Entmythologisierung des Bösen - Eine kontextuelle Perspektive Hamid Reza Yousefi - Psychotherapie-Wissenschaft

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Entmythologisierung des Bösen
Eine kontextuelle Perspektive

Hamid Reza Yousefi

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 59–66 2021
www.psychotherapie-wissenschaft.info
CC BY-NC-ND
https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-59

   Zusammenfassung: Der Mensch ist von Natur aus weder gut noch böse. Es sind die Primär- und Sekundärsozialisation,
   die aus ihm das machen, was sein Gewordensein darstellt. Daher ist die Kategorie des Bösen einer Entmythologisierung zu
   unterziehen. Konkurrenzdenken ruft Feindbilder auf den Plan. Die Welt wird in Gut und Böse, Freund und Feind unter-
   teilt, die Identität und Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, Religion oder Ethnie stiftet. Von diesen Gravitationszentren
   aus wird das Leben zu einem Kampfplatz von Macht und Interessen, die wiederum zwingen, mit Stereotypen wie ‹Gut›
   und ‹Böse› zu interagieren. Eine gewaltfreie Hermeneutik vermag dazu beizutragen, sich in die Welt des jeweils Anderen
   hineinzufühlen und Konflikte im Einvernehmen zu lösen.

   Schlüsselwörter: Ur-Sehnsucht, Feinbilder, Psychopathie, Willensfreiheit, Böse, Entmythologisierung, Biophilie, Nekrophilie

Vorüberlegungen                                                   Das Böse im Menschen?

Die Frage nach dem Entstehungsgrund des Guten und                 Die Beantwortung der Frage nach Gut und Böse hängt
Bösen im Menschen wird divers und kontrovers diskutiert           eng mit der Bestimmung des Menschen zusammen. Sie
(Schneider, 2006). Insbesondere biologische (Lorenz,              verweist zugleich auf seine Freiheit und Ergebnisoffenheit.
1998), evolutionsbiologische (Dawkins, 1978) und neu-             Bis heute gibt es aufgrund der Diversität des menschlichen
robiologische (Heinemann, 2016) Disziplinen haben sich            Selbst- und Weltverhältnisses keine allgemeinverbindliche
auf diesem Forschungsfeld neuerdings weitreichende                Definition dessen, was wir als Gut oder Böse bezeichnen.
Verdienste erworben. Sie setzen, was das Böse angeht,             Eine erste Antwort auf die Dichotomie des Guten und
eine genetische Disposition bzw. angeborene Neigung               Bösen erhalten wir in der Mythologie, in der das Böse
des Menschen zu Aggressivität und Gewalt voraus. Das              als eine Grundkraft das gesamte Denken und Fühlen
Gute wie das Böse sind aber nicht, oder zumindest nicht           sowie Empfinden und Intuieren des Menschen bestimmt.
ausschliesslich biologisch, in der Natur des Menschen             Während das Gute als Inbegriff des Götterhimmels in den
determiniert. Einen eindeutigen, genetischen Nachweis,            Gestalten von Halbgöttern und positiven Geisterwesen
der die Veranlagung zum Guten oder zum Bösen prognos-             manifestiert wird, ist das Böse eine Quelle von Übeln, die
tizieren könnte, ist bis heute noch nicht gefunden worden.        in Form negativer Geisterwesen und Ungeheuern ähnliche
Der Mensch ist weder eine Katze, die Gut und Böse nicht           Erscheinungsformen besitzen. Dem mythologischen Helden
unterscheiden kann und völlig instinktgesteuert handelt,          treten Monster und Schrecken gegenüber, die überwunden
noch besitzt er einen biologischen Zerstörungsinstinkt.           werden müssen, um das Ziel seiner Aufgabe zu erreichen.
Dies führt zu der Einsicht, dass es neben dem biologi-            Gleichsam hängt das Böse eng mit den chthonischen
schen einen anthropologisch-metaphysischen Grund                  Mächten zusammen.
geben müsse.                                                          In allen Kulturen gibt es Personifikationen des Bösen
    Meine Perspektive ist eine kontextuell-psychologische,        (Yousefi, 2020b), die literarisch, künstlerisch oder in neu-
die zeigt, dass der Mensch stets sicheren Halt im Leben           erer Zeit filmisch präsentiert werden, so etwa Ahriman in
sucht, um sein Selbstsein zu markieren, zu begründen und zu       der Lehre des Zarathustra, den Teufel im Christentum,
verteidigen. Der Mensch ist Zeit seines Lebens bestrebt, die      Satan im Islam, oder verschiedene Dämonen im Hindu-
Welt auf ein handliches Format zu bringen, um sie verstehen       ismus. Diese Kette an Beispielen können wir über die
zu können. Niklas Luhmann und Hermann Lübbe nennen                Mythologien der Völker hinaus bis zu den animistischen
dies ‹Komplexitätsreduktion›. Ein solches Format liegt            Weltanschauungen ausdehnen. Dabei wird deutlich, dass
im Extremen des Schwarz-Weiss-Denkens. Dies beschert              allen diesen unterschiedlichen Figurationen des Bösen
einem Menschen aber nicht nur Identität, sondern macht            bestimmte Eigenschaften zugrunde liegen, die narrative,
das Leben oft zum Kampfplatz seiner Interessen (Yousefi,          soziale, psychologische, theologische sowie philosophi-
2018). Meine Überlegungen beginne ich mit der Frage nach          sche Charakterisierungen besitzen, die unterschiedliche
dem Entstehungsgrund des Bösen und seiner weitreichenden          Ausdeutungen erfahren. Diese Ausdeutungen sind Expli-
Auswirkungen für die Begegnungen der Menschen.                    kationsversuche eines noch nicht artikulierten Archetypus.

                                                                       Psychosozial-Verlag • www.psychosozial-verlag.de          59
Originalarbeit | Article inédit

    Wenn in fantastischen Erzählungen Heldengestalten         universale Lösung intendiert, die den Menschen anleiten
eine Rechtfertigung ihrer Taten geben, so wollen sie eine     möchte, ein ihm würdiges Dasein im Sinne der Religions-
Identifikation für den Leser ermöglichen, ihr moralisches     gemeinschaft zu führen. Die Religion als solches weiss um
Beispiel verdeutlichen und als besonders erstrebenswert       die Macht des Bösen, während es eine Grundtendenz der
vorgestellt sehen. Begeistert sieht der Leser oder der Zu-    Säkularität ist, diese Eigenmacht zu negieren.
schauer eines Films darüber hinweg, dass seine Heldenfi-          Philosophen wie Plotin (1878/80) und Thomas von
guren oft rücksichtslos unmenschliche Dinge vollbringen,      Aquin (1990) betrachten das Böse als blossen Mangel an
die ihm als wünschenswertes Verhalten suggeriert werden.      Sein oder wie Aristoteles (2017), Immanuel Kant (1986)
Nur selten kommt es vor, dass eine solche Figur eine          und Søren Kierkegaard (1843) als eine eigene Wirklichkeit
nachvollziehbar menschliche Konfrontation mit sich selbst     im Wesen des Menschen. Nach Kant stellt das radikal
erfährt, die ihr Wesen nachhaltig genug beeinflusst, um       Böse einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen
sich von diesem Teil ihrer selbst zu distanzieren. Wenn       Natur dar, weil der Mensch ein Vernunftwesen ist, das
dies erfolgt, so soll hiermit oftmals bloss eine narrative    aber seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt haben will.
Wendung vollzogen werden, die als wünschenswertes             Im Widerstreit dieser beiden Extrempositionen liegt auch
Ereignis die Aufmerksamkeit des Lesers oder Zuschauers        die naturgemässe Bezähmung der triebhaften Natur des
aufrechterhält. Es handelt sich um das Phänomen der           Menschen durch seine Vernunft begründet, die Kant als
Extroversion oder Nach-aussen-Projektion.                     einen elementaren Aspekt menschlicher Selbstbestimmung
    Was den Menschen bei seiner Bedürfnisbefriedigung         betrachtet.
unberechenbar werden lässt, sind seine Vorstellungskraft          Karl Jaspers (1984) drückt das Gleiche mit anderen
und Fantasiefähigkeit. Diese Kräfte wirken im Menschen        Worten aus. Er sagt, dass Wahrheit die Menschheit
aktivierend und lassen ihn in seinem alltäglichen Leben oft   verbinde, deshalb sollten wir uns gemeinsam auf die
über sich hinauswachsen, indem sie seine Kreativität und      Wahrheitssuche machen, um zusammenzuwachsen. Auch
sein Potenzial anregen, sich zu entfalten. Unberechenbar      hierbei können narzisstische Selbstverliebtheit und ego-
wirken diese Kräfte, solange der Mensch nicht lernt,          zentrischer Ehrgeiz aus entgleisten Sehnsüchten erwach-
sie in Bahnen zu lenken, in denen er sie gemäss seines        sen, die entarteten Vorstellungen und als erstrebenswert
Moralverständnisses sowie seines ihm eigenen Strebens         wahrgenommenen Idealen entwachsen. Auf diese Weise
nach Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit zu bündeln ver-        führen sie den Menschen, der sich erniedrigt, seiner
mag. Auf diese Weise sind sie Wegbereiter nahezu aller        selbst ungewiss und von selbstentfremdeten Zwängen
menschlichen Leistungen, die ohne die Triebfeder der          geleitet sieht, weit über ein gesundes Mass von Streb-
Ur-Sehnsucht, die sich in ihrem tiefen Selbst manifestiert,   samkeit hinaus. Solcherart fehlgeleitet führen sie ihn in
kaum entstanden wären (Yousefi, 2017). Zugleich sind          eine Weltwahrnehmung unentwegter Konkurrenz und
Vorstellungskraft und Fantasiefähigkeit zwei Alleinstel-      rücksichtsloser Selbstfokussierung, die ihn gegenüber
lungsmerkmale im menschlichen Seelenkarussell, die            seinen Mitmenschen sowie allen anderen Mitgeschöpfen
seine Bedürfnisse zum Grenzenlosen verleiten und den          verantwortungslos und ignorant macht. Unsere westliche
Menschen zu abweichendem und gemeingefährlichem               Gesellschaft ist inzwischen überaus individualistisch ori-
Verhalten zu verführen vermögen.                              entiert. In der Analyse des Kollektivs und des Einzelnen
    In vielen Bereichen der Sozial- und Geisteswissen-        verweist Jaspers (1996) auf die Kehrseite der Individua-
schaften wie Religionswissenschaften, Theologie und           lität, die das Bezogensein der Menschen aufeinander auf-
Soziologie, neben den Literaturwissenschaften, werden         hebt. Eine solche Orientierung generiert Selbstverliebtheit
das Gute und das Böse als Gegensatzpaar thematisiert          und erbitterte Konkurrenz, die bei der Beantwortung der
(Thome, 1993; Mensching, 1950; Eliade, 1957; Ricœur,          Frage nach Entstehung des Bösen und von Feindbildern
2006). Bereits in Erzählungen des griechischen Dichters       vernachlässigt wird.
Äsop erhalten Tiere gute und böse Charaktere, um das              Wir kennen das Märchen von Rotkäppchen. Besonders
Verhalten des Menschen zu beschreiben und ihm wegen           intensiv und menschennah sehen wir das Gute im unschul-
seiner oftmals bösen Taten einen Spiegel vorzuhalten.         digen Mädchen, das seine Grossmutter im Wald besuchen
Auf sie greifen Figurationen von späteren Fabeln, Pa-         möchte und im bösen Wolf, der mit aller Hinterlist seines
rabeln und Märchen zurück, in denen unterschiedliche          Instinktes bemüht ist, das Mädchen zu fressen. Doch das
Personen und Tiere wechselseitig mit moralischen wie          Gute siegt am Ende. Rotkäppchen wird gerettet und der
amoralischen als ‹gut› oder ‹verwerflich› bewerteten          Wolf kommt zu Tode. Auf diese Weise führt uns das
Eigenschaften charakterisiert werden. Die Wissenschaft        Märchen in die Welt der menschlichen Psyche ein. Das
wird dies rekonstruktiv und in Werturteilsbeziehungen         menschliche Seelenleben.
gestalten und nicht in konkreten Werturteilen.                    Die Hexenverbrennungen sind ein Paradebeispiel, mit
    Am intensivsten legen uns die Religionen ans Herz,        welchen Konsequenzen Weltbilder und Weltverhältnisse
Nächstenliebe zu praktizieren, Gerechtigkeit zu üben und      verbunden sein können. Ein Mensch landet auf dem
jede Form von Hass und Krieg in gegenseitiger Verantwor-      Scheiterhaufen, weil der andere in ihm das gestaltgewor-
tung zu unterlassen. Sie fordern dazu auf, ein allgemein-     dene Böse zu erblicken glaubt. Erich Fromm beschreibt
verbindlich auftretendes ‹Gute› zu wollen und gleichsam       derartige inquisitorische Massnahmen als ‹Nekrophilie›
ein ebenso global gehaltenes ‹Böse› zu vermeiden. Meist       bzw. Psychopathie, die Liebe zur Tötung. Im Gegensatz
ist damit der Heilsweg der jeweiligen Gemeinschaft als        hierzu spricht er von ‹Biophilie›, der Liebe zum Leben.

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Hamid Reza Yousefi: Entmythologisierung des Bösen

   Beide Eigenschaften können, jenseits aller Psychopa-     ist. Der Mensch kann das Gute wie das Böse gleicher-
thologien, in der Natur des Menschen entwickelt werden:     massen in sich entwickeln, das in unterschiedlichen For-
Liebe zum Töten und Liebe zum Leben. Die Hexenverfol-       men in Erscheinung tritt. Dissonanzen entstehen, wenn
gungen und das leidvolle Märchen von Rotkäppchen, das       Grund und Ursache miteinander verwechselt werden.
wir auf vielen Ebenen unseres Lebens in unterschiedlichen   Die Ursache dessen, was wir als Böse klassifizieren, lässt
Formen feststellen, zeigen, dass die Anatomie der Gut-      sich durch die Folgebeziehung von Ursache und Grund
Böse-Dichotomie eine anthropologische Verankerung           erklären. Wenn der Nachbar Ihren Gruss mehrfach nicht
kennt. Dabei wird oft ausser Acht gelassen, dass es eine    erwidert, liegt die Vermutung nah, er möge Sie nicht und
vielgesuchte Trennschärfe zwischen beiden Extremen          wolle von Ihnen nicht begrüsst werden. Dies erzeugt in
nur in ebenso extremen Beispielen geben kann, sich ihre     Ihnen massives Unbehagen dem Nachbarn gegenüber,
Diversität jedoch in einer teils sehr dichten Verbindung    sodass Sie ihn aufs Übelste beschimpfen. Der Grund ihrer
zwischen den äusseren Polen dieses Verhältnisses wie-       Reaktion ist das Nicht-Grüssen des Nachbarn und die
derfinden lässt.                                            Ursache seines Verhaltens könnte seine Taubheit sein,
   Auch im Koran (Sura 4:80), finden wir eine Bestäti-      von der Sie nichts wussten.
gung, dass diese Dichotomie im menschlichen Seelenka-           Es ist nicht auszuschliessen, dass insbesondere früh-
russell entwickelt werden kann: «Was Dich Gutes trifft,     kindliche Negativerfahrungen in eine psychogen-de­
kommt von Allah und was Dich Schlimmes trifft, kommt        struktive Entwicklung münden können. Diesen Auftritt
von Dir selbst.» Diese Koranstelle zeigt, dass der Mensch   bestimmen diejenigen Situationen, in denen sich sein
über einen Denkapparat verfügt, der ihm nicht nur die       Leben abspielt. Konkurrenzsituationen verändern Men-
Türen zur Hölle, sondern auch die Türen zum Paradies        schen zum Guten wie zum Bösen. Die soziokulturellen
in seinem irdischen Leben öffnen kann. Er verfügt über      Hintergründe und die Art der Erziehung nehmen bei die-
Willensfreiheit und ist für seine Taten jederzeit und       sen Verformungen eine wesentliche Rolle ein, sind jedoch
überall verantwortlich. Das Unberechenbare ist, dass der    kein verlässlicher Garant für eine gelingende Eingrenzung
Mensch sich aufgrund dieser Willensfreiheit sowohl das      des Bösen oder ein absoluter Grund für seine spätere
Gute als auch das Böse zunutze machen kann. In diesem       Realisierung. Kulturelle Einbettungen beeinflussen auf
Verhalten liegt ein Selbst- und Fremdgefährdungspo-         unterschiedlichem Wege das Denken und Fühlen sowie
tenzial, das Menschen letztlich unberechenbar werden        Empfinden und Intuieren der Individuen, die wiederum
lässt. Dieser unendliche, auch irritierende Reichtum an     unterschiedlich mit diesen Erfahrungen umgehen. Sie
Sein ereignet sich zumeist diesseits der pathologischen     werten diese auf vielschichtige Weise aus, was zu diffe-
Verhaltenszuschreibung.                                     renten Ausprägungen in der einen oder anderen Richtung
   Auf der Suche nach einem Verantwortlichen für das        führen kann.
Böse werden in solchen Fällen allzu oft Umstände ge-            Aggression etwa ist eine Variante des Bösen und
nannt, die in frühkindlicher Prägung, missgünstiger         Mildtätigkeit eine Unterart des Guten, die ebenfalls je
Kindheit oder einer gescheiterten Adoleszenz zu finden      nach soziokulturellem Hintergrund unterschiedlich zum
sind, um den Betroffenen zu entlasten. Doch hinter diesem   Tragen kommen. Ein Mensch, der in einem konflikt-
Prozess stehen oft weitaus einflussreichere Kräfte.         beladenen Kulturraum gross geworden ist, denkt oft,
                                                            Probleme durch Faustrecht und nicht durch den Dialog
                                                            zu lösen. Eine solche Destruktivität lässt sich aber auch
Entmythologisierung des Bösen                               bei Menschen beobachten, die ihre Sozialisation nicht in
                                                            gewaltgeladenen Kulturräumen geniessen. Dies mag damit
Der Übeltäter ist das Unbewusste im Menschen, das ihn       zusammenhängen, dass die genannte menschliche Vorstel-
steuert. Das Unbewusste ist die Blackbox der individuell    lungskraft und Fantasiefähigkeit von ausserordentlicher
unterschiedlichen Biografien. Es saugt Informationen,       Diversität geprägt sind. Hierbei werden ihre aktivierenden
Erfahrungen und Sinneseindrücke wie ein Schwamm in          Kräfte als Vehikel für hintergründig wirkende Kräfte des
sich auf und legt diese für immer spürbar, aber oft nicht   Guten oder des Bösen instrumentalisiert, die beiden Polen
bewusst greifbar, im menschlichen Wesen ab. Auf diese       über die Handlungen des Menschen Ausdruck Realität
Weise verschafft sich der Mensch immer wieder eine          und Gestalt verleihen können.
graduelle Realität, die sich in Neigungen, verletzendem         Wir können uns immer wieder mit der Frage konfron-
Verhalten oder gar Gewalt und Selbstsucht ausdrückt.        tieren, warum wir in bestimmten Situationen so reagieren,
Unterschätzen wir die heimliche und unheimliche Macht       dass unser Gegenüber Missempfindungen entwickelt,
des Unbewussten nicht! Es ist ein Ort der gespeicherten     die wiederum dazu beitragen, dass wir verschärft darauf
Leidensgeschichten, Gewaltfantasien, verdrängten Trau-      reagieren und das sogenannte Böse in uns stimulieren
mata, unerwünschten Triebe, vererbten Verhaltensarten       und heranwachsen lassen. Ein solcher Konflikt fusst nicht
und des Machtmissbrauches, derer sich der Mensch nicht      selten auf einer konkurrenzbedingten Gegenüberstellung
bewusst ist, der jedoch wirkungsmächtigen Einfluss auf      des eigenen Selbst mit dem Anderen, der als Rivale be-
ihn ausüben kann.                                           trachtet wird.
   Die entmythologisierende Betrachtung des Bösen hilft         Bei der Selbstthematisierung können wir beobachten,
zu begreifen, dass die Kategorie des Bösen in der Wech-     dass unsere Imaginationsfähigkeit negative Erregungen
selwirkung von Grund- und Ursachenverhältnis erklärbar      entwickelt, wenn wir uns in einer Konkurrenzsituation

                                                                          Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021   61
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befinden oder das Gefühl haben, dass unsere Macht und         Wie Feindbilder entstehen
eigene Interessen in Gefahr geraten könnten. Das ist ein
typischer Konkurrenzmoment, in dem wir, um die Kon-           Die Welt des Menschen ist voller Gegensätze und Kon­
kurrenz auszuschalten, starke Negation und Abneigung          tradiktionen. Um die eigene Position zu bestimmen oder
in uns entwickeln. So entwickelt sich das Schlechte im        zu verstärken, konstruiert er Feindbilder, um das aus
Seelenleben, das eine Vorstufe zur Entwicklung des Bösen      seiner Sicht Verwerfliche zu sanktionieren, zur Vernunft
darstellt.                                                    zu bringen oder letztlich zu eliminieren. Der Mensch ist
                                                              der Maskenbildner seines Selbst, der auf seiner Lebens-
                                                              bühne nach Publikum sucht. Diese Haltung sagt aus,
Das einsame Ich gegen das kollektive Wir                      dass er zu allem fähig ist, wenn es um die Verteidigung
                                                              seiner Interessen geht. Er ist bereit, jeden notwendigen
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wohnten einsam auf einer     Schritt zu gehen, um sein in Gefahr gebrachtes Selbst zu
paradiesähnlichen Insel, auf der Sie alles vorfinden, was     schützen und alle für ihn kalkulierbaren Risiken einzu-
selbst ihre letzten Bedürfnisse zu befriedigen vermag.        gehen, um jeder Bedrohung dieses übermächtigen Selbst
Es ist durchaus denkbar, dass in einer solchen Situation      entgegenzutreten.
keine Gedanken entwickelt werden, die man böse nennen             Der Ausdruck ‹Böse› besitzt im Zusammenhang mit
könnte, weil wir in keiner Konkurrenzsituation leben wür-     Feindbildern mehrere Dimensionen (Omer et al., 2007):
den. Dies dauert an, bis ungebetene Gäste Sie regelrecht      Zum einen hat er eine explizit-offene Verwendung, nach
heimsuchen und auf der Insel eine ebenfalls dauerhafte        der der Andere unverblümt und ohne Vorbehalt als
Bleibe einrichten möchten.                                    Fremdgefährdung stigmatisiert und bekämpft wird. Zum
   In diesem Moment unterliegt Ihr Leben massiven             anderen hat er eine implizit-verdeckte Verwendung, nach
Veränderungen, die sie zu verkraften lernen werden.           der nicht offen ausgesprochen wird, dass der Andere böse
Das einsame Ich des Einzelnen will über das kollektive        ist, aber als solcher behandelt wird. Beide Spielarten des
Wir herrschen. Unwillkürlich entsteht eine Situation der      Bösen beeinflussen die soziale Einstellung. Diese besteht
unmittelbaren Konkurrenz mit den neuen Inselbewoh-            aus Kognition, Emotion und Verhalten. Die Kognition
nern, in der die Negation verhältnisbestimmend wirkt.         sagt: ‹Du bist gut oder böse.› Das ist die Feststellung.
Konkurrenz macht sich allmählich unter Ihnen breit.           Die Emotion sagt: ‹Du bist anzuerkennen oder abzuleh-
Damit beginnt ein Kampf um die Ressourcen und das             nen.› Das ist das Urteil. Das Verhalten sagt: ‹Du bist zu
Sagen auf der Insel. Diese Spirale setzt sich fort und kann   unterstützen oder zu beseitigen.› Das ist die Forderung:
zur Entwicklung böser Gedanken und letztlich physischer       Feststellung, Urteil und Forderung.
Gewalt führen. Konkurrenz steht der Rivalität nahe, die           Wie wir sehen, verursacht die Bezeichnung des An-
alle Sprachen spricht und alle Rollen spielt.                 deren als böse auf mentaler Ebene eine starke Identi-
   Dieses Modell hat einen unmittelbaren Realitätsbezug       fizierung und Unterscheidung. Auf emotionaler Ebene
auf allen möglichen Ebenen des zwischenmenschlichen           erfolgt eine Ablehnung und schliesslich auf der Ebene
Lebens. Denken Sie an Gewalttaten wie Mord und Tot-           des Verhaltens eine Forderung nach Sanktion und/oder
schlag, manipulierte Geschäftsbeziehungen oder politische     Beseitigung. Auf diese Weise funktionieren Feindbilder
Sanktionen, die bewusst zur Ruinierung des Gegners            und werden durch politische und mediale Wiederho-
führen sollen. Ein möglicher Weg, den Entstehungs-            lungen und Präsentation operationalisiert und in die
grund des Guten und Bösen zu erörtern, oder genauer           Gehirne der Adressaten förmlich eingebrannt. Solche
gesagt, das Schwarz-Weiss- und Konkurrenzdenken, ist          Feindbilder in Form einer Gut-Böse-Dichotomie erfüllen
das Eintauchen in die Psychologie des Menschen, in die        mehrere Funktionen:
unergründlichen Tiefen seines Unbewussten.                    a) Gut-Böse-Dichotomien im menschlichen Leben ha-
   In der Tiefe der Seele eines jeden Menschen liegt eine         ben eine Identitätsfunktion. Sie bringt zum Ausdruck,
Antriebs- und Motivationsquelle bzw. eine elementare              selbst gut, stark, gerecht, hilfsbereit und blosses, oft
Urkraft, aus der alle Leidenschaften und jedes Begehren           unschuldiges Opfer des Bösen zu sein. Schuld haben
zu Sinn- und Selbstsuche und zum Weltverstehen hervor-            hier immer die anderen, die nur provozieren und das
geht. Diese als ‹Ur-Sehnsucht› bezeichnete Urkraft ist eine       Böse unterstützen. Man selbst sieht sich dabei zumeist
intrinsische Funktion des Selbst, mit dem auch das Ich            als unschuldig, bestenfalls als Opfer widriger Umstände
zusammenhängt. Während das Selbst naturgegeben aktiv              an. Diese Feindbild-Ideologie fördert das Ich-Gefühl,
im Inneren und bezogen auf das Sein ist, ist das Ich sozial       das Wir-Gefühl und mobilisiert vor allem das kollektive
geprägt, aktiv zwischen den Welten und bezogen auf das            Bewusstsein gegen das vermeintliche Feindbild. Eine
Haben. Wird die Kommunikation des Selbst mit dem Ich              solche Suggestion zwingt die Mitglieder der eigenen
gestört, so werden die vier Bewusstseinsfunktionen des            Gruppe oder der eigenen Gesellschaft zur Abgrenzung
Denkens, Fühlens, Empfindens und Intuierens verändert             von anderen und legitimiert seine Bekämpfung. Arthur
(Yousefi, 2020c). Das selbstverliebte und machtsuchende           Schopenhauer (1977, S. 236) bringt dieses selbstpro-
Ich will die Befriedigung der eigenen Sehnsüchte erfahren,        filierende und fremdverachtende Verhalten auf den
ohne zu merken, wie es sich und dem Selbst im Inneren             Punkt: «Alles, was sich dem Streben seines Egoismus
und seinem Verhältnis nach aussen Gefahren aussetzt und           entgegenstellt, erregt seinen Unwillen, Zorn, Hass; er
letztlich das Böse hervorbringt (Yousefi, 2021).                  wird es als seinen Feind zu vernichten suchen. Er will,

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Hamid Reza Yousefi: Entmythologisierung des Bösen

   wo möglich, alles genießen, alles haben; da aber dies       Feindbilder und die Psyche
   unmöglich ist, wenigstens alles beherrschen.» Viele
   Gewalttaten hängen mit dieser Vereinfachung zusam-          Die Gut-Böse-Dichotomie ist nicht nur für die Betei-
   men, die Welt in lediglich zwei Seiten einzuteilen. Diese   ligten, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt,
   Schwarz-Weiss-Einteilung sollte einer Katharsis unter-      mit weitreichenden Konsequenzen verbunden (Pflüger,
   zogen werden, doch ist es illusionär, dass der Mensch       1986). Der Ausdruck ‹Achse des Bösen› ist ein solches
   diese Einsicht aus sich heraus gewinnt und dann auch        Feindbild, das nach ähnlichen Mechanismen funktio-
   noch beherzigt. Eine mögliche Methode wäre dabei die        niert. Es war Winston Churchill, der das Deutschland
   Selbstthematisierung eigener Denkweisen, Denknutzun-        des Zweiten Weltkrieges und seinen militärischen Ver-
   gen und Denkleistungen.                                     bündeten Japan als ‹Achse des Bösen› titulierte. Ronald
b) Gut-Böse-Dichotomien haben eine Orientierungsfunk-          Reagan bezeichnete im Anschluss daran die Sowjetunion
   tion. Man weiss schnell, wo man steht und woran             als ‹Achse des Bösen› und seit George W. Bush wer-
   man ist. Man braucht nicht Psychologe zu sein, um           den Länder wie Nordkorea, Simbabwe, Birma, China,
   zu merken, dass Gruppenegoismus den Dialog im               Russland und der Iran ebenfalls mit diesem Begriff zu-
   Keim erstickt und darüber hinaus selbst Konflikte           sammengefasst. Im Sinn der Verabsolutierungen einer
   verursacht. Alles, was im Sinne der eigens konzipierten     politischen Metaphysik und Gesinnungsethik wird diese
   Dichotomie als ‹gut› betrachtet wird, ist zugleich er-      Tendenz immer stärker. Sie hängt mit Macht und Inte-
   strebens- oder wünschenswert, alles was als ‹böse› gilt,    ressen zusammen, in der Grund und Ursache bewusst
   wird vom Kollektiv verachtet, künstlich diskreditiert       miteinander vertauscht werden und eine willkürliche
   und versucht, zu vernichten.                                Nennung des Bösen legitimieren.
c) Gut-Böse-Dichotomien besitzen schliesslich eine Recht-          Es ist leicht vorstellbar, dass aus der Perspektive
   fertigungsfunktion im menschlichen Leben. Sie ermög-        dieser sogenannten ‹Schurkenstaaten› auch die USA
   licht den Mitgliedern der eigenen Gruppe, die Schuld        und unsere gesamte Führungsmacht im Westen eine
   an Miseren und Unruhen in Familie, Freundschaft,            ‹Achse des Bösen› darstellen, die gewaltsam nach Macht
   Nachbarschaft, Gesellschaft und in der Welt überhaupt       trachtet, Feindbilder konstruiert, diese in eigenen Ge-
   beim anderen zu suchen, nämlich bei demjenigen, der als     sellschaften popularisiert und ihre Interessen durch
   Feindbild gilt. Die Idee des sogenannten gerechten Krie-    Sanktionen und notfalls durch Krieg durchsetzen will.
   ges oder des ‹Heiligen Krieges› im Sinne der Vernich-       Bereits Max Weber hat auf die Verantwortungslosigkeit
   tung des Anderen sind die bösen und unberechenbaren         von Macht und Interessen in der Politik hingewiesen,
   Kinder dieses Feindbildes. Solche Feindbilder können        die, wie ich meine, das Böse und damit Gewalt bevorzugt
   oftmals generationenübergreifend, wenn nicht gar als        hervorbringen können.
   insofern pervertierte Form historischer ‹Tradition›             Wie gestaltet sich nun das Wechselverhältnis zwischen
   bestehen, die eine lange Vorgeschichte aufweisen. Oft       dem Willen zum Bösen und dem wahrhaftigen Dialog?
   werden derartig erwachsende Zuschreibungen zeitweise        Einen echten und verständigungsorientierten Dialog
   als ‹gute Umgangsformen› verstanden, in denen es zur        zwischen Vertretern der Gut-Böse-Dichotomie können
   kommunikativen Etikette einer sich selbst profilierenden    wir kaum beobachten. Es sind lediglich Scheindialoge
   Elite gehört, derartige Feindbilder zu pflegen.             und Formen der Scheintoleranz, die die politische Praxis
                                                               der Dichotomisten bestimmen. Was faktisch geschieht,
Verstärker und Beschleuniger der Gut-Böse-Dichotomie           ist, dass sie in ihren jeweiligen Medien nicht miteinander,
sind in allen soziokulturellen Regionen der Völker Macht       sondern nur übereinander sprechen. Dabei werden wech-
und Interesse, Expansionspathologie und im weitesten           selseitig despektierliche Schmähungen und Häme ausge-
Sinne ein verfestigtes Interesse an der Weltbeherrschung.      tauscht, die oftmals zu noch grösseren Anschuldigungen
Diese Mentalität beobachten wir am deutlichsten auf            bis hin zu juristischen Schritten führen, deren Ziel die
politischer Ebene in diversen hegemonialen Ansprüchen          letztendlich-vollständige Vernichtung der Gegenseite
der Welt- und Regionalmächte, die nach allen Regeln            darstellt. Nennen möchte ich einige Diskurse, die aus psy-
der Hinterlistigkeit ihrer Vorstellungskraft und Fantasie-     chologischer Sicht als selbstdemagogisierende Monologe
fähigkeit bemüht sind, eigene Interessen notfalls mittels      bezeichnet werden können:
Gewalt zu erreichen.                                           a) Der Apologie- bzw. Verteidigungsdiskurs verfolgt
    Hier spielen die destruktive Diversität von Vorstel-           zielstrebig nur die eigenen Interessen, nimmt dabei in
lungskraft und Fantasiefähigkeit der Parteien eine eminent         Kauf, das Recht des Anderen aufzuheben und seine
wichtige Rolle. Der Zweck heiligt dabei die Mittel. Die            Existenz nachhaltig zu gefährden.
allseits bekannte Theorie der strukturellen Gewalt, von        b) Der Kriminalisierungsdiskurs stigmatisiert den An-
der Johan Galtung (1975) jahrzehntelang gesprochen hat,            deren als Inbegriff des Bösen und Unterstützer des
ist ein Mechanismus, der ausschliesslich nach einem Gut-           Terrorismus, ohne in Erwägung zu ziehen, was eine
Böse-Dichotomie-Massstab funktioniert. Die strukturelle            solche Unterstellung im anderen auslöst. Jede Reaktion
Gewalt soll den Gegner auf allen Ebenen durch Kontrolle,           der Beschuldigten wird als weitere Indikationen des
Beobachtung und Sanktion beherrschbar machen und                   Bösen oder gar als Schuldgeständnis wahrgenommen.
notfalls durch die Anwendung praktischer Gewalt, also          c) Der Ausschliesslichkeitsdiskurs verbietet jeden Kontakt
Krieg, eliminieren.                                                mit den vermeintlichen Unterstützern des Bösen und des

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Originalarbeit | Article inédit

   ausgemachten Terrorismus, um diesen gezielt zu isolieren    zu vermeiden. Nebenbei bemerkt gibt es keinen ‹Kampf
   und aus bestehenden Sozialsystemen auszuschliessen.         der Kulturen›, sondern nur einen ‹Kampf der Commu-
d) Der Mitleids- und Bevormundungsdiskurs betrachtet           nities› und ihren Interessen, die das Böse im Menschen
   den Anderen als rückständig und unfähig, ein zivilisier-    entwickeln lassen. Dabei sind selbst innerhalb der Com-
   tes Leben führen zu können. Aus diesem Anlass heraus        munities verschiedene Subgruppierungen enthalten, die
   löst er Mitleid aus, das als Zeichen guten Willens eine     oftmals nur partielle Interessen der sie umgebenden Com-
   Hierarchie einführt, in der der vermeintlich Mächtigere     munity teilen. Eine Gruppe etwa ist traditionalistisch-
   als Gönner auftreten und sich profilieren kann.             konservativ, während eine andere radikal-konservativ
e) Der Religionsfanatismusdiskurs führt alles auf eine         auftritt und eine aggressive Missionierung vollzieht, um
   Religion zurück, die nur Extrempositionen, Gewalt           mit ihrer Meinung Nonkonforme zu überzeugen.
   und Unmenschlichkeit kenne. Ihre Welt- und Men-                Diese Beispiele veranschaulichen lediglich eine Aus-
   schenbilder müssten daher aufs Schärfste bekämpft           wahl von Manifestationen der oft eigens erzeugten Geis-
   werden, mitunter gar soweit, die gesamte Glaubens-          teshaltung, die den Menschen dazu anhält, im Sinne
   gemeinschaft zu vernichten.                                 einer Weltvereinfachung in Schwarz-Weiss, Gut-Böse,
f) Der Säkularismusdiskurs betrachtet die nichtreligiöse       Richtig-Falsch-Relationen zu denken und nach diesen zu
   Welt als verkommen und ohne Moral, die ihre Pietät-         handeln. Oft von mühevoller Arbeit gekennzeichnet ist
   losigkeit unter dem Deckmantel von Meinungsfreiheit         dabei das Anliegen, derartige Strukturen zu verlassen und
   und Gehegefreiheiten versteckt. Die Doppelmoral eines       eine Perspektive einzunehmen, die dialogisch verfährt,
   ‹anything goes›-Plakativ wird dabei gekonnt überspielt.     statt exklusivistisch ein- oder auszuladen.
   Die Mutter dieser Diskurse ist die schwarze Rhetorik.

Sie kann als Manipulationstechnik, mit der die Wirk-           Elementarethik als Gegengift
lichkeit des Anderen beliebig verdreht wird, begriffen
werden. Die vermeintlich Guten betrachten sich selbst          Wie können wir die antidialogische Gut-Böse-Dichotomie
als das unschuldige Rotkäppchen aus dem eingangs               in einen echten Dialog überführen und eine wechselseitige
aufgeführten Märchenbeispiel, das immer wieder von             Verständigung im Geiste der gewaltfreien Hermeneutik
bösen Wölfen heimgesucht wird, um ihm alles zu                 ermöglichen (Yousefi, 2020a)?
nehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht                 Zarathustra vor 3.000 Jahren mit seiner Elementar­
die Welt nur noch aus unschuldigen Rotkäppchen, die            ethik und Immanuel Kant vor 200 Jahren mit seinem
von bösen Wölfen umgeben sind. Solche wechselsei-              kategorischen Imperativ haben eine mögliche Lösung
tigen Schuldzuweisungen führen jedoch nicht weiter,            geliefert. Zarathustra, für den die Welt des Menschen
sondern propagieren ein Menschenbild, das von der              von den Polaritäten Gut und Böse, also Ahriman und
gegenseitigen, willentlichen Vernichtung ausgeht, um           Ahuramazda geprägt ist, sieht den Sieg des Guten über
das eigene Selbst zu erhalten.                                 das Böse durch die wahrhaftige Praxis des guten Denkens,
   Die Transkulturelle Psychologie legt offen, dass jeder      des guten Redens und des guten Handelns.
den in sich entwickelten ‹bösen Wolf erblicken› sollte.            Kant sucht die Bekämpfung des Bösen durch eine
Das dauernde ‹Ich bin das Opfer› ist das Ergebnis der          echte Praxis seines Wahlspruches: Handele so, dass die
Hinterlistigkeit unserer Vorstellungskraft und Fanta-          Maxime deines Willens jederzeit zugleich als allgemeine
siefähigkeit, auf die ich eingangs hingewiesen habe. Es        Gesetzgebung gelten könnte. Zarathustra und Kant kön-
geht letztlich um Macht und Interesse, die Menschen            nen uns heute mit ihrer Elementarethik wegweisend sein.
verändern und unmenschlich werden lassen können.               Dies setzt den echten Willen voraus, die jeweils eigene
Ihre verblendenden und ebenso versuchenden Einflüsse           Vorstellungskraft und Fantasiefähigkeit zu regulieren,
geben dieser Konstellation letztlich eine wirkungsmäch-        um das Böse nicht entstehen zu lassen.
tige Bühne, auf der sie sich dem Menschen als zutiefst             Wilhelm Busch fasst die besagte kantische Formu-
wünschenswerte Wege präsentieren, sein eigenes Selbst-         lierung in seiner humoristisch-künstlerischen Bildsatire
wertgefühl zu steigern und jeden Widersacher erfolgreich       Die fromme Helene von 1872 in einer greifbaren Form
vernichten zu können.                                          zusammen: «Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets
   Worauf es bei der kontextuellen Psychologie an-             das Böse, das man lässt», worin zugleich vielfach eine
kommt, ist die Beachtung der kulturellen, gesellschaftli-      Anlehnung an die Mitleidsethik Schopenhauers gesehen
chen und politischen Kontexte, in denen sich der Mensch        wird, die eine Negativdefinition des Bösen mit der Defi-
bewegt. Phänomene des Guten und Bösen auf Kulturen             nition des Guten intendiert. So wird, wie bereits aus der
zu reduzieren, ist ein Denkfehler. Alles spielt sich in Kon-   kantischen Bekämpfung der rein triebgesteuerten Existenz
texten ab, weil sich der Mensch als kontextuelles Wesen        des Menschen zu sehen ist, eine Tugend abgeleitet, die
in Kontexten bewegt.                                           das Gute als die bewusste Vermeidung von Schlechtem
   Ein Synonym für das Wort ‹Kontext› ist ‹Commu-              positioniert. Religionen als Hüterinnen der Moral und
nity›, die eine Gemeinschaft oder Gruppe beschreibt,           Mitmenschlichkeit betonen das Gleiche.
die gemeinsame Ziele und Interessen nach bestimmten                Die hier zugrunde gelegte Elementarethik greift über
Wertvorstellungen verfolgen. Diese Differenzierung             diese teils oberflächlichen Vorstellungen hinaus, um ihren
hilft, die gern verwendeten Vorurteile und Stereotype          eigentlichen Ansatzpunkt beim Menschen selbst zu su-

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Hamid Reza Yousefi: Entmythologisierung des Bösen

chen. Elementarethik ist eine Ethik, die einen Bestandteil     Literatur
aller Moralvorstellungen der Völker darstellt, auch wenn
diese, je nach Kontext und Sozialisation, anders artikuliert   Aquin, T. von (1990). Summe gegen die Heiden. Bd. 3, Teil 1: Buch III,
wird. Der Mensch besitzt aus sich heraus eine Ethik des           Kapitel 1–83. Hrsg. u. übers. v. K. Allgaier. Darmstadt: wbg.
gesunden Menschenverstandes.                                   Aristoteles (2017). Nikomachische Ethik. Stuttgart: Reclam.
                                                               Dawkins, R. (1978). Das egoistische Gen. Berlin: Springer.
    Elementarethik lässt sich als ein anthropologischer
                                                               Eliade, M. (1957). Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Zü-
Entwurf betrachten, der darum bemüht ist, bestehende              rich: Rascher.
Hierarchieverhältnisse zu hinterfragen. Hiermit kön-           Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Reinbek: Rowohlt.
nen Charakterisierungen wie ‹Achse des Bösen› oder             Heinemann, T. (2016). Die neurowissenschaftliche Suche nach dem
‹Schurkenstaaten› in ihrem Wesenskern als rein propa-             Bösen. psychosozial, 39(144), 81–94.
gandistische Konstrukte enttarnt und ein Abbau von             Jaspers, K. (1984). Der philosophische Glaube angesichts der Offen-
                                                                  barung. München: Pieper.
unreflektierten Vorurteilen auf Basis einseitiger Infor-
                                                               Jaspers, K. (1996). Das Kollektiv und der Einzelne (1956). In H. Saner
mationen ermöglicht werden. Elementarethik möchte                 (Hrsg.), Das Wagnis der Freiheit (S. 173–180). München: Piper.
den Menschen dazu motivieren, sich reflexiv mit seinen         Kant, I. (1986). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-
Erfahrungen auseinanderzusetzen, die eigene Urteilsbil-           nunft. Stuttgart: Reclam.
dung zunächst zurückzustellen und an ihrer Stelle einen        Kierkegaard S. (1843). Entweder/Oder. Zweiter Teil, Zwei erbauliche
echten, gelingenden Dialog auf Augenhöhe zu suchen.               Rede, 16. V. (2./3. Abteilung).
    Grundsätzliche Voraussetzung für ein derartiges Gelin-     Lorenz, K. (1998). Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der
                                                                  Aggression. München: dtv.
gen ist jedoch die bewusste Bereitschaft, in dieser Absicht
                                                               Mensching, G. (1950). Gut und Böse im Glauben der Völker. Stutt­
selbst tätig zu werden, was letztlich in der Verantwortung        gart: Ehrenfried Klotz.
jedes Einzelnen auf individueller, aber auch auf medialer      Omer, H., von Schlippe, A. & Alon, N. (2007). Feindbilder. Psycho-
wie gesellschaftlicher, ja gar kultureller Ebene zu suchen        logie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
ist. Hierbei müssen Institutionen und Interessengruppen        Pflüger, P. -M. (Hrsg.). (1986). Freund- und Feindbilder. Begegnung
zusammenarbeiten, um in ihrer anleitenden und vor-                mit dem Osten. Olten: Walter.
                                                               Plotin (1878/80). Die Enneaden. Übers. v. H. F. Müller. Bde. 1 & 2.
bildhaften Funktion positiven Einfluss auszuüben, ohne
                                                                  Berlin: Weidmann.
dabei gezielte Beeinflussungs- oder Wirtschaftsinteressen      Ricœur, P. (2006). Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie
in den Mittelpunkt zu rücken. Dies führt zu einem Streit          und Theologie. Zürich: TVZ.
zwischen dem Ich und dem Selbst. Vermag das egoistische        Schneider, J. (2006). Gut und böse – falsch und richtig. Zu Ethik und
Ich sich zurückzunehmen und bescheidener aufzutreten,             Moral der sozialen Berufe. Frankfurt/M.: Fachhochschulverlag.
so können grössere Ziele realisiert werden, von denen          Schopenhauer, A. (1977). Über die Grundlage der Moral. Zürich:
womöglich wieder alle unterschiedlich profitieren können.         Meiner.
                                                               Thome, G. (1993). Vorstellungen vom Bösen in der lateinischen Lite-
                                                                  ratur. Begriffe, Motive, Gestalten. Stuttgart: Steiner.
                                                               Yousefi, H. R. (2017). Der Mensch und seine Sehnsüchte. In T. Schrei-
Fazit                                                             jäck & V. Serikov (Hrsg.), Das Heilige interkulturell (S. 401–410).
                                                                  Berlin: Matthias-Grünewald.
Die Entstehung des Bösen ist nicht bloss auf die indi-         Yousefi, H. R. (2018). Kampfplätze des Denkens. Praxis der interkul-
viduellen Anlagen des Menschen zurückzuführen. Eine               turellen Kommunikation. München: UTB.
                                                               Yousefi, H. R. (2020a). Gewaltfreie Hermeneutik der Identität. Eine
Vielzahl von unterschiedlichen psychosomatischen, em-
                                                                  Orientierungshilfe für Theorie und Praxis der Psychotherapie. Psy-
pirischen wie reflexiven Einflussfaktoren können für ein          chotherapie-Wissenschaft, 10(1) 51–59.
verwerfliches Handeln verantwortlich gemacht werden.           Yousefi, H. R. (2020b). Hermeneutik der Kulturen und ihr Einfluss
Möchten wir jedoch das Bewusstsein für unsere Eigenver-           auf das Unbewusste. SFU Forschungsbulletin, 8(1), 13–32.
antwortlichkeit und Selbstbestimmtheit in unser geistiges      Yousefi, H. R. (2020c). Psychologie der Kommunikation. dvb forum.
Zentrum rücken, so sind wir verpflichtet, in unserem              Zeitschrift des Deutschen Verbandes für Bildungs- und Berufsbe-
                                                                  ratung e. V.: Zuwanderung – Zukunft im Miteinander, 59, 4–8.
Denken, Reden und Handeln jene Lücken zu suchen,
                                                               Yousefi, H. R. (2021). Das Haus des Selbst und die Ätiologie des süch-
in denen wir uns, von einem Moment eines Tages zum                tigen Verhaltens. Gestörte Sozialisation und die Wiedererweckung
anderen, bewusst dafür entscheiden, unsere Intentionen            der Ur-Sehnsucht. In H. R. Yousefi & H. Seubert (Hrsg.), Restrik-
zu hinterfragen. Auf diese Weise werden wir unserer               tionen in der Wissenschaft und das Wagnis des Neuen (S. 67–93).
Verantwortung für uns selbst und für unsere Welt gewahr           Nordhausen: Bautz.
und können ein Leben führen, das wir als würdige Men-
schen mit absichtsvollem Handeln verdienen. Wollen wir
unserer ureigenen, zutiefst menschlichen Verantwortung         Demythologising Evil. A Contextual Perspective
entsprechen, sind wir dazu aufgefordert, dies für unser        Abstract: Human beings are neither good nor evil by nature.
Denken, Reden und Handeln zu berücksichtigen.                  The primary and secondary socialisation transform them into
   Die Entmythologisierung der Kategorie des Bösen             the beings they eventually become. Therefore, the category
verbunden mit der gewaltfreien Hermeneutik bilden              of evil must be subjected to demythologisation. Competitive
zwei Grundpfeiler der kontextuellen Psychotherapie. Sie        thinking creates images of enemies. The world is divided into
helfen, die Facetten der soziokulturellen Hintergründe         good and evil, friend and enemy, creating identity and a sense of
der Betroffenen sowie latent und explizit wirksames            belonging to a group, religion or ethnicity. From these centres of
Konkurrenzdenken vielfältig zu ergründen.                      gravity, life becomes a battleground for power and conflicting

                                                                                Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021           65
Originalarbeit | Article inédit

interests, which force us into an interaction based on stereotypes   Parole chiave: desiderio primordiale, demonizzazione, psico-
such as ‹good› and ‹evil›. By contrast, a nonviolent hermeneutic     patia, libero arbitrio, male, demitizzazione, biofilia, necrofilia
approach can contribute towards empathising with the world
of the Other and resolving conflicts amicably.
                                                                     Der Autor
Keywords: primal longing, demonisation, psychopathy, free            Hamid Reza Yousefi ist Professor für Interkulturelle Philosophie
will, evil, demythologisation, biophilia, necrophilia                und Dialog der Religionen an der University of Religions and
                                                                     Denominations in Qom und Lehrbeauftragter der Universität
                                                                     Potsdam. Zudem ist er Gründungspräsident des Instituts zur
Demitizzare il male. Una prospettiva contestuale                     Förderung der Interkulturalität e. V. in Trier. Seine Arbeitsfelder
Riassunto: L’essere umano non è né buono né cattivo per na-          sind Theorien der Toleranz, Ethik, Hermeneutik und Psycho-
tura. La socializzazione primaria e secondaria lo trasformano        logie der Kommunikation. Gegenwärtig habilitiert er sich an
in quell’essere che è diventato. Pertanto, la categoria del male     der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien mit dem Thema
deve essere sottoposta a smitizzazione. Il pensiero competitivo      «Über die Wiedererweckung der Ur-Sehnsucht. Grundzüge des
crea immagini di nemici. Il mondo è diviso in bene e male,           Avicenna-Modells der Suchttherapie».
amico e nemico, il che crea identità e senso di appartenenza
ad un gruppo, religione o etnia. Da questi centri di gravità, la
vita diventa un campo di battaglia di potere e interessi, che ci     Kontakt
costringono a interagire con stereotipi come ‹bene› e ‹male›.        Prof. Dr. Dr. h. c. Hamid Reza Yousefi
Un’ermeneutica nonviolenta può contribuire ad entrare in             Auf Thurnbaum 8
empatia con il mondo dell’Altro e a risolvere amichevolmente         D–54317 Gutweiler
i conflitti.                                                         E-Mail: pddr.yousefi@gmail.com

66      Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021
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