Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021

 
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Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Ausgabe 1 2021

Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Editorial

                                                                                                                                      In dem Kinderbuch „Was macht man mit einer Idee“ von Kobi Yamada haftet sich eine
                                                                                                                                      Idee an ein Kind und lässt dieses nicht mehr los. Das Kind möchte der Idee eigentlich
                                                                                                                                      aus dem Weg gehen, sich davor verstecken, denn es hat Angst vor ablehnenden Reak-
                                                                                                                                      tionen und große Unsicherheit, was es mit dieser Idee machen soll. Die Idee fängt aber
                                                                                                                                      an zu wachsen und fordert immer mehr Aufmerksamkeit. Mit zunehmendem Selbst-
                                                                                                                                      bewusstsein des Kindes gibt es der Idee schließlich die notwendige Akzeptanz und
                                                                                                                                      Raum zum Wachsen. So lange, bis eines Tages etwas Außergewöhnliches geschieht…

                                                                                                                                      Auch an mich haftete sich eine Idee. Was zunächst als Flausen abgestempelt wurde,
                                                                                                                                      inspirierte mich zunehmend. Ich hatte durch wunderbare Menschen um mich herum
                                                                                                                                      und durch glückliche Fügungen die Möglichkeit meiner Idee einen Freiraum zum
                                                                                                                                      Wachsen zu geben. Denn ich sah die Chance, durch meine Idee etwas aus meinem
                                                                                                                                      Alltag weiter geben zu können.
                                                                                                                                      Einen Einblick in meine tägliche Arbeit zu schaffen.
Impressum                                                                                                                             Ich sah die Chance Personen eine Stimme zu geben.
                                                                                                                                      Personen, die oftmals schräg angeschaut werden.
                                                                                                                                      Personen, die Vorurteilen ausgesetzt sind.
                                                                                                                                      Personen, bei denen nicht die Talente gesehen werden.
                                                                                                                                      Personen, die vielleicht nicht in die Norm passen.
                                                                                                                                      Personen, um die viele einen großen Bogen machen.
                                                                                                                                      Es war mir klar, dass die Umsetzung meiner Idee nicht leicht werden würde. Aber
                                                                                                                                      ich wollte mich nicht entmutigen lassen. Obwohl ich noch nicht wusste, wie ich
     Ansprechpartner*innen
     Chefredakteurin
                                                                                                                                      alles zeitlich schaffen würde und wie ich schließlich auch die Finanzierung stemmen
     Ulrike Siuda                                                                                                                     würde, stand dennoch fest – ich werde es tun!
     Redaktion                                                                                                                        Ich habe die an mir haftende Idee in die Hand genommen und mit anderen geteilt,
     Christine Frauendorf                                                                                                             so dass sie wachsen konnte. Und jetzt halten Sie hier meine Idee in der Hand:
     Redaktionsteam Hochschule Fulda                                                                                                  Den StraßenDruck.
     Prof. Dr. Nikolaus Meyer & Studierende des
                                                                                                                                      Hierbei handelt es sich nicht um eine klassische Straßenzeitung, welche von
     Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit
     Grafik, Illustrationen & Layout
                                                                                                                                      Wohnungslosen verkauft wird. Die vorliegende Ausgabe ist finanziert durch das
     Ingmar Süß, suess.artwork                                                                                                        Partnerschaftsprojekt „Demokratie leben!“. Mit Inhalt gefüllt werden konnte sie in
     Bilder                                                                                                                           diesem Umfang zudem nur durch die Kooperation mit Prof. Dr. Nikolaus Meyer von
     Johannes Ruppel, JR Photography                                                                                                  der Hochschule Fulda.
     freepik.com                                                                                                                      Bei dieser ersten Ausgabe geht es im Hauptthema um die anstehenden Bundestags-
     privat
                                                                                                                                      wahlen. Sie können unter anderem aber auch etwas über das Kooperationsprojekt
                                                                                                                                      lesen, ein Interview mit einem Wohnungslosen und vieles mehr.
     Wohnungslosenhilfe Haus Jakobsbrunnen                                                                                            Schließlich hoffe ich, dass meine Idee auch an Ihnen haften bleibt, damit es künftig
     Caritasverband für die                                                                                                           weitere Ausgaben geben kann, die dazu führen, dass Vorurteile abgebaut werden,
     Regionen Fulda und Geisa e.V.                                                                                                    Menschen ihre Talente zeigen können, und in denen auch weitere Themen der
     Kronhofstraße 1                                                                                                                  „Straße“ Ausdruck finden können.
     36037 Fulda
     strassendruck@caritas-fulda.de
                                                                                                                                      Ulrike Siuda
                                                                                                                                      Sozialpädagogin B.A. und Kriminologin M.A.

                                                  Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar.                                                                                        3
                                                  Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Inhalt

         Impressum                             02      Bundestagswahl -                              Schlagloch                            29    Obdachlose Menschen auf Youtube -
         Editorial                             03      Wählen für die Straße                 16                                                  ehrliche Hilfe oder Ausbeutung? 38
                                                                                                     Obdachlos - in einer Pandemie 30
         Was ist StraßenDruck?                 06      Obdach- und Wohnungslose                      Ein Blick auf die Obdachlosigkeit aus       Ernährung am Rande der
         Wer sind wir, was steckt dahinter? Was sind   in der Politik                      18        pandemischer Sicht.                         Gesellschaft                          40
         unsere Ziele und woher kommt der Name?        Die Bundestagswahl steht vor der Tür                                                      Ein Besuch bei der
                                                       und somit haben alle Parteien ihre Wahl-      Sehenswürdigkeiten                    32    Bahnhofsmission Fulda
         Wohnungslosigkeit in                          programme veröffentlicht. Diese bein-
         Deutschland                           08      halten wenig bis kaum Forderungen oder                                                    Housing first                     42
                                                       Ideen für den zukünftigen Umgang mit                                                      Bedingungsloses Wohnen für Obdachlose
         Wohnungslosigkeit in                          sozial schwachen Menschen.
         Fulda - eine Umfrage                  09
                                                       Bundestagswahl für alle?               20
         Das Haus Jakobsbrunnen                10      Ein Interview mit Uli Schreiner, Sachge-
                                                       bietsleiter für Wahlen bei der Stadt Fulda.

                                                       Obdachlose in der DDR                 22

                                                       EU-Migrant*innen
                                                       auf der Straße                        24

                                                       Beifahrer*in                      26
                                                       Interview mit einem wohnungslosen             Wie gehen obdachlose Menschen
                                                       Menschen. „Sagen wir mal, ich bin             mit der Ausgangssperre um?  33
                                                       zufällig hier hängengeblieben.“
                                                                                                     Das „neue Normal“                 34
                                                                                                     Die Folgen der Covid-19-Pandemie für
                                                                                                     wohnungslose Menschen.
                                                                                                                                                 Kunst im öffentlichen Raum             45
                                                                                                     Feindliche Architektur                36    Streetart als Instrument für Partizipation?
         Frauen auf der Straße -               12                                                    Was ist das eigentlich? Bei einem Rund-
         unsichtbar und zugleich angreifbar                                                          gang durch Fulda und Frankfurt schien       Kurzmeldungen                         48
                                                                                                     auf den ersten Blick alles ganz gemütlich
         Dein wichtigster Gegenstand           14                                                    und einladend...                            Ein System steht sich
         „100 Leute haben wir gefragt...“                                                                                                        selbst im Weg                         49
                                                                                                                                                 Ein Kommentar

     4                                                                                                                                                                                      5
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Was ist
StraßenDruck?

     Wer sind wir?                                                                                                                                      Unsere Ziele?
     Ein engagiertes Team von Menschen, die Veränderungen anstreben, die schwierige Lebens-                                                             Die Straßenzeitung „StraßenDruck“ soll ihren Anteil zur Aufklärungsarbeit über Wohnungs-
     situationen in Fulda sichtbar machen wollen, um dadurch Verständnis, Aufmerksamkeit                                                                losigkeit leisten und als Sprachrohr für Armutsbetroffene dienen, sowie diesen Hilfe zur
     und Sensibilität bei den Leser*innen zu wecken und wohltuende und wohlwollende Begeg-                                                              Selbsthilfe ermöglichen sowie Hintergründe vermitteln, wie es zu solchen Lebenssituati-
     nungen zu fördern.                                                                                                                                 onen kommen kann, denn auch in Fulda ist nicht alles im grünen Bereich.
     Die erste Ausgabe des inklusiven Projekts der Straßenzeitung „StraßenDruck“ haben wir                                                              Und „StraßenDruck“ will noch mehr: mehr Eindrücke von „unserer“ Stadt Fulda vermit-
     im Rahmen eines Moduls der Hochschule Fulda, unter erschwerten Bedingungen während                                                                 teln, neugierig machen, Perspektivwechsel ermöglichen, sie will spannende Geschichten
     der Corona-Pandemie, erstellt und Artikel für die Zeitung von uns, den Studierenden                                                                vor Ort erzählen, Grenzen zwischen Gesellschaftsgruppen überwinden, Nähe und einen
     des Studiengangs Soziale Arbeit, und anderen Autor*innen in Zusammenarbeit mit der                                                                 Umgang auf Augenhöhe ermöglichen.
     Initiatorin Ulrike Siuda, Mitarbeiterin der Integrierten Wohnungslosenhilfe Haus Jakobs-                                                           Die Zeitschrift „StraßenDruck“ soll eine Bereicherung in jeder Hinsicht darstellen.
     brunnen des Caritasverbands für die Regionen Fulda und Geisa e.V., ausgearbeitet.

     Straßenzeitung, was steckt dahinter?
     Das Anliegen von Straßenzeitungen und auch das unsere ist es, Menschen
                                                                                                                                        „StraßenDruck“: Nomen est omen – Der Name steht für sich
     in prekären Lebenslagen, sozialen Notsituationen und Existenznot, allem
                                                                                                                                        Druck: ein vielschichtiges Wort,
     voran Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit, eine Perspektive zu geben.
                                                                                                                                        das im Kontext einer Straßenzeitung
     Der Verkauf der Zeitung soll den von Armut betroffenen Menschen eine
                                                                                                                                        viele Bedeutungen einnehmen kann:
     Chance bieten langfristig ihre Lebensumstände und Situation zu verbessern.
     Dies soll erreicht werden, indem die Zeitschrift Aufmerksamkeit erweckt,
                                                                                         Fulda - alles im grünen Bereich?
     den Blick auf diese sozialen Problemlagen und auf das Leben am Rande der
     Gesellschaft richtet und schärft, sowie vielleicht zum Nach- oder sogar zum                                             finanzieller DRUCK
                                                                                                                            				beeinDRUCKend
     Umdenken anregt.
                                                                                                                            		 AusDRUCK
                                                                                                                            						EinDRUCK
     Straßenzeitungen gibt es in vielen großen Städten in Deutschland, nun                                                  ÖffentlichkeitsDRUCK
                                                                                                                            				                              GesellschaftsDRUCK
     auch in Fulda: WIR SIND DABEI.
                                                                                                                                 DRUCK als Ursache für Wohnungs- oder Obdachlosigkeit
     Im Gegensatz zu anderen Straßenzeitungen wird der hier vorliegende „Stra-                                              							SuchtDRUCK
     ßenDruck“ nicht von wohnungslosen Menschen in Fulda verkauft. Wir                                                        DRUCK auf der Straße zu leben
                                                                                                                             ZeitungsDRUCK
     möchten mit dieser ersten Ausgabe eine breite Masse erreichen und haben                                                				DRUCKbuchstaben
     uns daher entschieden diese Zeitschrift für jeden kostenlos zugänglich zu                                                        DRUCKstellen
     machen, dies wurde uns durch die Förderung durch das Projekt „Demo-
     kratie leben!“ und durch weitere Sponsoren möglich gemacht.

    6                 Jella Kohlenberg, Judith Wolkenhauer                                                                                                                                                                                     7
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Wohnungslosigkeit                                                                                                                                                                                Wohnungslosigkeit in Fulda – eine Umfrage
in Deutschland                                                                                                                                                                     Wenn Sie den Satz: „Wohnungslosigkeit in Fulda ist…“
                                                                                                                                                                                                beenden müssten, wie würde er lauten?
      Wohnungslose Menschen sind ein Teil unserer
      sozialen Wirklichkeit. Sie sind unter uns und doch
      führen sie ein Leben am Rande. Wohnungslosig-
      keit ist die schlimmste und extremste Form der
      Armut. Beim Gang durch Innenstädte oder Bahn-                                                                                        Wohnungslosigkeit in Fulda ist…
      hofviertel ist bestimmt schon einmal jedem von uns                                                                                    »» „in Fulda sind viele Obdachlose. Sie suchen Wohnungen, auch Familien suchen Wohnungen mit mehreren
      ein wohnungsloser Mensch begegnet. Im folgenden                                                                                          Zimmern, aber die gibt’s nicht oder wenn sind sie sehr teuer.“
      Text möchten wir uns näher mit genauen Zahlen zur                       »» Etwa 193.000 (70 %) der wohnungslosen Menschen             »» „hoch, einfach hoch.“
      Wohnungslosigkeit in Deutschland beschäftigen.                          sind alleinstehend. 82.000 (30 %) leben mit Partner*in        »» „sehr teuer.“
                                                                              und/oder Kindern zusammen                                     »» „auf jeden Fall ein Problem!“
      Was bedeutet Wohnungslosigkeit?                                         »» Die BAG W schätzt die Zahl der Kinder und                  »» „ein Kampf!“
      Der europäische Dachverband der Wohnungslosenhilfe                      minderjährigen Jugendlichen auf 8 % (22.000)                  »» „beängstigend.“
      (FEANTSA) differenziert in seinen Definitionen zwischen                 »» Der Anteil der erwachsenen Männer liegt bei 73 %           »» „nicht überall präsent, aber bestimmt präsent.“
      Obdach- und Wohnungslosigkeit und anderen prekären                      (185.000); der Frauenanteil liegt bei 27 % (68.000)           »» „für viele ein Thema, für viele nicht.“
      Wohnverhältnissen. Als obdachlos gelten demnach alle                  In den letzten Jahren haben sich die Gründe für einen           »» „oh das ist eine gute Frage, …, ist wahrscheinlich vorhanden, ja?!“
      diejenigen, die entweder ohne Unterkunft im öffentli-                 Wohnungsverlust kaum verändert. Bei der Hälfte der doku-        »» „wahrscheinlich stärker verbreitet als gedacht.“
      chen Raum leben oder in Notunterkünften übernachten.                  mentierten Fälle haben die Menschen die Wohnung nach            »» „schwierig zu sagen, weil ich damit so kaum Berührungspunkte habe, ich kann‘s Ihnen ehrlich gesagt nicht sagen.“
      Wohnungslos sind demgegenüber die Menschen, die keine                 Kündigung durch den Vermieter (30 %) oder in Folge von          »» „gegeben.“
      eigene Wohnung zur Verfügung haben, sich jedoch in einer              Räumungsklagen (5 %) und Zwangsräumungen (16 %)                 »» „nach wie vor ein Problem.“
      Einrichtung befinden. Dazu zählen Übergangswohnheime                  verloren. In 66 % der Fälle erfolgte die Zwangsräumung          »» „vorhanden.“
      für Obdachlose ebenso wie Herbergen und Auffangstel-                  aufgrund von Mietschulden, in 7 % wegen Eigenbedarfs
      len für Migrant*innen oder auch die Übernachtung bei                  und in 27,0 % wegen anderer Probleme.                          Wohnungslosigkeit scheint, so lassen sich die Wahrnehmungen der Passant*innen zusammenfassen, einerseits in Fulda
      Freund*innen für einen unbestimmten Zeitraum.                         Ein erheblicher Teil der Betroffenen, knapp 30 %, zieht        spürbar und andererseits doch auch von jeder einzelnen Person weit entfernt zu sein. Eine seltsame Mischung aus Wahr-
      Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutsch-                       ohne Kündigung aus. Bei diesem sog. „kalten“ Wohnungs-         nehmbarkeit und fehlender Zuständigkeit – aus Nähe und Distanz.
      land lässt sich derzeit nur schätzen, da es bis jetzt hier keine      verlust kommt es nicht zur Zwangsräumung, sondern              Möglicherweise ist gerade diese Nähe des Themas Wohnungslosigkeit der Grund, warum Menschen sich mit den damit
      bundeseinheitliche Wohnungsnotfallberichterstattung gibt.             die Mieter*innen, vor allem Alleinstehende, „verlassen“        verbunden sozialen Fragen nur ungern auseinandersetzen wollen. „Es kann jeden treffen – also mich auch!“ Arbeitslosig-
      Am 31. Januar 2022 soll nun erstmals die Zahl der unter-              die Wohnung ohne Räumungsverfahren oder vor dem                keit, Schicksalsschläge, Krankheiten oder auch Überforderung können schnell zum Zusammenbruch eines vermeintlich
      gebrachten wohnungslosen Personen in Deutschland                      Zwangsräumungstermin. „Ein ausschließlicher Blick auf die      normalen Lebens und damit direkt in die Wohnungslosigkeit führen.
      erhoben werden. Mit der Stichtagserhebung der Zahl der                Zwangsräumungszahlen würde Ausmaß und Qualität neu             Aus den Gesprächen in der Fuldaer Innenstadt wird immer wieder deutlich: Die Menschen nehmen wohnungslose
      Wohnungslosen, die Leistungen zur Unterbringung in                    entstehender Wohnungslosigkeit verkennen, deswegen wird die    Menschen wahr.
      Anspruch nehmen, wird eine erhebliche Zahl wohnungs-                  Kategorie ‚ohne Kündigung ausgezogen‘ in unserem Bericht zur   In Fulda haben wir Einrichtungen, die mit wohnungslosen Menschen arbeiten und für sie kämpfen. Wir können sehr
      loser Menschen nicht erfasst, kritisiert die Bundesarbeits-           Lebenslage der Hilfesuchenden regelmäßig erfasst“, erklärte    dankbar für ihre Arbeit sein, aber gibt uns das die Erlaubnis wegzuschauen?
      gemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W): Diejenigen,                  die Geschäftsführerin der BAG W, Werena Rosenke.               Die Frage nach dem „Warum ist das so?“ kann vermutlich nur mit der Thematik Wohnungslosigkeit selbst beantwortet
      die wohnungslos bei Freund*innen und Bekannten Unter-                 In dem jährlichen BAG W-Bericht zur Lage der wohnungs-         werden: Wir wollen uns ungern mit Problemen auseinandersetzten, die uns selbst betreffen können. Und die Aussage „Mir
      schlupf finden, die kurzfristig in der Familie verbleiben             losen Menschen in Deutschland spiegelt sich auch wider:        als Teil der normalen Gesellschaft kann so was ja nicht passieren“ stellt einen vermeintlichen Schutz und daraus schürende
      oder die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben,                   Viele Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, versu-        Distanz und Abwertung gegenüber den wohnungslosen Menschen dar. Dabei würde sich jeder von uns doch wünschen,
      würden weiter nicht gezählt. Lediglich Hamburg hat                    chen zunächst mit eigenen Mitteln, ihre Notlage zu beheben.    dass uns geholfen wird, wenn wir in einer prekären Lage sind.
      zwischenzeitlich drei umfassende Zählungen (2002, 2009                Bevor sie die Einrichtungen und Dienste der freien Träger      Warum verschließen wir dann die Augen vor einem so ersichtlichen Problem? Vielleicht ist es der Gedanke, dass wir versagt
      und 2018) beauftragt: Diese größte Befragung in der BRD               aufsuchten, lebten fast 50 % der akut Wohnungslosen bei        haben, wenn wir zu „den Wohnungslosen“ gehören, in dieser druckbehafteten Leistungsgesellschaft. Aber gibt es überhaupt
      zeigt im Vergleich aller drei Studien, dass die Zahl obdach-          Freund*innen, Bekannten und Familienangehörigen. Erst          „DIE Wohnungslosen“, wenn von einem zum nächsten Moment wirklich jeder von uns in der Situation, wohnungslos zu
      loser Menschen stetig steigt.                                         wenn solche „Zwischenlösungen“ nicht (mehr) funktio-           sein, sein kann? Sicherlich spielt auch die damit einhergehende Scham, nicht den Ansprüchen der Gesellschaft und sich
      Laut der letzten Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft              nieren, landen die Betroffenen in so genannten ordnungs-       selbst gerecht zu werden, mit in dieses Verhalten hinein. Oder zählt es zu gesundem Egoismus, sich von der Wohnungslosig-
      Wohnungslosenhilfe e.V. waren im gesamten Jahr 2018 circa             rechtlichen Unterbringungen (die die Kommunen anbieten         keit abzuwenden, wenn sie einen nicht betrifft? Aber wann betrifft mich dieses Thema nicht? Sind wir nicht eine Gemein-
      678.000 Menschen in Deutschland wohnungslos, das heißt,               müssen, 12 %), oder auf der Straße (22 %).                     schaft, an der jeder teilhaben darf? Das ist in Deutschland doch sogar gesetzlich geregelt. Wo ist unsere kindliche Neugier,
      sie verfügten über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohn-         „Für uns ist dies Hinweis darauf, dass die Hilfen für          wie in der Sendung mit der Maus, wenn es um solche gesellschaftskritischen Themen geht, wie die Wohnungslosigkeit?
      raum. Die meisten davon waren Männer, aber auch immer                 Menschen in Wohnungsnot noch präventiver und
      mehr ältere Menschen, Familien sowie EU-Bürger*innen                  noch erreichbarer aufgestellt sein müssen, um vor dem
      haben keinen festen Wohnsitz. Rund 48.000 Menschen                    Wohnungsverlust intervenieren und die beschriebene
      lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße.                           Abwärtsspirale verhindern zu können“, so Rosenke.

     8                   Prof. Dr. Nikolaus Meyer, Lena Gehl, Jella Kohlenberg                                                                                                                                   Prof. Dr. Nikolaus Meyer, Sarah Herzig               9
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Das
 Haus Jakobsbrunnen
                                               Wie viele Mitarbeiter*innen hat das Haus und in                       Im zweiten Obergeschoss sind die Büros der
 ist eine integrative Wohnungs-                welcher Funktion sind sie eingestellt?                                Sozialpädagog*innen, die sich um die Bereiche
                                                  Es gibt insgesamt sieben festangestellte Mitarbeiter*innen         Wohnheim und ambulant betreutes Wohnen
 loseneinrichtung, welche seit                    (in Teil- und Vollzeit), sechs Sozialarbeiter*innen und            kümmern. Das Wohnheim ist im Haus mit inbe-
 dem Jahr 2000 in der Kronhof-                    eine Verwaltungsfachkraft. Zusätzlich sind sieben                  griffen. Die Klient*innen wohnen auf drei Stockwerken
                                                  Mitarbeiter*innen als Pförtner*innen zur Nachtbereit-              in kleinen Wohngemeinschaften auf Selbstversorger-
 straße 1 in Fulda durch den                      schaft eingestellt.                                                basis zusammen. Das betreute Wohnen unterstützt
                                                  Ich selbst bin in den Bereichen Fachberatung, Tagesstätte,         Klient*innen, die in eine eigene Wohnung gezogen sind.
 Caritasverband für die
                                                  Straffälligenhilfe sowie im Übergangsmanagement in der             Des Weiteren gibt es noch die Bereiche sozialpäda-
 Regionen Fulda und Geisa e.V.                    JVA Fulda tätig.                                                   gogische Betreuung der städtischen Obdachlosenunter-
                                                                                                                     künfte sowie die Haft- und Straffälligenhilfe und das
 geführt wird.
                                               Wann und wie ist das Haus zu erreichen?                               Übergangsmanagement in der JVA Fulda.
 Frau Siuda, Sozialpädagogin                   Gibt es spezielle Öffnungszeiten?
                                                   Das Haus Jakobsbrunnen ist 24/7 besetzt, sodass auch bei      Welche Ziele werden erreicht?
 und Kriminologin in der                           akuter Wohnungsnot zu Randzeiten ein Schlafplatz z.B. im         Aufgrund der vielfältigen Bereiche gibt es unter-
 Wohnungslosenhilfe,                               städtischen Übernachtungswohnheim vermittelt werden              schiedliche Ziele. Generell ist das Hauptziel der
                                                   kann. Die Fachberatung, als niederschwelliges Angebot,           Wohnungslosenhilfe aber die Vermittlung eines
 beantwortete einige                               bietet von montags bis freitags von 09:00-12:00 Uhr              eigenen Wohnraums sowie die Unterstützung beim
                                                   und von 14:00-16:00 Uhr offene Sprechzeiten durch die            Erhalt des eigenen Wohnraums.
 Fragen zu der
                                                   Sozialarbeiter*innen an.                                         Die Zielsetzung ist stets den individuellen Bedürf-
 Einrichtung.                                      Die Tagesstätte hat normalerweise montags bis freitags           nissen und Problemlagen angepasst.
                                                   von 9:00-12:00 Uhr und von 14:00-17:00 Uhr geöffnet.
                                                   Zudem am Wochenende von 13:00-17:00 Uhr.                      Wer kann zu Ihnen kommen und wie viele Plätze
                                                   Während der Pandemie findet eingeschränkter Betrieb           sind im Wohnheim und betreuten Wohnen
                                                   ausschließlich vormittags statt.                              vorhanden?
                                                                                                                     Prinzipiell kann Jede*r zunächst zur Beratung in das
                                               Welche Aufgabenbereiche gibt es im Haus                               Haus Jakobsbrunnen kommen. Erste Anlaufstelle ist
                                               Jakobsbrunnen?                                                        immer die Fachberatungsstelle.
                                                   Die Aufgabenbereiche im Haus Jakobsbrunnen sind sehr              Das Wohnheim bietet Platz für 10 Wohnungslose,
                                                   vielfältig.                                                       im ambulant betreuten Wohnen können bis zu 16
                                                   Die Tagesstätte im Erdgeschoss ist ein offener Treffpunkt         Personen im eigenen Wohnraum unterstützt werden.
                                                   hauptsächlich für Wohnungslose, ehemalige Wohnungs-               Die Aufnahmekriterien für das Wohnheim sind sehr
                                                   lose aber auch für Bedürftige. Generell ist die Tages-            niederschwellig, prinzipiell kann jede*r Wohnungs-
                                                   stätte aber für Jede*n offen. Es können warme und kalte           lose bei freien Kapazitäten aufgenommen werden.
                                                   Getränke sowie kleine Snacks zu sehr geringen Preisen             Voraussetzung ist die Mitwirkungspflicht und die
                                                   gekauft werden. In der Tagesstätte sind fast ausschließlich       Fähigkeit sich weitgehend selbst versorgen zu können.
                                                   Ehrenamtliche tätig.
                                                   Wohnungslose haben zudem die Möglichkeit, unsere              Kann man das Haus durch Spenden unter-
                                                   Sanitäranlagen zu nutzen und Wäsche zu waschen.               stützen?
                                                   Im ersten Obergeschoss ist die Fachberatungsstelle. Es            Die Einrichtung kann sowohl durch Sach- als auch
                                                   handelt sich hierbei um ein niederschwelliges Angebot,            durch Geldspenden unterstützt werden.
                                                   welches auch anonym genutzt werden kann. Wir beraten              Bei Interesse kann man sich gerne direkt an uns
                                                   Personen, die von Wohnungslosigkeit bedroht oder bereits          wenden.
                                                   wohnungslos sind. Meistens ist der Unterstützungsbedarf
                                                   aber umfassender, sodass wir vollumfängliche Beratung                  >>wohnungslosenhilfe@caritas-fulda.de
                                                   anbieten oder auch an andere Fachstellen vermitteln. Was
                                                   eher weniger bekannt ist, ist, dass wir in der Fachberatung
                                                   auch Postadressen für Wohnungslose vergeben können,
                                                   damit diese postalisch für Ämter oder sonstige Stellen
                                                   erreichbar sind. Des Weiteren haben Klienten die Möglich-
                                                   keit bei uns ein Betreuungskonto einzurichten.

10          Anabelle Sauer, Isabell Hartmann                                                                                                                     11
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
„Wenn ich abends und nachts                                                                                                               „Man kuscht, man zahlt, man unterwirft
 obdachlos bin, möchte ich es                                                                                                              sich. Sonst drohen Schläge, Vergewalti-
                                                                                                                                           gung und sogar Tod! Dieses Gesetz der
 wenigstens tagsüber nicht sein“                                                                                                           Straße gilt vor allem für die Frauen […]“
                                                                                                                                           Anne Lorient (2016)

 Frauen auf der Straße – unsichtbar und
 zugleich angreifbar

     Wenn Sie einmal versuchen, sich daran zu erinnern, wie oft            Ein verbreitetes Phänomen bei weiblichen Wohnungs-
     Ihnen beim Schlendern durch die Heimatstadt oder bei einem            losen ist das Couchsurfing – das kostenlose Übernachten
     Städtetrip auf der Straße lebende Frauen bewusst aufgefallen          in Wohnungen bekannter sowie unbekannter Personen. Es
     sind, geht es Ihnen wahrscheinlich wie uns – in unseren Erinne-       bewahrt die Frauen vor der Angst, nachts alleine draußen
     rungen tauchen hauptsächlich Bilder von männlichen Obdach-            übernachten zu müssen und zu jedem Zeitpunkt leichte
     losen auf. Doch nur weil wir sie nicht sehen, heißt das nicht, dass   Beute für einen Übergriff zu sein. Um an einen solchen
     es sie nicht gibt.                                                    Schlafplatz zu gelangen, sprechen wohnungslose Frauen
     Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosen-              oftmals entweder gezielt fremde Männer auf der Straße an
     hilfe zufolge lebten im Jahr 2018 in Deutschland 59.000 erwach-       oder werden umgekehrt von ihnen angesprochen. Es wäre
     sene Frauen ohne Wohnung, damit lag ihr Anteil, gemessen an           nun blauäugig zu denken, dass es sich hierbei um reines
     der Gesamtobdachlosigkeit, bei 27%, Tendenz steigend. Was eine        Übernachten handelt – die Männer erwarten in vielen
     obdachlose Frau in einem Interview mit den Worten „Wenn ich           Fällen körperliche Gefälligkeiten als Gegenleistung der
     abends und nachts obdachlos bin, möchte ich es wenigstens tags-       Frau. Indem sich die Frauen auf diese zweckmäßigen Part-
     über nicht sein“ beschreibt, wird als verdeckte Obdachlosigkeit       nerschaften einlassen, begeben sie sich in eine hochgradige                                                 Gegensätzlich zu den zuvor beschriebenen verdeckt obdach-
     bezeichnet. Viele weibliche Obdachlose wollen nicht, dass man         Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Doch haben sie letztend-                                                    losen Frauen gibt es auch diejenigen, deren Obdachlo-
     ihnen ihre aktuelle Lebenslage direkt ansieht, sie schämen sich.      lich eine Wahl? Ja, zwischen Prostitution und gewaltsamen                                                   sigkeit für jedermann sichtbar ist. Ihr Verhalten wird im
     Saubere Kleidung und ein gepflegtes Äußeres haben weiterhin           Übergriffen.                                                                                                gesellschaftlichen Kontext häufig als eher männlich wahr-
     einen hohen Stellenwert, was sowohl der Wahrung ihrer Würde           Dadurch, dass sie sich in Abhängigkeit begeben und ange-                                                    genommen, da es von Selbstbehauptung und einer offensiv
     als auch ihrer gesellschaftlichen Anerkennung als Frau dient.         sichts ihrer Hilflosigkeit, kehren betroffene Frauen in alte                                                raumgreifenden Verhaltensweise geprägt ist. Entgegen der
                                                                           Muster zurück. Viele von ihnen waren bereits in ihrem                                                       gesellschaftlichen Wahrnehmung steht dies für die Betrof-
                                                                           Elternhaus oder einer früheren Partnerschaft von häusli-                                                    fenen selbst jedoch in keinem Widerspruch zur eigenen
                                                                           cher Gewalt betroffen und leiden ein Leben lang unter den
     „Seltsam paradox mutet es an, dass mich                                                                                                                                           Geschlechtszugehörigkeit. Vielmehr schaffen sie dadurch eine
                                                                           Folgen wie beispielsweise einer Traumatisierung. Um der                                                     Distanz zum klassischen Weiblichkeitsbild, einhergehend mit
     hier draußen, wo ich jetzt lebe, niemand                              damit einhergehenden Ohnmacht zu entfliehen, lassen sie                                                     mangelnder Selbstbehauptung, Abhängigkeit und sexueller
     wahrnimmt, obwohl mich alle sehen.“                                   sich auf ein Leben auf der Straße ein. Dort finden sie genau                                                Verfügbarkeit. Sie wollen als handlungsfähiges Individuum
     Anne Lorient (2016) lebte, nachdem sie mit 18 Jahren                  das, was ihnen ihr Leben seit gewisser Zeit nicht mehr bieten                                               gelten. „Harte Schale, weicher Kern“, so könnte es vereinfacht
     von zu Hause weg lief, nahezu 20 Jahre auf den Straßen                konnte – Selbstbestimmung, Freiheit, Raum und Zeit. Dies                                                    ausgedrückt werden.
     von Paris.                                                            zwingt sie allerdings zum Verzicht auf Schutz.                                                              Frauen auf der Straße sind anders als Männer auf der Straße,
                                                                           Neben häuslicher Gewalt gibt es jedoch zahlreiche weitere                                                   ihre Situation jedoch deswegen keine Abweichung von der
                                                                           Lebensumstände, die ein Leben auf der Straße für Frauen                                                     Norm. Ihre Problemlagen sind nicht weniger beachtungs-
                                                                           begünstigen. Wenn eine Beziehung zerbricht und die Frau                                                     würdig, nur weil man sie nicht sieht, beim Schlendern durch
                                                                           nicht im Mietvertrag der gemeinsamen Wohnung steht, ist                                                     die Stadt nicht direkt wahrnimmt. Wir sollten unseren Blick
                                                                           sie faktisch wohnungslos und steht vor der großen Hürde,                                                    bewusst auf die Situation von obdachlosen Frauen richten
                                                                           bezahlbaren Wohnraum für sich als alleinstehende Person                                                     und dazu beitragen, dass sie nicht gänzlich aus unserem
                                                                           zu finden. Vor dieser Hürde stehen ebenfalls (vorwiegend)                                                   Bewusstsein verschwinden.
                                                                           ältere Frauen, die aufgrund des Todes ihres/r Partner*in und
                                                                           einer zu geringen Rente ihre Wohnung nicht mehr bezahlen
                                                                           können.

12                     Annalena Pforr, Maya Kim Hergenröder                                                                                                                                                                                         13
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
„Dein wichtigster Gegenstand“
                                                                                                         Flaschenöffner   Küchlein                                                                                  Smartphone
Es mögen auf dem ersten Blick nur ein paar Gegenstände sein – nichts besonders
                                                                                           „Weil ich jeden Morgen drei      „Ich habe immer was Süßes dabei, weil                                                     „Da bin ich immer
Wertvolles oder Seltenes – und doch verbindet jeder Mensch damit eine persönliche
                                                                                           alkoholfreie Radler trinke.“     zwischendurch Zucker immer gut ist.“                                                      erreichbar.“
Geschichte.
Taschenmesser                     Schlüssel                           Filmkamera                  Schnupftabak                       Kopfhörer                                     Taschentücher                         Planer
   „Weil es mich nervt, immer was   „Die Ringe sind praktisch, weil      „Ich mache gerne         „Weil es mich                        „Kopfhörer bringen mich runter, ich bin        „Habe ich immer dabei,                „Um meine Termine zu
   zum Schneiden zu kaufen.“        man daran etwas befestigen kann.“    Fotos und liebe alte       beruhigt.“                         oftmals aufgewühlt, das Erden tut mir gut.“    weil ich eine Allergie habe           strukturieren, weil ich
                                    „Weil ich sonst nicht reinkomme.“    Filmkameras.“                                                 „Meine Kopfhörer begleiten mich jeden Tag,     und meine Nase immer                  arbeite und nebenbei
                                                                                                                                       immer wenn ich abschalten will.“               läuft.“                               studiere.“

       14                 Lena Gehl, Judith Wolkenhauer                                                                                                                                                                                   15
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Bundestagswahl - Wählen für die Straße

      Ich wähle dieses Jahr, wie meist, per
      Briefwahl. Damit bin ich bei weitem nicht
      die Einzige, 2017 waren es fast 30%. Woh-
      nungslose Menschen erhalten allerdings
      meistens keinen Wahlschein gesendet,
      da sie keine feste Meldeanschrift haben.
      Haben sie dann überhaupt ein Wahlrecht?
      Und wie gestalten sich Wahlen für woh-
      nungslose Menschen?

                                                  Um in Deutschland wählen zu können, muss man mindestens            Gründe dafür, nicht wählen zu gehen, gibt es für wohnungs-      Es gestaltet sich für obdachlose Menschen also sehr schwierig, Teil
                                                  18 Jahre alt sein, sich seit mindestens drei Monaten in Deutsch-   lose Bürger*innen sicher viele. Ein ganz großer wird immer      der Wähler*innenschaft zu werden. Die Hürden, wie überhaupt
                                                  land aufhalten, darf nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen            wieder genannt: Obdachlose fühlen sich von der Politik          an einen Wahlschein zu kommen und dann auch die Entschei-
                                                  sein und muss die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Auch       nicht gesehen. Auch in dieser Ausgabe des StraßenDruck          dung für eine Partei zu treffen, sind hoch. Die Aufmerksamkeit,
                                                  wohnungslose Menschen, die diese Punkte erfüllen, haben ein        kann man im Folgenden noch lesen, was die großen Parteien       die sie für ihren Aufwand von der Politik zurückbekommen, ist
                                                  Recht, ihre Stimme für die Bundestagswahl abzugeben. Sie sind      in ihrem Wahlprogramm für sozial benachteiligte Menschen        minimal bis nicht vorhanden. Dass viele obdachlose Menschen
                                                  wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger. Dabei spielt es auch       tun wollen: Obdachlose werden darin mit keinem Wort             nichts von ihrem Wahlrecht wissen oder aktiv keinen Gebrauch
                                                  keine Rolle, ob diese eine Meldeadresse haben oder nicht. Jedoch   spezifisch genannt.                                             davon machen, ist also kaum eine Überraschung.
                                                  bekommen sie keinen Wahlschein zugesendet, insofern sie nicht      In den letzten Jahrzehnten hat die Politik sich nicht sonder-
                                                  im Melderegister und damit im Wählerverzeichnis eingetragen        lich um obdachlose Menschen gekümmert. Es hat sich viel
                                                  sind. Wer obdachlos ist und wählen möchte, muss ihn also selbst    geändert und verbessert, dieser Wandel wurde aber eher
                                                  beantragen. Das wissen allerdings nur wenige, und selbst wenn,     durch Initiativen, Vereine, Verbände und andere Zusam-
                                                                                                                                                                                         		               SPICKZETTEL – Wie wähle ich?
                                                  machen es viele des komplizierten Wiederaufnahmeverfahrens         menschlüsse von motivierten Menschen mit Ideen gefördert.
                                                                                                                                                                                         Wählen darf, wer
                                                  wegen trotzdem nicht.                                              Eine Einrichtung, die viele Menschen in Deutschland seit
                                                                                                                                                                                          »» mindestens 18 Jahre alt ist
                                                                                                                     2002 bei ihrer Wahlentscheidung unterstützt, ist der Wahl-
                                                                                                                                                                                          »» die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt
                                                                                                                     O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Doch
                                                                                                                                                                                          »» nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist
                                                                                                                     auch dieser ist nur mit einem internetfähigen Endgerät
                                                                                                                                                                                          »» seit mindestens 3 Monaten in Deutschland lebt
                                                                                                                     interessant und nutzbar. Der Vorteil am Wahl-O-Mat wäre
                                                                                                                                                                                         Wählen ohne Adresse oder festen Wohnsitz?
                                                                                                                     aber, dass er auch kleine Parteien miteinbezieht. Dadurch
                                                                                                                                                                                          Alles was man braucht, ist ein Personalausweis
                                                                                                                     bekämen Menschen, die auf der Straße leben, Zugang zu
                                                                                                                                                                                            (Alternativ: ein anderes Ausweisdokument).
                                                                                                                     mehr als nur den großen Parteien. Vielleicht würden einige
                                                                                                                                                                                          Einen Personalausweis kann man bei der Stadt Fulda
                                                                                                                     dann auch Parteien finden, die mehr ihren Interessen
                                                                                                                                                                                            beantragen, die Fertigstellung kann bis zu
                                                                                                                     entsprechen und dadurch mehr Motivation aufbringen,
                                                                                                                                                                                            3 Wochen dauern.
                                                                                                                     auch an Wahlen teilzunehmen.
                                                                                                                                                                                         Wie komme ich zum Wählen?
                                                                                                                                                                                          »» Antrag auf Eintragung in Wählerverzeichnis
                                                                                                                                                                                              stellen (bis 21. Tag vor der Wahl)
                                                                                                                                                                                          »» Zwischen Briefwahl oder Wahl im Wahllokal
                                                                                                                                                                                              entscheiden
                                                                                                                                                                                          »» Bei Briefwahl: Bis spätestens 3 Werktage
                                                                                                                                                                                              vor der Wahl abgeben

    16           Christine Frauendorf                                                                                                                                                                                                                  17
Magazin über Wohnungslosigkeit & Wahlen - Ausgabe 1 2021
Obdach- und Wohnungslose
 in der Politik                                                                                                                                                                                     FDP
                                                                                                                                                                                                    1948 gegründet, liberal
 Die Bundestagswahl 2021 steht vor der Tür                                                                                     AfD
                                                                                                                                                                                                    Die Schuldenquote des Bundes soll unter 60% gesenkt
 und somit haben alle Parteien ihre Wahlpro-                                                                                   2013 gegründet, rechtspopulistisch, rechtsextrem
                                                                                                                                                                                                    werden. Die Ausgaben für Soziales sollen künftig gede-
 gramme veröffentlicht. Diese beinhalten we-                                                                                                                                                        ckelt werden und höchstens 50% des Bundeshaushaltes
                                                                                                                               Die AfD lehnt Forderungen nach Enteignung, einer Mietpreis-
 nig bis kaum Forderungen und Ideen für den                                                                                    bremse und einem Mietendeckel ab. Der soziale Wohnungsbau
                                                                                                                                                                                                    betragen. Es soll mehr günstiger Wohnraum für Menschen
 geplanten Umgang mit sozial schwachen                                                                                         soll reduziert oder eingestellt werden, stattdessen sollen Einkom-
                                                                                                                                                                                                    mit niedrigem Einkommen zur Verfügung gestellt werden.
                                                                                                                                                                                                    Ein Wohngeld soll Menschen dabei unterstützen, einfa-
 Menschen. Wohnungslose Menschen wer-                                                                                          mensschwache mehr Wohngeld erhalten. Wohneigentum soll
                                                                                                                                                                                                    cher eine finanzierbare Wohnung zu finden.
 den nicht ausdrücklich erwähnt, wohl aber                                                                                     gefördert werden, beispielsweise durch steuerliche Sonderab-
                                                                                                                               schreibungen für die eigengenutzte Immobilie. Menschen, die
 zu Einkommensschwachen und von Woh-
                                                                                                                               lange gearbeitet haben und arbeitslos sind, sollen länger Arbeits-
 nungsnot betroffenen Menschen gezählt.                                                                                        losengeld I erhalten. Die Partei strebt eine Bezugsdauer an, die
 Obdachlose Menschen werden in den Wahl-                                                                                       abhängig von der Dauer der Vorbeschäftigung ist. Eine aktivie-
 programmen nicht erwähnt.                                                                                                     rende Grundsicherung soll Hartz IV ablösen. Dabei soll erzieltes
                                                                                                                               Einkommen nicht mit der Grundsicherung verrechnet werden,
                                                                                                                               wodurch auch geringfügig Beschäftigte stets mehr verdienen
                                                                                                                                                                                                      Bündnis 90/Die Grünen
                                                                                                                               würden als Arbeitslose.
                                                                                                                                                                                                      1993 gegründet, ökologisch, ökonomisch,
                                                                                                                                                                                                      soziale Nachhaltigkeit

                                                                                                                                                                                                      Hartz IV soll durch eine Garantiesicherung ersetzt
 DIE LINKE                                                                                                                                                                                            werden. Der Regelsatz soll dabei umgehend um mindes-
 2007 gegründet, demokratisch-sozialistisch                                                                                                                                                           tens 50 Euro ansteigen. Verschiedene Unterstützungs-
                                                                                                                                                                                                      leistungen sollen durch eine Kindergrundsicherung
 Die Linke möchte durch eine nicht kürzbare Mindest-                                                                                                                                                  ermöglicht werden. Für Gesundheit und Pflege soll
 sicherung Hartz IV ersetzen. Dadurch soll niemand                                                                                                                                                    eine Bürgerversicherung entstehen, in die auch Beamte,
 weniger als 1.200 Euro pro Monat erhalten. Es soll                                                                                                                                                   Selbstständige und Unternehmer je nach Einkommen
 ein neues, sogenanntes Arbeitslosengeld Plus einge-                                                                                                                                                  einzahlen. Mietobergrenzen sollen durch ein Bundes-
 führt werden, das nach dem Bezug von Arbeitslosen-                                                                                                                                                   gesetz Mietpreise begrenzen. Die Mietpreisbremse soll
 geld I greift. Dieses soll 58% des Nettoentgelts plus                                                                                                                                                entfristet werden und eine reguläre Erhöhung von 2,5
 Inflationsausgleich betragen. Menschen, die mehr als                                                                                                                                                 Prozent im Jahr innerhalb des Mietspiegels erlauben.
 30 Jahre in der Arbeitslosenversicherung versichert      CDU
 waren, sollen unbefristeten Anspruch auf Arbeitslosen-   1945 gegründet, christlich-demokratische Volkspartei der Mitte             SPD
 geld Plus haben. Wohnen ist für die Linke ein Grund-                                                                                1863 gegründet, sozialdemokratisch
 recht. Ein Vergesellschaftungsgesetz soll Wohnungen      CSU und CDU wollen ein neues Konzept der kapitalgedeckten
 in öffentliches Eigentum überführen und einen Fonds      Altersvorsorge etablieren. Als Beispiel nennen sie eine Generatio-         Hartz IV soll in ein Bürgergeld umgewandelt werden, das leichter
 zur Rekommunalisierung aufsetzen. Durch eine neue        nenrente für eine Altersvorsorge von Geburt an. Sie stellen keine          zugänglich ist und allen Menschen ein Leben in Würde sichert.
 Wohnungswirtschaftsgesetzgebung soll ein wesentlicher    Forderungen nach einer Anhebung des Renteneintrittsalters. Bis             Vermögen und Wohnungsgröße sollen zwei Jahre lang nicht
 Teil der Miete in Rücklagen für Instandhaltung fließen   2025 sollen über 1,5 Millionen neue Wohnungen in Deutsch-                  überprüft werden, das Schonvermögen wird erhöht. Menschen,
 und das Vorkaufsrecht der Kommunen gestärkt werden.      land entstehen. Die befristeten Abschreibungsmöglichkeiten                 die länger in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, sollen dafür
                                                          beim Mietwohnungsbau sollen als Beteiligungsanreiz verlängert              auch länger Arbeitslosengeld I erhalten und dadurch nicht so
                                                          werden. Zudem möchte die Union Anreize für den Bau von                     schnell auf die Grundsicherung angewiesen sein müssen. Jähr-
                                                          Werkswohnungen schaffen. Mieter*innen sollen vor finanzieller              lich sollen 100.000 neue Sozialwohnungen gebaut werden, um
                                                          Überlastung bei energetischer Sanierung des Gebäudebestandes               Wohnen bezahlbarer zu gestalten. In teuren Gegenden soll ein
                                                          geschützt werden, dazu soll die steuerliche Förderung der ener-            befristetes Mietmoratorium eingeführt werden.
                                                          getischen Sanierung verbessert werden.

18                 Christine Frauendorf                                                                                                                                                                                                                    19
Bundestagswahl für alle?
 Wahlrecht und Wahlmöglichkeiten für Menschen ohne festen Wohnsitz

      Am 26.09.2021 ist es wieder so weit: Der Bundestag wird gewählt. Ein Gespräch
      mit dem Sachgebietsleiter für Wahlen der Stadt Fulda, Herrn Uli Schreiner:

      Herr Schreiner, Sie sind Sachgebietsleiter für              Die meisten Wähler*innen bekommen ihre Wahlbe-                   Erklärung, in der man dies versichert, oder mithilfe         Was denken Sie, woran liegt das?
      Wahlen der Stadt Fulda. Können Sie kurz Ihre                nachrichtigung nach Hause geschickt und werden auto-             von Nachweisen über die Übernachtung in Über-                  Viele bekommen erst am Wahltag selbst von der Wahl etwas
      Aufgaben erläutern?                                         matisch ins Wählerverzeichnis aufgenommen. Wie ist               nachtungsheimen oder regelmäßige Besuche der Zahl-             mit und wollen dann zur Wahl gehen und erfahren dort, dass
         Gerne! Meine Hauptaufgabe während der Wahlen             das für Menschen, die nicht in der Stadt gemeldet sind,          stelle für Nichtsesshafte erfolgen. Wichtig ist, dass wir      sie nicht im Wählerverzeichnis stehen und somit ihre Stimme
         umfasst die komplette Organisation dieser, damit am      aber dennoch wählen wollen? Die tauchen ja nicht im              Wahlscheine erst ausgeben dürfen, wenn das Wähler-             nicht abgeben können. Es fehlt vielmals vielleicht am Inte-
         Wahltag ein reibungsloser Ablauf möglich ist. Dazu       Wählerverzeichnis auf…                                           verzeichnis erstellt ist (ab dem 15. August). Dann ist         resse oder auch an Informationen zur bevorstehenden Wahl
         müssen unter anderem Wahlräume, Stimmzettel und             Für Menschen ohne Wohnsitz in Fulda gibt es auch die          es auch möglich, dass Betroffene bei uns vorsprechen           und den Möglichkeit der Eintragung im Wählerverzeichnis.
         das Wählerverzeichnis vorbereitet werden. Dabei bin         Möglichkeit sich ins Wählerverzeichnis eintragen zu lassen.   und direkt ihre Wahlberechtigung bzw. Briefunterlagen
         ich natürlich nicht allein. Angesichts der vermutlich       Dafür gibt es ein Formular, das man ausfüllen und spätes-     erhalten oder am besten direkt vor Ort wählen. Vom           Wieso ist es denn nicht möglich, dass diese Menschen
         hohen Wahlbeteiligung kommt einiges an Arbeit auf           tens bis zum 05.09.2021 (21. Tag vor der Wahl) einreichen     06.09.2021 bis zum 10.09.2021 wird das Wählerver-            einfach direkt am Wahltag im Wahllokal wählen und so
         uns zu.                                                     muss. Das ist vor allem für sogenannte Auslandsdeutsche       zeichnis öffentlich ausgelegt. Hier kann man prüfen, ob      ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen?
                                                                     relevant, die nicht mehr in Deutschland gemeldet sind, sich   man im Wählerverzeichnis eingetragen ist. Bei offen-             Das ist gesetzlich in der Bundeswahlordnung geregelt. Wahl-
      Eine hohe Wahlbeteiligung würde uns freuen.                    im Ausland aufhalten und dennoch an der Wahl teilnehmen       sichtlicher Unrichtigkeit kann eine Eintragung auch              berechtigt sind alle, die am Wahltag im Wählerverzeichnis
      Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein,                    möchten.                                                      noch bis zum 24.09.2021, 18:00 Uhr, erfolgen.                    eingetragen sind. Alle Personen, die am Wahltag selbst
      damit ich meine Stimme für die Bundestagswahl                                                                                Bei bisherigen Wahlen gab es allerdings erst drei bis vier       vorsprechen und nicht im Wählerverzeichnis eingetragen
      abgeben darf?                                               Und wie ist das für Menschen, die sich in Fulda                  Anträge von Menschen ohne festen Wohnsitz zu Wahlen.             sind, für die können wir dann nichts mehr tun.
          Voraussetzung ist zunächst, dass ich im Wählerver-      aufhalten, jedoch keinen festen Wohnsitz haben?                                                                                   Für Anliegen und Fragen rund um die Wahlteilnahme steht
          zeichnis eingetragen bin. Um im Wählerverzeichnis der      Auch Menschen ohne Meldeadresse können sich ins Wähler-                                                                        das Wahlamt Fulda in der Schlossstraße 1 gern zur Verfügung.
          Stadt Fulda eingetragen werden zu können, muss mein        verzeichnis eintragen lassen. Hier muss belegt werden, dass
          Wohnsitz am 42. Tag vor der Wahl in Fulda gewesen          sich die Personen überwiegend im Gebiet der Stadt Fulda
          sein, also am 15. August.                                  aufhalten. Dies kann entweder durch eine eidesstattliche

    20                Janis Herrmann, Klara Heckeroth                                                                                                                                                                                                          21
Obdachlose
        in der DDR

 In der DDR gab es keine arbeitslosen Menschen im heutigen Sinne,                                                        verschleierte – neben ihrer massiven Unterdrückung – die Existenz sozial
 sowohl Männer als auch Frauen waren eingebunden in die Berufswelt.                                                      ungleich stehender Menschen. Grundlage für die Strafverfolgung obdach-
 Alle Menschen, Gesellschaftsschichten und Geschlechter waren gleich-                                                    loser Menschen lieferte ab 1968 der §249 des StGB, der sogenannte
 berechtigt. Doch wie stand es um obdachlose Menschen? Existierten sie                                                   „Asozialenparagraph“. Bestraft wurde die „Gefährdung der öffentlichen
 einfach nicht oder fielen sie aus dem sozialistisch-idealistischen Welt-                                                Ordnung durch asoziales Verhalten“. Dazu zählten unter anderem Pros-
 bild?                                                                                                                   titution und Betteln. Bis 1984 herrschte Arbeitspflicht, Nichtarbeit galt
 Von 1949 bis zum Mauerfall am 9. November 1989 war Deutschland                                                          als Parasitentum und permanente Entwendung von Volksvermögen.
 gespalten, in DDR und BRD. Vieles war Menschen in der DDR unter-                                                        Berufs- und Obdachlosigkeit waren ordnungswidrig. Aktive Teilnahme
 sagt, der Alltag war von hoher Vorsicht, Angst vor freier Meinungs-                                                     am Aufbau des Sozialismus war Recht und Pflicht zugleich. Auch Jugend-
 äußerung und Verzicht geprägt. Und doch finden sich immer wieder                                                        liche, die beispielsweise nicht arbeiten wollten, mussten in Umerzie-
 Aussagen darüber, dass man in der DDR viele Vorzüge genoss. So gab                                                      hungslager, sogenannte „Jugendwerkhöfe“. Eine bewusste Entscheidung
 es genug Kindergartenplätze, Frauen durften und konnten arbeiten                                                        für nicht gesellschaftskonformes Leben stand nicht zur Diskussion und
 gehen, es gab soziale Absicherung für Jede*n. Der westdeutsche                                                          die entsprechende Person wurde als arbeitsscheu abgewertet. Arbeits-
 Obdachlose galt als Beispiel für die Nachteile des Kapitalismus. Wo,                                                    lager und andere freiheitsberaubende Einrichtungen und Maßnahmen
 zwischen all diesen anscheinend rosigen sozial-gesellschaftlichen Gege-                                                 wurden zur Abschreckung und Repression genutzt. Als asozial geltendes
 benheiten, waren da die Obdachlosen? Gab es sie überhaupt, wenn es         Ursprünglicher Wortlaut §249 StGB:           Verhalten sollte korrigiert werden. Um obdachlose Menschen dem Stra-
 doch hieß, niemand musste auf der Straße leben?                            (1) Wer das gesellschaftliche Zusam-         ßenbild zu entziehen, wurden sie staatlichen Unterkünften und damit
 In der Zeit des Nationalsozialismus wurde „Asozialität“, und damit auch    menleben der Bürger oder die öffent-         menschenunwürdigen Wohn- und Lebensräumen zugewiesen. Im Laufe
 obdachslose Menschen, in Deutschland verfolgt. Sie wurden teilweise        liche Ordnung dadurch gefährdet, dass        der nächsten beiden Jahrzehnte verschärfte sich auch die Entsolidarisie-
 zwangssterilisiert, kamen in Arbeitshäuser, Gefängnisse und schließlich    er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten    rung und Abgrenzung nach unten. Schlussendlich gab es Obdachlosig-
 auch in Konzentrationslager. Zwar drohten den wenigen Überlebenden         Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er        keit in der späteren DDR nicht mehr. Grund dafür war aber nicht das
 nach der Freilassung 1945 keine tödlichen Konsequenzen mehr, die           arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitu-     Nichtvorhandensein von Missständen im Sozialsystem oder ein fürsorgli-
 Stigmatisierung der „selbstverschuldeten Obdachlosigkeit“ blieb jedoch     tion nachgeht oder wer sich auf andere       ches Miteinander. Es war allein das Wegsehen und Verurteilen sowie die
 bis in die 60er Jahre gesamtgesellschaftlich bestehen.                     unlautere Weise Mittel zum Unterhalt         Unterdrückung sozial schwacher, nonkonformistischer Individuen seitens
 1961 begann der Bau der Mauer, und zeitgleich auch die zunehmende          verschafft, wird mit Verurteilung auf        des Staates.
 Kriminalisierung obdachloser und anderer als „asozial“ geltender           Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeits-                      Fakten am Rande:
 Menschen. Zwar sorgte der Staat für Wohnungen und Arbeit,                  erziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu                    » In der BRD bezeichnete man Obdachlose als „Nichtsesshafte“
                                                                            zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf                    » In der DDR bezeichnete man Obdachlose als „Asoziale“
                                                                            Aufenthaltsbeschränkung und auf staat-                       » Obdachlos heißt, ein Mensch lebt ohne festen Wohnsitz oder
                                                                            liche Kontroll- und Erziehungsaufsicht                          Unterkunft und der Großteil des Lebens findet auf der Straße statt
                                                                            erkannt werden.                                              » Wohnungslos heißt, ein Mensch lebt ohne Mietvertrag, oft in
                                                                            (2) In leichten Fällen kann von                                 Einrichtungen, in denen er/sie zeitlich begrenzt wohnen kann
                                                                            Maßnahmen der strafrechtlichen Verant-                          oder kurzeitig bei Freunden, Bekannten und Familie
                                                                            wortlichkeit abgesehen und auf staat-
                                                                            liche Kontroll- und Erziehungsaufsicht
                                                                            erkannt werden.
                                                                            (3) Ist der Täter nach Absatz 1 oder wegen
                                                                            eines Verbrechens gegen die Persönlich-
                                                                            keit, Jugend und Familie, das sozialisti-
                                                                            sche, persönliche, oder private Eigentum,
                                                                            die allgemeine Sicherheit oder die staat-
                                                                            liche Ordnung bereits bestraft, kann auf
                                                                            Arbeitserziehung oder Freiheitsstrafe bis
                                                                            zu fünf Jahren erkannt werden.

22                Christine Frauendorf                                                                                                                                               City photo created by wirestock - www.freepik.com   23
EU-Migrant*innen auf der Straße

  „In Deutschland gibt es immer Arbeit“
  oder „In Deutschland gilt Recht und
  Gesetz“: Mit solchen Hoffnungen
  oder Erwartungen kommen viele
  EU-Ausländer*innen nach Deutschland.
  Das zeigt eine Studie aus Frankfurt am
  Main, wo rund zwanzig Personen im
  Rahmen von Bachelorarbeiten auf der
  Straße befragt wurden.

  Besonders häufig kommen EU-Ausländer*innen in Groß-             Gerade der Anteil obdachloser EU-Bürger*innen              Der katholische Pfarrer Peter Kossen unterstützt         Damit setze sich das Erpressen und Demütigen weiter fort.
  städte oder Regionen, wo Arbeiten auf dem Bau, in Schlacht-     steigt, weil sie als solche erst nach fünf Jahren          diese Aussage: Er kämpft im Bistum Münster gegen         „Es hat sich etwas verändert. Aber gleichzeitig gibt es massive
  höfen o.ä. zu finden sind. Doch viele scheitern und landen      Aufenthalt in Deutschland Anspruch auf Sozial-             Ausbeutung und moderne Sklaverei in der Fleisch-         Bemühungen der Fleischindustrie die Lücken in den gesetzlichen
  auf der Straße, ohne Anspruch auf Unterstützung – bundes-       leistungen hätten. Viele Arbeitsmigrant*innen aus          industrie. „Oft müssen die Arbeiter aus Rumänien,        Vorgaben zu finden und diese auch auszunutzen. Was ganz deut-
  weit etwa 50.000, so schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft      der EU würden aber unter Vorspiegelung falscher            Bulgarien und Polen sechs Tage die Woche für zwölf       lich wird: Ich kann keine Haltungsänderung erkennen gegen-
  Wohnungslosenhilfe (BAG W). Eine große Zahl dieser              Tatsachen nach Deutschland gelockt, so berichtet           Stunden pro Tag in den Schlachtbetrieben arbeiten;       über den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die vorwiegend
  Menschen, mehrheitlich aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten,    der DGB: Oft würden den Menschen gefälschte                für einen Stundenlohn, der bei rund fünf Euro liegt.     aus Osteuropa stammen.“ Kossen wünscht sich stattdessen
  lebt dabei auf der Straße. Inzwischen prägen wohnungslose       Dokumente vorgelegt, die sie glauben machen,               In den Unterkünften teilen sich manche zu dritt          eine Haltungsänderung in der Gesellschaft: „Man könnte
  EU-Bürger*innen in vielen Städten in Deutschland das Bild       dass sie regulär in Deutschland angemeldet seien.          eine Matratze. Das können wir als Gesellschaft doch      ja auch sagen: Wir wertschätzen die Menschen, die zu uns
  der Straßenobdachlosigkeit, berichtet die BAG W. Bei niedrig-   Aber auch der Wunsch, der Obdachlosigkeit in den           nicht wollen?“, fragt sich Kossen im Interview mit       kommen und die eine Arbeit machen, für die wir hier nur
  schwelligen Angeboten der Wohnungslosenhilfe, insbesondere      Heimatländern oder extrem widrigen Lebensum-               dieser Zeitung. Trotz einer Gesetzesinitiative der       schwer Personal finden. Stattdessen ist es nach wie vor
  denen der Großstädte, mache die Gruppe der wohnungs-            ständen in ihren Heimatländern zu entkommen sei            Bundesregierung habe sich die Situation für die          ein menschenverachtendes System, in dem die Arbeiter
  losen EU-Bürger*innen inzwischen wenigstens die Hälfte der      groß. „Auf der Straße zu leben ist kein Spaß – auch        Arbeitsmigrant*innen aus der EU kaum verbes-             verschlissen werden wie Material.“
  Klientel aus, bei den Übernachtungsmöglichkeiten der Kälte-     nicht in Deutschland! Stellen Sie sich also mal vor, wie   sert. „Positiv ist zum Beispiel die Verabschiedung des
  hilfe liege die Belegungsquote der EU-Bürger*innen laut BAG     schlecht die Lebensumstände in den Heimatländern           Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Dadurch ist die Werk-
  W bei bis zu 80 Prozent.                                        waren, dass man sich für ein Leben auf der Straße          vertragsarbeit ganz verboten und die Leiharbeit in
                                                                  in Deutschland entscheidet“, sagt Bruder Michael           Teilen. Das ist aber auch nur ein erster Schritt. Ich
                                                                  Wies. Der Kapuziner leitet in Frankfurt am Main            bin sehr froh darüber, aber konkret bedeutet das
                                                                  das Liebfrauenkloster sowie den Franziskustreff, wo        auch, dass erst einmal nur die Leute in Schlachthof
                                                                  wohnungslose Menschen Frühstück und Sozial-                und Zerlegung davon profitieren. Die Menschen in
                                                                  beratung erhalten.                                         Reinigungsdiensten, der Verpackung oder Logistik der
                                                                                                                             Fleischindustrie nicht.“

 24                Prof. Dr. Nikolaus Meyer                                                                                                                                                                                                         25
Beifahrer*in
Interview mit einem wohnungslosen Menschen                                                                                                                      Havelland

                                                                                                                                                                                                            Berlin

                     Es ist ein lauer Freitagmorgen. Die Vögel zwitschern und Fulda blüht
                     gerade auf. Wir machen uns auf den Weg zur Tagesgeldstelle in der
                     Weimarer Straße, um dort jemanden für ein Interview zu finden. Hier
                     angekommen, treffen wir auf drei obdachlose Menschen. Nach einem
                     kurzen Plausch erklärt sich Kai (Name geändert) für ein Interview be-
                     reit und läuft mit uns zum Haus Jakobsbrunnen.
                     Er ist hager, spricht langsam mit einem norddeutschen Dialekt und                   Magdeburg
                     macht einen entspannten Eindruck auf uns. Auf dem Weg erzählt er,
                     dass er ursprünglich aus Brandenburg kommt und seit Ende 2019 in
                     Fulda lebt. Jetzt ist er 37 Jahre alt. Auf die Frage, wie er nach Fulda kam,
                     antwortet er mit
                                 „sagen wir mal, ich bin zufällig
                     hier hängen geblieben“.
                     Wir setzen uns in den Garten auf zwei Bänke und beginnen mit dem
                     Interview.

                                                                                                    Seit wann bist du wohnungslos?                              Wie sieht ein Tag bei dir aus?
                                                                                                        Eigentlich die ganze Zeit über, Ende 2019 bin ich von      Morgens erstmal die nächste Toilette aufsuchen, *lacht*
                                                                                                        meinen Eltern abgehauen und hab zwischendurch              dann treffen wir uns da unten, oder ich geh mal Brote holen
                                                                                                        mal 3 Monate ne Wohnung gehabt, aber das hat nicht         oben bei den Schwestern. An manchen Tagen passiert auch
                                                                                                        gepasst… also das war ne WG gewesen und wir haben          gar nichts, je nachdem wie man drauf ist.
                                                                                                        uns nicht verstanden.
                         Kassel                                                                                                                                 Wo bekommst du dein Essen her?
                                                                                                    Wieso bist du aus der WG raus?                                 Also ich krieg Geld vom Jobcenter auf mein Konto, damit
                                                                                                       Sag ma mal, die ham sich gegen mich verschworen, kurz       kann ich mich versorgen und geh einkaufen.
                                                                                                       nachdem ich draußen war, sind gleich ihre Verwandten
                                                                                                       eingezogen. Ja, ich schätze mal mit Absicht. Also mit    Hast du einen „festen Schlafplatz“ oder wanderst du?
                                                                                                       WGs bin ich vorsichtig, dann lieber n Einzelzimmer.         Ne, das wechselt, je nach dem wo ich gerade bin. Kann mal
                                                                                                                                                                   ne Tiefgarage sein, kann mal ne Bushaltestelle sein, is egal.
                                                                                                    Gab es einen Punkt, an dem dir der Satz „jetzt bin
                                                                                        Erfurt      ich obdachlos“ vollkommen bewusst wurde?                    Hast du manchmal Angst, wenn du auf der Straße
                                                                                                        Ja, ich hab das schon bewusst wahrgenommen in dem       schläfst?
                                                                                                        Moment wo ich abgehauen bin.                               Nö, bis jetzt noch nicht, also ich bin ja nich der Kleenste von
                                                                                                                                                                   da her. *lacht* Bis jetzt hab ich noch keine schlechten Erfah-
                                                                                                    Hattest du da ein Ziel vor Augen?                              rungen gemacht. Es gibt zwar Leute, die sagen „Sie dürfen
                                                                                                       Nein, einfach nur weg.                                      hier nicht schlafen“, aber dann geh ich halt woanders hin.

                                                                                                    Wie ist das Leben auf der Straße so für dich?               Und was trägst du dann immer bei dir?
                                                                                                       Naja, nich einfach manchmal, aber eigentlich kommt          Meistens Wechselsachen und was zum Essen.
                                                                                                       man hin. Gibt Leute die gucken komisch, sag ma mal
                                    Fulda                                                              so. Lauter so ne Sachen.

  26           Emelie Brehm, Hanna Dosch                                                                                                                                                                                           27
Schlagloch

 Was ist dein wertvollster Besitz?                                    Was bedeutet dasselbe?
   *es tritt eine kurze Stille ein*                                     Entweder brauchen sie ne Wohnung oder sie brauchen
   Nein, da fällt mir nichts ein.                                       ne Arbeit um ne Wohnung zu kriegen, wie ein Teufels-
                                                                        kreis einfach.
 Hast du noch Kontakt zu deiner Familie/Verwandten?                                                                                  Wir gleiten auf glatt asphaltierten            Ich komme aus dem Supermarkt, vor           sich bestimmt!? Aber woher weiß ich, dass
    Familie selten. Mein Bruder ist im Gefängnis.                     Und hast du eine abgeschlossene Ausbildung oder                Straßen dahin, hängen unseren Ge-     mir sitzt ein Obdachloser. Ich würde ihm ja          er nicht heute schon fünf belegte Bröt-
                                                                      ähnliches?                                                     danken nach, genießen unser Leben.    mein Wechselgeld in den knittrigen Pappbe-           chen bekommen hat? Vielleicht ist er auch
 Da ist es wohl schwierig den Kontakt zu halten, oder?                   Ja, ich bin gelernter Landwirt.                                                                   cher werfen. Neben dem geschätzt Endfünfziger        Vegetarier, mag keine Butter oder ist aller-
     Ja, das geht zwar mit Briefe schreiben, aber ist auch nicht so                                                                               RUMMS - Schlagloch.      stehen aber zwei leere Bierflaschen. Kauft er sich   gisch gegen Weizenmehl?
     einfach. Ich hab jetzt ein Postfach im Haus Jakobsbrunnen,       Möchtest du wieder in deinem alten Beruf arbeiten?             Wir schrecken hoch, der Puls auch.    von meinem Geld nur den nächsten Alkohol?
     aber er weiß das noch nich.                                         Ja, aber ich wär auch für was Neues bereit, aber darf       Doch nicht alles so glatt? Wie ein    Oder verwendet er es für etwas Sinnvolles? Ich                Ich könnte ihn auch einfach
                                                                         nicht zu weit entfernt sein von dem ursprünglichen          Schlagloch soll diese Rubrik wach-    zögere, stecke das Geld wieder ein und gehe          ansprechen und fragen, was er gerade drin-
 Wie hast du das Haus Jakobsbrunnen kennengelernt?                       Beruf.                                                      rütteln und Missstände in unserer     weiter. Aber die Frage lässt mich nicht mehr los.    gend braucht. Oder ich lege ihm einfach
    Über Leute, die mir das erzählt haben.                                                                                           vermeintlich heilen Welt zeigen,                                                           meine 78 Cent in den knittrigen Pappbe-
                                                                      Wie, würdest du sagen, sind die Leute hier in Fulda?           und das ist manchmal ganz gut.                  Was ist überhaupt „sinnvoll“ für eine*n    cher, denn wer bin ich schon, jemandem
 Kommst du regelmäßig dort hin?                                          Also die, die ich kennengelernt habe, sind zum größten                                            Obdachlose*n? Was braucht er/sie? Und geht es        vorschreiben zu wollen, was gut für ihn/
    Ja, wenn ich ein Gespräch habe oder meine Post abhole.               Teil freundlich, gibt zwar auch Ausnahmen, aber naja.                                             mich überhaupt etwas an, was mit meinem Geld         sie ist?
                                                                                                                                                                           gemacht wird? Auch ich trinke gerne ab und zu
 Nimmst du auch Angebote wie Duschen und Wäsche                       Wie sind deine Erfahrungen mit fremden                                                               ein Bier, manchmal auch mehr als eines. Ist das                Wenn es um Spendenbereit-
 waschen wahr?                                                        Menschen?                                                                                            das Gleiche wie bei dem Herrn vor dem Super-         schaft geht, sind wir ziemlich gut. Am
    Bis jetzt noch woanders gemacht, aber ich werde es die               Also eigentlich recht positiv, na jut, es gibt natürlich                                          markt? Ist es nicht ziemlich anmaßend von mir,       leichtesten fällt es uns, wenn wir für etwas
    nächste Zeit hier machen.                                            auch einzelne, die sagen „eh guck mal die da an“, gibt                                            ihm eine Alkoholsucht zu unterstellen oder ihm       spenden, das wir nicht direkt sehen, aber
                                                                         aber auch viele, die einem Mal was zustecken, sag ma                                              indirekt sogar vorschreiben zu wollen, was er mit    das wir als gut (kontrollierbar) empfinden.
 Was motiviert dich morgens immer aufzustehen?                           mal so.                                                                                           „meinem“ Geld kaufen darf?                           Wenn wir beispielsweise für ein Auffors-
   Dass es vielleicht mal besser wird.                                                                                                                                                                                          tungsprojekt im Regenwald spenden,
                                                                                                                                                                                     Ein Wohnungsloser in Hamburg               dann tun wir etwas Gutes, auch wenn
 Bei was wünschst du dir eine Verbesserung?                                                                                                                                hat mir diese Situation vor einigen Jahren           umgerechnet unser kompletter Spenden-
     Ich wünsch mir erstmal ein kleines Zimmer und dann kann                                                                                                               vergleichbar geschildert: Wenn ich ihm etwas         betrag in Verwaltungskosten oder Öffent-
     ich mich auf die Suche nach Arbeit machen. So bekomm ich                                                                                                              geben will, dann sollte ich das ausschließlich       lichkeitsarbeit des Vereins fließt, und
     auch wieder Struktur. Es gibt manchmal Tage, da ist man                                                                                                               aus dem Grund tun, weil ich etwas Gutes tun          davon kein Cent in Pflanzen, Wasser oder
     stundenlang unterwegs und dann gibt es wieder Tage da sagt                                                                                                            will. Sobald ich darüber nachdenke, wie das          andere vermeintlich wichtigere Dinge.
     man „ach, leckt mich am Arsch“.                                                                                                                                       Geld vielleicht eingesetzt werden wird, werte        Aber ohne unsere Spende würde es diesen
                                                                                                                                                                           und urteile ich ja schon über diesen Menschen.       Verein vielleicht gar nicht (mehr) geben.
 Unterwegs sein heißt für dich?                                                                                                                                            Aber vielleicht ist es ja gerade das Beste für den   Und zurück zu dem Menschen vor dem
    Durch Fulda laufen oder mit dem Bus fahren oder mal ein                                                                                                                Obdachlosen, wenn er sich von meinem Geld            Supermarkt: Ohne unsere Spende würde
    Fahrrad ausleihen, auch mal ein bisschen weiter weggucken.                                                                                                             eine Flasche billigen Alkohol kaufen kann, weil      es diesem Menschen auch schlechter
                                                                      Zum Schluss fragen wir ihn, ob er noch                                                               er starker Alkoholiker ist und es ihm ohne den       gehen, ganz egal ob er das Geld in Alkohol,
 Hast du eine Bindung zu Fulda und möchtest hier eine
                                                                      etwas für unsere Fuldaer Leser*innen                                                                 Alkohol deutlich schlechter gehen würde. So          in Brötchen, einen neuen Schlafsack oder
 Wohnung finden?
    Ja.
                                                                      loswerden möchte. Er überlegt kurz                                                                   würde ich jemandem etwas Gutes tun, etwas, das       in Bitcoins investiert.
                                                                                                                                                                           in meinem Weltbild nicht gut ist, für diejenige/
                                                                      und antwortet:
                                                                                                                                                                           denjenigen aber schon. Aber ich soll ihn ja auch               „Helfen statt Erziehen“, das wäre
 Gibt es Unterstützungsmöglichkeiten, die du dir von
 der Stadt Fulda wünschen würdest?
                                                                      „  Sagen wir mal, es gibt ne hohe Dunkelziffer hier in                                               nicht erziehen, sondern ich will ihm helfen.         also eine mögliche Überschrift für diesen
                                                                                                                                                                                                                                Text. Möchte ich helfen, dann helfe ich –
                                                                      Fulda, was Obdachlose betrifft. Die Leute sollten vielleicht
     Ja, dass die n bisschen mehr bei der Arbeitssuche helfen.                                                                                                                      Vielleicht überwiegt ja nach einigem        selbstlos und unkommentiert.
                                                                      mal mehr hinschauen und Hilfe anbieten, einfach mit offe-
     Ich habs schon über private Arbeitsvermittler probiert, aber                                                                                                          Abwägen auch der Wille, ihm helfen zu wollen,
                                                                      nen Augen durch Fulda gehen, denn die leben meistens so
     naja, da kommt immer dasselbe raus.
                                                                      versteckt in irgendwelchen Winkeln.
                                                                                                          “                                                                aber eben nicht für Alkohol. Dann kaufe ich ihm
                                                                                                                                                                           einfach zwei belegte Brötchen, darüber freut er

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