Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien
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Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2020; 21(3): 301–310 Nitya Mittal, Rupa Viswanath und Sebastian Vollmer* Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien https://doi.org/10.1515/pwp-2020-0028 Seit dem 27. April 2020 betrifft Covid-19 etwa 210 Länder (WHO 2020a), darunter die Vereinigten Staaten und die Zusammenfassung: Die in Ländern mit niedrigem und Europäische Union derzeit am stärksten. Am 26. März mo- mittlerem Einkommen (LMICs) vorherrschenden Bedin- dellierten Walker et al. (2020), dass es in diesem Jahr ohne gungen, zum Beispiel ein schlechter Gesundheitszustand Interventionen in aller Welt 7 Milliarden Infektionen und der Bevölkerung und eine unzureichende Gesundheits- 40 Millionen Covid-19-Todesfälle gegeben hätte. Obwohl infrastruktur, können dort enorme menschliche und wirt- diese Schätzungen mit großer Unsicherheit behaftet sind, schaftliche Schäden eines Covid-19-Ausbruchs hervor- beschreiben sie doch die Bedrohung durch eine globale rufen. Aus diesem Grund haben LMICs mehrere präventive Pandemie mit einem enormen Verlust an Menschenleben. Maßnahmen ergriffen und folgen dabei häufig der Politik Während Wissenschaftler hart daran arbeiten, die Krank- von Ländern mit hohem Einkommen. Unterschiede in der heit besser zu verstehen und einen Impfstoff oder ein Heil- Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung, im Zugang zu mittel zu finden, haben die betroffenen Länder mehrere sozialer Sicherheit und in den Lebensbedingungen könn- präventive Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des ten jedoch bedeuten, dass diese Maßnahmen für LMICs Virus einzudämmen, angefangen bei der Förderung von nicht geeignet sind. Nitya Mittal, Rupa Viswanath und guter Hygiene über die Erkennung und Isolierung infizier- Sebastian Vollmer untersuchen die in LMICs vorherrschen- ter Menschen bis hin zu Grenzschließungen, Kontaktsper- den Bedingungen, die sich auf die Morbidität und Mortali- ren und der vollständigen Einstellung aller nicht lebens- tät im Zuge eines Covid-19-Ausbruchs auswirken könnten, wichtigen Aktivitäten (Burdorf et al. 2020). Letztere und erörtern die Eignung der weit verbreiteten Präventi- Maßnahmen sind mit enormen wirtschaftlichen Kon- onsmaßnahmen für LMICs. sequenzen verbunden (Fernandes 2020). Bislang ist die Zahl der bestätigten Fälle in Ländern JEL-Klassifikation: H12, I10, I18, I30, J82, R23 mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMICs) deutlich Schlüsselwörter: Pandemie, Covid-19, Lockdown, Kon- niedriger als im globalen Norden (WHO 2020a). Die Ent- taktbeschränkungen, Präventionsmaßnahmen, Länder deckungsrate unter LMICs ist jedoch viel niedriger als der mit niedrigem und mittlerem Einkommen globale Durchschnitt, was bedeutet, dass die Infektions- zahlen möglicherweise viel höher sind als die Zahl der bestätigten Fälle (Bommer und Vollmer 2020). LMICs sind 1 Einleitung oft dicht besiedelt, haben eine Bevölkerung mit schlechte- rem Gesundheitszustand und eine schwächere Infrastruk- Covid-19 ist eine Infektionskrankheit, die durch das neu- tur des öffentlichen Gesundheitswesens – Bedingungen, artige Corona-Virus SARS-CoV-2 verursacht wird. Seit die die eine schnellere Ausbreitung des Virus begünstigen und ersten Fälle im Dezember 2019 in Wuhan, China, gemeldet es fast unmöglich machen, einen Ausbruch sowohl medi- wurden, hat sich Covid-19 in aller Welt verbreitet. Die WHO zinisch als auch wirtschaftlich zu bewältigen. Viele dieser hat am 11. März 2020 eine globale Pandemie ausgerufen. Länder haben daher drastische Präventionsmaßnahmen ergriffen, obwohl die Zahl der festgestellten Infektionen noch viel geringer war als in reichen Ländern. Die Präven- Nitya Mittal, Georg-August-Universität Göttingen, Centre for Modern Indian Studies, Waldweg 26, 37073 Göttingen, tionsstrategien von LMICs orientieren sich dabei häufig an E-Mail: nitya.mittal@uni-goettingen.de der Politik von Ländern mit hohem Einkommen, die jedoch Rupa Viswanath, Georg-August-Universität Göttingen, Centre for für LMICs möglicherweise nicht geeignet sind. Wir konzen- Modern Indian Studies, Waldweg 26, 37073 Göttingen, trieren unsere Analyse auf Indien. Es ist das zweitbevölke- E-Mail: rviswan@gwdg.de rungsreichste Land der Welt, mit mittlerem Einkommen, *Kontaktperson: Sebastian Vollmer, Georg-August-Universität Göttingen, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Platz der Göttinger der größten Zahl armer Menschen in aller Welt (Weltbank Sieben 3, 37073 Göttingen, und Centre for Modern Indian Studies, 2017) und Heimat eines Viertels der unterernährten Welt- Waldweg 26, 37073 Göttingen, E-Mail: svollmer@uni-goettingen.de bevölkerung (FAO 2019).
302 Nitya Mittal, Rupa Viswanath und Sebastian Vollmer 2 Rahmenbedingungen in LMICs im Zusammenhang mit Anämie (Kassenbaum et al. 2016), ein Viertel der Kinder unter fünf Jahren hatte eine zu und Covid-19 geringe Körpergröße und etwa 13 Prozent waren unterge- wichtig (Kinyoki et al. 2020). In Indien gingen im Jahr 2017 LMICs ist es bei früheren Pandemien und Epidemien viel 486 Millionen DALYs verloren, von denen etwa ein Drittel schlechter ergangen als Ländern mit hohem Einkommen. auf übertragbare Krankheiten und Mangelernährung zu- Während der Spanischen Grippe, der tödlichsten Pande- rückzuführen ist (Menon et al. 2019). mie des vergangenen Jahrhunderts, hatte Indien allein et- Ein weiterer Faktor ist die zunehmende Belastung wa ein Drittel der Todesopfer in aller Welt zu verzeichnen durch Überernährung und nicht übertragbare Krankhei- (Johnson und Mueller 2002), etwa 5 Prozent der damaligen ten, die sich in LMICs neben der Unterernährung zuneh- Bevölkerung des Landes. Auch Epidemien wie Ebola und mend ausbreiten. Einige nicht übertragbare Krankheiten HIV haben LMICs besonders stark getroffen. Fehlender wie Diabetes können das Infektionsrisiko erhöhen (Critch- Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, ley et al. 2018). Darüber hinaus wurden Bluthochdruck, schwache öffentliche Gesundheitsinfrastruktur, ungüns- Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronische tige soziale Bedingungen wie Wohnverhältnisse und Be- Erkrankungen der Atemwege als Komorbiditäten identifi- völkerungsdichte sowie der Gesundheitszustand der Be- ziert, die oft zu einem schweren Verlauf von Covid-19 bis völkerung (Oshitani et al. 2008, S. 875) wurden als hin zum Tod führen (Guan et al. 2020, Wang et al. 2020 Ursachen der hohen Sterblichkeit in LMICs identifiziert. sowie Yang et al. 2020). Im Jahr 2016 ist etwa ein Drittel der Diese Bedingungen sind leider immer noch relevant und globalen Belastung mit chronischen Atemwegserkrankun- könnten zu einer höheren Morbidität und Mortalität auf- gen allein auf Indien entfallen (Salvi et al. 2018). In den grund von Covid-19 in LMICs beitragen. Jahren 2012–14 litten 7,5 Prozent der indischen erwachse- Ein schlechter Gesundheitszustand beeinträchtigt das nen Bevölkerung an Diabetes und ein Viertel an Bluthoch- Immunsystem und erhöht die Anfälligkeit für Virusinfek- druck (Geldsetzer et al. 2018). Obwohl diese Prävalenzen tionen (Bhaskaram 2002). Im Jahr 2016 betrug der Anteil geringer sind als in vielen Ländern mit hohem Einkom- der LMICs an den verlorenen Disability Adjusted Life Years men, besteht das Problem darin, dass Diabetes und Blut- (DALYs) etwa 87 Prozent (Abbildung 1). Im Jahr 2013 ent- hochdruck in den LMICs im Durchschnitt schlecht behan- fielen auf LMICs etwa 90 Prozent der globalen Belastung delt werden. Global werden weniger als die Hälfte aller Abbildung 1: Anteil der verlorenen DALYs durch verschiedene Krankheiten, nach WHO-Einkommensklassifikation Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf GBD 2017, online verfübar unter http://ghdx.healthdata.org/
Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien 303 Fälle diagnostiziert und nur ein kleiner Bruchteil wird an- Italien bei 0,7 Prozent. Für die über 80-Jährigen lag die gemessen kontrolliert (Manne-Goehler et al. 2019 sowie CFR jedoch in China bei 14,8 Prozent und in Italien bei 27,7 Geldsetzer et al. 2019). Dasselbe gilt auch für Indien (Pre- Prozent (Dowd et al. 2020). Selbst in Südkorea, wo in nissl et al. 2019a, b). Critchley et al. (2018) zeigen, dass eine größerem Umfang getestet wurde, lag die CFR für die über schlechte Kontrolle von Diabetes das Risiko einer Hospita- 80-Jährigen bei 18,3 Prozent (Dowd et al. 2020). Während lisierung in Folge einer Infektionskrankheit im Vergleich die wahre Fatalität (Sterblichkeit pro Infektion) noch nicht zu Patienten mit optimaler Diabetes-Kontrolle stark er- sicher bekannt ist, kann die CFR einige Einblicke in das höht. relative Risiko verschiedener Altersgruppen geben. Sie LMICs geben im Durchschnitt einen geringeren Pro- sollte jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da sie un- zentsatz ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus entdeckte Fälle nicht einschließt. Erste modellgestützte als Länder mit hohem Einkommen. Im Jahr 2017 gaben Schätzungen der Fatalität deuten ebenfalls darauf hin, Länder mit hohem Einkommen durchschnittlich 3.024 Dol- dass die Sterblichkeit für ältere Menschen wesentlich hö- lar pro Kopf aus, 75-mal mehr als Länder mit niedrigem her ist (Verity et al. 2020). Viele LMICs haben einen relativ Einkommen (WHO 2018a). Darüber hinaus spielt der öf- hohen Anteil an jüngerer Bevölkerung (UN 2019). Auch fentliche Sektor in Ländern mit hohem Einkommen eine Indien ist ein relativ junges Land, nur 8 Prozent der Bevöl- wichtigere Rolle. Im Jahr 2017 wurden hier etwa 70 Prozent kerung sind älter als 60 Jahre (Census 2011). der gesamten Gesundheitsausgaben vom Staat getragen, Als weiteres Argument wird vorgebracht, dass die Be- während der Anteil in Ländern mit niedrigem Einkommen völkerung in LMICs möglicherweise besser in der Lage ist, nur 23 Prozent betrug (WHO 2018a). Die Hauptlast tragen SARS-CoV-2-Infektionen zu widerstehen. Singh (2020) ar- die Menschen hier aus ihren eigenen Ressourcen. Die Ge- gumentiert zum Beispiel, dass die Exposition gegenüber sundheitsinfrastruktur in LMICs ist oft unzureichend, um Virusinfektionen wie Dengue, Chikungunya und eine viel auch nur Routineaufgaben zu erfüllen. Vergleicht man bei- geringere Prävalenz von Grippeimpfstoffen zu einer weit- spielsweise Deutschland und Indien, so gab Deutschland gehenden Immunität in LMICs geführt haben könnten. im Jahr 2017 pro Kopf 5.000 Dollar für die Gesundheits- Eine weit verbreitete Immunität würde zu niedrigeren In- versorgung aus, verglichen mit 69 Dollar in Indien (WHO fektions-, Morbiditäts- und Mortalitätsraten führen. Ge- 2018a). Deutschland hatte im Jahr 2017 42 Ärzte pro 10.000 genwärtig sind dies jedoch nur Vermutungen, und es gibt Einwohner, gegenüber 8 Ärzten pro 10.000 Einwohner in keine klare Evidenz. Auch falls sich das Immunsystem Indien (WHO 2018b). Deutschland verfügte über 83 Kran- möglicherweise so entwickelt hat, dass es gegen bekannte kenhausbetten pro 10.000 Einwohner, während es in In- Virusinfektionen resistent ist, würde dies nicht bedeuten, dien nur 7 gab (WHO 2018b). Mit einer derart unzureichen- dass sich die Immunität auf ein bisher unbekanntes Virus den Infrastruktur werden es LMICs sehr schwer haben, überträgt. eine Pandemie zu bewältigen. Der Ebola-Ausbruch in Westafrika ist ein Beispiel da- für, wie schwerwiegend die Folgen eines schwaches Ge- sundheitssystem sein können (WHO 2015). Murthy et al. 3 Präventions- und (2015) berichten über einen gravierenden Mangel an Bet- Eindämmungsstrategien ten auf Intensivstationen in Entwicklungsländern, die dort meistens nur in großen Krankenhäusern in Städten zur Hale et al. (2020) haben die Maßnahmen zusammen- Verfügung stehen. Darüber hinaus könnten Covid-19-Fälle gestellt, die Länder bis zum 31. März 2020 zur Eindäm- zu hohen Belastungen durch Gesundheitsausgaben der mung der Covid-19-Pandemie ergriffen haben. Die meisten armen Bevölkerung von LMICs führen. Ein schwerer Fall Länder haben Einreisebeschränkungen verhängt, Schulen von Covid-19 erfordert oft intensivmedizinische Betreu- geschlossen und größere Veranstaltungen abgesagt. 90 ung, die für viele Menschen entweder gar nicht bezahlbar Prozent der Länder haben die interne Bewegungsfreiheit ist oder sie verarmen ließe. Die Notwendigkeit solcher Zah- in gewissem Umfang eingeschränkt, 83 Prozent haben lungen aus eigener Tasche ist wahrscheinlich auch ein Arbeitsräume geschlossen und 60 Prozent den öffent- Hindernis für die Eindämmung der Pandemie, da sich die lichen Verkehr eingestellt. Die Schärfe, in der diese prä- Menschen aufgrund der Kosten scheuen, zum Arzt zu ge- ventiven Maßnahmen verhängt wurden, war von Land zu hen und sich testen zu lassen. Land unterschiedlich. Nach Einschätzung von Hale et al. Die demographische Struktur von LMICs ist hingegen (2020) haben viele LMICs wie Indien, Mexiko und Vietnam recht günstig. Die Covid-19 Case Fatality Ratio (CFR) der strengere Maßnahmen verhängt als Länder mit hohem Ein- 40- bis 49-Jährigen lag in China bei 0,4 Prozent und in kommen. Einerseits ist dies rational, da die Kapazität der
304 Nitya Mittal, Rupa Viswanath und Sebastian Vollmer Gesundheitssysteme viel geringer ist als in Ländern mit Stunden eine Ausgangssperre für 21 Tage für das ganze hohem Einkommen und die Regierungen daher handeln Land verhängt. Alle nicht lebensnotwendigen Aktivitäten müssen, solange die Fallzahlen relativ niedrig sind. Ande- und Inlandsreisen wurden sofort eingestellt. Das bedeute- rerseits wirken sich Kontaktsperren und das Herunterfah- te für viele Menschen, insbesondere für Tagelöhner, den ren des öffentlichen Lebens besonders stark auf arme Men- Verlust ihrer Existenzgrundlage. schen aus und setzen diese einem Risiko aus, welches das Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit im In- und durch das Virus verursachte Risiko übersteigen könnte. Ausland hat die wirtschaftlichen Aktivitäten zum Still- Der erste positive Fall von Covid-19 in Indien wurde stand gebracht. Solche Sperrmaßnahmen haben in aller am 30. Januar 2020 gemeldet; es handelte sich um einen Welt 2,7 Milliarden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer indischen Staatsbürger, der aus China zurückkam. Bis zum betroffen und bedrohen deren Existenzgrundlage (IAO 1. März 2020 hatte Indien nur drei bestätigte Covid-19-Fälle 2020). In LMICs ist ein erheblicher Anteil der Beschäftigten gemeldet. Seitdem nimmt die Zahl der bestätigten Fälle im informellen Sektor beschäftigt und hat keinen Zugang allmählich zu, und bis zum 24. April 2020 wurden mehr als zu sozialen Sicherungssystemen. Es ist daher unerlässlich, 23.000 Menschen positiv getestet.1 Im Vergleich zu euro- diejenigen zu schützen, die durch den wirtschaftlichen päischen Ländern und den Vereinigten Staaten und im Schock besonders gefährdet sind. In Europa sind fast 90 Verhältnis zur eigenen Bevölkerungszahl sind diese Zah- Prozent der Bevölkerung durch mindestens ein Sozialsys- len immer noch recht niedrig. Die Zahl der bestätigten tem abgedeckt und damit vor dem wirtschaftlichen Schock Fälle sollte allerdings mit einer gewissen Vorsicht interpre- durch die Maßnahmen geschützt. In Afrika beträgt diese tiert werden, da die Zahl der bestätigten Fälle und die Zahl Deckung jedoch nur 17,8 Prozent und in der Region Asien der tatsächlichen Infektionen zwei sehr unterschiedliche und Pazifik etwa 40 Prozent (ILO 2017). Ausgangssperren Dinge sind, insbesondere in Gesundheitssystemen, die und andere scharfe gesundheitspolitische Maßnahmen nicht über große Testkapazitäten und ein gut ausgestatte- entziehen Menschen in LMICs ihre Existenzgrundlage und tes öffentliches Gesundheitswesen verfügen. können ohne soziale Absicherung zu Armut, Unterernäh- Indien hat schon früh reagiert, um einen möglichen rung und als Folge davon möglicherweise zum vorzeitigen Ausbruch zu verhindern. Am 21. Januar 2020 führte Indien Tod führen. für Fluggäste aus China Temperaturmessungen ein und Wir kommen auf Indien zurück. Die plötzliche Ankün- spürte Passagiere mit Symptomen auf. Die Strategie des digung der Abriegelung stellte eine große Herausforde- Testens, der Kontaktverfolgung und der Quarantäne wur- rung für einen beträchtlichen Teil der indischen Arbeit- de in die Praxis umgesetzt und wird noch immer gewissen- nehmerschaft dar. In den Jahren 2017-18 arbeiteten nur 22 haft befolgt. Mit steigenden Fallzahlen hat Indien das Prozent der indischen Erwerbsbevölkerung in regulären Screening internationaler Passagiere an Flughäfen aus- Beschäftigungsverhältnissen und 25 Prozent als Gelegen- geweitet, zunächst auf Passagiere aus schwer betroffenen heitsarbeiter, der Rest war selbständig (NSO 2019). Viele Ländern und dann auf sämtliche. Mit steigenden Infekti- dieser Menschen leben von ihrem täglichen Verdienst, onszahlen mussten alle internationalen Reisenden 14 Tage zum Beispiel durch den Straßenverkauf von Lebensmitteln in Quarantäne, unabhängig davon, ob sie Symptome zeig- oder das Ziehen von Rikschas. Während die Abriegelung ten oder nicht. Ab dem 13. März wurden bis auf wenige die Gelegenheitsarbeiter am schwersten trifft, ist der Pro- Ausnahmen alle Visa ausgesetzt. Und ab dem 23. März hat zentsatz der Menschen, deren Lebensunterhalt betroffen Indien alle internationalen Flüge unterbunden. ist, viel höher. Mehr als 40 Prozent der indischen Erwerbs- Am 5. März wurde bereits eine Beschränkung für bevölkerung waren in Bergbau, Fertigung, Baugewerbe, Großveranstaltungen verhängt. Die Regierungen der Bun- Groß- und Einzelhandel, Transport sowie Gastgewerbe tä- desstaaten gaben in den nächsten Tagen mehrere Rat- tig, deren Verdienstmöglichkeiten ebenfalls stark von der schläge zur Kontaktvermeidung heraus. Bildungseinrich- Abriegelung (NSO 2019) betroffen sind (siehe Abbildung tungen wurden geschlossen, und die Menschen wurden 2). Weitere 45 Prozent sind in der Land-, Fischerei- und aufgefordert, von zu Hause aus zu arbeiten und jede unnö- Forstwirtschaft tätig (NSO 2019), die aufgrund der Schlie- tige Bewegung zu vermeiden. Diese Schritte erfolgten auf ßung der Transportwege und der Märkte in der Hauptern- der Ebene der Bundesstaaten, wobei Staaten mit einer tesaison ebenfalls stark betroffen sind. Afridi et al. (2020) höheren Zahl von Fällen strengere Maßnahmen ergriffen. haben in einer telefonischen Umfrage in Wohngegenden Am 24. März wurde mit einer Ankündigungsfrist von vier rund um Industriegebiete herausgefunden, dass 85 Pro- zent der befragten Erwerbstätigen seit der Abriegelung kein Einkommen mehr aus ihrer Haupttätigkeit erzielt ha- 1 https://www.mohfw.gov.in/. ben.
Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien 305 Schließung der Staatsgrenzen sind zudem Millionen von Menschen an den Grenzübergängen der Staaten gestran- det. Es ist nicht überraschend, dass die Abwanderung der Migranten in Delhi am stärksten war, wo sich die Arbeiter an den wichtigsten Bahn- und Busbahnhöfen versammel- ten, um zu warten. Diese Massenbewegung könnte zur Verbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen im ganzen Land beigetragen haben. Es ist nicht möglich, eine so große Zahl von Menschen per Tracking zu verfolgen, und Indien hat auch nicht die Kapazität, eine so große Zahl an Menschen zu testen. Deshalb sind die Folgen dieser Politik für die Ausbreitung des Virus noch nicht bekannt. Da ein großer Teil der Arbeitskräfte im informellen Sektor vom Tageslohn und ohne soziale Sicherheit über- Abbildung 2: Anteil der Erwerbstätigen in Bergbau, verarbeitender lebt, ist eine vollständige, von der westlichen Welt inspi- Industrie, Baugewerbe, Groß- und Einzelhandel, Transport und rierte Abschottungspolitik für ein Land wie Indien nicht Lagerung sowie Unterkunft und Verpflegung angemessen. Eine Politik, die Millionen von Menschen wie Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf NSO 2019 Straßenverkäufer, Hausierer, Rikschafahrer und Bauarbei- ter, die vom Tageslohn abhängig sind und auf kein Eine drastische Maßnahme wie ein vollständiger oder teil- Vermögen zurückgreifen können, die Existenzgrundlage weiser Lockdown kann in einem einkommensstarken Land entzieht, hätte nicht ohne Ankündigung von Unterstüt- mit guten sozialen Sicherungssystemen wie Deutschland zungsmaßnahmen in die Praxis umgesetzt werden dürfen. für eine gewisse Zeit durchgehalten werden, und selbst Zwar haben die Zentralregierung und die Regierungen der dort bereiten die Maßnahmen vielen Menschen Schwierig- Bundesstaaten später eingegriffen und versucht, Wander- keiten. Die Folgen in LMICs sind ungleich schwerwiegen- arbeiter durch die Bereitstellung kostenloser Nahrungs- der. Sen, Rajan und Banerjee (2020) warnen vor Massen- mittel und Unterkünfte davon zu überzeugen, in den Staa- hunger, welcher zu einer massiven Missachtung der ten ihrer bisherigen Arbeitsstellen zu bleiben. Doch viele Abschottungsregeln und einer ernsthaften Gefahr für waren bereits zu weit auf dem Weg in die Heimat voran- Recht und Ordnung führen kann. Um eine solch dramati- gekommen oder hatten ihr Zuhause erreicht. Für diejeni- sche Situation zu vermeiden, sind sofortige und wirksame gen, die geblieben sind, ist das Leben nach wie vor prekär, Reaktionen von entscheidender Bedeutung. Einen ersten da Wanderarbeiter sich oft auch ethnisch und sprachlich Eindruck hat hierfür die Abwanderung von Millionen an von der einheimischen Bevölkerung unterscheiden und Wanderarbeitern geliefert. Wie in fast allen LMICs, ins- daher eine Reihe von sozialen und sprachlichen Barrieren besondere in solchen mit hoher regionaler und individuel- beim Zugang zu Hilfeleistungen zu überwinden haben. ler Ungleichheit, gibt es auch in Indien eine erhebliche Indien ist ein dicht besiedeltes Land. Mit einer durch- Binnenmigration. Obwohl keine Arbeitsmarktdaten für die schnittlichen Bevölkerungsdichte von 420 Menschen pro Binnenmigranten verfügbar sind, schätzt die Weltbank, Quadratkilometer ist es um ein Vielfaches dichter besiedelt dass sich die Abriegelung unmittelbar auf den Lebens- als Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten, die zu unterhalt von etwa 40 Millionen Arbeitsmigranten in In- den am stärksten von Covid-19 betroffenen Ländern gehö- dien ausgewirkt hat (Ratha et al. 2020). Wanderarbeiter ren2. Die hohe Bevölkerungsdichte und die beengten sind in der Regel im informellen Sektor tätig und haben Lebensbedingungen machen die Kontaktvermeidung in weder Arbeitsplatzsicherheit noch irgendeine Form von Indien zu einer schwierigen Aufgabe. Die Bevölkerungs- Absicherung. Viele von ihnen leben in überfüllten Slums dichte variiert stark zwischen den indischen Bundesstaa- ohne grundlegende Annehmlichkeiten und sind einem ten (Abbildung 3), und es ist nicht überraschend, dass die höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. Nach der Ankündi- am dichtesten besiedelten Bundesstaaten wie Delhi, Ma- gung der Abriegelung blieben sie ohne Einkommensquelle harashtra und Uttar Pradesh auch mit einer höheren An- und ohne Hoffnung auf staatliche Unterstützung zurück. zahl von Covid-19-Fällen zu kämpfen haben. Da die öffentlichen Verkehrsmittel ihren Betrieb eingestellt hatten, machten sich Millionen von Wanderarbeitern zu Fuß auf den Rückweg in ihre Heimatstädte und -dörfer, die oft Hunderte von Kilometern entfernt waren. Mit der 2 https://data.worldbank.org/indicator/EN. POP. DNST.
306 Nitya Mittal, Rupa Viswanath und Sebastian Vollmer Abbildung 3: Bevölkerungsdichte der indischen Bundesstaaten Abbildung 4: Anteil der Slumhaushalte ohne Zugang zu (Anzahl der Menschen pro Quadratkilometer) Wasseranlagen in den Räumlichkeiten Anmerkung: Der Bundesstaat Telangana hat 2011 noch nicht existiert Anmerkung: Der Bundesstaat Telangana hat 2011 noch nicht existiert und ist daher in der Karte nicht separat dargestellt. und ist daher in der Karte nicht separat dargestellt. Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf Census 2011 Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf Census 2011 Die meisten Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, wäre die Bereitstellung solcher Dienste nicht mehr mög- brauchen keine Einweisung ins Krankenhaus, aber sie lich. müssen trotzdem isoliert werden, um die Ausbreitung des Aufgrund des weit verbreiteten Widerstands gegen Virus auf andere Menschen zu vermeiden. Jede Person mit das kürzlich von der indischen Regierung verabschiedete Symptomen von Covid-19 wird zunächst gebeten, sich zu Gesetz zur Änderung der Staatsbürgerschaft (Citizenship Hause selbst zu isolieren, bis ein Test durchgeführt wer- Amendment Act) kam es in den Wochen vor der Abriege- den kann, was angesichts des schlechten Zustands der lung zu extremen Unruhen im Land. In den Großstädten Wohnverhältnisse in Indien sehr schwierig ist. In den waren öffentliche Versammlungen bereits vorher einge- Jahren 2015-16 verfügte etwa die Hälfte der indischen schränkt. Es kommt weiterhin zur Inhaftierung von De- Bevölkerung über keine dauerhafte feste Unterkunft und monstranten,3 trotz Warnungen von Gefängnisbeamten etwa 40 Prozent hatten keine Toilettenanlage in ihren vor einer Überfüllung der Gefängnisse und der gerade dort häuslichen Räumlichkeiten (National Family Health Sur- drohenden Übertragung von Covid-19.4 Verschwörungs- vey NFHS-4, IIPS/India und ICF 2017). Die durchschnitt- theorien, wonach Muslime die Krankheit in böswilliger liche Bodenfläche betrug 40 Quadratmeter pro Haushalt, Absicht verbreiten, sind weit verbreitet. In vielen Teilen was bedeutet, dass pro Person weniger als 10 Quadrat- Indiens wurden Muslime angegriffen, ihre Geschäfte wur- meter Wohnfläche zur Verfügung standen (NSSO 2014). den gemieden und muslimischen Patienten verweigerte Im Durchschnitt schliefen 3 Personen in einem Raum (Na- man die Behandlung in den Krankenhäusern.5 Die Angst tional Family Health Survey NFHS-4, IIPS/India und ICF vor den möglichen Konsequenzen hat daher die Erken- 2017), und etwa 40 Prozent der Haushalte verfügten nur nung von Erkrankungen in armen muslimischen Vierteln über einen einzigen Wohnraum (Census 2011). In Slums erschwert und angemessene Kontaktverfolgung verhin- ist die Situation noch schlimmer. Gemäß der jüngsten dert.6 Volkszählung lebten in Indien etwa 65 Millionen Men- Angehörige der niedrigsten Kasten Indiens, die Ab- schen in Slumgebieten, die Zahl ist seitdem vermutlich wasser sammeln und entsorgen und mit biologischen gestiegen. Etwa 40 Prozent der Slumhaushalte haben kei- nen Zugang zu Wasser in ihren Räumlichkeiten (Abbil- dung 4). Daher stellt sich die wichtigere Frage, wie die in 3 https://www.amnesty.org/en/documents/asa20/2174/2020/en/. Slums lebenden Menschen physische Distanz und eine 4 https://timesofindia.indiatimes.com/city/mumbai/mumbai-taloja- angemessene Hygiene praktisch umsetzen sollen, wenn jail-says-it-cannot-take-more-inmates/articleshow/75000855.cms. 5 https://www.npr.org/2020/04/23/839980029/blamed-for-corona- ihre Lebensbedingungen dies nicht zulassen. Bisher ha- virus-outbreak-muslims-in-india-come-under-attack?t=1588081944 ben die Regierungen der Bundesstaaten versucht, Isolati- 548. onszentren für infizierte Menschen bereitzustellen, aber 6 https://www.bloombergquint.com/politics/a-new-wave-of-anti- bei einem Massenausbruch mit Millionen von Infektionen muslim-anger-threatens-india-s-virus-fight.
Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien 307 Abfällen auf Krankenstationen arbeiten, besaßen nie wenn nur noch so wenige Infektionen übrig blieben, dass Schutzkleidung und besitzen sie auch jetzt nicht. Diese die Erkennung durch Tests und konsequente Kontaktver- Arbeiter und ihre Gemeinden, die jetzt an vorderster Front folgung wieder möglich sei. Es stellt sich die Frage, ob für die Sicherheit anderer sorgen, sind noch größeren Ge- Indien die Maßnahmen so lange durchhalten kann. Die fahren ausgesetzt als sonst.7 In den Dörfern des ländlichen Abriegelung wirkt sich bereits nach relativ kurzer Zeit auf Indiens leben die Menschen dieser Kasten und andere, die die Lieferketten im Land aus. Alle Transportmittel sind in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen, in getrenn- zum Stillstand gekommen, was zu einer regionalen Ver- ten Siedlungen, in denen die Infrastruktur (Schulen, Klini- knappung wichtiger Güter und Dienstleistungen führt. Da- ken, Geschäfte) und der Zugang zu Wasser bestenfalls her erscheint eine komplette Abriegelung nicht als plausi- unzuverlässig sind. Diesen Siedlungen mangelt es daher ble Strategie für einen langen Kampf gegen eine Pandemie ebenfalls an den notwendigen Ressourcen, um Kontakt- in einem Umfeld, in dem viele Menschen am Rand des vermeidung und Hygiene aufrechtzuerhalten. Abgesehen Existenzminimums leben. Im Folgenden erörtern wir eini- von der Krise der Wanderarbeit und den Schwierigkeiten, ge Vorschläge, die Alternativen zu einer vollständigen denen sich städtische Slumbewohner bei der Aufrecht- Abriegelung bieten könnten. erhaltung von Hygiene und Distanz gegenübersehen, ist es Ein zentraler Bestandteil jeder Strategie zur Bekämp- auch wichtig festzustellen, dass die Durchsetzung der Ab- fung von Covid-19 besteht darin, Infektionsketten zu un- riegelung in Indien nach sozialer Schicht sehr unterschied- terbrechen. Das Identifizieren und Isolieren infizierter lich gehandhabt wird. Es gibt zahlreiche Berichte von Personen ist dabei ein wichtiger Aspekt. Das Gesundheits- Übergriffen auf Arme, die sich aus ihren Häusern wagen, wesen ist aber nicht in der Lage, jedes Individuum zu um wichtige Einkäufe zu tätigen – während die Menschen testen, und muss sich darauf verlassen, dass sich Men- in den besseren Vierteln Geschäfte besuchen und un- schen mit Symptomen oder Exposition gegenüber Infizier- gestört spazieren gehen. Diejenigen, die am wenigsten in ten freiwillig beim öffentlichen Gesundheitsdienst melden. der Lage sind, physische Distanz zu praktizieren, werden Mehrere Staaten wie Bihar haben Tür-zu-Tür-Umfragen am härtesten bestraft, wenn sie die Regeln nicht einhal- gestartet, um Informationen über Menschen mit Sympto- ten.8 men oder potenziell infizierte Personen zu sammeln. Auf nationaler Ebene sind telefonische Umfragen geplant. Sol- che einmaligen Umfragen bieten allerdings keine langfris- tige Hilfe, und wiederholte Umfragen sind in einem Land 4 Was sollten Indien und andere mit der Bevölkerungszahl Indiens nicht realisierbar. Eine LMICs tun? bessere Aufklärung über die Krankheit, einschließlich ih- rer Symptome, ihrer Übertragung, der Rolle der persönli- Nach Angaben des Indian Council of Medical Research chen Hygiene und der verfügbaren Gesundheitsdienste (ICMR) ist Indien noch nicht in die Phase der lokalen Über- kann die Zusammenarbeit der Menschen mit dem öffent- tragung von Infektionen eingetreten. Obwohl die Zahl der lichen Gesundheitswesen aber möglicherweise verstärken Covid-19-Fälle zunimmt, ist es Indien gelungen, die Aus- und das individuelle Präventionsverhalten verbessern. Es breitung der Fälle zu verlangsamen. Die Verlangsamung ist auch wichtig, über die Quarantäne zu informieren und wird den Präventionsmaßnahmen der indischen Regie- die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Infizierten zu rung zugeschrieben. Zum Beispiel haben das medizinische vermeiden (Banerjee und Duflo 2020). Die Angst vor Qua- Personal und die Polizei lobenswerte Anstrengungen und rantäne hält Menschen davon ab, sich freiwillig zu mel- Ressourcen in eine sorgfältige Kontaktverfolgung und in den, und Stigmatisierung stellt eine zusätzliche Belastung Tests fließen lassen. Allerdings sind wohl nicht alle von für die von der Krankheit Betroffenen dar. Die Verbreitung der indischen Regierung ergriffenen Maßnahmen er- von Fake News, die Minderheiten für die Verbreitung von folgreich. Oshitani et al. (2008) argumentieren, dass die Infektionen verantwortlich machen, verursacht ähnlichen Infektionsraten wieder steigen werden, sobald Kontakt- Schaden. Die ländlichen ASHA und ANM (lokale Gesund- beschränkungen und Abriegelung beendet werden. Die heitshelfer), die Tür-zu-Tür-Befragungen durchführen, Einschränkungen könnten erst dann aufgehoben werden, können für Information und Aufklärung genutzt werden.9 Ein weiterer Faktor, der die Entscheidung der Menschen 7 https://foreignpolicy.com/2020/04/09/india-lockdown-sanitation- workers-manual-scavengers-masks-gloves-coronavirus/. 8 https://www.pbs.org/newshour/world/police-struggle-to-enforce- 9 https://ruralindiaonline.org/articles/ashas-fighting-a-pandemic- indias-sweeping-virus-lockdown. with-no-protection/.
308 Nitya Mittal, Rupa Viswanath und Sebastian Vollmer beeinflusst, sich auf das neuartige Corona-Virus testen zu sich das von der indischen Regierung angekündigte Fi- lassen, sind die Kosten der Tests und der Behandlung. nanzpaket auf nur 1 Prozent des BIP. Es wird wahrschein- Beides ist daher seit Mitte April für Arme gebührenfrei. Ein lich notwendig sein, die Industrie sowie mittlere und klei- weiterer Vorschlag zielt auf die Auszahlung einer Quaran- ne Unternehmen zu unterstützen, um massenhafte tänebeihilfe (Ghosh 2020), was die Menschen wahrschein- Bankrotte zu verhindern (Ghosh 2020). Da die Lieferketten lich dazu ermutigen würde, sich mit Symptomen freiwillig in aller Welt gestört sind, wäre eine solche Unterstützung zu melden. In Odisha, Indien, wird dies bereits umgesetzt. wahrscheinlich auch ohne eigene Abriegelungsmaßnah- Die Abriegelung sollte als eine vorübergehende Zwi- men notwendig gewesen. schenstrategie betrachtet werden, die Infektionen ver- Bis ein Heilmittel oder ein Impfstoff entdeckt wird, zögern und etwas Zeit für den Ausbau der medizinischen sind die einzigen Instrumente, die der Welt zur Verfügung Infrastruktur und des öffentlichen Gesundheitswesens ge- stehen, die Vermeidung von Infektionen oder zumindest winnen kann (Ghosh 2020). Indien muss in großem Um- die Verlangsamung der Ausbreitung. Komplette Abriege- fang in die Herstellung oder Beschaffung wesentlicher lung ist jedoch eine extreme Maßnahme, um dieses Ziel zu Güter wie Schutzkleidung, Verbrauchsmaterial für Tests erreichen, die nicht lange aufrechterhalten werden kann. und medizinische Produkte zur Sauerstoffversorgung in- Ray und Subramanian (2020) schlagen vor, dass Antikör- vestieren. Banerjee und Duflo (2020) schlagen vor, das pertest genutzt werden, damit jüngere Leute zur Arbeit Gesundheitspersonal in ländlichen Gebieten zu schulen, zurückkehren können. Und statt erzwungener Kontakt- damit es auf die Ausbreitung von Covid-19 vorbereitet ist. beschränkungen sollten die Menschen freiwillig auf Ab- ASHA und ANMs sollten zu Anlaufstellen für die Meldung stand zu Angehörigen gefährdeter Altersgruppen gehen. von Symptomen und Fällen von Covid-19 gemacht werden, Angesichts der Lebensbedingungen in durchschnittlichen da die zuständigen nationalen Stellen keine ausreichende indischen Haushalten erscheinen diese Vorschläge für ei- Kapazität hätten. Außerdem gelte es gut ausgerüstete, mo- nen Großteil der Bevölkerung als unrealistisch. Auch breit bile medizinische Teams aufzubauen, die schnell in Gebie- angelegte Antikörpertests sind derzeit keine realistische te mit hohen Infektionsraten mobilisiert werden können. Option, was sich aber hoffentlich in den kommenden Mo- Dies sind kurzfristige Maßnahmen zur Bekämpfung der naten ändern wird. In vielen Distrikten Indiens sind die aktuellen Pandemie, langfristig muss Indien jedoch in die Fallzahlen noch relativ gering. Dort erscheint das vollstän- Verbesserung seines Gesundheitssystems investieren. dige Herunterfahren aller nicht lebensnotwendigen Aktivi- Eine wichtige Folge der Abriegelung sind hohe wirt- täten nicht angemessen; die Früherkennung und Kontakt- schaftliche Kosten. Dutzende oder Hunderte von Millionen verfolgung ist immer noch eine realistische Option, Menschen in Indien haben ihre Lebensgrundlage verloren. insbesondere wenn wegen der Reisebeschränkungen nur Da die Weltwirtschaft unter großer Anspannung steht, wenige Fälle von außen dazukommen. Die vollständige werden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten wahrschein- Abriegelung durch die indische Regierung wurde übereilt lich auch nach Aufhebung der Beschränkungen fortbeste- eingeleitet, obwohl man sich der Auswirkung auf ärmere hen. Die Regierung und die internationale Gemeinschaft Bevölkerungsgruppen hätte bewusst sein müssen. Diese werden den betroffenen Menschen nicht nur während der Randgruppen, die am Existenzminimum leben und/oder Abriegelung, sondern auch darüber hinaus Unterstützung Dienstleistungen erbringen, die sie einem besonders ho- gewähren müssen. Eine schwierige Aufgabe ist dabei, eine hen Risiko aussetzen, benötigen jetzt die Aufmerksamkeit Strategie zu entwickeln, wodurch Bedürftige von Hilfs- der Entscheidungsträger. Indiens schlechte Gesundheits- maßnahmen erreicht werden. Hierfür wurden einige Vor- infrastruktur und die vielfältigen Dimensionen der Un- schläge gemacht, welche die Nutzung existierender Pro- gleichheit machen das Problem besonders komplex und gramme wie das öffentliche Beschäftigungsprogramm erfordern daher auch komplexe Antworten. MGNREGA oder das öffentliche Verteilungssystem PDS be- Die Covid-19-Pandemie entwickelt sich weiter, und inhalten (Ghosh 2020, Khera 2020 sowie Banerjee und auch das Wissen über die Krankheit entwickelt sich weiter. Duflo 2020). Die Zentralregierung und die Regierungen der Die Politik muss mit dieser Entwicklung Schritt halten. Bundesstaaten haben bereits angekündigt, den Armen Zwar lassen sich Erkenntnisse aus den Erfahrungen ande- gratis Lebensmittelrationen zur Verfügung zu stellen. An- rer Länder gewinnen, doch ist es keine gute Strategie, die dere lebensnotwendige Dinge wie Hygieneprodukte könn- Politik anderer Länder eins zu eins zu übernehmen, vor ten durch PDS-Zentren bereitgestellt werden. Schul- und allem wenn sich Rahmenbedingungen grundlegend unter- Vorschulmahlzeiten, die derzeit als Folge der Schulschlie- scheiden. Jedes Land sollte seine Politik an die eigenen ßungen ausfallen, könnten in Form von Trockenrationen sozioökonomischen Strukturen anpassen. Es gilt auch an- nach Hause geliefert werden (Khera 2020). Bisher beläuft zuerkennen, dass einkommensschwächere Schichten der
Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien 309 Gesellschaft durch ihre Lebensbedingungen und Vor- Hale, T. et al. (2020), Variation in government responses to COVID-19, erkrankungen im Durchschnitt stärker als andere durch Version 5.0., Blavatnik School of Government Working Paper , Covid-19 gefährdet sind und dass sie gleichzeitig auch online verfügbar unter www.bsg.ox.ac.uk/covidtracker. International Institute for Population Sciences – IIPS/India und ICF mehr unter den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pande- (2017), National Family Health Survey NFHS-4, 2015–16, mie leiden. Mumbai. International Labour Organization – ILO (2017), World Social Protection Report 2017–19: Universal social protection to achieve Literaturverzeichnis the Sustainable Development Goals, Genf, online verfügbar unter https://www.ilo.org/global/publications/books/ WCMS_604882/lang–en/index.htm. Afridi, F., A. Dhillon und S. 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