkarten, DIE ZEIT: Herr Trautwein, immer mehr
mit denen sie auf einem Klemmbrett Befehlsfolgen erstellen, steuern sie die Figuren über Schüler klagen über hohen Druck und Betrachtet man allein die Schule: Sie deuteten schon an: Auch die Eltern der
die Matte und unternehmen dabei erste Versuche im algorithmischen Denken. Stress rund ums Abitur. Jammern die nur, Was erzeugt dort Druck? Abiturienten spielen eine Rolle – welche?
oder ist da was dran? Die Abiturnote entscheidet über den Vor 40 Jahren war der Hauptschulab-
„Schildkröten & Krabben“ ist eine Serie von drei lebensgroßen Brett- und Kartenspielen. Die Abiturienten empfinden tatsächlich Zugang zur Hochschule, Aufnahmetests schluss im Wortsinn normal. Dann der
Sie sind Teil des Kurses „Verstehen wie Computer denken“ der Hector Kinderakademien, einen hohen Druck. Studien zeigen, dass spielen eine deutlich nachgeordnete Rolle. mittlere Abschluss. Im Zuge der Bildungs-
an denen besonders begabte Grundschulkinder in Baden-Württemberg gefördert werden. etwa in Baden-Württemberg fast 30 Das ist schon für sich allein ein Stressfak- expansion machten immer mehr heutige
Mit ihnen erarbeiten Dritt- und Viertklässler die Grundlagen des informatischen Denkens, Prozent der Befragten der Aussage „Der tor, extrem kann es aber werden, wenn Abiturienten-Eltern Abitur...
also komplexe Probleme verstehen, sie präzise formulieren und in der Folge systematisch Druck in der Schule ist zu hoch“ zustim- man auf einen Wunschstudiengang fixiert
lösen. Anschließend lernen sie, dieses Denken beim Programmieren anzuwenden. Was sie men. Trotzdem sollte man die Kirche im ist, für den man sehr gute Noten benötigt. ... und erhoffen sich nun von ihren
dafür brauchen, sind mehrere Fähigkeiten: Sie müssen verallgemeinern und abstrahieren Dorf lassen. Zuschreibungen wie »Nie Kindern auch diesen Abschluss?
können, aber auch ein Problem in Teilprobleme zerlegen und algorithmische Lösungsstra- war der Druck höher« stimmen schlicht Dann stresst die Jagd nach Genau. Scheitert das Kind, berührt dies
tegien entwickeln. Und eben dies lernen sie bei Schildkröten & Krabben je nach Spiel auf nicht, sie sind zu ungenau. Es gibt keine Spitzennoten besonders? auch ihre Identität. Wobei gilt: Betonen
unterschiedliche Weise. verlässlichen Daten, die sagen: Der Druck Stress kann durchaus leistungsfördernd Eltern schlicht die Bedeutung von Bildung
ist tatsächlich über die Jahrzehnte hinweg sein. Eine unserer Studien zeigt, dass das und leben diese auch vor, zeigt dies positive
Abstrakte Begriffe werden anschaulich und greifbar gestiegen. In den 1960er-Jahren, vor der Gefühl »Ich muss mich jetzt anstrengen« Effekte. Anders ist es, wenn Eltern kata-
großen Abiturreform, war die Abiturprü- die Schüler wirklich lernen lässt. Aber strophisieren. Nach dem Motto: Ohne
Entwickelt haben das Spiel die Doktorandinnen Katerina Tsarava (Leibniz-Institut für fung objektiv gesehen »stressiger« als wenn das Abitur und seine Anforderungen Abitur bist du nichts. Was ja schlicht nicht
Wissensmedien) und Luzia Leifheit (LEAD Graduate School & Research Network/Wil- heute: Es wurden mehr Fächer geprüft, als unkontrollierbar und überfordernd er- stimmt. Und für den Lernenden und sein
helm-Schickard-Institut für Informatik). „Wir haben mit Schildkröten & Krabben ein und das innerhalb weniger Tage. lebt werden, entstehen negative Gefühle, Lernen ist das extrem schädlich.
nicht-digitales Spiel geschaffen, damit die Spielenden erleben, dass sie informatisches die die Leistungsfähigkeit und das Wohl-
Denken nicht nur im digitalen Kontext brauchen, sondern auch jenseits technologischer Aber? befinden negativ beeinträchtigen. Auch die Abiturienten selbst beherrschen
Anwendungen einsetzen können“, erklärt Luzia Leifheit. Bei den Spielen erfahren die Kin- Das Stressempfinden eines Abiturienten das Katastrophisieren.
der die grundlegenden Prozesse des informatischen Denkens am eigenen Körper, wodurch wird nicht allein von objektiven Fakten Das Abitur ist ja unkontrollierbar! Stimmt. Jemand, der glaubt, für ihn gebe
die abstrakten Begriffe für sie anschaulich und greifbar werden und sie ihre Zusammen- ausgelöst. Wir müssen das Abitur als Jein. Bin ich gut vorbereitet, erlebe ich es nur das Medizinstudium, anders sei das
Luzia Leifheit (oben) erklärt den Grundschul- hänge leichter verstehen können. Und sie profitieren noch weit darüber hinaus: „Solche Gesamtpaket sehen. Als wie stressig die Situation nicht als unkontrollierbar. eigene Lebensglück nicht möglich, sitzt in
kindern, wie sie die Schildkröten und Krabben spielbasierten Lehr- und Lernmethoden können die Leistung der Kinder verbessern“, sagt dieses Paket erlebt wird, hängt von vielen Anders ist es, wenn ich mit dem Lernen der Stressfalle. In einer solchen Situation
steuern können. Leifheit, „und sie dazu motivieren, sich aktiv am Lerngeschehen zu beteiligen.“ Faktoren ab, manche haben sich tatsäch- hinterherhinke oder das Gefühl habe, mein gilt es auch andere Ziele – oder Umwege –
lich verschärft. Fachlehrer bereitet mich oder die Klasse ins Auge zu fassen. Was außerdem Stress
ungenügend vor. auslöst, ist, dass Abiturienten an einem
Das Brettspiel „Schildkröten & Krabben“ wurde bereits ausgezeichnet: Auf der Europäischen Scheideweg stehen.
Welche denn?
Konferenz für Spielbasiertes Lernen im südfranzösischen Sophia-Antipolis gewannen Katerina Wie wirkt sich das achtjährige
Wir leben heute in einer Leistungsgesell-
Tsarava und Luzia Leifheit sowohl den ersten Preis in der Kategorie „Nicht-digitale Spiele“ als auch Gymnasium darauf aus? Nur wer seine Stressfaktoren kennt…
schaft, die permanent und in allen Bereichen
den ersten Preis in der Endrunde des internationalen Wettbewerbs über alle Kategorien hinweg. Zumindest anfangs haben Schüler in den …kann Druck abbauen, genau.
von uns verlangt, uns selbst zu optimieren.
16 17NACHGEFRAGT NEU ERSCHIENEN
Caterina Gawrilow, Marcus Hasselhorn, Ulrich Trautwein,
„Ist die Sprache in Christina Schwenck, Stefan Drewes (Hrsg.)
Schulbüchern zu schwierig,
Frau Berendes?“ Psychologie im Schulalltag
Psychologisches Wissen für die Schule nutzbar gemacht
Damit Schülerinnen und Schüler nicht unter- oder überfordert
Hogrefe Verlag
sind, sollten die Texte in Schulbüchern an ihren Entwicklungs-
stand angepasst sein. Aber ist das in der Praxis so? Um das
Die neue Buchreihe präsentiert in kompakter Form we-
herauszufinden haben wir zusammen mit Detmar Meurers
sentliche Themen der Psychologie im Schulalltag. In den
und seinem Team aus der Computerlinguistik knapp 3.000
Bänden stehen im Wechsel die individuelle Entwicklung
Texte aus 35 Geografiebüchern für die Klassen fünf bis zehn
der Schülerinnen und Schüler bzw. die Lernumgebung und
an Hauptschulen und Gymnasien digitalisiert und analysiert.
das Verhalten der Lehrkraft im Fokus. Empirisch fundierte
und aktuelle modellbasierte Ansätze werden durch Fall-
Dabei haben wir unter anderem ausgewertet, wie abwechs-
beispiele und konkrete Handlungsvorschläge für die Praxis
lungsreich der Wortschatz war, aus wie vielen Wörtern ein
greifbar.
Satz im Durchschnitt bestand und wie oft der Genitiv verwen-
det wird. Anschließend haben wir die Texte der unterschiedli-
Die Reihe wendet sich an alle, die beruflich mit psychologi-
chen Klassenstufen und beiden Schularten miteinander vergli-
schen Aspekten im Schulkontext befasst sind: Lehrkräfte,
chen. Je höher die Klassenstufe, desto komplexer müsste die
Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sowie in der
Sprache sein, nahmen wir an.
Bildungsverwaltung tätige Personen.
Tatsächlich nahm die sprachliche Schwierigkeit der Texte aber
Bisher erschienene Bände:
zwischen den Klassenstufen unterschiedlich schnell zu, und es
• Gesundheit und Wohlbefinden im Lehrerberuf
gab deutliche Unterschiede zwischen den Verlagen. Das lässt
• Emotionale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten
vermuten, dass viele Texte nur bedingt an die Fähigkeiten der
• Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb
Schülerinnen und Schüler angepasst sind.
Ob die Texte tatsächlich zu schwer oder zu leicht waren, konn-
ten wir allerdings mit dieser Studie nicht herausfinden. Es
gibt keine festgelegten Standards, über welche Fähigkeiten IMPRESSUM BILDUNGSHORIZONTE Bildnachweise
Schülerinnen und Schüler in den einzelnen Klassenstufen und Magazin des Hector-Instituts für Titel, S. 4 oben: © contrastwerkstatt / Fotolia
Empirische Bildungsforschung S. 3, 4 unten, 5, 8, 12, 14, 16: Berthold Steinhilber
Schulformen verfügen sollten. Eine höhere Passgenauigkeit S. 4/5 Hintergrund: Stillfx / Fotolia
ist jedoch wünschenswert. Herausgeber S. 6/7: © lenoleum / Fotolia
Eberhard Karls Universität Tübingen S. 9: © Graphicroyalty / Fotolia
Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung S. 11: © DmiT / Fotolia
Denn zu schwere Texte in Schulbüchern überlasten das Ar- Europastraße 6
beitsgedächtnis. Die Schülerinnen und Schüler können die 72072 Tübingen
Telefon 07071 29-73936
Textelemente nicht oder nur bedingt mit den Informationen presse@lead.uni-tuebingen.de
verknüpfen, die der Text vermitteln soll, und haben daher Pro- www.hib.uni-tuebingen.de
bleme, den Text zu verstehen. Zu leicht dürfen die Texte aber Konzept und Redaktion
auch nicht sein, weil der optimale Lerneffekt erst dann eintritt, Ingrid Bildstein (Ltg.), Manuela Mild,
wenn der neue Lernstoff leicht über dem aktuellen Niveau der Prof. Dr. Ulrich Trautwein (V.i.S.d.P.),
Christina Warren
Schülerinnen und Schüler liegt.
Gestaltung und Layout
Gabriele Zumofen
Karin Berendes Verantwortlich für den Druck
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin Daten.Werk GmbH, Berlin
am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung.
Auflage
Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Zusammenhang 11.300
von sprachlichen Kompetenzen und Lern- und
Bildungsprozessen.
18www.hib.uni-tuebingen.de
Sie können auch lesen