Bundestagswahl 2021 Informationen zur politischen Bildung - Bundeszentrale für politische Bildung
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37/2021 Informationen zur politischen Bildung FRANK DECKER Bundestagswahl 2021 In Demokratien wählen die wahlberechtigten Bürgerinnen Inhalt und Bürger in regelmäßigen Abständen ihre Vertreterinnen und Vertreter in die Parlamente. In der Bundesrepublik 2 Das Wahljahr 2021 Deutschland wird der Deutsche Bundestag alle vier Jahre neu 3 Wahlen in der Demokratie gewählt. Die Mehrheitsverhältnisse bestimmen dann, welche Parteien die Regierung bilden. Am 26. September 2021 ist es 4 Rechtliche Grundlagen der wieder so weit. Bundestagswahl Dieses Heft bietet einen grundlegenden Überblick zur Bun- 11 Parteiensystem und destagswahl 2021. Vorgestellt werden das deutsche Wahlsys- Koalitionsbeziehungen seit der tem, die Arbeit der amtierenden Koalition und die Spitzen- deutschen Vereinigung kandidierenden sowie ihre Themen für den Wahlkampf 2021. 15 Die Bundestagswahl 2017 Begleitet wird der Haupttext dabei von Grafiken, Fotos, Illustra- und ihre Folgen tionen und Hinweisen auf weiterführende Literatur, Internet- adressen und Unterrichtsmaterialien. 19 Die Wahl 2021 – Was ist zu erwarten?
Bundestagswahl 2021 picture alliance / SvenSimon | Malte Ossowski / SVEN SIMON ddp ddp / Henning Schacht ddp / Georg Wendt Das Wahljahr 2021 ist geprägt von der Coronavirus-Pandemie (l. oben – r. unten): Landeswahlversammlung der FDP/NRW, Ausgangssperre am Hamburger Hafen, Promenade in St. Peter Ording, Szene im deutschen Bundestag während der 1. Lesung zur Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes Das Wahljahr 2021 Am 26. September wird der Deutsche Bundestag zum 20. Mal terin einer dritten Partei als ernstzunehmende Kanzlerkandi- gewählt. Die Bundestagswahl findet gleich in mehrfacher Hin- datin an. sicht unter außergewöhnlichen Voraussetzungen statt und Schließlich und viertens wird sich die Themenagenda der dürfte eine der spannendsten in der Geschichte der Bundesre- Wahlauseinandersetzung von früheren Wahlen unterschei- publik Deutschland werden. den. Dass hier der Klimaschutz zum ersten Mal (ganz) weit Die erste Besonderheit betrifft die personelle Ausgangslage. oben steht, stellt eine der Ursachen wie auch eine Folge des Noch nie zuvor hat ein amtierender Bundeskanzler – in diesem Aufschwungs der Grünen dar. Daneben dürften die wirtschaft- Fall eine Bundeskanzlerin – darauf verzichtet, erneut zur Wie- lichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus- derwahl anzutreten. Dieser Umstand bringt die Unionspartei- Pandemie eine wichtige Rolle spielen und – je nach Verlauf en im Wahlkampf in eine herausforderungsvolle Situation. Sie und Erfolg der Impfkampagne – zugleich der Rückblick auf das treten mit einem neuen Kandidaten – dem CDU-Vorsitzenden Pandemiemanagement der Regierung. Armin Laschet – zu einer Wahl an, bei der gleichzeitig die Re- Entschieden wird die Wahl durch das Zusammenspiel von gierungsbilanz der abtretenden Amtsinhaberin Angela Merkel drei Faktoren: Das sind die Kandidierenden, die Themen und durch die Stimmabgabe bewertet wird. die möglichen Koalitionen (siehe S. 19 ff.). Was die Koalitions- Zweitens wird der Wahlkampf von einer der größten Krisen bildungen betrifft, besteht im Parteiensystem inzwischen eine überschattet, die das Land in den 76 Jahren seit Kriegsende zu große Flexibilität, da sich SPD und Grüne für ein Bündnis so- bewältigen hatte: der Coronavirus-Pandemie. Mit dieser Krise wohl mit der Linken als auch mit der FDP geöffnet haben. Galt verändern sich nicht nur die Themen des Wahlkampfs, sondern Anfang des Jahres eine Regierung der Union mit den Grünen zugleich seine technischen und organisatorischen Voraussetzun- noch als wahrscheinlichster Wahlausgang, wiesen die Umfra- gen. Auch die Parteitage und Kandidatennominierungen liefen gewerte für die einzelnen Parteien im Mai auch eine Ampelko- und laufen unter Pandemiebedingungen anders ab als gewohnt. alition (rot-gelb-grün) oder ein Linksbündnis (rot-rot-grün) als Drittens haben sich in der 19. Legislaturperiode einschnei- mehrheitsfähig aus (siehe Tabelle S. 14). dende Veränderungen der Parteienlandschaft ergeben. Wäh- Vor der Bundestagswahl fanden im März und Juni drei Land- rend die Sozialdemokratie weiterhin nur niedrige Umfrage- tagswahlen (in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und werte verbuchen konnte, geriet nun auch die Union als einzig Sachsen-Anhalt) sowie Kommunalwahlen in Hessen statt. Die noch verbliebene Volkspartei in einen Abwärtssog. Landtagswahlen endeten alle mit dem Sieg der jeweiligen Amts- Gleichzeitig gelang es den Grünen, sich als zweitstärkste inhaber. Am 26. September werden parallel zur Bundestagswahl Kraft dauerhaft vor die SPD zu setzen. Machten Union und SPD auch das Abgeordnetenhaus in Berlin und die Landtage in Meck- das Rennen um die Kanzlerschaft bisher stets unter sich aus, lenburg-Vorpommern und Thüringen gewählt. Zwei Wochen tritt mit Annalena Baerbock jetzt zum ersten Mal die Vertre- vorher finden Kommunalwahlen in Niedersachsen statt. 2 Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021
Alle Wahltermine in Deutschland 2021 Selbst undemokratische Systeme verzichten nur ungern auf Wahlen. Denn sie wollen und können damit zumindest den Datum Land Art Turnus Anschein erwecken, dass ihre Macht auf der Zustimmung der 14.03. Hessen Kommunalwahl 5 Jahre Bevölkerung beruht. Die Bezeichnung „demokratisch“ verdie- nen Wahlen allerdings erst, wenn sich Präferenzen innerhalb 14.03. Baden-Württemberg, Landtagswahl 5 Jahre Rheinland-Pfalz der Gesellschaft frei entfalten können, Parteien diese Präferen- zen zu unterschiedlichen programmatischen und personellen 6.06. Sachsen-Anhalt Landtagswahl 5 Jahre Angeboten bündeln und diese Angebote in der Wahlauseinan- 12.09. Niedersachsen Kommunalwahl 5 Jahre dersetzung fair miteinander konkurrieren. Der demokratische 26.09. Alle Länder Bundestagswahl 4 Jahre Wettbewerb ist dabei an das Mehrheitsprinzip als demokrati- sche Spielregel gebunden. Seine Funktionsfähigkeit beweist 26.09. Berlin Wahl zum Abgeordnetenhaus 5 Jahre sich daran, dass Regierungswechsel möglich sind. 26.09. Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahl 5 Jahre Auch in den etablierten Demokratien gibt es allerdings zu- nehmend Zweifel, ob und wie gut die Wahlen die genannten 26.09. Thüringen vorgezogene Landtagswahl* 5 Jahre Funktionen weiterhin erfüllen. Rückläufige Wahlbeteiligungen, * Voraussichtlicher Wahltermin sinkende Mitgliederzahlen der Parteien und der wachsende Bundeswahlleiter, bundeswahlleiter.de Zuspruch für rechte und linke Protestparteien werden als Be- lege für einen Ansehensverlust der repräsentativen Institutio- nen gewertet. Einige, wie der britische Sozialwissenschaftler Wahlen in der Demokratie Colin Crouch, sehen die Demokratie in der Krise und führen dies auf eine Aushöhlung ihrer zentralen Prinzipien zurück: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke Wahlen, Parteienwettbewerb und die Gewaltenteilung blieben in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe zwar nach außen hin weiter intakt. Sie hätten aber immer we- der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Recht- niger Einfluss auf die Entscheidungen, welche vielmehr die Re- sprechung ausgeübt.“ Art. 20 Abs. 2 GG gierungen und mächtige Interessenvertretungen weitgehend autonom untereinander aushandelten. In einer Demokratie geht „[a]lle Staatsgewalt […] vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausge- übt“, heißt es im Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG). Mitglieder der im Deutschen Bundestag Wahlen und Abstimmungen haben dabei nicht den gleichen vertretenen Parteien jeweils am Jahresende Rang. Wahlen sind in einer Demokratie unabdingbar, während in Tausend es sich bei den als Abstimmungen bezeichneten direktdemo- kratischen Verfahren um ein „optionales“ Element der Verfas- 1000 943 sungen handelt. In den deutschen Ländern und Kommunen sind diese Verfahren, mit denen die Bürgerinnen und Bürger 900 selbst bestimmte Fragen verbindlich entscheiden können, heute überall vorgesehen. Auf der Bundesebene beschränken 790 800 sie sich auf den in der Praxis wenig wahrscheinlichen Fall einer Neugliederung der Länder (Art. 29 GG). 694 700 Das demokratische Prinzip der Volkssouveränität verdichtet sich in den periodisch stattfindenden Wahlen. Die Politikwis- 600 senschaft schreibt Wahlen vier wesentliche Funktionen zu: 594 ¬ Legitimationsfunktion: Wahlen sind für eine Demokratie 500 unverzichtbar, da sie die politische Herrschaft auf den Willen 419 derjenigen zurückführen, die der Herrschaft unterworfen 400 sind. Sie sichern ihnen die Kontrolle über die Herrschenden 406 und gewährleisten durch ihre regelmäßige Wiederkehr die 300 281 Zeitbegrenzung politischer Herrschaft, die für die Demokra- tie wesentlich ist. 186 178 ¬ Kreationsfunktion: Aus Wahlen gehen die politischen Lei- 200 139 tungsorgane hervor, in einer parlamentarischen Demokratie 168 67 71 ist dies eine funktionsfähige Volksvertretung. Diese ist ihrer- 100 96 65 61 41 seits in der Lage, eine funktionsfähige Regierung einzuset- 44 18 35 zen und die für das Gemeinwesen wesentlichen Entschei- 0 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2019 dungen zu treffen. ¬ Repräsentationsfunktion: Wahlen sollen sicherstellen, dass sich die vielfältigen Interessen, Anschauungen und Wert- SPD CSU AfD haltungen der Bevölkerung in der von ihr gewählten Vertre- tungskörperschaft widerspiegeln. CDU FDP * 2007 Vereinigung ¬ Integrationsfunktion: Über Wahlen findet darüber hinaus die Linke* Grüne von PDS und WASG Einbeziehung (Integration) der Bevölkerung in das politische System statt; dazu stellt der Wahlakt als solcher eine politische picture alliance / dpa / dpa-infografik GmbH | dpa-infografik GmbH; Quelle: Zeitschrift für Gemeinsamkeit unter den Bürgerinnen und Bürgern her. Parlamentsfragen, O. Niedermayer Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021 3
Bundestagswahl 2021 Anteil der Nichtwählerinnen und Nichtwähler Die Allgemeinheit der Wahl verlangt, dass das Wahlrecht allen in Prozent (Bundestagswahlen 1949 bis 2017) Bürgerinnen und Bürgern offensteht. Ausnahmen sind nur mit Blick auf Alter, Sesshaftigkeit, Mündigkeit und – durch richter- 30 29,2 28,5 lichen Beschluss – schwere Straftaten zulässig. Strafgefangene dürfen ansonsten zwar wählen, können das Recht aber de fac- 21,5 22,2 20,9 to nur per Briefwahl ausüben. Den Wahlrechtsausschluss be- 23,8 20 15,7 21,0 22,3 stimmter Menschen mit Behinderung oder psychisch kranker 12,2 13,2 13,3 17,8 Menschen, die betreuungsbedürftig sind, hat das Bundesver- 11,4 14,0 9,3 fassungsgericht 2019 für verfassungswidrig erklärt. Seither er- 10 12,3 10,9 ab 1990 folgen keine entsprechenden Meldungen der Vormundschafts- 8,9 Gesamtdeutschland ämter an die Wahlbehörden mehr. 0 Das Wahlalter liegt seit 1970 bei 18 Jahren. Dies gilt sowohl für das aktive wie das passive Wahlrecht. Einige Bundesländer 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013 2017 haben das aktive Wahlalter bei Kommunal- und/oder Land- picture alliance / dpa / dpa-infografik GmbH | dpa-infografik GmbH; Quelle: Bundeswahlleiter, tagswahlen inzwischen auf 16 Jahre abgesenkt. Im Jahre 2013 bundeswahlleiter.de wurde das Wahlrecht der im Ausland lebenden Deutschen neu geregelt. Sie dürfen seither wählen, sofern ihr Wegzug nicht mehr als 25 Jahre zurückliegt und sie ab dem 14. Lebensjahr Eine mildere Version der Kritik beklagt das Fehlen realer Ent- mindestens drei Monate in Deutschland verbracht haben. scheidungsalternativen. Die Parteien ließen sich in ihren Das Wahlrecht ist an die Staatsangehörigkeit gebunden. grundlegenden Zielen und Angeboten, Probleme zu lösen, Etwa 8,7 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen, also kaum noch voneinander unterscheiden – die belgische Politik- etwa jeder achte Erwachsene im Land, können als Nichtdeut- wissenschaftlerin Chantal Mouffe spricht hier bildhaft von sche deshalb an der Wahl nicht teilnehmen. Ausnahmen gibt einer „Entscheidung zwischen Cola oder Pepsi“. Gleichzeitig es bei den Kommunal- und Europawahlen, bei denen auch in bildeten sie dort, wo es um ihre eigenen Interessen gehe, zum Deutschland lebende Bürgerinnen und Bürger aus anderen Beispiel bei der Parteienfinanzierung, ein Machtkartell. Der EU-Staaten wahlberechtigt sind. Der Einführung eines allge- Populismus stelle eine Reaktion auf diese Tendenzen dar. meinen Kommunalwahlrechts für dauerhaft im Lande lebende Empirische Untersuchungen weisen zudem auf eine wach- Menschen aus Nicht-EU-Staaten hat das Bundesverfassungs- sende soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung hin. So war gericht seit 1989 einen Riegel vorgeschoben. Dies hat zugleich beispielsweise bei den beiden vergangenen Bundestagswah- Folgen für die im Parteiengesetz geregelte Kandidatenauf- len 2013 und 2017 der Anteil derjenigen, die nicht zur Wahl gin- stellung zu den Bundestags- und Landtagswahlen, an der im gen, in der untersten Einkommensgruppe mehr als fünfmal so Unterschied zu den internen Wahlen für Parteiämter ebenfalls hoch wie in der obersten. Unter Demokratiegesichtspunkten nur deutsche Staatsangehörige teilnehmen dürfen. ist das problematisch, weil damit auch die Interessen dieser Die Allgemeinheit der Wahl verpflichtet den Gesetzgeber des Gruppe im politischen Prozess weniger beachtet werden: Wer Weiteren, für eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu sorgen. nicht wählen geht, läuft Gefahr, dass seine Interessen nicht re- Gewährleistet wird dies durch ein dichtes Netz von Wahlloka- präsentiert werden. Manche Stimmen, wie der Politikwissen- len und ausreichend lange Öffnungszeiten bei der Urnenwahl schaftler Armin Schäfer, befürworten aus diesem Grund die (am Wahltag von 8 bis 18 Uhr) sowie durch die Möglichkeit Einführung einer Wahlpflicht. der (vorzeitigen) Briefwahl für alle, die nicht persönlich im Wahllokal ihre Stimme abgeben können. Auch Menschen mit Beeinträchtigungen muss die Teilnahme an der Wahl ermög- licht werden. Da die Freiheit und Geheimheit der Wahl bei der Rechtliche Grundlagen der Briefwahl nicht hundertprozentig sichergestellt werden kön- Bundestagswahl nen, hatte das Bundesverfassungsgericht an ihre Zulassung anfangs strenge Anforderungen geknüpft, die später gelockert wurden. Eine Briefwahl kann seit 2008 auch ohne Angabe von Die rechtlichen Grundlagen der Bundestagswahl sind im Grund- Gründen beantragt werden. Der Anteil derjenigen, die per Brief gesetz, im Parteiengesetz (PartG), im Bundeswahlgesetz (BWahlG) wählen, ist entsprechend weiter gestiegen; bei der Bundes- und in der Bundeswahlordnung (BWO) festgelegt. Auch bestimm- tagswahl 2017 betrug er bereits 28,6 Prozent. te Aspekte der Regierungsform wie die Dauer der Legislaturperio- Durch die Coronavirus-Pandemie hat die Briefwahl noch ein- de werden vom Wahlrecht umfasst. Der Begriff wird im allgemei- mal einen deutlichen Schub bekommen. Bei den Landtagswahlen nen Sprachgebrauch häufig mit dem „Wahlsystem“ gleichgesetzt, in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und in Sachsen-Anhalt das aber nur einen Teilaspekt des Wahlrechts umschreibt. wurde von den Ländern Vorsorge getroffen, diese im Bedarfsfall Das Grundgesetz begnügt sich damit, allgemeine „Wahl- als ausschließliche Briefwahl durchführen zu können. Anders als rechtsgrundsätze“ festzulegen, die den demokratischen Cha- bei der bayerischen Kommunalwahl im Jahr zuvor war das zwar rakter der Wahl gewährleisten sollen. Gemäß Artikel 38 Absatz 1 nicht nötig. Dennoch stieg der Anteil der Briefwählerinnen und sind dies die Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleich- -wähler stark an. In Baden-Württemberg lag er bei 51,3, in Rhein- heit und Geheimheit der Wahl. Hinzu kommt als weiterer, aus land-Pfalz bei 66,5 und in Sachsen-Anhalt bei 29,1 Prozent. Auch einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 abgelei- für die Bundestagswahl und die anderen anstehenden Landtags- teter Grundsatz die Öffentlichkeit der Wahl. Zu unterscheiden und Kommunalwahlen wird mit einem Anstieg der Briefwahlen ist zwischen dem Recht, an der Wahl teilzunehmen (aktives gerechnet. Die Briefwahl dürfte damit den vom Verfassungsge- Wahlrecht), und dem Recht, sich als Kandidat oder Kandidatin richt als Voraussetzung für ihre Rechtmäßigkeit verlangten Aus- aufstellen und wählen zu lassen (passives Wahlrecht). nahmecharakter wohl endgültig verlieren. 4 Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021
Anteil der Briefwählerinnen und Briefwähler bevorzugt bzw. benachteiligt werden. Für die Regierung gilt in Prozent (Bundestagswahlen 1957 bis 2017) ein striktes Neutralitätsgebot. Sie hat sich aus dem Wahlkampf herauszuhalten, der ausschließlich Sache der Parteien ist. 30 28,6 Geheimheit der Wahl bedeutet, dass niemand davon Kennt- ab 1990 nis erhalten darf, wem eine Person ihre Stimme gibt. Bei der Gesamtdeutschland Urnenwahl wird das durch die geschützte Wahlkabine sicher- 24,3 25 gestellt, bei der Briefwahl liegt es in der Verantwortung der 21,4 Wählenden selbst. In die Bundeswahlordnung wurde zudem 2017 ein Passus aufgenommen, der das Filmen und Fotografie- 20 18,7 18 ren mit dem Smartphone in der Wahlkabine untersagt. Blin- 16 de und Sehgeschädigte können ihre Stimme mithilfe einer Stimmzettelschablone abgeben, die kostenlos vom Deutschen 15 13,4 13 Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) herausgegeben 10,7 11,1 wird. 10 Die Öffentlichkeit der Wahl soll gewährleisten, dass diese 10,5 7,3 7,1 7,2 9,4 ordnungsgemäß und nachvollziehbar verläuft – von den Wahl- 5,8 vorschlägen über die eigentliche Wahlhandlung (hier in Bezug 4,9 5 auf die Stimmabgabe durchbrochen durch das Wahlgeheim- nis) bis zur Ermittlung des Wahlergebnisses. Der Grundsatz be- sagt auch, dass die Stimmabgabe im öffentlichen Raum statt- 0 findet und die Wahl so als öffentliches Ereignis sichtbar wird. 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013 2017 Ein vollständiger Ersatz der Urnen- durch die Briefwahl wäre daher unzulässig. Bundeswahlleiter, bundeswahlleiter.de Um die Durchführung der Wahlen unter demokratischen Grundsätzen gewährleisten zu können, wurden während der Coronavirus-Pandemie 2020 und 2021 einige parteien- und Unmittelbarkeit der Wahl bedeutet, dass die Bürgerinnen und wahlgesetzliche Regelungen angepasst. Bei Parteitagen, Vor- Bürger die Abgeordneten direkt wählen, es also kein zwischen- standssitzungen und den für die Nominierung der Kandidie- geschaltetes Wahlgremium gibt (wie in den USA die soge- renden zuständigen Delegiertenversammlungen entfiel das nannten Wahlmänner). Sowohl die Personen, die in den Wahl- Anwesenheitserfordernis – sie konnten jetzt ganz oder teilwei- kreisen antreten, als auch diejenigen, welche über Parteilisten se digital durchgeführt werden. Für die Nominierung der Kan- kandidieren, müssen vorab bekannt gemacht werden. didierenden sowie die Wahl der Vorsitzenden und Vorstands- Die Freiheit der Wahl soll die Wählerinnen und Wähler vor mitglieder gab es die Möglichkeit der Briefwahl – eine Wahl auf Beeinträchtigungen ihrer Willensentscheidung schützen; sie elektronischem Wege kam hier wegen der verfassungsrecht- müssen ihre Stimme ohne Druck oder Zwang von staatlicher lichen Hindernisse weiterhin nicht in Frage. Die Verfassungs- wie nicht staatlicher Seite abgeben können. Zugleich verlangt gerichte erlegten es den Parlamenten überdies auf, die Hürden der Grundsatz ein konkurrierendes Angebot von Parteien und bei der Zulassung von Wahlbewerberinnen und -bewerbern Kandidierenden. Das Vorschlagsrecht für letztere darf dabei und Listen abzusenken. Der Bundestag kam dem durch eine nicht ausschließlich bei den Parteien liegen bzw. dort, wo die Gesetzesänderung im Mai 2021 nach, die das Quorum (die Be- Parteien die Kandidierenden aufstellen, allein von deren Füh- schlussfähigkeit) auf ein Viertel reduzierte. Für Listenvorschlä- rungsgremien ausgeübt werden. Ob zur Freiheit der Wahl auch ge sind damit nur noch 500 (statt 2000) und für Kandidierende das Recht gehört, nicht zu wählen, ist umstritten. Eine gesetz- in den Wahlkreisen 50 (statt 200) Unterschriften erforderlich. liche Wahlpflicht, wie sie etwa in Belgien besteht, wäre zwar Bei Verletzungen der Wahlrechtsgrundsätze kann die Gültig- ein geeignetes Mittel gegen niedrige oder sinkende Wahlbetei- keit der Wahl angefochten werden. Die Wahlprüfung obliegt ligungen; sie würde aber der deutschen Verfassungstradition dem Bundestag, gegen dessen Entscheidung Beschwerde vor widersprechen. dem Bundesverfassungsgericht möglich ist. Auch nachgewie- Die Gleichheit der Wahl verlangt zum einen, dass jede Wähler- sene Unregelmäßigkeiten (etwa bei der Stimmenauszählung stimme gleich viel wert ist und somit den gleichen Einfluss auf oder der Aufstellung der Wahlbewerberinnen und -bewerber) das Wahlergebnis hat. Bei Mehrheitswahlsystemen beschränkt machen eine Wahl nicht automatisch ungültig, sondern nur, sich diese Forderung auf den Zählwert der Stimme: Jede Stimme wenn sie sich auf die Mandatsverteilung auswirken. So musste – zählt genau gleich viel. Das Mandat gewinnt allerdings nur der im bisher einzigen Fall – die Bürgerschaftswahl 1991 in Ham- Kandidat/die Kandidatin oder die Partei mit den meisten Stim- burg wiederholt werden, weil die Kandidatenaufstellung nicht men. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidierenden oder ordnungsgemäß erfolgt war. Parteien werden somit nicht in Form eines Mandats repräsen- Das Bundesverfassungsgericht hat in die Wahlrechtsrege- tiert. In Verhältniswahlsystemen tritt ein sogenannter Erfolgs- lungen immer wieder korrigierend eingegriffen. Einschnei- wert hinzu, da auch die Stimmen für eine nachrangig platzierte dende Folgen hatte seine Rechtsprechung im Bereich des Partei bei der Mandatsverteilung berücksichtigt werden und Wahlsystems, wo es beispielsweise die Fünfprozentklausel auf nicht nur wie bei der reinen Mehrheitswahl die Stimmen der kommunaler Ebene und bei den Europawahlen aufhob. Im An- erstplatzierten Partei zum Mandat führen. fang 2017 abgeschlossenen NPD-Verfahren folgte das Gericht Zum anderen muss zwischen denen, die sich dem politi- zwar nicht dem Antrag des Bundesrates, die rechtsextreme schen Wettbewerb stellen, Chancengleichheit herrschen. Sie Partei zu verbieten, hielt es aber – in einer Abkehr vom bis- dürfen bei den Wahlrechtsregelungen, bei der Parteienfinan- herigen Prinzip der strikten formalen Gleichbehandlung – für zierung oder beim Zugang zu den Medien also nicht einseitig rechtlich möglich, ihr die staatliche Parteienfinanzierung zu Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021 5
Bundestagswahl 2021 entziehen. 2009 erklärte das Gericht die 2005 erstmals ermög- lichte Stimmabgabe per Wahlcomputer für unzulässig, weil dieses Verfahren die Nachprüfbarkeit der Stimmzählung nicht sicher gewährleiste. picture alliance / Arno Burgi / dpa-Zentralbild / dpa | Arno Burgi Das Wahlsystem Das Wahlsystem ist Teil des umfassenderen Wahlrechts. Es regelt, wie die Wählerinnen und Wähler ihre Präferenzen für Kandidierende oder Parteien in Stimmen ausdrücken und wie diese Stimmen anschließend in Mandate, also in Parla- mentssitze, übertragen werden. Drei Bereiche bzw. Aspekte sind hier vor allem bedeutsam: die Wahlkreiseinteilung, die Kandidatur- und Stimmgebungsformen sowie die Stimmen- verrechnung. An Wahlsysteme werden unterschiedliche Funktionserwar- tungen herangetragen. Zum einen sollen sie im Sinne des Re- präsentationsziels dafür Sorge tragen, dass die in der Gesell- schaft vorhandenen Meinungen und Interessen im Parlament Im deutschen Wahlsystem hat jede wahlberechtigte Person zwei Stimmen. Eine Wäh- annähernd spiegelbildlich (proportional) vertreten sind, und lerin füllt ihren Stimmzettel für die Bundestagswahl 2017 aus. zum anderen die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit ermöglichen. Die Bundesrepublik hat sich auf Bundesebene wie in den Ländern für ein Verhältniswahlsystem entschie- folge der Kandidierenden ist hier von den Parteien vorgegeben. den, das dem erstgenannten Ziel Vorrang einräumt. Um eine Gewinnt eine Partei mindestens drei Direktmandate, wird ihr übermäßige Zersplitterung der parlamentarischen Kräftever- Zweitstimmenanteil auch dann in Parlamentssitze umgerech- hältnisse zu vermeiden, wird der Proporz allerdings durch eine net, wenn dieser unterhalb von 5 Prozent liegt (Grundman- Sperrklausel (Fünfprozenthürde) beschränkt. Damit soll die datsklausel). Mehrheitsbildung erleichtert werden. Für die Berechnung der Für die Wahl stehen den Wählerinnen und Wählern zwei Stim- Sitzzuteilung wird seit der Bundestagswahl 2009 das Sainte- men zur Verfügung. Mit der auf dem Wahlzettel links angeord- Laguë/Schepers-Verfahren angewandt. neten Erststimme wählen sie den Wahlkreiskandidaten, mit der Ein weiteres Ziel der Wahlsysteme besteht darin, den Bür- rechts angeordneten Zweitstimme die Partei. Dabei können sie gerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, neben der die Stimmen „splitten“, indem sie zum Beispiel die Erststimme parteipolitischen auch die personelle Zusammensetzung der dem Kandidaten der Partei A geben, mit der Zweitstimme aber Parlamente zu beeinflussen. Das Bundestagswahlsystem trägt Partei B wählen. Der Anteil derjenigen, der von dieser Möglich- dem Rechnung, indem es zwischen Wahlkreis- und Listenkan- keit Gebrauch macht, ist seit der Einführung des Zweistimmen- didierenden unterscheidet. 299 der (regulär) 598 Abgeordne- systems im Jahre 1953 nahezu kontinuierlich gestiegen und lag ten werden in bevölkerungsmäßig etwa gleich großen Wahl- bei der Bundestagswahl 2017 bei 27,3 Prozent. kreisen direkt gewählt (Direktmandate). Das Mandat gewinnt, Die hälftige Aufteilung der Wahlkreis- und Listenmandate wer die meisten Stimmen erhält. Die restlichen Abgeordneten befördert das Missverständnis, das deutsche Wahlsystem sei ziehen über die Landeslisten in den Bundestag ein. Die Reihen- eine Mischung von Mehrheits- und Verhältniswahl. Tatsächlich richtet sich der Mandatsanteil der Parteien aber ausschließlich nach dem Ergebnis der Zweitstimmen. Das Wahlgesetz spricht Von der Wählerstimme zum Mandat: daher zu Recht von einer „mit einer Personenwahl verbunde- Sitzberechnung nach Sainte-Laguë/Schepers nen Verhältniswahl“. Nachdem feststeht, wie viele Mandate jede Partei insgesamt erhält, werden die direkt gewählten Ab- Es sind 11 Sitze zu vergeben. geordneten auf diesen Anteil angerechnet. Dass die ausschlag- gebende Bedeutung der Zweitstimme einem erheblichen Teil Partei A Partei B Partei C (rund 40 Prozent) der Bürgerinnen und Bürger nicht geläufig Stimmenzahl 6000 3100 2950 ist, dürfte vor allem auf die irreführende Benennung „Erst- und Zweitstimme“ zurückzuführen sein. Dem Wahlsystem man- Die Stimmen der Parteien, die an der Sitzvergabe teilneh- men, werden durch einen Divisor geteilt. Als Divisor eignet gelt es in diesem Punkt an Verständlichkeit. sich die auf einen Sitz durchschnittlich entfallende Anzahl Die Verbindung von Wahlkreis- und Listenmandaten zieht der Stimmen, hier: 1095. noch eine andere gravierende Folge nach sich: die mögliche Die Ergebnisse der Division werden anschließend auf ganze Entstehung von Überhangmandaten. Gewinnt eine Partei Zahlen auf- oder abgerundet. An den ganzzahligen Resulta- ten lässt sich die Sitzverteilung unmittelbar ablesen. mehr Direktmandate, als ihr nach dem Anteil der Zweitstim- Ist ihre Summe größer / kleiner als erforderlich, wird die Rech- men zustehen, darf sie diese Mandate behalten. Der sich aus nung mit einem kleineren / größeren Divisor wiederholt. dem Zweitstimmenergebnis ergebende Proporz wird dadurch allerdings verzerrt. Kritische Stimmen sehen in den Überhang- 5,48 2,83 2,69 mandaten deshalb einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrund- aufgerundet aufgerundet satz. Eine Partei oder Parteienkoalition könne mit ihrer Hilfe abgerundet eine Mehrheit der Sitze erlangen, ohne gleichzeitig über die Sitze 5 3 3 Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu verfügen. Waren die Überhangmandate bis zur deutschen Einheit nur Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbilder 086 131 sporadisch angefallen, hat sich ihre Zahl seither deutlich erhöht. 6 Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021
Am größten ist ihr Entstehungsrisiko, wenn der Zweitstimmen- Argumente erscheinen widerlegbar. So wäre ein Neuzuschnitt anteil der stärksten Partei durch die Konkurrenz der übrigen bereits bei einer geringeren Reduzierung der Direktmandate ge- Parteien auf 30 oder unter 30 Prozent gedrückt wird, sie bei den boten. Und der Hinweis auf die Größe der Wahlkreise übersieht, Erststimmen aber einen Vorsprung von etwa 5 bis 7 Prozent- dass diese nicht nur von den direkt gewählten, sondern ebenso punkten vor der zweitstärksten Partei behält. Die hohe Zahl an von den Listenabgeordneten betreut werden. Im Internet-Zeit- Direktmandaten, die sie damit erlangen kann, wäre durch das alter müssen die Abgeordneten auch nicht immer zwingend vor Zweitstimmenergebnis dann nicht mehr gedeckt. Ort sein, um persönliche Anliegen zu klären. Das Bundesverfassungsgericht, das sich mit dem Problem Ein anderer Vorschlag setzt bei den direkt gewählten Abge- mehrfach befassen musste, erklärte die Überhangmandate in ordneten an. Er sieht vor, nicht mehr jedes errungene Direkt- einem 2013, kurz vor der damaligen Bundestagswahl ergange- mandat zu vergeben. Fallen Überhangmandate an, wird eine nen Urteil bis zu einer – auf 15 – festgelegten Grenze weiterhin gleich hohe Zahl von Direktmandaten – diejenigen mit den für zulässig. Die Parteien einigten sich stattdessen jedoch darauf, bundes- oder landesweit schlechtesten Ergebnissen – gestri- die Überhangmandate durch Zusatzmandate vollständig aus- chen. Gegen diesen Vorschlag regen sich grundsätzliche de- zugleichen. Im Bemühen um eine perfekte Lösung schossen sie mokratische Bedenken. Wer gewinnt, sollte auch das Mandat freilich über das Ziel hinaus: Die 2013 beschlossene Neuregelung erhalten. Diejenigen, die den Vorschlag befürworten, argu- führte dazu, dass für ein einzelnes Überhangmandat unter Um- mentieren dagegen, dass im heutigen Sechsparteiensystem ständen ein Vielfaches an Ausgleichsmandaten benötigt wird. häufig bereits ein Stimmenanteil von 30 Prozent oder weniger Der Bundestag wuchs daher bei den folgenden Wahlen über sei- genüge, um die relative Mehrheit in einem Wahlkreis zu errin- ne reguläre Sollgröße von 598 Abgeordneten hinaus deutlich an. gen. Auflösen oder abmildern ließe sich das Problem, wenn die 2013 lag die Zahl der durch die Überhänge zusätzlich anfallenden personengebundenen Mandate getrennt nach Parteien über Mandate bereits bei 33, 2017 sogar bei 111. eine Liste zugeteilt würden. Das böte zugleich die Chance, zu Öffentlicher Druck und die Mahnungen der Bundestagsprä- einem Einstimmensystem zurückzukehren. sidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble, diesen Zu- Das Zweistimmensystem besteht auf der Bundesebene stand zu korrigieren, stießen bei den Parteien auf wenig Gehör. seit 1953. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 fielen die im Erst im Oktober 2020, also ein knappes Jahr vor der kommenden Wahlkreis abgegebene Personenstimme und die Parteien- Bundestagswahl, konnten sich die Regierungsparteien Union stimme noch zusammen. Dies hatte den Vorteil, dass sich die und SPD auf eine Neufassung einigen, die den Namen „Reform“ Wählerinnen und Wähler über die Wichtigkeit der Stimmen allerdings nicht ansatzweise verdient. Einerseits sind die darin und die damit verbundene Funktionsweise des Wahlsystems enthaltenen „Dämpfungsmaßnahmen“ ungeeignet, ein weite- keine Gedanken machen mussten. Das Zweistimmensystem res Anwachsen des mit 709 Abgeordneten schon jetzt übergro- barg und birgt demgegenüber nicht nur ein Verständnis- ßen Parlaments zu verhindern. Andererseits rückt das Gesetz problem (dem durch eine Umbenennung der missverständ- von einem zentralen Element des 2013 erzielten Kompromisses – lichen Bezeichnungen „Erst- und Zweitstimme“ vergleichs- dem vollständigen Proporz – ab, indem es künftig drei Überhang- weise leicht abgeholfen werden könnte). Es stellt auch mit mandate ausgleichsfrei stellt. Neben AfD und Linken verweiger- Blick auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments ten ihm deshalb auch Grüne und FDP die Zustimmung. keinen Gewinn dar – der Anreiz der Parteien, überzeugende Ob die Neuregelung verfassungsrechtlich Bestand haben und zugkräftige Kandidierende in den Wahlkreisen aufzu- wird, ist zweifelhaft. Grüne, FDP und Linke haben gegen das stellen, wird vermindert, wenn die Wählerinnen und Wähler Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht. mit der wichtigeren Zweitstimme auf eine andere Partei aus- Damit könnte auch der zweite, über das Jahr 2021 hinaus- weichen können. reichende Teil der Novelle in Frage gestellt werden, der eine Absenkung der Zahl der Direktmandate auf 280 ab der Bun- destagswahl 2025 vorsieht. Sämtliche Berechnungen zeigen, Überhang- und Ausgleichsmandate bei dass das bei weitem nicht ausreichen wird, um wieder in die Bundestagswahlen seit 1990 Nähe der 598 Sitze zu kommen. Der Bundestag beschloss im April 2021 die Einrichtung einer Reformkommission, von der 70 aber nicht klar ist, wieweit sie sich mit dem Wahlsystem an 65 sich beschäftigen wird. Als weitere Themen werden im Einset- Überhangmandate 60 zungsbeschluss die gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen Ausgleichsmandate und Männern auf den Kandidierendenlisten, die Modernisie- 50 46 rung der Parlamentsarbeit, die Absenkung des aktiven Wahlal- ters auf 16 Jahre, die Dauer der Legislaturperiode, die Begrenzung 40 der Amtszeiten des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin und die Bündelung von Wahlterminen genannt. Von wissenschaftlicher Seite liegen für eine Reform des 30 24 Wahlsystems zahlreiche Vorschläge auf dem Tisch. Die meisten 29 Expertinnen und Experten raten zu einer starken Reduzierung 20 16 16 13 des Anteils der Direktmandate auf ein Drittel oder ein Viertel. Überhangmandate könnten dann praktisch nicht mehr entste- 10 6 5 hen, womit auch die Ausgleichsmandate entfielen. Dagegen 4 wird meistens zweierlei eingewandt: Zum einen sei dafür ein 0 kompletter Neuzuschnitt der Wahlkreise erforderlich und zum 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013 2017 anderen würden die Wahlkreise erheblich vergrößert und de- ren „Pflege“ durch die Abgeordneten damit erschwert. Beide Bundeswahlleiter, bundeswahlleiter.de Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021 7
Bundestagswahl 2021 Eine weitere Reformbaustelle des Wahlsystems eröffnet die setzt sich zusammen aus acht wahlberechtigten Mitgliedern, Fünfprozenthürde. Im Unterschied zur kommunalen und euro- die auf Vorschlag der Parteien ernannt werden, sowie aus zwei päischen Ebene, wo sie von den Verfassungsgerichten gekippt Richterinnen bzw. Richtern des Bundesverwaltungsgerichts. wurde, bleibt die Sperrklausel in Ländern und Bund bisher weit- Der Ausschuss entscheidet unter anderem, welche Parteien zur hin unbestritten, obwohl sie auch hier unter Legitimations- Wahl zugelassen werden, und überprüft die Wahlvorschläge. druck gerät: Sie erfüllt zunehmend weniger die ihr zugedachte Parteien, die im Bundestag oder einem Landesparlament mit Funktion, eine übermäßige Zersplitterung des Parteiensystems mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind, bekommen die zu verhindern und so die Regierungs- und Koalitionsbildung zu Zulassung automatisch. Die anderen Parteien müssen sie bis erleichtern. Gleichzeitig nehmen ihre unerwünschten Neben- spätestens 97 Tage vor der Wahl beantragen und die dafür vor- wirkungen zu, weil in der sich ausdifferenzierenden Parteien- geschriebenen Unterstützungsunterschriften hinterlegen. landschaft immer mehr Stimmen der Hürde zum Opfer fallen. Bundeswahlleiter und Bundeswahlausschuss arbeiten eng Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte der Anteil der im Parla- mit den 16 Landeswahlleitungen und den 299 Kreiswahlleitern ment nicht repräsentierten Stimmen einen Rekordwert von 15,6 zusammen, die für die Durchführung der Wahl in den Ländern Prozent. Mögliche Abhilfen wie die Absenkung der Hürde oder und Wahlkreisen zuständig sind. Diese haben sich zum Bei- die Einführung einer „Ersatzstimme“ wurden von den Parteien spiel um die Herstellung der Stimmzettel und Briefwahlunter- bisher nicht ernsthaft erwogen. Dasselbe gilt für die Abschaf- lagen zu kümmern. Deren Bereitstellung bzw. Versand obliegt fung der von der Fachwelt fast einstimmig als gleichheitswidrig wiederum den Kommunen, die zugleich für die Ernennung der erachteten Grundmandatsklausel (siehe S. 6). vor Ort – in den Wahllokalen – tätigen Wahlvorstände und de- Blendet man vom Wahlsystem auf das weiter gefasste Wahl- ren Vorsitzende verantwortlich sind. Diese prüfen die Identi- recht über, konzentrieren sich die Reformansätze auf das Wahlal- tät der Wählerinnen und Wähler anhand der Wählerverzeich- ter und auf die Repräsentation von Frauen. Beim Wahlalter tritt nisse und tragen dafür Sorge, dass die formalen Vorschriften eine Mehrheit der Parteien inzwischen dafür ein, die in einigen bei der Stimmabgabe eingehalten werden. Nach Schließung Ländern bereits vorgenommene Absenkung auf 16 Jahre auch für der Wahllokale zählen sie die Stimmen aus und übermitteln den Bund zu übernehmen. Lediglich die Unionsparteien konnten das Ergebnis der Gemeindebehörde, die es zusammen mit den sich zu diesem Schritt bisher nicht durchringen, der verfassungs- Ergebnissen aus den anderen Stimmbezirken und dem Brief- rechtlich nach einhelliger Auffassung unbedenklich wäre. wahlergebnis an die Kreiswahlleitungen weitermeldet. Anders verhält es sich mit dem Versuch, eine Quotierung des Zur Aufgabe des Bundeswahlleiters gehört auch, die Wahl Frauenanteils in den Parlamenten verbindlich vorzuschreiben. vor Einflussnahmen von außen zu schützen. Nach den Cyber- Entsprechende Paritätsregelungen in den Wahlgesetzen Thü- Attacken auf den Bundestag im Jahre 2015 könnten die Wahlre- ringens und Brandenburgs wurden von den dortigen Landes- chenzentren und -computer bei der anstehenden Wahl erneut verfassungsgerichten als Verstoß gegen die Wahlgleichheit ins Visier der vor allem in Russland vermuteten Hacker gera- und Satzungsfreiheit der Parteien zurückgewiesen. Auch aus ten. Die Wahlämter versuchen sich dagegen mit einer Erhö- verfassungspolitischer Sicht scheint die Frage berechtigt, ob hung ihrer Rechnerkapazitäten zu wappnen. Darüber hinaus die Bemühungen um eine bessere Repräsentation von Frauen werden Störungen des Wahlablaufs durch gezielte, über die (und anderen, aktuell nur wenig vertretenen Bevölkerungs- sozialen Medien verbreitete Falschinformationen (fake news) gruppen) nicht zuerst bei den Parteien ansetzen sollten. Wo befürchtet (siehe S. 10). Um solchen Manipulationen schnell sich diese selbst strenge Quotenregelungen verordnet haben, und öffentlichkeitswirksam entgegenzutreten, nutzt der Bun- liegt der Frauenanteil in den Parlamenten bereits heute zum deswahlleiter seinen unter @Wahlleiter_Bund eingerichteten Teil deutlich höher als der Frauenanteil unter den Parteimit- Twitter-Kanal. Aktuell hat der Kanal knapp 10 000 Follower. gliedern. Gemessen daran wären die Frauen sogar überreprä- Für die Parteien hat die Wahl ebenfalls einen langen Vorlauf. sentiert. So kommen die drei Parteien mit Quotenregelungen Weil die Vorschläge für die Listenkandidierenden (Landeslisten) (SPD, Grüne und Linke) im Deutschen Bundestag zusammen- bei den zuständigen Landeswahlleitungen und die Vorschläge genommen auf einen Frauenanteil von 49,3 Prozent, während für die Wahlkreiskandidierenden bei den Wahlkreisleitungen dieser bei den Parteien ohne Quote (CDU/CSU, FDP und AfD) spätestens 69 Tage vor der Wahl einzureichen sind, müssen die nur bei 19,1 liegt. Daraus ergibt sich ein Gesamtfrauenanteil ausgewählten Personen bis dahin feststehen. Die Bewerberin- von 31,4 Prozent. In der vorangegangenen Legislaturperiode nen bzw. Bewerber in den Wahlkreisen werden von den Kreis- (2013 bis 2017) hatte dieser noch bei 37,3 Prozent gelegen. verbänden häufig schon ein Jahr vor der Wahl aufgestellt. Hier kam es durch die Coronavirus-Pandemie in diesem Jahr fast Der Ablauf der Wahl durchgehend zu Verzögerungen. Über die Listenkandidieren- Für die staatlichen Stellen beginnt die Wahl mit der Festsetzung den entscheiden die jeweiligen Landesdelegiertenversamm- des Wahltermins. Dies ist Aufgabe des Bundespräsidenten, der lungen später, weil sie bei deren Aufstellung berücksichtigen dabei einer Empfehlung der Bundesregierung folgt. Der Wahl- müssen, welche Kandidierenden in welchen Wahlkreisen be- tag ist stets ein Sonntag. Das Grundgesetz bestimmt in Artikel reits nominiert wurden. Organisatorisch und zeitlich aufwen- 39, dass die Wahl frühestens 46 und spätestens 48 Monate nach diger ist die Nominierung, wenn anstelle der Delegierten die Beginn der Wahlperiode stattzufinden hat. Die Wahlperiode wird Mitglieder einer Partei entscheiden. 2021 machte nur die AfD mit der ersten Zusammenkunft des neu gewählten Bundestags von diesem Verfahren Gebrauch. Die Urwahl fand dabei pan- spätestens am 30. Tag nach der Wahl eröffnet. Als bevorzugter demiebedingt als Online-Abstimmung statt. Wahlmonat hat sich der September etabliert. Parallel zur Aufstellung der Kandidierenden setzt die Wahl- Die oberste Zuständigkeit für die Vorbereitung und Durch- kampfplanung und -vorbereitung ein. Sie erfolgt aus den Par- führung der Wahl liegt beim Bundeswahlleiter, der vom Bun- teizentralen heraus, die ihr Personal dafür vorübergehend desinnenminister bestellt wird. In der Regel handelt es sich um erheblich aufstocken. Der Wahlkampf lässt sich grob in drei den jeweiligen Präsidenten des Statistischen Bundesamtes. Der Phasen einteilen. Die erste Phase beginnt mit der Nominie- Bundeswahlleiter sitzt dem Bundeswahlausschuss vor. Dieser rung der Spitzenkandidierenden etwa acht bis zehn Monate 8 Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021
vor der Wahl. In dieser Phase wird das Wahlprogramm er- So funktioniert die Bundestagswahl arbeitet und in den Parteigremien diskutiert. Sie endet mit einem Wahlparteitag, der in der Regel vier bis fünf Monate vor 1 Wahl der Wahl stattfindet. Auch hier kam es 2021 – zum Teil wegen der Pandemie, zum Teil aufgrund innerparteilicher Querelen – Wahlberechtigte Bevölkerung zu manchen Abweichungen. Während die SPD ihren Kanzler- Jeder Wähler hat zwei Stimmen. kandidaten Olaf Scholz schon im August 2020 ausgerufen hat- te, ließen sich die Unionsparteien und die Grünen mit der Kan- didatenkür bis April 2021, AfD, Linke und FDP sogar bis Mai 2021 Zeit. Bei den Programmen bildeten die Union und die Linke die Stimmzettel Schlusslichter (Juni 2021). In der anschließenden zweiten Phase steht die Mobilisierung Die Erststimme Erststimme Zweitstimme Kandidat A Partei A der eigenen Anhängerschaft im Vordergrund, die die Wahl- gilt den im Die Zweitstimme Wahlkreis Kandidat B Partei B kampfbotschaften der Partei in die Bevölkerung hineintragen aufgestellten Kandidat C Partei C gilt den Parteien. soll. Sie wird von zahlreichen Veranstaltungen und Kundge- Direktkandidaten. Kandidat D Partei D bungen begleitet, die normalerweise überwiegend „outdoor“ stattfinden, in diesem Jahr wegen der Pandemie aber großen- teils in das Netz verlagert werden müssen. Wahlplakate etwa sechs bis acht Wochen vor der Wahl und Wahlwerbespots in den letzten vier Wochen markieren die dritte, 2 Auszählung und Berechnung „heiße“ Phase. Um die nicht auf eine Partei festgelegten, unent- schlossenen Wählerinnen und Wähler zu erreichen, ziehen die Wettbewerber hier alle Register des traditionellen Straßen- und Kandidat Partei modernen Medienwahlkampfs. Höhepunkt ist der Schlagab- tausch (das sogenannte Kanzlerduell) der Personen, die für die Kanzlerschaft kandidieren, etwa zwei Wochen vor der Wahl. Er 5% wird im Fernsehen übertragen und ist seit 2002 zu einem festen A B C D A B C D Bestandteil der Wahlauseinandersetzung geworden. In diesem Jahr wird er zum ersten Mal von drei Personen bestritten. Für die Wählerinnen und Wähler ist die Wahl zumindest Die Zweitstimmen der einzelnen Parteien werden bundesweit formal eine bequeme Angelegenheit (siehe auch S. 12–13). So- Kandidat B addiert. Parteien mit weniger fern sie ordnungsgemäß gemeldet sind, wird ihnen die Wahl- hat die meisten Stimmen in als 5 % aller Stimmen werden seinem Wahlkreis. nicht weiter berücksichtigt*. berechtigungskarte automatisch zugesandt. Die Wahllokale Er zieht für seine Partei sind für die meisten Wählerinnen und Wähler fußläufig er- in den Bundestag ein. Entsprechend der Stimmenanteile werden die Bundestagsmandate reichbar. Die Wahlberechtigungskarte muss im Wahllokal vor- auf die Parteien verteilt. gezeigt werden. Fehlt sie, kann eine Identifizierung durch den Personalausweis erfolgen. Wer in einem anderen Wahllokal innerhalb des Wahlkreises wählen möchte, kann dafür einen Wahlschein beantragen. Dieser ist auch den Briefwahlunterla- gen beigefügt, die ab ca. sechs Wochen vor der Wahl erhältlich sind. Allerdings empfiehlt es sich, Wahlschein und Briefwahl- 3 Sitzverteilung unterlagen schon früher zu beantragen, also nicht erst nach Er- Die Bundestagssitze werden zunächst mindestens zur Hälfte mit den halt der Wahlberechtigungskarte. Der Wahlbrief muss bis zur Wahlkreisgewinnern besetzt. Die übrigen freien Plätze füllen die Parteien Schließung der Wahllokale in der Gemeindebehörde eintreffen. gemäß ihrem Zweitstimmenanteil mit Kandidaten ihrer Landeslisten. Wer ihn nicht der Post anvertrauen will, kann ihn dort in den Tagen vor der Wahl persönlich abgeben. Bundestag regulär 598 Sitze aktueller Bundestag 709 Sitze Wenn das Ergebnis am Wahlabend feststeht, beginnt der Prozess der Regierungsbildung. Dieser besteht aus vier Etap- pen. Zunächst sondieren die Parteien, mit welchen Partnern D sie eine Koalition bilden wollen oder können. Danach werden Koalitionsverhandlungen geführt, die in einen Koalitions- vertrag münden. Im Laufe der Zeit sind diese Verträge immer B C umfangreicher geworden, was die Verhandlungen aufwendi- ger macht und in die Länge ziehen kann. Anschließend unter- breiten die Parteien den Koalitionsvertrag ihren Gremien zur + Überhangmandate + Ausgleichsmandate Zustimmung. Tritt anstelle eines Parteitagsbeschlusses ein Wenn eine Partei mehr Wahl- Im Anschluss erhalten die Mitgliederentscheid wie in der SPD 2013 und 2017, nimmt das kreisgewinner hat, als ihr anteilig anderen Parteien so viele Aus- ebenfalls weitere Zeit in Anspruch. Ihren Abschluss findet die Sitze zustehen, bekommt sie die gleichsmandate, bis das zusätzlichen Sitze trotzdem. ursprüngliche Kräfteverhältnis Regierungsbildung mit der Wahl des Kanzlers/der Kanzlerin gemäß Zweitstimmenanteil im Bundestag und der Ernennung der Ministerinnen und Mi- wieder hergestellt ist. nister durch den Bundespräsidenten nach Vorschlag des Kanz- *Erringt eine Partei drei Direktmandate, bekommt lers/der Kanzlerin. Danach werden die Mitglieder des neuen sie Mandate gemäß ihrem Zweitstimmenanteil. Bundeskabinetts im Bundestag vereidigt. © picture-alliance/dpa-infografik 30 147; Quelle: bpb, Korte Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021 9
Bundestagswahl 2021 Wie Politik und soziale Netzwerke auf Fake News vor der Bundestagswahl reagieren […] Nach einer Studie des Europäischen Auswärtigen Diens- […] Spätestens wenn Abgeordnete und Parteien sich kümmern, tes ist kein Land in der EU so stark von Desinformation be- stellt sich die Frage, was eigentlich die sozialen Netzwerke troffen wie Deutschland. Vor aller Augen rüstet sich Moskau tun. Sie bieten schließlich den Nährboden für Desinforma- für den „Informationskrieg“ gegen den Westen: In Berlin wird tionskampagnen. „Wir stehen in intensivem Austausch mit gerade RT Deutsch [Russia Today] aufgebaut, ein russischer Google, Facebook und ähnlichen Unternehmen, deren Ge- Fernsehsender, der beim deutschen Publikum Zweifel am schäftsmodelle bedroht sind, wenn sie Desinformation und westlichen System säen soll. Im Verborgenen gehen Angreifer Einflussnahme nicht bekämpfen“, sagt Staatssekretär Kerber mit Phishing-Attacken auf Politiker los, in „Hack-and-Leak“- vom Innenministerium. [Julian] Jaursch von der Stiftung Neue Operationen ergaunern sie erst private Informationen und ge- Verantwortung fordert, dass die Plattformen ihre Sicherheits- ben sie dann der Öffentlichkeit preis. Internetseiten werden konzepte konsequent umsetzen. „Inzwischen haben das schon abgeschaltet oder Konten in sozialen Medien unbemerkt über- viele verstanden.“ nommen. Ganze Armeen von Trollen sind unterwegs und flu- Wer geschäftige Betriebsamkeit bei der Lösung des Problems ten das Netz mit Falschinformationen. Das ist das Gefährdungs- sucht, wird tatsächlich bei Facebook fündig. […] bild, das sich schon jetzt ergibt, obwohl die Politik noch nicht Die Bundestagswahl 2021 stehe ganz oben auf der Agenda, einmal in die heiße Phase des Wahlkampfs eingetreten ist. […] sie sei Facebooks „Top Priority“, versichert Nick Clegg. Früher Im Bundesinnenministerium wurde 2018 in der Grundsatz- war Clegg stellvertretender Premierminister des Vereinigten abteilung das Referat „Politische Ordnungsmodelle und hybri- Königreichs und ist deshalb hinreichend gestählt in politi- de Bedrohungen“ geschaffen, das für das Problem zuständig ist. schen Wahlkampfmanövern. Seit 2018 ist er Facebooks obers- […] Das Haus geht von einer „hohen abstrakten Bedrohungslage“ ter Politik-Stratege […]. Von einem interdisziplinären Team mit aus, wie es in einer Analyse heißt, die der F.A.Z. vorliegt. „Die ge- 200 Mitarbeitern berichtet Clegg, unter ihnen ehemalige Ver- stiegene Dynamik, eine oft unüberschaubare Anzahl zum Teil fassungsschützer, Ermittler, Computerspezialisten. Seit dem widersprüchlicher Informationen, verschiedene Medien sowie vergangenen Herbst arbeitet sich die Truppe schon durch die eine Vielzahl an Akteuren im Informationsraum führen zu gro- Tiefen des Facebook-Netzwerks, um nach Bedrohungen Aus- ßen Herausforderungen in der Abwehr von gezielt verbreiteten schau zu halten. falschen und irreführenden Informationen.“ […] Gesucht werden „raffinierte Feinde“, wie sie im Facebook- […] Im Wahljahr 2021 werde ein Schwerpunkt auf die Inte- Jargon heißen, die die öffentliche Meinung gezielt manipu- grität des Wahlprozesses gelegt, versichert [der zuständige lieren durch „koordiniertes und zugleich unauthentisches Staatssekretär Markus] Kerber […].[…] Im „Kampf um die Köpfe“ Verhalten“. Sie tarnen ihre Herkunft und versuchen subtil, setzt das Bundesinnenministerium auf „Sensibilisierung der Halbwahrheiten und Propaganda unter das Volk zu streuen. Bevölkerung für Einflussnahme- und Desinformationskampa- Die Algorithmen werden immer besser darin, verdächtige Kon- gnen“ und auf eine „Ermutigung qualifizierter Fakten-Checks ten aufzuspüren, allein im letzten Quartal 2020 hat Facebook durch renommierte Private“. […] 1,3 Milliarden Konten gesperrt, die meisten von ihnen wenige […] „Solange die Einflussaktivitäten anderer Staaten legal Sekunden, nachdem sie eröffnet worden waren. sind, wenn auch illegitim, bleibt uns kein anderes Mittel“, fin- Aber auch die Kriminellen lernten dazu, sagt Clegg. Sie agier- det Kerber, zumal Desinformation staatlichen Akteuren oft ten nicht mehr so plump wie noch vor wenigen Jahren. Sie nicht klar zugerechnet werden kann. „Die Bundesregierung verbreiteten keine offenen Lügen und verstießen auch nicht kann nicht die Wahrheitskommission sein.“ Der Staatssekretär offensichtlich gegen die Hausregeln […]. Deshalb reichten […] will vermeiden, „dass eine antirussische oder antichinesi- selbstlernende Systeme nicht aus, um ihnen auf die Schliche sche Stimmung aufkommt“. Dahinter stehen Wirtschaftsinte- zu kommen, erfahrene Ermittler müssten ran. […] Facebook ressen: „Anders als zur Zeit des Kalten Kriegs ist die europäi- will zeigen, dass es sich immerhin Mühe gibt. Das Unterneh- sche Wirtschaft mit China und Russland eng verflochten, eben- men beschäftigt inzwischen mehr als 35 000 Menschen in al- so die Wissenschaft und Forschung“, sagt Kerber. ler Welt, die Falschinformationen suchen und sie mit Warnhin- Thomas de Maizière, Bundesinnenminister in der vergange- weisen versehen. […] nen Legislaturperiode, […] sieht das Land [gegen echte Cyberan- Doch Facebooks Betriebsamkeit sorgt nicht für Entwarnung – griffe] durch das Sicherheitsgesetz 2.0, das kürzlich verabschie- zu groß ist der Argwohn gegen das Konzerngeflecht aus den det wurde, schon ganz gut gerüstet. Ihm fehlt noch das Recht Plattformen Facebook, Whatsapp und Instagram. Wieder sind zum aktiven Gegenschlag, das sogenannte Hackback, das im es unabhängige Stellen, die auf mögliche Gefahren hinweisen: Koalitionsvertrag verabredet, aber noch nicht umgesetzt wur- Der Politikbeobachter Julian Jaursch ist besorgt, dass sich die de. Doch gegen Desinformationskampagnen hat auch de Mai- Gesellschaft auf die Zusagen der Plattformen verlassen müsse, zière nicht den Stein der Weisen gefunden. „Entscheidend ist weil es kaum Transparenzpflichten gibt und keinen gesetzli- die Aufklärung der Bevölkerung“, sagt er und sieht da vor al- chen Rahmen. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz hilft nur bei lem das Bundespresseamt in der Pflicht. strafbaren Falschnachrichten; einfache Lügen, so gefährlich sie Und die Sprachrohre autoritärer Regime sollen unbehelligt auch sein können, fallen nicht darunter. […] ihren Informationskrieg führen? RT Deutsch bemüht sich ge- rade um eine Sendelizenz in Deutschland. „Natürlich könnte man ausländischen Sendern, die Propaganda betreiben, die Li- Helene Bubrowski und Corinna Budras, „Die Verführung des Wählers“, in: Frankfurter Allge- zenz entziehen“, sagt de Maizière, „aber das bringt überhaupt meine Zeitung vom 14. Mai 2021 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung nichts, seit sie über Satellit senden.“ GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv 10 Informationen zur politischen Bildung aktuell Nr. 37/2021
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