Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung

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Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Chronik
   1919 – 2019

                                                   © Hans Staub / Fotostiftung Schweiz
     Bürdeli-Transport um 1930

     Vom Kantonalen
     Jugendamt zum
     Amt für Jugend
     und Berufsberatung
     Text: Susanne Businger, Nadja Ramsauer

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Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Chronik AJB

                                      Gründungsphase des
                                      Kantonalen Jugend-
                                      amtes, 1919 bis 1945
© Hans Staub / Fotostiftung Schweiz

                                             Spazierfahrt der Kinderkrippe, 1931

                                           «Vorsorgliche und
                                            fürsorgliche Wohl-
                                            fahrtsbestrebungen
                                            für die Jugend»

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Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Um 1900 bildete sich die Vorstellung        Interpretations- und Handlungsspiel­          «Die weitere
heraus, dass Kindheit und Jugend            raum eröffneten. Im Kanton Zürich              Bewerbung
eigenständige Lebensphasen sind,            waren es die Vormundschaftsbehör­              eine[r] Dame
deren sich die Sozialpolitik annehmen       den, die Massnahmen nach Artikel               ist wohl nicht
muss. Die Jugendlichen wurden als           283 und 284 ZGB verfügten. Den Ent-            als solche auf
Quelle der gesellschaftlichen Erneue­       zug der elterlichen Gewalt gemäss
                                                                                           die Stelle des
r­ung betrachtet. Stammten sie aus
der Arbeiterschicht und lebten in der
                                            Artikel 285 beantragten sie hingegen
                                            beim Bezirksrat. Dieser war zugleich
                                                                                           Vorstehers
Stadt, galten sie den ersten Sozialre­      Entscheid- wie auch Rechtsmittelin­
                                                                                           aufzufassen.»
formerinnen und Sozialreformern             stanz und amtete gar als Aufsichtsor­
als besonders gefährdet. Im Kanton          gan über die Vormundschaftsbehörde.          die Erziehungsdirektion zu einer sieb­
Zürich setzte sich damals Friedrich         Aus rechtsstaatlicher Sicht stellte dies     ten Kandidatur, sondern «vielmehr als
Zollinger, kantonaler Erziehungs-           keine ausreichende Gewaltentrennung          Anmeldung auf Verwendung innerhalb
sekretär, für die Kinder- und Jugend-       dar. Nach einem Beschluss führte             des Organismus des Jugendamtes».
fürsorge ein. Er bereiste um 1900           häufig ein Jugendsekretär oder Amts­         Die Kinder- und Jugendfürsorge war
Deutschland, um die dortigen Bestre-        vormund das Kinderschutzmandat,              zu jener Zeit noch fest in Männerhand,
bungen für «verwahrloste Kinder»            seltener eine Privatperson. Die Mass­        zumindest was die Leitung der Amts­
kennenzulernen. Seiner Meinung nach         nahme endete in der Regel erst, wenn         stellen anging. In «besonders glück-
wusste man darüber in Zürich noch           die Kinder volljährig waren. 1               li­chem Masse vereinigt» erschienen der
zu wenig.                                                                                Erziehungsdirektion die Voraussetzun­
    In den folgenden Jahrzehnten                Das Kantonale Jugendamt                  gen bei Robert Briner, seinerzeit
erlebte auch die Schweiz einen Aus­             als Zentralstelle und sein               Sekretär des Vormundschaftswesens
bau der Kinder- und Jugendfürsorge,             erster Vorsteher Robert Briner           der Stadt Zürich. Geboren 1885, hatte
insbesondere in den Städten. 1912           Im Zusammenhang mit dem Ausbau               Robert Briner an den Universitäten
gründete die Schweizerische Gemein­         der Kinder- und Jugendfürsorge und           Zürich und Berlin Recht studiert und
nützige Gesellschaft die Stiftung           des zivilrechtlichen Kinderschutzes ist      in dieser Disziplin promoviert. Der Vor-
Pro Juventute, die sich zunächst der        auch die Gründung des Jugendamtes            stand des Vormundschaftswesens
Bekämpfung der Tuberkulose bei              im Kanton Zürich zu verstehen. Der           zollte Robert Briner bezüglich seiner
Kindern und Jugendlichen verschrieb.        Kantonsrat verabschiedete am 10. Feb-        «Arbeitsfreude, seiner Initiative, seinem
Nebst der Pro Juventute gab es in           ruar 1919 die Verordnung. Das Kanto­         praktischen Geschick, seinem sozia­
der Schweiz rund 3 000 weitere private      nale Jugendamt war als Zentralstelle         len Verständnis und seiner Charakter­
Organisationen der Kinder- und              konzipiert und vereinigte «die vorsorg­      eigenschaften die grösste Anerken­
Jugend­hilfe. Deren Aktivitäten sollten     lichen und fürsorglichen Wohlfahrts­         nung». Die Erziehungsdirektion sah die
die «Mängel und Lücken der häus­            bestrebungen für die vorschulpflichtige,     juristische Ausbildung Robert Briners
lichen Erziehung» beheben und damit         schulpflicht­i­ge und nach­schulpflichtige   als besonders geeignet an, um die
die soziale Not bekämpfen, die eine         Jugend». Es beaufsichtigte auch die          Amtsvormundschaften und die Jugend­-
langfristige Folge der Industrialisierung   Anstalten, Heime und die öffentlichen        gerichtsbarkeit im Kanton Zürich aus­
war und sich in der Zeit des Ersten         und privaten Hilfstätigkeiten. Die regio­    zubauen. Weiter hob sie hervor, dass
Weltkriegs akut verschärft hatte.           nal gegründeten Bezirksjugendkom­            Robert Briner «im besten Mannesalter
    Eine Möglichkeit, in Familien einzu­    mis­sionen übernahmen in den Bezirken        von 35 Jahren» stehe und im Militär
greifen, deren Eltern aus behördlicher      die gleiche Aufgabe wie die Zentral­         den Rang eines Hauptmanns im Ge­
Sicht ungenügend für ihre Kinder sorg-      stelle für den ganzen Kanton. Sie setz-      neralstab bekleide. Der Regierungsrat
ten, bot das Schweizerische Zivil-          ten sich aus verschiedenen «Bevölke­-        folgte dem Antrag der Erziehungs­
ge­setzbuch (ZGB) von 1907. 1912 ein­       rung­skreise[n], insbesondere auch der       direktion und wählte Robert Briner
geführt, sahen die Kinderschutzartikel      Frauen» zusammen. 2                          zum ersten Vorsteher des Kantonalen
des ZGB abgestufte Interventionen               Das Kantonale Jugendamt war der          Jugendamtes. Seine Amtszeit dauerte
vor. In den drei Artikeln 283, 284 und      Erziehungsdirektion unterstellt. Diese       von 1919 bis 1935. Danach wurde er
285 regelte das ZGB die sogenannte          schlug jeweils dem Regierungsrat den         als Vertreter der Demokratischen Partei
Fürsorgeaufsicht, die Fremdplatzie­         Vorsteher des Jugendamtes zur Wahl           in den Regierungsrat gewählt, in dem
rung und schliesslich den Entzug der        vor. Auf die erste Stellenausschreibung      er zunächst der Polizei- und Militär­
elterlichen Gewalt. Besondere Bedeu­        hatten sich sechs Bewerber gemeldet.         direktion, sodann zwischen 1943 und
tung kam dabei den Rechtsbegriffen          «Die weitere Bewerbung eine[r] Dame          1951 der Erziehungsdirektion vorstand. 3
«Gefährdung» und «Verwahrlosung»            ist wohl nicht als solche auf die Stelle          1920 begann das Kantonale Jugend­-
zu, die den Behörden einen grossen          des Vorstehers aufzufassen», meinte          amt, die sogenannten Aktuariate der

                                                                                                                   49
Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Chronik AJB: 1919 –1945

Bezirksjugendkommissionen zu               Kinder im vorschul- und schulpflichti­     mit einer solchen Überzeugung und
Sekretariaten auszubauen. Diese            gen Alter, das Jugendamt II mit der        Erbitterung der ständige Vorwurf ge-
Bezirksjugendsekretariate waren die        vorsorglichen Hilfe zugunsten schul­       macht wird, er verziehe, verzärtele
ausführenden Organe der Kommis­            entlassener Jugendlicher einschliess­      und verhätschele die heranwachsende
sionen. 1926 wurden bereits fünf           lich Berufsberatung. Das Jugendamt III     Jugend, wie seitens der schweizeri­
Bezirksjugendsekretariate hauptamt­        bot fürsorgliche Hilfe zugunsten aller     schen Bauernsame.» Dem wollte
lich geführt. In den restlichen sechs      minderjährigen Personen. Die Abteil­ung    Briner begegnen, indem «das Gefühl
Sekretariaten waren Lehrer im Neben-       IIIa befasste sich mit der freiwilligen,   der Mitverantwortung des ganzen
amt tätig, bis auf eine Ausnahme,          IIIb mit der gesetzlichen Jugendfürsor-    Volkes am Schicksal leidender Mit­
ein Gerichtsschreiber. 4 Ebenfalls         ge. Ihr waren auch die Amtsvormunde        menschen planmässig» geweckt
1920 gründete der Regierungsrat            zugeteilt. 6                               wird,  8 und indem das Kantonale
auf Antrag der Erziehungsdirektion             Dem Jugendamt III stand mit der        Jugendamt in der präventiven Jugend-
sogenannte Jugendschutzkommis­             Juristin Lina Lüthy eine Frau vor und      hilfe eine Vorreiterrolle einnahm.
sionen, welche die Bestrebungen zur        das Büro war ausschliesslich durch             Weiter setzte sich Robert Briner,
«Bekämpfung der Kriminalität von           Frauen besetzt. Das entsprach nicht        der von 1930 bis 1958 Präsident der
Kindern und Jugendlichen» zu fördern       dem bürgerlichen Geschlechterver­          Schule für Soziale Arbeit in Zürich
hatten. 1927 übernahmen schliess­          ständnis, das für Frauen die Fallbe­       war, für eine stärkere Vertretung von
lich die Bezirksjugendkommissionen         treuung vorsah. Die Amtsleitung sollte     Frauen in der Jugendhilfe ein. Die
diese Aufgabe und unterstützten die        Männern vorbehalten bleiben. Dem­          Arbeit in der öffentlichen Jugendhilfe
Jugendanwaltschaft bei der «Hilfe für      entsprechend abschätzig sprachen           werde zurzeit «in allzu überwiegen­
die rechtsbrechende Jugend». 5 Diese       Fürsorgeamt und Vormundschaftsbe­          dem Masse vom Manne geleistet»,
Gründungen und Umstrukturierungen          hörde in den 1930er-Jahren von einer       den Frauen sei erst in wenigen Städ­
zeigen, dass im Kanton Zürich die          «Weiberwirtschaft», die im Jugendamt
Jugendfürsorge von Beginn an einen         III herrsche. Das Jugendamt der Stadt       «Genau wie Mut-
engen Bezug zur Jugendstrafrechts­         Zürich agierte unabhängig vom Kan­           ter und Vater
pflege hatte und beides unter erziehe­     tonalen Jugendamt, stand mit diesem          gemeinsam die
rischen Aspekten betrachtet wurde.         aber in einem engem Austausch. 7             elterliche Ge-
                                                                                        walt ausüben,
   Das Jugendamt der Stadt                     Vorbeugende statt zivilrecht-
                                                                                        so sollten Mann
   Zürich mit einer besonderen
   Organisationsform
                                               lich intervenierende Jugend-
                                               hilfe
                                                                                        und Frau gleich-
Die Stadt Zürich nahm schon früh eine      Robert Briner verstand unter Jugend­
                                                                                        berechtigt auch
pionierhafte Stellung ein. Bereits 1908    hilfe «alle Bestrebungen privaten und
                                                                                        miteinander in
richtete das Schulamt ein Kinderfür­       öffentlichen Charakters», die «ausser­       der Jugendhilfe
sorgeamt ein. Dieses kümmerte sich         halb von Schule und Familie dem              arbeiten.»
um die «körperliche und sittliche Wohl­-   Wohl der Jugend dienen». Er betonte
fahrt von Kindern des schulpflichtigen     erstaunlich früh, wie wichtig nebst        ten die «Mitwirkung in den Vormund­
und vorschulpflichtigen Alters». Es        den «fürsorgliche[n]» auch die «vor­       schafts-, Armen- und Schulbehörden»
organisierte Schülerspeisungen, gab        sorgliche[n], vorbeugende[n], pro­         erlaubt. Dies erachtete Briner als
Kleider an bedürftige Kinder ab und        phylaktische[n] Massnahmen» waren.         Problem, denn «genau wie Mutter und
richtete Ferienkolonien ein. Daneben       Leider stehe man in der Schweiz            Vater gemeinsam die elterliche Gewalt
beschäftigten sich die Armenpflege,        «im allgemeinen [sic] der Wohlfahrts­      ausüben, so sollten Mann und Frau
das Waisenamt und die Amtsvormund-         pflege, und hier insbesondere der          gleichberechtigt auch miteinander in
schaft mit Fragen des Kinderschutzes.      Prophylaxis, der Vorbeugung, wenig         der Jugendhilfe arbeiten». 9 Ob Robert
Um einer Zersplitterung der Fürsorge       einsichtsvoll, und deshalb passiv, ja      Briner Frauen für leitende Positionen
entgegenzuwirken, wurde im Jahr            leider gelegentlich sogar feindselig»      als geeignet ansah oder sie lediglich
1929 das städtische Wohlfahrtsamt          gegenüber. Gründe dafür sah Briner         als Fürsorgerin ihre vermeintlich weib-
geschaffen. Dieses umfasste die zent­      im harten und entbehrungsreichen           lichen Eigenschaften einbringen sollten,
rale Abteilung, die Dienstabteilungen      Leben, insbesondere des «Gebirglers».      lässt sich nicht sagen. Deutlich wird
Jugendamt und Fürsorgeamt sowie die        Die daraus resultierende Gesinnung,        hingegen in einem Referat von 1935,
Vormundschaftsbehörde.                     dass «jeder […] sich selbst helfen»        dass Briner mit Referenz auf Pesta­-
   Das städtische Jugendamt gliederte      soll, stand den Prinzipien der Jugend-     lo­zz­ i die Familie als «Zentrum der Er-
sich in drei Abteilungen. Das Jugend­      hilfe entgegen. «So kommt es, dass         ziehung» verstand. Somit sei die
amt I befasste sich mit dem Wohl der       dem Sozialpolitiker vielleicht nirgends    Familie mit geschlechterspezifischer

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Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Rollenteilung zwischen Vater und            Ferienlager
Mutter auch das «Zentrum der Jugend-
hilfe». Erziehung und vorsorgliche
Jugendhilfe, so führte er weiter aus,
sei «gar kein Unterschied, es ist
dasselbe». 10

    Der Einsatz für Schülerinnen
    und Schüler …
Ein besonderes Gewicht hatten Ein­
richtungen für Kinder im schulpflich­
tigen Alter. Das Gesetz über die Leis­
tungen des Staates für das Volksschul­-
wesen und die Besoldungen der Leh­-
rer von 1912 verpflichtete den Kanton,
fürsorgerische Einrichtungen der
Schulgemeinden zu subventionieren.
Unter Aufsicht des Kantonalen Jugend-
amtes wurden Ferienkolonien, Ferien-
und Jugendhorte geschaffen. Ziel der
Horte war es, «die Jugend während
der schulfreien Zeit zu beaufsichtigen
und sie dem Leben auf der Strasse zu
entziehen». Horte gab es 1926 aller­
dings erst in den städtischen Gemein-
den. Weitere Aufgabenschwerpunkte
bildeten die Abgabe von Nahrung und
Kleidung an bedürftige Schülerinnen
und Schüler, die Schulgesundheits­
pflege sowie die «Versorgung anor­
maler Schüler in Anstalten». Kinder
und Jugendliche, welche dem Unter­
richt der Volksschule nicht folgen kon­
nten, wurden damals als «anormal»
oder «geistesschwach» bezeichnet.
    Davon unterschieden wurden
«schwer erziehbare» Kinder und
Jugendliche, die von den Vormund­           Ziel der Horte                         betrachtet. Diese Haltung hatte auch
schaftsbehörden in eigens geschaf­          war es, «die                           Robert Briner: «Die Anlage kann
fenen Erziehungsanstalten unterge­          Jugend wäh-                            man leider nicht mehr ändern. Darum
bracht wurden. 11 Vorgängig suchten         rend der schul-                        ändert man die Umgebung.» 13
Fürsorgerinnen, die in den Amtsvor­         freien Zeit zu
mundschaften tätig waren, die Fami­
                                            beaufsichtigen                            … und die Betreuung der
lien auf und inspizierten den Haushalt.
Was sie vorfanden, massen sie an
                                            und sie dem                               vor- und nachschulpflichtigen
                                                                                      Kinder und Jugendlichen
ihren eigenen bürgerlichen Normen.
                                            Leben auf der                          Während die Fürsorge für Schülerin­
Sie unterstellten den Müttern fehlen­
                                            Strasse zu ent-                        nen und Schüler bereits relativ gut
de Hygiene und schlechte Haushalts­         ziehen».                               ausgebaut war, meinte Robert Briner
führung. Das tiefe Erwerbseinkommen                                                1927, die vor- und nachschulpflichti­
der Familien aus der Arbeiterschicht      Umgebung». Sie platzierten die Kinder    gen Kinder und Jugendlichen seien
war für sie nicht strukturbedingt, son-   und Jugendlichen häufig weit weg von     vernachlässigt, was im Kanton Zürich
dern selbstverschuldet. 12 Die Behörden   den Eltern, um deren Einfluss zu mini-   «planmässig bekämpft» werden
begriffen die «gefährdeten» Minder­       mieren. Eltern wurden in der Jugend­     müs­se: «Es ist höchste Zeit hierfür,
jährigen als «Produkt ihrer Anlage und    hilfe nicht als Kooperationspartner      denn jedermann weiss heute, dass

                                                                                                           51
Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Chronik AJB: 1919 –1945

                                   Berufsberatungsstelle für Mädchen der Stadt Zürich, ca. 1929
Foto: Paul Senn, FFV, KMB, Dep. GKS. © GKS.

                                                                                                                                      Foto: Paul Senn, FFV, KMB, Dep. GKS. © GKS.

                                   Sprechstunde im Büro einer Sozialarbeiterin,       Eine Fürsorgerin auf Hausbesuch, 1930er-Jahre
                                   1930er-Jahre

                                              52
Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
der Grund zum Menschen schon in            Ein anderes                             trisch-pädagogische Untersuchung
den ersten Lebensjahren gelegt wird,       probates Mittel                         der Jugendlichen fehlte. Es ging von
und ferner, dass das Rüstzeug, das         für «schwer er-                         jährlich 300 bis 400 Jugendlichen aus,
die Schule der Jugend mitgibt, zum         ziehbare» oder                          die vor einer allfälligen Versorgung
Kampf ums Leben bei weitem nicht           «schwachsinni-                          einer Untersuchung bedürften und
mehr genügt.»  14 Das Kantonale
                                           ge» Jugendliche                         schlug die Einrichtung von Beobach-
Jugendamt verstärkte deshalb sein
Engagement für Kinder im vorschul­
                                           war aus Sicht                           tungs­­stationen vor. In abgeänderter
                                                                                   Form wurde dieser Passus aufgenom­
pflichtigen Alter. Die Säuglings- und
                                           des Jugendam-                           men. Das Versorgungsgesetz sah obli-
Kleinkinderpflege wurde erweitert,
                                           tes die Heim-                           gatorisch eine «gründliche ärztliche
Mütterberatungsstellen wurden              erziehung.                              und pädagogische Untersuch­ung» der
gegründet und in die Kinderkrippen,                                                betroffenen Jugendlichen vor. 17
Heime und Kindergärten investiert.       Kanton Zürich» in ausserkantonale             Eine solche Begutachtung, aller­
    Ebenso ortete das Jugendamt          Anstalten ein, darunter die Zwangs­       dings lediglich ambulant, war in der
Bedarf bei Jugendlichen nach der         erziehungsanstalt Aarburg. Weibliche      Psychiatrischen Poliklinik für Kinder
obligatorischen Schulzeit. Die Berufs­   «schwer erziehbare» und «verwahr­         und Jugendliche möglich, die sich an
beratung wurde ausgebaut, aber auch      loste» Jugend­liche, die den Behörden     der Kantonsschulstrasse 1 befand.
die Jugendpflege, indem beispiels­       als «sittlich gefährdet» galten, wurden   Die Direktionen des Gesundheitswe­
weise Jugendbibliotheken eingerichtet    beispielsweise im stadtzürcherischen      sens, der Justiz und des Erziehungs­
wurden. Daneben bildeten Jugendliche     Mädchenasyl Heimgarten in Bülach,         wesens orteten aber Bedarf bei statio­-
in schwierigen Lebenslagen, sogenannte   im Mädchenasyl Pilgerbrunnen oder         nären Beobachtungsstationen. Für
 «mindererwerbsfähige» und «schwer       im Mädchenheim Tannenhof unter­           Schulpflichtige existiere zwar die Kin-
erziehbare» Jugendliche, zwei weitere    gebracht. 15                              der­station Stephansburg, die ab 1944
Zielgruppen des Jugendamtes. Für                                                   Kantonales Kinderheim Brüschhalde
Minderjährige mit einer Behinderung          Das Versorgungsgesetz für             hiess. Für männliche oder weibliche
oder «sonstwie [sic] in ihrer Entwick­       «sittlich verdorbene oder ge-         Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahr­-
lung gehemmte» Jugendliche führte            fährdete» Jugendliche von             en gebe es aber keine vergleichbare
das Jugendamt die Arbeitsgemein­             1925                                  Einrichtung. Die drei Direktionen schlu-
schaft für Mindererwerbsfähige sowie     Die Einweisung sogenannt schwer           g­en vor, das Landerziehungsheim
den Verein Zürcher Werkstätten ein,      erziehbarer Jugendlicher in Anstalten     Albisbrunn als Beobachtungsheim für
die Beschäftigungs​programme durch­      und Heime stützte sich zumeist auf        männliche Jugendliche und das
führten.                                 Artikel 284 des ZGB, der eine nicht       Arbeitsheim Pfäffikon für die Begut­
    Ein anderes probates Mittel für      näher definierte «Gefährdung» oder        ach­tung von weiblichen Jugendlichen
«schwer erziehbare» oder «schwach­       «Verwahrlosung» voraussetzte.             zu nutzen. Im November 1941 schloss
sinnige» Jugendliche war aus Sicht       Da­neben verfügten die Behörden im        der Kanton Zürich einen entsprech­en­-
des Jugendamtes die Heimerziehung.       Kanton Zürich mit dem «Gesetz über        den Vertrag mit den beiden Heimen
Die Stadt Zürich verfügte über ver­      die Versorgung von Jugendlichen,          ab. Das neue, zusätzliche Angebot
schiedene Heime für nachschulpflich­     Verwahrlosten und Gewohnheits­            ergänzte fortan die Untersuchungen
tige Jugendliche mit körperlichen        trinkern» vom 24. Mai 1925, dem           in der Stephansburg. Der leitende
und geistigen Beeinträchtigungen,        sogenannten Versorgungsgesetz,            Arzt der Stephansburg, Jakob Lutz,
etwa die Anstalt Regensberg oder         über einen zweiten Erlass, um «sittlich   erstellte die Gutachten zusammen mit
die Schenkung Dapples, Anstalt für       verdorben[e] oder gefährdet[e]»           dem Erziehungspersonal. 1947 baute
Epileptische. Verschiedene Einrich­      Jugendliche, «die ihren Eltern oder       der Regierungsrat die kinderpsychia­
tungen der Stadt Zürich waren auf        Vormündern böswilligen und hart­          trischen Dienste im Kanton Zürich
sogenannt schwer erziehbare Buben        näckigen Widerstand leisten», in eine     weiter aus und schuf die Stelle eines
und männliche Jugendliche ausge­         Zwangserziehungsanstalt einzu­            Oberarztes an der Psychiatrischen
richtet, darunter das Knabenheim         weisen. 16 Robert Briner hatte sich für   Poliklinik für Kinder und Jugendliche.
Selnau und das Landerziehungsheim        das Versorgungsgesetz stark gemacht.      Während in der Stadt Zürich der
Albisbrunn in Hausen am Albis. Für       Im November 1919 wandte er sich im        Kinder- und Jugendpsychiatrische
Adoleszente stand die Kantonale          Namen des Kantonalen Jugendamts           Dienst der Gesundheitsdirektion unter-
Arbeitserziehungsanstalt Uitikon am      an die vorberatende Kommission des        stand, war er andernorts den Bezirks-
Albis zur Verfügung. Daneben wiesen      Kantonsrates. Das Jugendamt wies          jugend­sekretariaten angegliedert.
die Behörden «in Ermangelung einer       darauf hin, dass im vorliegenden Ge-      In Winterthur und im Bezirk Hinwil
eigenen Zwangserziehungsanstalt im       setzesentwurf die gründliche psychia­     wurde 1947 je eine Fürsorgerin für den

                                                                                                            53
Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Chronik AJB: 1919 –1945

           Rudolf und Martha
           Messmer
Rudolf und Martha Messmer * 22 haben          Spielplätze gibt es keine. Die Wohn­                   «Das
früh geheiratet und gemeinsam vier            verhältnisse sind eng. Familie Mess­                   Geschirr vom
Kinder. Rudolf Messmer arbeitet in            mer wohnt in zwei kleinen Zimmern.                     Morgenessen
der Maschinenfabrik Escher Wyss.              Das Ehepaar hat öfters Streit. Meis­                   steht noch auf
Er ist für das Erwerbseinkommen               tens sind die ständigen Geldsorgen                     dem Tisch, Essensreste liegen auf
zuständig, gemäss Zivilgesetzbuch             oder die Wirtshausbesuche von Rudolf                   dem Boden. Auch die Hygiene lässt
ist er das «Familienoberhaupt». 23            Messmer Anlass für die Auseinander­                    zu wünschen übrig. Das Haar der
Martha Messmer betreut die Kinder,            setzungen. Die Nachbarn beäugen die                    Kinder ist ungekämmt, die Hemden
führt den Haushalt und bessert mit            Familie schon länger misstrauisch.                     sind schmutzig. Martha Messmer
Heimarbeit das Einkommen ihres                Als es «wieder einmal laut zu und her                  kommt ihren Hausfrauenpflichten nur
Mannes auf. Sie flickt Kleider und            geht», wenden sie sich in einem ano­                   ungenügend nach. Auch der Vater
wenn immer sich ihr die Möglichkeit           nymen Schreiben an die Amtsvor­                        macht keinen sehr resoluten Ein­
bietet, putzt sie in besseren Quartie­        mundschaft der Stadt Zürich, die sich                  druck.» Die Vormundschaftsbehörde
ren Wohnungen und Amtsstuben.                 an der nahe gelegenen Selnaustrasse                    beschliesst auf Antrag der Amts­
Die Kinder spielen nach der Schule            befindet. Diese schickt ein paar Tage                  vormundschaft, eine Fürsorgeaufsicht
im Freien. Das gehört an der Hein­            später eine Fürsorgerin vorbei, um die                 zu errichten. Fortan besucht die Für­
richstrasse zum gängigen Strassen­            Lebensverhältnisse der Familie Mess­                   sorgerin die Familie regelmässig und
bild, ist den Sozialreformern der Stadt       mer zu überprüfen. Sie betritt kurz vor                erteilt der Mutter Anweisungen zur
                      Zürich aber ein         Mittag unangemeldet die kleine Woh­                    Kindererziehung und Haushaltführung.
                       Dorn im Auge.          nung und nimmt sogleich «die unge­                     Die angedrohte Heimplatz­ierung hängt
                                              machten Betten und ungelüfteten                        wie ein Damoklesschwert über der
                                              Zimmer» wahr, wie sie später in ihrem                  Familie Messmer.
                                              Bericht vermerkt:

Fakt                                           250
Im Kanton Zürich und insbesondere in den
Städten Winterthur und Zürich entstanden       225
in der Zwischenkriegszeit zahlreiche so­
ziale Wohnprojekte, um der Wohnungsnot         200
zu begegnen. Gleichwohl blieb der grosse
Wohnungsmangel spürbar. Das Angebot            175
blieb deutlich hinter der Nachfrage zurück.
Die Mieterschutzbestimmungen – in der          150
Zeit des Ersten Weltkriegs erlassen –,
wurden in den 1920er-Jahren stufenweise        125
zurückgenommen und schliesslich 1926
                                               100
ganz abgeschafft. Die Folge davon waren
rasch ansteigende Mietpreise im Zeit­           75
raum 1920 bis 1930, die anschliessend auf
hohem Niveau stagnierten.                       50

                                                25

                                                0
                                                       1920

                                                                1922

                                                                       1924

                                                                              1926

                                                                                       1928

                                                                                              1930

                                                                                                      1932

                                                                                                               1934

                                                                                                                      1936

                                                                                                                             1938

                                                                                                                                    1940

                                                                                                                                           1942

                                                                                                                                                  1944

                                               CHF

                                                              2 Zimmer               3 Zimmer                4 Zimmer

                                               Mittlerer Jahresindex der Miete für alte Wohnungen
                                               (vor 1917 erbaut) in der Stadt Zürich 1920 – 1944

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Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
kinderpsychiatrischen Dienst ange­           Gesetzgebung darüber in Bund und             Das Jugend-
stellt. 18 Dies unterstrich die Absicht      Kantonen sind in ständigem Fluss.» 19        amt, die Behör-
des Kantons, den harten polizeilichen,           Zu jener Zeit war bereits Robert         den und private
richterlichen und vormundschafts­            Briners Nachfolger, Emil Hauser, im          Organisationen
behördlichen Zugriff auf Jugendliche,        Amt. Er lancierte neue Themen. So            wie die Pro
den das Versorgungsgesetz erlaubte,          wirkte das Jugendamt beratend mit
                                                                                          Juventute fass-
durch psychiatrische Abklärungen
zu ergänzen, die im Verlaufe des 20.
                                             bei der Ausarbeitung der Einführungs­
                                             gesetze zum Berufsbildungsgesetz
                                                                                          ten sich als
Jahrhunderts immer mehr an Bedeu­            und zum Strafgesetzbuch. 1942 trat
                                                                                          Autoritäten auf,
tung gewannen. Die individualisie­           das Jugendamt im Jugendstrafver­
                                                                                          die gegenüber
rende, medizinische Sichtweise auf           fahren an die Stelle der Staatsanwalt­       Kindern und
Jugendliche verdrängte die herkömm­          schaft und in mehreren Bezirken über­-       ihren Familien
liche Sorge um den Schutz der öffent­        nahmen Jugendsekretäre als «Jugend­­-        gemeinsam
lichen Ordnung.                              anwälte» strafrechtliche Funktionen.         Massnahmen
                                             Ein weiterer Schwerpunkt lag weiter­         durchsetzten,
    Gescheiterte Bemühungen um               hin bei der Ausbildung der «ungelern­        die schon nach
    ein Jugendwohlfahrtsgesetz               ten Jugend». Die Möglichkeiten, sich         damaligen
    und neue Themenschwer-                   nach der Volksschule fortzubilden,           Massstäben
    punkte                                   waren gemäss Emil Hauser nach wie            fragwürdig
Gegen Ende der 1920er-Jahre be­-
mühte sich Robert Briner intensiv um
                                             vor ungenügend. Die Weiterbildung
                                             der Schulentlassenen und die Berufs­
                                                                                          waren.
ein kantonales Jugendwohlfahrts­             beratung waren ihm wie schon Robert        fahrenden Familien in der Schweiz die
gesetz. Er reichte am 30. Januar 1928        Briner ein wichtiges Anliegen. 20          Kinder weg, um gegen das «Vagan­
beim Regierungsrat eine entsprechen­             Das Kantonale Jugendamt bewegte        tentum» vorzugehen. Die Kinder galten
de Motion ein. Das neue Gesetz würde,        sich in der ersten Hälfte des 20. Jahr­-   gleichermassen als gefährdet wie auch
so seine Argumentation, die bereits          hunderts zwischen zwei gegensätz­li­       als Gefahr für die Gesellschaft. 21 Zu
geltenden Schutzbestimmungen kan­            chen Polen. Auf der einen Seite stand      keinem Zeitpunkt hinterfragten das
tonalen und eidgenössischen Rechts           die Fürsorge für Jugendliche, die in       Jugendamt oder die Vormundschafts­
systematisch zusammenfassen. Zu­-            pre­kärer ökonomischer Situation           behörden im Kanton Zürich die Motive
gleich sollte der Erlass die Frage «der      heran­­wuchsen. Hier unterstützte das      von Alfred Siegfried, dem Leiter des
primären Verantwortung gegenüber             Jugendamt und nahm schon früh den          «Hilfswerks». Die Vormundschaften,
der gefährdeten Jugend» lösen. Es sei        Grundsatz der Prävention vorweg. Auf       die er beantragte, ordneten die Behör­-
nicht gut, dass sich ganz unterschied­       der anderen Seite spielte der Schutz       den an.
liche Behörden und Gerichte der              der öffentlichen Ordnung eine wichti­ge
Jugendlichen annahmen. Desiderate            Rolle, was sich etwa im Enga­gement
einer modernen Jugendhilfe waren für         von Robert Briner für das Versorgungs-
Briner der Schutz der schulpflichtigen       ­­gesetz zeigte. Das Jugend­amt befür­
Jugend vor ausbeuterischer Erwerbs­          wortete, dass Vormundschafts­behörde
tätigkeit, vor «niedriger Schundliteratur»   und Jugendanwaltschaft im Verbund
und schlechten Filmen und schlies­s­lich     mit den medizinisch-psychiatrischen
vor Alkohol- und Nikotinkonsum. Der          Sachverständigen hart gegenüber
Regierungsrat erklärte die Motion            Jugendlichen durchgriffen, denen sie
zunächst für erheblich, nur um 1948          «Gefährdung», «Verwahrlosung» und
eine Kehrtwende zu machen: «Ein              Widerstand gegen die Generation der
Gesetz über die gesamte Jugendhilfe          Eltern unterstellten. Das Jugendamt,
zu erlassen, welches die bisherigen          die Behörden und private Organi­satio-
Bestimmungen zusammenfassen und              nen wie die Pro Juventute fassten sich
neue hinzufügen würde, ist formell           als Autoritäten auf, die gegenüber
unmöglich, weil es sich um ein weit­         Kindern und ihren Familien gemeinsam
schichtiges Gebiet handelt, über das         Massnahmen durchsetzten, die schon
nicht nur der Kanton, sondern auch           nach damaligen Massstäben fragwür­
der Bund zu legiferieren hat. Eine sol­      dig waren. Besonders deutlich zeigt
che ‹Kodifikation› wäre aber auch            sich dies im Falle des «Hilfswerks
nicht zeitgemäss. Die Lebensverhält­         für die Kinder der Landstrasse». Das
nisse der Jugendlichen und die               «Hilfswerk» der Pro Juventute nahm

                                                                                                                 55
Chronik 1919 2019 - Vom Kantonalen Jugendamt zum Amt für Jugend und Berufsberatung
Chronik AJB

                                          Neue Methoden
                                          prägen die Arbeit des
                                          Jugendamtes in den
                                       1
                                           950er- und 1
                                                          960er-
                                          Jahren
© Anita Niesz / Fotostiftung Schweiz

                                                          Kinder spielen
                                                          im Hinterhof,
                                                          Zürich, 1951

                                       56
In der Schweiz setzte nach dem Ende           Die Mutter war                           Frauen aus dem gutsituierten Bürger­
des Zweiten Weltkriegs ein beispiel­          Hausfrau                                 tum, die seit den 1910er-Jahren in den
loser Wirtschaftsaufschwung ein.              und erzog die                            Amtsvormundschaften und Bezirks­
Konsum- und Gebrauchsgüter wie                Kinder, der                              jugendsekretariaten als so­genannte
Fernseher, Kühlschränke oder Autos            Vater garantier-                         Gehilfinnen tätig waren. Ab den 1950er-
wurden für immer mehr Menschen
                                              te das Erwerbs-                          Jahren wandelte sich das Berufsbild.
erschwinglich. Die Hochkonjunktur
brachte Arbeitsplatzsicherheit mit
                                              einkommen.                               Sie waren nun Fürsorgerinnen, die nicht
                                                                                       mehr nur zudienten, sondern eigene
sich und ungeliebte Tätigkeiten, etwa                                                  Aufgabenbereiche hatten. Die geringe
im Baugewerbe oder in der Industrie,       Eltern erwerbstätig waren, entsprachen      Bezahlung und die geschlechtsspezi­
übernahmen oftmals Migrantinnen            nicht den bürgerlichen Vorstellungen        fischen Vorstellungen blieben aber
und Migranten. Dieser tiefgreifende        und sahen sich häufig mit einer Kinder­-    gleich: «Auf den meisten Amtsvor­
Transformationsprozess wirkte sich         schutzmassnahme konfrontiert. Nicht         mund­schaften [werden] Kleinkinder,
auch auf die Kinder- und Jugendfür­        selten waren die Wohnverhältnisse           evtl. auch noch Schulkinder, weibliche
sorge aus: «Sowohl beim Fürsorgeamt        trotz Wirtschaftsaufschwung selbst in       Jugendliche und Erwachsene grös­s­
als auch bei den Jugendämtern und          der Stadt Zürich weiterhin prekär.          ten­teils von der Fürsorgerin betreut.»
der Vormundschaftsbehörde gingen           So lebte beispielsweise eine vierköpfige    Der Amtsvormund hingegen «befasst
die Aufträge zurück. Dies dürfte dem       Familie in einem einzigen Zimmer. 25        sich oft nur mit den grösseren Buben
immer noch guten Beschäftigungs­           Auch Einelternfamilien, zumeist ledigen     und männlichen Erwachsenen». Andere
grad zuzuschreiben sein.» Weniger          oder geschiedenen Müttern, unterstell­-     Amtsvormundschaften unterschieden
Armut als früher bedeutete tiefere Fall­   ten die Behörden, nicht ausreichend         wiederum nach der Komplexität der
zahlen. Gleichzeitig änderten sich die     für ihre Kinder zu sorgen. Uneheliche       Fälle. Während die Fürsorgerin «regel­
Bedingungen für die Interventionen.        Kinder erhielten gemäss Zivilgesetz­        mässigen Kontakt» zu den Betroffenen
Die Fürsorgerinnen waren es sich bis       buch von 1907 direkt nach der Geburt        hatte, trat der Amtsvormund «nur bei
dahin gewohnt, anlässlich von soge­        einen Beistand und wurden oft ge­tren­nt    Schwierigkeiten» in Erscheinen. 26
nannten Hausbesuchen die Familien          von der Mutter in einem Kinderheim              Fürsorgerinnen waren an der Basis
zu kontrollieren und dabei jeweils auch    untergebracht. Erst das revidierte ZGB      des Geschehens. Daher erstaunt es
noch die Nachbarschaft zu befragen.        von 1976, das 1978 in Kraft trat, stellte   nicht, dass junge Vertreterinnen der
Diese «Erhebungen [gestalten sich]         uneheliche den ehelichen Kindern            sozialen Frauenschulen die ersten
immer schwieriger. Wegen der hohen         gleich. Der Blick auf die sozialen Pro­     waren, die neue Wege gehen wollten
Mietzinse oder um den Wunsch nach          bleme von Familien war wertend. Die         und sich selbst als professionelle
einem höhern Lebensstandard zu be­         Behörden beurteilten nicht die Lebens­-     Sozialarbeiterinnen verstanden. In den
friedigen, gehen immer mehr Frauen         umstände, sondern unterstellten fehlen­     USA hatten sie die Methode des
einem Erwerbe nach. Dadurch fehlt in       de Erziehungsmoral. Die daraus resul­       Case-Work kennengelernt. Der Hilfe­
den Häusern der Kontakt unter den          tierende «Gefährdung» oder «Verwahr­        plan wurde im Case-Work gemeinsam
Bewohnern, und es finden sich immer        losung» der Kinder, so der damalige         mit den Betroffenen entwickelt und die
weniger Auskunftsgeber, die aus­           gesetzliche Wortlaut, führte oftmals zu     Zusammenarbeit basierte auf Respekt
führliche und zuverlässige Angaben         einer Unterbringung in einem Heim oder      für die Privatsphäre. Hausbesuche
machen können.» 24 Problematisiert         in einer Pflegefamilie.                     sollten nur nach vorheriger Anmeldung
wurde die Erwerbstätigkeit der Frauen,                                                 erfolgen. Diese neue, wissenschaft­
die nun als Auskunftspersonen fehlten.        Wandel im Professionsver-                liche Methode stand dem paternalisti­
Dass die Befragung der Nachbarschaft          ständnis und neue                        schen Fürsorgeverständnis der Vor­
auch deshalb fragwürdig war, weil da-         Einzelfallhilfe                          mundschaftsbehörden, die sich als
mit sehr stark in die Persönlichkeits­     Das bürgerliche Leitbild prägte nicht       Autoritäten verstanden, diametral
rechte der Betroffenen eingegriffen        nur den Blick auf armutsbetroffene          ge­genüber. Die Behördenmitglieder
wurde, war hingegen noch kein Thema.       Familien, sondern auch das Profes­          und Amtsvormunde waren wei­terhin
    Nicht nur die Fürsorgerinnen, son­-    sionsverständnis der Fürsorgerinnen.        der Meinung, dass das weibliche
dern auch die Vormundschaftsbehör­         Das Konzept der «sozialen Mütterlich­       Wesen der Fürsorgerin vollends aus­
den und Amtsvormundschaften gingen         keit» basierte auf der Annahme, dass        reichte, um den «in einem Haus herr­
von einem traditionellen Geschlech­ter-    Frauen ihre vermeintlich weiblichen         schenden Geist» intuitiv zu erfassen. 27
und Familienmodell aus: Die Mutter war     Eigenschaften wie Einfühlsamkeit,               Es gab aber Ausnahmen. Die Metho­­-
Hausfrau und erzog die Kinder, der         Liebe und Geduld besonders gewinn­          de des Case-Work fand in einzel­nen
Vater garantierte das Erwerbseinkom­       bringend in die Kinderfürsorge ein­         Bezirksjugendsekretariaten schon früh
men. Arme Familien, bei denen beide        bringen können. Zunächst waren es           Beachtung. Eugen von der Crone

                                                                                                                57
Chronik AJB: 1950 –1965

amtete in Pfäffikon als Jugendsekretär      schutz reichte aber nicht aus, um alle       In den 1950er-
und gleichzeitig als Amtsvormund,           anfal­lenden Aufgaben für Kinder und         Jahren ergriffen
Berufsberater für männliche Jugend­         Jugendliche zu bewältigen. Ein perso­        junge Männer
liche sowie als Sekretär der Pro Juven­­    neller Ausbau der Jugendsekretariate         häufig Berufe
tute und der Winterhilfe. Die neue          war notwendig. Die Mitarbeiterinnen          im Baugewerbe,
Methode hatte er 1950 am Internatio­        und Mitarbeiter beklagten nämlich
                                                                                         während bei
nalen Kongress für Soziale Arbeit in
Paris kennengelernt: «Das Case-Work
                                            auch in den 1960er-Jahren die «viel zu
                                            hohe Fallbelastung». Prophylaktische
                                                                                         weiblichen
fordert ein besonders sorgfältiges          Aufgaben wie «Elternbildung, Pflege­
                                                                                         Jugendlichen
Eingehen auf die Persönlichkeit jedes       kinderwesen, Freizeitgestaltung,
                                                                                         die Berufe «der
einzelnen Menschen und benötigt             Verhütung von Süchten usw.» kämen            Coiffeuse und
daher sehr viel Zeit, die uns leider        zu kurz. 29 Die mittlere Fallbelastung       der Tapezier­
nicht immer zur Verfügung steht. Es         wurde schliesslich 1969 auf 120 Fälle        näherin» begehrt
ist auf jeden Fall wertvoll für uns, eine   pro Fürsorgerin oder Fürsorger und           waren.
solche Arbeitsweise zu studieren und        Jahr gesenkt.
daraus zu entnehmen und anzuwen­                                                       Berufsbildung von 1963 und das da-
den, was unseren Verhältnissen ange­            Ausbau der Berufsberatung              rauf aufbauende kantonale Berufs­
passt ist.» Eugen von der Crone woll­       Bereits in den 1920er-Jahren war die       bildungsgesetz von 1969. Die neuen
te die neuen Ideen in die bestehenden       Berufsberatung durch den damaligen         rechtlichen Grundlagen brachten dank
Arbeitsweisen integrieren. Ebenfalls        Vorsteher des Kantonalen Jugend­           der Bundessubventionen beträcht­
aussergewöhnlich war, dass er bereits       amts, Robert Briner, gefördert und         liche finanzielle Mittel. Der Bedarf an
1950 die freiwillige Fürsorge als das       nach Geschlechtern getrennt organi­        Berufsberaterinnen und Berufsberatern
«eigentliche Kerngebiet unserer Arbeit»     siert worden. Die stark expandierende      nahm auch wegen der 1960 einge­
verstand. Er setzte auf Beratungsan­        Berufsberatung der weiblichen              führten Invalidenversicherung zu, die
gebote für Familien und gründete            Jugendlichen unterstützte auch die         Minderjährigen mit einer Behinderung
Mütter­schulen. Dies sporne den «Hilfs­-    Frauenzentrale. Während männliche          Unterstützung im Berufsfindungs- und
bedürftigen» an, was wiederum «die          Jugendliche Berufe wie Müller, Sattler     Integrationsprozess zusicherte. 32
Fürsorge so bald als möglich über­          oder Schreiner erlernen sollten, waren
flüssig» mache. Dadurch liessen sich        für die Schulabgängerinnen Glätterin,          Heimerziehung mit lückenhaf-
seiner Meinung nach Ressourcen              Stickerin, Köchin oder Dienstmädchen           ter Aufsicht und strukturellen
sparen. Die gesetzlichen Kinderschutz-      vorgesehen. In den 1950er-Jahren               Schwierigkeiten
massnahmen des ZGB wollte Eugen             ergriffen junge Männer häufig Berufe       Deutlich begrenzter waren die Mög-
von der Crone nur dann anwenden,            im Baugewerbe, während bei weib­           lich­­keiten von Jugendlichen, die im
wenn die Beratung keine Besserung           lichen Jugendlichen die Berufe «der        Heim aufwuchsen. Junge Frauen
brachte. Wenn immer möglich, war            Coiffeuse und der Tapeziernäherin»         absolvierten häufig nur eine Anlehre
aber darauf zu verzichten. Dass die         begehrt waren. Beiden Geschlechtern        oder übten eine Erwerbstätigkeit ohne
Familienberatung gegenüber den              war gemeinsam, dass das Interesse          Ausbildung in prekären Berufsfeldern
gesetzlichen Massnahmen an Bedeu­           an einer kaufmännischen Ausbildung         wie Verkauf, Hauswirtschaft oder
tung gewann, war eine Entwicklung,          ab den 1950er-Jahren stark zugenom­        Gastgewerbe aus. Junge Männer
die sich später auch in anderen             men hatte. 30 Der immer wieder neu         waren in der Regel besser ausgebildet
Bezirksjugendsekretariaten des Kan­         aufgelegte «Wegweiser zur Berufs­          und die Amtsvormunde bemühten
tons Zürich abzeichnete. 28                 wahl für Knaben und Mädchen» war           sich um Stipendien. Aber auch hier
    Das neue Jugendhilfegesetz, das         am bürgerlichen Geschlechtermodell         existierte eine deutliche schichtspezi­
am 1. Januar 1958 in Kraft trat,            orientiert. Eine berufliche Wahlfreiheit   fische Grenze. Eine kaufmännische
schenkte der präventiven Jugendhilfe        bestand damit nur begrenzt.                Ausbildung oder gar der Besuch eines
ebenfalls mehr Beachtung. Da die                Seit seiner Gründung koordinierte      Gymnasiums erwogen die Amtsvor­
Bezirksjugendsekretariate immer mehr        das Kantonale Jugendamt die Berufs­        munde zumeist nicht. Ziel der Heim­-
Aufgaben übernommen hatten, war             beratung. Ab den 1950er-Jahren pro­        platzierung war es, die Jugendlichen
eine gesetzliche Grundlage unabding­        fessionalisierte sich das Angebot.         für den Arbeitsmarkt «tüchtig» zu
bar geworden. Das Jugendhilfegesetz         Die Bezirksjugendsekretariate stellten     machen, allerdings innerhalb ihrer
entlastete die Jugendsekretäre von          ausgebildete und vollamtlich tätige        sozialen Schicht. 33
den vormundschaftlichen Aufgaben für        Berufsberaterinnen und Berufsberater           Genauso wie die Amtsvormunde
Erwachsene. Diese Abkoppelung des           ein. 31 Ermöglicht wurde dieser Aus­       hatte auch das Heimpersonal einen
Erwachsenenschutzes vom Kindes-             bau durch das Bundesgesetz über die        grossen Ermessensspielraum.

           58
Mütterberatungsstelle in Winterthur

Sozialarbeiterinnen besprechen ein Dossier. Fotografie ausgestellt an der SAFFA 1958

                                                                                       59
Chronik AJB: 1950 –1965

           Anna Meierhans
Anna Meierhans* lebt mit ihren zwei           unzureichend aufgeklärt. Der junge                         der Kontakt unterbunden wird. «Ruth
jüngeren Geschwistern und ihren               Mann will die Vaterrolle nicht über­                       ist jeweils nach dem Besuch der
Eltern auf dem Land in Rüti.                  nehmen, schon bald kommt es zur                            Kindsmutter verstört und braucht
Sie absolviert die Haushaltsschule            Trennung. Auch von ihren Eltern, die                       Ruhe, um in der neuen Situation an-
und muss der Mutter bei der Haus­             Angst haben vor dem Gerede im                              zukommen», heisst es in den Unter­
arbeit helfen. Ihr Weg scheint vor­           Dorf, erhält Anna Meierhans nur                            lagen der Vormundschaftsbehörde.
gezeichnet; sie wird auf einem                wenig Unterstützung. Kurz nach der                         Anna Meierhans tritt im Kanton
Bauernhof oder in einer der Fabriken          Geburt gibt die junge Frau ihr Kind                        St. Gallen eine Stelle als Haushalts­
im Zürcher Oberland arbeiten. Anna            zur Adoption frei. Der Beistand, den                       hilfe an und heiratet ein paar Jahre
             Meierhans träumt aber            das Kind von der Vormundschafts­                           später. Ruth weiss lange nicht, wer
             von einer Heirat und             behörde erhalten hat, drängt sie zu                        ihre leibliche Mutter ist. Erst Ende der
               einem Leben in der             diesem Schritt, denn sie könne allei­                      1970er-Jahre, als sie erwachsen ist
                Stadt Zürich. Sie will        ne nicht für die kleine Ruth sorgen.                       und schon selbst eine Familie hat,
                 dem engen Elternhaus         Zudem brauche das Kind eine Mutter                         beginnt sie zu recherchieren. Es ist
                 entfliehen. Mit neun­        und einen Vater, so seine Argumente.                       zu dieser Zeit kaum mehr denkbar,
                 zehn Jahren lernt sie        Anna Meierhans hat zu diesem Zeit­                         dass eine Mutter ihr Kind zur Adop­
                 auf der Chilbi einen         punkt keine feste Stelle. Ohne Aus­                        tion freigibt, nur weil sie arm und
                 jungen Mann kennen.          weg unterschreibt sie die Unterlagen                       ledig ist.
                Ein Jahr später wird          zur Adoptionsfreigabe. Zu Beginn
             Anna Meierhans                   besucht sie ihre Tochter Ruth regel­
            schwanger. Sie ist scho­          mässig immer am letzten Sonntag
            ckiert, bezüglich Ver­            des Monats. Schon bald aber wün­
             hütung war sie nur               schen sich die Adoptiveltern, dass

Fakt

Das Schweizerische Zivilge­        Recht zur Anfechtung. Ab          1 200
setzbuch, am 1. Januar 1912        den 1950er-Jahren ist in der
eingeführt, vereinheitlichte das   Schweiz ein leichter Anstieg
                                                                     1 000
bislang kantonal geregelte         der ausserehelichen Geburten
«aussereheliche Kindesverhält­     feststellbar, was gemäss der
nis». Die unverheiratete Mutter    Vormundschaftsbehörde Zürich      800
konnte neu eine Alimentenkla­      mit den ausländischen ledigen
ge einreichen. Dieser Einspruch    Arbeiterinnen zusammenhing,       600
stellte eine reine Geldforderung   die «schon im schwangeren
dar. Im juristischen Sinne war     Zustand» anreisten. 37 Erst mit
                                                                     400
damit keine Anerkennung des        der Revision des Zivilgesetz­
Verwandtschaftsverhältnisses       buches von 1976 wurden die
zwischen Vater und Kind            unehelichen den ehelichen         200
verbunden. Nur wenn ein so­-       Kindern gleichgestellt. Dass
genanntes formloses Ehever­        ledige Mütter zu diesem Zeit­
                                                                      0
sprechen vorlag, konnte eine       punkt weniger stigmatisiert
                                                                             1950
                                                                                    1951
                                                                                           1952
                                                                                                  1953
                                                                                                         1954
                                                                                                                1955
                                                                                                                       1956
                                                                                                                              1957
                                                                                                                                     1958
                                                                                                                                            1959
                                                                                                                                                   1960
                                                                                                                                                          1961
                                                                                                                                                                 1962
                                                                                                                                                                        1963
                                                                                                                                                                               1964
                                                                                                                                                                                      1965

Klage auf Standesfolge in          waren als früher, zeigt sich
der väterlichen Linie einreicht    auch daran, dass die Zahlen
werden. Wurde der ledigen          der Inlandadoptionen stark        Aussereheliche Geburten in Zürich (1950 – 1965)
Mutter hingegen ein «unzüchti­     zurückgingen zugunsten von
ger Lebenswandel» unterstellt,     Adoptionen aus den Ländern
verloren sie und ihr Kind jedes    der sogenannten Dritten Welt.

            60
Junge Frauen                             Heimeinweisungen damit, dass junge         können. Das neue Sekretariat 8, das
   absolvierten                             Frauen «sexuell gefährdet» seien,          für sogenannte Sonderfälle zustän­
   häufig nur eine                          während ihnen die jungen Männer als        dig war, hatte bald den Übernamen
   Anlehre oder                             «arbeitsscheu» galten.                     «Halbstarkensekretariat». In Einzel­
   übten eine                                                                          gesprächen versuchten die Mitarbei­

   Erwerbstätigkeit                             Jugendkulturen werden                  terinnen und Mitarbeiter des städti­

   ohne Ausbildung                              öffentlich sichtbar:
                                                das «Halbstarkenproblem»
                                                                                       schen Jugendamtes, das Vertrauen
                                                                                       der Jugendlichen zu gewinnen und
   in prekären                              Gegen Ende der 1950er-Jahre rückten        diese für eine Freizeitbeschäftigung
   Berufsfeldern                            die sogenannten Halbstarken in den         zu begeistern, die aus ihrer Sicht
   wie Verkauf,                             Fokus des Jugendamtes der Stadt            sinnvoll war. 36 Das Jugendamt sah
   Hauswirtschaft                           Zürich: «In letzter Zeit mehren sich die   nicht nur die Fürsorge, Beratung und
   oder Gast-                               Fälle, da Eltern oder Arbeitgeber über     Berufsbildung als seine Aufgabe an,
   gewerbe aus.                             ihre schulentlassenen Kinder und           sondern versuchte auch, die Jugend­
                                            Arbeitnehmer Klage führen und dabei        kultur in gesellschaftlich gebilligte
Hausordnungen und Reglemente mit            nicht selten das undisziplinierte Ver­     Bahnen zu lenken.
Vorschriften waren zwar vorhanden.          halten der betroffenen Jugendlichen
Die pädagogische Ausrichtung und            als ‹halbstark› bezeichnen. Zürich kennt
der Alltag hing aber von der jeweiligen     allerdings kein ‹Halbstarkenproblem›
Heimleitung ab. Missstände wie harte        wie ausländische Städte. Dennoch
Arbeit, wenig Privatsphäre, Gewalt­         muss festgestellt werden, dass bei
ausübung, Isolation und übermässige         verwahrlosten Jugendlichen die genau
Strafen wurden aufgrund der lücken­         gleichen Symptome wie beim ‹klassi­
haften Aufsicht nur selten beanstandet.     schen Halbstarken› feststellbar sind.»
Das Gesetz über die Jugendheime             Es blieb dem Jugendamt nicht un-
und Pflegekinderfürsorge von 1962           bemerkt, dass sich Jugendliche im
brachte diesbezüglich nicht viel Neues.     Kanton Zürich gegen die rigiden Moral-
Die Heime waren weiterhin lediglich         vorstellungen der Elterngeneration
meldepflichtig und die Aufsicht war         aufzulehnen begannen und nach
nicht professionalisiert. Eine kantonale    eigenen kulturellen Ausdrucksformen
Heimaufsicht wurde, vermutlich aus          suchten. Sie trugen Jeans, frisierten
finanziellen Überlegungen und wegen         sich wie Elvis oder toupierten sich die
föderaler Bedenken, nicht geschaffen.       Haare, hörten Rock’n’Roll, besuch­-
Erstmals geregelt wurden hingegen           ten Kinos und trafen sich in Cafés.
die staatlichen Beiträge an die Heime. 34   Der «Schwarze Ring» war ein berühmt­-
   Die Heime hatten mit strukturellen       berüchtigter Treffpunkt in der Stadt
Problemen zu kämpfen. Geeignetes            Zürich. Dass Halbstarke ihren Lebens­
Personal zu finden, gestaltete sich         stil im öffentlichen Raum artikulierten,
schwierig, und ein häufiger Wechsel         missbilligten diejenigen, die sich als
war die Folge. Die Anforderungen            fleissige Bürger des Mittelstandes de­
waren hoch: «Es bedarf besonderer           finierten und kopfschüttelnd an ihnen
Fähigkeiten, viel guten Willens und         vorbeigingen.
grosser Geduld im Umgang mit Kin­               Das Jugendamt der Stadt Zürich
dern, um in einem Heim jenes ruhige         schuf 1962 zwei zusätzliche Sekre­
und glückliche Milieu zu schaffen, das      tariate, um den neu aufgetretenen
für die gedeihliche Entwicklung der         Jugendproblemen begegnen zu
Kinder unerlässlich ist.» Die Stadt
Zürich teilte die Heime organisatorisch      «Zürich kennt
auf. Das Jugendamt I führte die städ­         allerdings kein
tischen Kinder- und Jugendheime,              ‹Halbstarken-
während das Jugendamt IV für die              problem› wie
Heime «sittlich gefährdeter Zöglinge»         ausländische
zuständig war. 35 Die Vormundschafts­
                                              Städte.»
behörden begründeten damals

                                                                                                               61
Chronik AJB

In den 1970er-Jahren:

                Bern, Bundesplatz:
                Jugendliche protes-
                tieren für die Frauen-
                rechte, 1968

       Sozialpädagogische
       Arbeit mit
       «gleichgültigen»,
       «ver wahrlosten»
       und «aggressiven»
       Jugendlichen
62
Die Auflehnung der Jugendlichen            sehr bald mit sogenannten ‹heissen           Die von Otto
gegen das Establishment kulminierte        Eisen› konfrontiert, wie etwa: Kann          Siegfried
1968 in einer europaweiten Bewe­           dem Wunsche eines sechzehnjährigen           aufgeworfene
gung. Im Kanton Zürich hatte dieser        Mädchens nach regelmässiger Abga­            Frage, ob
Aufbruch weitreichende Folgen für          be der Pille stattgegeben werden; ist        Jugendlichen
die Geschlechterrollen, die Familien­      dem gleichalterigen Jugendlichen zu
                                                                                        leerstehende
modelle, das Generationenverhältnis,
den Umgang mit Sexualität und die
                                           gestatten, das Elternhaus zu verlas­
                                           sen, um in einem Zimmer oder in einer
                                                                                        Häuser zur
Präsenz von Jugendlichen im öffent­        Kommune zu leben; soll die Stadt
                                                                                        Verfügung
lichen Raum. Neue Gruppierungen            Jugendbands, die sich grösstenteils
                                                                                        gestellt werden
entstanden, etwa die Rocker, die           aus Jugendlichen rekrutieren, die            sollten,
schwere Motorräder fuhren und sich         keiner geregelten Arbeit nachgehen,          beschäftigte
in einschlägigen Lokalen im Zürcher        Abbruchhäuser zur Verfügung stellen,         das städtische
Niederdorf oder an der Langstrasse         in denen sie wohnen können?»                 Jugendamt
trafen. Das Jugendamt der Stadt Zü­            Der Sozialarbeiter sah sich laut         in den späten
rich verortete ein neuartiges Problem:     Siegfried gezwungen, entweder als            1960er-Jahren
«Sozialarbeiter und Jugendfürsorger        Vertreter des «verpönten Establish­          stark.
haben sich heute mit vielfältigen          ments» aufzutreten oder er «gerät
neuen Erscheinungsformen der man­          mit den Eltern und den Vertretern der     Rockern den Helvetiabunker zur Ver­
gelnden Geborgenheit der Jugend            Ordnungskräfte» in Konflikt. Trotz­       fügung. Beide Zentren wurden jedoch
zu befassen, die einen viel differen­      dem sprach sich Siegfried gegen den       1971 bereits wieder geschlossen, da
zierteren Einsatz als früher erfordern.    «goldenen Mittelweg» aus. Vielmehr        aus behördlicher Sicht neue soziale
Beschäftigten sie vor Jahren die Exis­     hatten Sozialarbeitende seiner Mei­       Probleme, besonders Drogenkonsum,
tenzialisten und dann die Halbstarken      nung nach die Jugendlichen einge­         aufgetreten waren. 40 Während die
in besonderem Masse, sind es heute         hend zu studieren. Sie begleiteten die    Bilanz zum Aufbau von autonomen
die Beatniks, die Hippies, die Rocker      «progressiven Pläne» bei jenen, die       Ju­gendzentren Anfang der 1970er-
usw. Das Verhalten dieser Jugend­          «gesund und reif» waren, während          Jahre eher ernüchternd ausfiel, initiier­
lichen erstreckt sich im allgemeinen       sie bei anderen konventionelle Wege       te das städtische Jugendamt eine
[sic] von der totalen Gleichgültigkeit     beschritten. 39 Die Einzelfallhilfe bot   Beratungsstelle an der Sihlamtstrasse.
und Verwahrlosung bis zur irritierten      sich aus seiner Sicht in besonderem       Das Jugendhilfegesetz von 1957 bot
[sic] Aggressivität.» 38                   Masse für die Sozialpädagogik und         die Grundlage für diese vorbeugende
    Otto Siegfried, Dienstchef des         die soziokulturelle Animation an.         Jugendhilfe, die vor allem mit dem
Jugendamts III, sah die Sozialarbei­           Die von Otto Siegfried aufgewor­      Ausbau von freiwilligen Beratungsan­
tenden in einer schwierigen Rolle, ein­    fene Frage, ob Jugendlichen leerste­      geboten erreicht werden sollte. Neu
geklemmt zwischen den Jugendlichen         hende Häuser zur Verfügung gestellt       war, dass die Sozialarbeiter Gassen­
und den Ordnungskräften. In seiner         werden sollten, beschäftigte das          arbeit leisteten und die Jugendlichen
Reflexion kommt zum Ausdruck, wie          städtische Jugendamt in den späten        direkt vor Ort aufsuchten. 41 Die aufsu­
stark der gesellschaftliche Werte-         1960er-Jahren stark. Jugendliche          chende Jugendarbeit entwickelte sich
wandel die zuständigen Ämter verun-        forderten, dass sie das freiwerdende      fortan im ganzen Kanton Zürich zu
sicherte: «Welches ist aber die Stel­      Globus-Provisorium als autonomes          einem neuen Feld der sozialen Arbeit.
lung eines Sozialarbeiters, der in den     Jugendhaus nutzen konnten. Die
Diensten eines öffentlichen Gemein­        «Globus-Krawalle» veranlassten                Von der Mütterberatung zur
wesens steht, in dieser Umbruchs­          den Stadtrat, eine verwaltungsinter­          Elternbildung
zeit? Soll er als Avantgardist mit den     ne Kommission zur Abklärung der           Seit seiner Gründung war das Kan­
Neuerern auf die Barrikaden steigen?       «Jugendlichenprobleme» einzusetzen,       tonale Jugendamt im Bereich der
Soll er das ‹gut bewährte Alte› à tout     während eine zweite, externe Kom­         frühkindlichen Bildung aktiv. Es baute
prix zu konservieren trachten? Darüber     mission die Jugendunruhen unter­          Spielplätze und eröffnete Mütterbera­
schweigen sich leider die Ausbild­ungs­-   suchte. Otto Siegfried präsidierte die    tungsstellen, die später in Mütter- und
stätten unserer Sozialarbeiter völlig      interne Jugendkommission und nahm         Väterberatung umbenannt wurden.
aus. Die jungen Absolventen dieser         als Vertreter der Stadt Zürich auch       Ein Problem, das die Industrialisierung
Schulen erhalten eine sehr gute Schu­      in der externen Kommission Einsitz.       mit sich gebracht hatte, war die Säug­-
lung in Methodik der Einzelfallhilfe,      1970 stellte die Stadt den Jugend­        lingssterblichkeit. Bereits 1913 hatte die
der Gruppen- und Gemeinwesen­              lichen den Lindenhofbunker als auto-      Pro Juventute in Zürich die ersten drei
arbeit. In der Praxis werden sie aber      nomes Jugendzentrum und den               Mütterberatungsstellen eingerichtet.

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