Entmythologisierung des Bösen - Eine kontextuelle Perspektive Hamid Reza Yousefi - Psychotherapie-Wissenschaft
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Entmythologisierung des Bösen Eine kontextuelle Perspektive Hamid Reza Yousefi Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 59–66 2021 www.psychotherapie-wissenschaft.info CC BY-NC-ND https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-59 Zusammenfassung: Der Mensch ist von Natur aus weder gut noch böse. Es sind die Primär- und Sekundärsozialisation, die aus ihm das machen, was sein Gewordensein darstellt. Daher ist die Kategorie des Bösen einer Entmythologisierung zu unterziehen. Konkurrenzdenken ruft Feindbilder auf den Plan. Die Welt wird in Gut und Böse, Freund und Feind unter- teilt, die Identität und Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, Religion oder Ethnie stiftet. Von diesen Gravitationszentren aus wird das Leben zu einem Kampfplatz von Macht und Interessen, die wiederum zwingen, mit Stereotypen wie ‹Gut› und ‹Böse› zu interagieren. Eine gewaltfreie Hermeneutik vermag dazu beizutragen, sich in die Welt des jeweils Anderen hineinzufühlen und Konflikte im Einvernehmen zu lösen. Schlüsselwörter: Ur-Sehnsucht, Feinbilder, Psychopathie, Willensfreiheit, Böse, Entmythologisierung, Biophilie, Nekrophilie Vorüberlegungen Das Böse im Menschen? Die Frage nach dem Entstehungsgrund des Guten und Die Beantwortung der Frage nach Gut und Böse hängt Bösen im Menschen wird divers und kontrovers diskutiert eng mit der Bestimmung des Menschen zusammen. Sie (Schneider, 2006). Insbesondere biologische (Lorenz, verweist zugleich auf seine Freiheit und Ergebnisoffenheit. 1998), evolutionsbiologische (Dawkins, 1978) und neu- Bis heute gibt es aufgrund der Diversität des menschlichen robiologische (Heinemann, 2016) Disziplinen haben sich Selbst- und Weltverhältnisses keine allgemeinverbindliche auf diesem Forschungsfeld neuerdings weitreichende Definition dessen, was wir als Gut oder Böse bezeichnen. Verdienste erworben. Sie setzen, was das Böse angeht, Eine erste Antwort auf die Dichotomie des Guten und eine genetische Disposition bzw. angeborene Neigung Bösen erhalten wir in der Mythologie, in der das Böse des Menschen zu Aggressivität und Gewalt voraus. Das als eine Grundkraft das gesamte Denken und Fühlen Gute wie das Böse sind aber nicht, oder zumindest nicht sowie Empfinden und Intuieren des Menschen bestimmt. ausschliesslich biologisch, in der Natur des Menschen Während das Gute als Inbegriff des Götterhimmels in den determiniert. Einen eindeutigen, genetischen Nachweis, Gestalten von Halbgöttern und positiven Geisterwesen der die Veranlagung zum Guten oder zum Bösen prognos- manifestiert wird, ist das Böse eine Quelle von Übeln, die tizieren könnte, ist bis heute noch nicht gefunden worden. in Form negativer Geisterwesen und Ungeheuern ähnliche Der Mensch ist weder eine Katze, die Gut und Böse nicht Erscheinungsformen besitzen. Dem mythologischen Helden unterscheiden kann und völlig instinktgesteuert handelt, treten Monster und Schrecken gegenüber, die überwunden noch besitzt er einen biologischen Zerstörungsinstinkt. werden müssen, um das Ziel seiner Aufgabe zu erreichen. Dies führt zu der Einsicht, dass es neben dem biologi- Gleichsam hängt das Böse eng mit den chthonischen schen einen anthropologisch-metaphysischen Grund Mächten zusammen. geben müsse. In allen Kulturen gibt es Personifikationen des Bösen Meine Perspektive ist eine kontextuell-psychologische, (Yousefi, 2020b), die literarisch, künstlerisch oder in neu- die zeigt, dass der Mensch stets sicheren Halt im Leben erer Zeit filmisch präsentiert werden, so etwa Ahriman in sucht, um sein Selbstsein zu markieren, zu begründen und zu der Lehre des Zarathustra, den Teufel im Christentum, verteidigen. Der Mensch ist Zeit seines Lebens bestrebt, die Satan im Islam, oder verschiedene Dämonen im Hindu- Welt auf ein handliches Format zu bringen, um sie verstehen ismus. Diese Kette an Beispielen können wir über die zu können. Niklas Luhmann und Hermann Lübbe nennen Mythologien der Völker hinaus bis zu den animistischen dies ‹Komplexitätsreduktion›. Ein solches Format liegt Weltanschauungen ausdehnen. Dabei wird deutlich, dass im Extremen des Schwarz-Weiss-Denkens. Dies beschert allen diesen unterschiedlichen Figurationen des Bösen einem Menschen aber nicht nur Identität, sondern macht bestimmte Eigenschaften zugrunde liegen, die narrative, das Leben oft zum Kampfplatz seiner Interessen (Yousefi, soziale, psychologische, theologische sowie philosophi- 2018). Meine Überlegungen beginne ich mit der Frage nach sche Charakterisierungen besitzen, die unterschiedliche dem Entstehungsgrund des Bösen und seiner weitreichenden Ausdeutungen erfahren. Diese Ausdeutungen sind Expli- Auswirkungen für die Begegnungen der Menschen. kationsversuche eines noch nicht artikulierten Archetypus. Psychosozial-Verlag • www.psychosozial-verlag.de 59
Originalarbeit | Article inédit Wenn in fantastischen Erzählungen Heldengestalten universale Lösung intendiert, die den Menschen anleiten eine Rechtfertigung ihrer Taten geben, so wollen sie eine möchte, ein ihm würdiges Dasein im Sinne der Religions- Identifikation für den Leser ermöglichen, ihr moralisches gemeinschaft zu führen. Die Religion als solches weiss um Beispiel verdeutlichen und als besonders erstrebenswert die Macht des Bösen, während es eine Grundtendenz der vorgestellt sehen. Begeistert sieht der Leser oder der Zu- Säkularität ist, diese Eigenmacht zu negieren. schauer eines Films darüber hinweg, dass seine Heldenfi- Philosophen wie Plotin (1878/80) und Thomas von guren oft rücksichtslos unmenschliche Dinge vollbringen, Aquin (1990) betrachten das Böse als blossen Mangel an die ihm als wünschenswertes Verhalten suggeriert werden. Sein oder wie Aristoteles (2017), Immanuel Kant (1986) Nur selten kommt es vor, dass eine solche Figur eine und Søren Kierkegaard (1843) als eine eigene Wirklichkeit nachvollziehbar menschliche Konfrontation mit sich selbst im Wesen des Menschen. Nach Kant stellt das radikal erfährt, die ihr Wesen nachhaltig genug beeinflusst, um Böse einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen sich von diesem Teil ihrer selbst zu distanzieren. Wenn Natur dar, weil der Mensch ein Vernunftwesen ist, das dies erfolgt, so soll hiermit oftmals bloss eine narrative aber seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt haben will. Wendung vollzogen werden, die als wünschenswertes Im Widerstreit dieser beiden Extrempositionen liegt auch Ereignis die Aufmerksamkeit des Lesers oder Zuschauers die naturgemässe Bezähmung der triebhaften Natur des aufrechterhält. Es handelt sich um das Phänomen der Menschen durch seine Vernunft begründet, die Kant als Extroversion oder Nach-aussen-Projektion. einen elementaren Aspekt menschlicher Selbstbestimmung Was den Menschen bei seiner Bedürfnisbefriedigung betrachtet. unberechenbar werden lässt, sind seine Vorstellungskraft Karl Jaspers (1984) drückt das Gleiche mit anderen und Fantasiefähigkeit. Diese Kräfte wirken im Menschen Worten aus. Er sagt, dass Wahrheit die Menschheit aktivierend und lassen ihn in seinem alltäglichen Leben oft verbinde, deshalb sollten wir uns gemeinsam auf die über sich hinauswachsen, indem sie seine Kreativität und Wahrheitssuche machen, um zusammenzuwachsen. Auch sein Potenzial anregen, sich zu entfalten. Unberechenbar hierbei können narzisstische Selbstverliebtheit und ego- wirken diese Kräfte, solange der Mensch nicht lernt, zentrischer Ehrgeiz aus entgleisten Sehnsüchten erwach- sie in Bahnen zu lenken, in denen er sie gemäss seines sen, die entarteten Vorstellungen und als erstrebenswert Moralverständnisses sowie seines ihm eigenen Strebens wahrgenommenen Idealen entwachsen. Auf diese Weise nach Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit zu bündeln ver- führen sie den Menschen, der sich erniedrigt, seiner mag. Auf diese Weise sind sie Wegbereiter nahezu aller selbst ungewiss und von selbstentfremdeten Zwängen menschlichen Leistungen, die ohne die Triebfeder der geleitet sieht, weit über ein gesundes Mass von Streb- Ur-Sehnsucht, die sich in ihrem tiefen Selbst manifestiert, samkeit hinaus. Solcherart fehlgeleitet führen sie ihn in kaum entstanden wären (Yousefi, 2017). Zugleich sind eine Weltwahrnehmung unentwegter Konkurrenz und Vorstellungskraft und Fantasiefähigkeit zwei Alleinstel- rücksichtsloser Selbstfokussierung, die ihn gegenüber lungsmerkmale im menschlichen Seelenkarussell, die seinen Mitmenschen sowie allen anderen Mitgeschöpfen seine Bedürfnisse zum Grenzenlosen verleiten und den verantwortungslos und ignorant macht. Unsere westliche Menschen zu abweichendem und gemeingefährlichem Gesellschaft ist inzwischen überaus individualistisch ori- Verhalten zu verführen vermögen. entiert. In der Analyse des Kollektivs und des Einzelnen In vielen Bereichen der Sozial- und Geisteswissen- verweist Jaspers (1996) auf die Kehrseite der Individua- schaften wie Religionswissenschaften, Theologie und lität, die das Bezogensein der Menschen aufeinander auf- Soziologie, neben den Literaturwissenschaften, werden hebt. Eine solche Orientierung generiert Selbstverliebtheit das Gute und das Böse als Gegensatzpaar thematisiert und erbitterte Konkurrenz, die bei der Beantwortung der (Thome, 1993; Mensching, 1950; Eliade, 1957; Ricœur, Frage nach Entstehung des Bösen und von Feindbildern 2006). Bereits in Erzählungen des griechischen Dichters vernachlässigt wird. Äsop erhalten Tiere gute und böse Charaktere, um das Wir kennen das Märchen von Rotkäppchen. Besonders Verhalten des Menschen zu beschreiben und ihm wegen intensiv und menschennah sehen wir das Gute im unschul- seiner oftmals bösen Taten einen Spiegel vorzuhalten. digen Mädchen, das seine Grossmutter im Wald besuchen Auf sie greifen Figurationen von späteren Fabeln, Pa- möchte und im bösen Wolf, der mit aller Hinterlist seines rabeln und Märchen zurück, in denen unterschiedliche Instinktes bemüht ist, das Mädchen zu fressen. Doch das Personen und Tiere wechselseitig mit moralischen wie Gute siegt am Ende. Rotkäppchen wird gerettet und der amoralischen als ‹gut› oder ‹verwerflich› bewerteten Wolf kommt zu Tode. Auf diese Weise führt uns das Eigenschaften charakterisiert werden. Die Wissenschaft Märchen in die Welt der menschlichen Psyche ein. Das wird dies rekonstruktiv und in Werturteilsbeziehungen menschliche Seelenleben. gestalten und nicht in konkreten Werturteilen. Die Hexenverbrennungen sind ein Paradebeispiel, mit Am intensivsten legen uns die Religionen ans Herz, welchen Konsequenzen Weltbilder und Weltverhältnisse Nächstenliebe zu praktizieren, Gerechtigkeit zu üben und verbunden sein können. Ein Mensch landet auf dem jede Form von Hass und Krieg in gegenseitiger Verantwor- Scheiterhaufen, weil der andere in ihm das gestaltgewor- tung zu unterlassen. Sie fordern dazu auf, ein allgemein- dene Böse zu erblicken glaubt. Erich Fromm beschreibt verbindlich auftretendes ‹Gute› zu wollen und gleichsam derartige inquisitorische Massnahmen als ‹Nekrophilie› ein ebenso global gehaltenes ‹Böse› zu vermeiden. Meist bzw. Psychopathie, die Liebe zur Tötung. Im Gegensatz ist damit der Heilsweg der jeweiligen Gemeinschaft als hierzu spricht er von ‹Biophilie›, der Liebe zum Leben. 60 Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021
Hamid Reza Yousefi: Entmythologisierung des Bösen Beide Eigenschaften können, jenseits aller Psychopa- ist. Der Mensch kann das Gute wie das Böse gleicher- thologien, in der Natur des Menschen entwickelt werden: massen in sich entwickeln, das in unterschiedlichen For- Liebe zum Töten und Liebe zum Leben. Die Hexenverfol- men in Erscheinung tritt. Dissonanzen entstehen, wenn gungen und das leidvolle Märchen von Rotkäppchen, das Grund und Ursache miteinander verwechselt werden. wir auf vielen Ebenen unseres Lebens in unterschiedlichen Die Ursache dessen, was wir als Böse klassifizieren, lässt Formen feststellen, zeigen, dass die Anatomie der Gut- sich durch die Folgebeziehung von Ursache und Grund Böse-Dichotomie eine anthropologische Verankerung erklären. Wenn der Nachbar Ihren Gruss mehrfach nicht kennt. Dabei wird oft ausser Acht gelassen, dass es eine erwidert, liegt die Vermutung nah, er möge Sie nicht und vielgesuchte Trennschärfe zwischen beiden Extremen wolle von Ihnen nicht begrüsst werden. Dies erzeugt in nur in ebenso extremen Beispielen geben kann, sich ihre Ihnen massives Unbehagen dem Nachbarn gegenüber, Diversität jedoch in einer teils sehr dichten Verbindung sodass Sie ihn aufs Übelste beschimpfen. Der Grund ihrer zwischen den äusseren Polen dieses Verhältnisses wie- Reaktion ist das Nicht-Grüssen des Nachbarn und die derfinden lässt. Ursache seines Verhaltens könnte seine Taubheit sein, Auch im Koran (Sura 4:80), finden wir eine Bestäti- von der Sie nichts wussten. gung, dass diese Dichotomie im menschlichen Seelenka- Es ist nicht auszuschliessen, dass insbesondere früh- russell entwickelt werden kann: «Was Dich Gutes trifft, kindliche Negativerfahrungen in eine psychogen-de kommt von Allah und was Dich Schlimmes trifft, kommt struktive Entwicklung münden können. Diesen Auftritt von Dir selbst.» Diese Koranstelle zeigt, dass der Mensch bestimmen diejenigen Situationen, in denen sich sein über einen Denkapparat verfügt, der ihm nicht nur die Leben abspielt. Konkurrenzsituationen verändern Men- Türen zur Hölle, sondern auch die Türen zum Paradies schen zum Guten wie zum Bösen. Die soziokulturellen in seinem irdischen Leben öffnen kann. Er verfügt über Hintergründe und die Art der Erziehung nehmen bei die- Willensfreiheit und ist für seine Taten jederzeit und sen Verformungen eine wesentliche Rolle ein, sind jedoch überall verantwortlich. Das Unberechenbare ist, dass der kein verlässlicher Garant für eine gelingende Eingrenzung Mensch sich aufgrund dieser Willensfreiheit sowohl das des Bösen oder ein absoluter Grund für seine spätere Gute als auch das Böse zunutze machen kann. In diesem Realisierung. Kulturelle Einbettungen beeinflussen auf Verhalten liegt ein Selbst- und Fremdgefährdungspo- unterschiedlichem Wege das Denken und Fühlen sowie tenzial, das Menschen letztlich unberechenbar werden Empfinden und Intuieren der Individuen, die wiederum lässt. Dieser unendliche, auch irritierende Reichtum an unterschiedlich mit diesen Erfahrungen umgehen. Sie Sein ereignet sich zumeist diesseits der pathologischen werten diese auf vielschichtige Weise aus, was zu diffe- Verhaltenszuschreibung. renten Ausprägungen in der einen oder anderen Richtung Auf der Suche nach einem Verantwortlichen für das führen kann. Böse werden in solchen Fällen allzu oft Umstände ge- Aggression etwa ist eine Variante des Bösen und nannt, die in frühkindlicher Prägung, missgünstiger Mildtätigkeit eine Unterart des Guten, die ebenfalls je Kindheit oder einer gescheiterten Adoleszenz zu finden nach soziokulturellem Hintergrund unterschiedlich zum sind, um den Betroffenen zu entlasten. Doch hinter diesem Tragen kommen. Ein Mensch, der in einem konflikt- Prozess stehen oft weitaus einflussreichere Kräfte. beladenen Kulturraum gross geworden ist, denkt oft, Probleme durch Faustrecht und nicht durch den Dialog zu lösen. Eine solche Destruktivität lässt sich aber auch Entmythologisierung des Bösen bei Menschen beobachten, die ihre Sozialisation nicht in gewaltgeladenen Kulturräumen geniessen. Dies mag damit Der Übeltäter ist das Unbewusste im Menschen, das ihn zusammenhängen, dass die genannte menschliche Vorstel- steuert. Das Unbewusste ist die Blackbox der individuell lungskraft und Fantasiefähigkeit von ausserordentlicher unterschiedlichen Biografien. Es saugt Informationen, Diversität geprägt sind. Hierbei werden ihre aktivierenden Erfahrungen und Sinneseindrücke wie ein Schwamm in Kräfte als Vehikel für hintergründig wirkende Kräfte des sich auf und legt diese für immer spürbar, aber oft nicht Guten oder des Bösen instrumentalisiert, die beiden Polen bewusst greifbar, im menschlichen Wesen ab. Auf diese über die Handlungen des Menschen Ausdruck Realität Weise verschafft sich der Mensch immer wieder eine und Gestalt verleihen können. graduelle Realität, die sich in Neigungen, verletzendem Wir können uns immer wieder mit der Frage konfron- Verhalten oder gar Gewalt und Selbstsucht ausdrückt. tieren, warum wir in bestimmten Situationen so reagieren, Unterschätzen wir die heimliche und unheimliche Macht dass unser Gegenüber Missempfindungen entwickelt, des Unbewussten nicht! Es ist ein Ort der gespeicherten die wiederum dazu beitragen, dass wir verschärft darauf Leidensgeschichten, Gewaltfantasien, verdrängten Trau- reagieren und das sogenannte Böse in uns stimulieren mata, unerwünschten Triebe, vererbten Verhaltensarten und heranwachsen lassen. Ein solcher Konflikt fusst nicht und des Machtmissbrauches, derer sich der Mensch nicht selten auf einer konkurrenzbedingten Gegenüberstellung bewusst ist, der jedoch wirkungsmächtigen Einfluss auf des eigenen Selbst mit dem Anderen, der als Rivale be- ihn ausüben kann. trachtet wird. Die entmythologisierende Betrachtung des Bösen hilft Bei der Selbstthematisierung können wir beobachten, zu begreifen, dass die Kategorie des Bösen in der Wech- dass unsere Imaginationsfähigkeit negative Erregungen selwirkung von Grund- und Ursachenverhältnis erklärbar entwickelt, wenn wir uns in einer Konkurrenzsituation Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021 61
Originalarbeit | Article inédit befinden oder das Gefühl haben, dass unsere Macht und Wie Feindbilder entstehen eigene Interessen in Gefahr geraten könnten. Das ist ein typischer Konkurrenzmoment, in dem wir, um die Kon- Die Welt des Menschen ist voller Gegensätze und Kon kurrenz auszuschalten, starke Negation und Abneigung tradiktionen. Um die eigene Position zu bestimmen oder in uns entwickeln. So entwickelt sich das Schlechte im zu verstärken, konstruiert er Feindbilder, um das aus Seelenleben, das eine Vorstufe zur Entwicklung des Bösen seiner Sicht Verwerfliche zu sanktionieren, zur Vernunft darstellt. zu bringen oder letztlich zu eliminieren. Der Mensch ist der Maskenbildner seines Selbst, der auf seiner Lebens- bühne nach Publikum sucht. Diese Haltung sagt aus, Das einsame Ich gegen das kollektive Wir dass er zu allem fähig ist, wenn es um die Verteidigung seiner Interessen geht. Er ist bereit, jeden notwendigen Stellen Sie sich einmal vor, Sie wohnten einsam auf einer Schritt zu gehen, um sein in Gefahr gebrachtes Selbst zu paradiesähnlichen Insel, auf der Sie alles vorfinden, was schützen und alle für ihn kalkulierbaren Risiken einzu- selbst ihre letzten Bedürfnisse zu befriedigen vermag. gehen, um jeder Bedrohung dieses übermächtigen Selbst Es ist durchaus denkbar, dass in einer solchen Situation entgegenzutreten. keine Gedanken entwickelt werden, die man böse nennen Der Ausdruck ‹Böse› besitzt im Zusammenhang mit könnte, weil wir in keiner Konkurrenzsituation leben wür- Feindbildern mehrere Dimensionen (Omer et al., 2007): den. Dies dauert an, bis ungebetene Gäste Sie regelrecht Zum einen hat er eine explizit-offene Verwendung, nach heimsuchen und auf der Insel eine ebenfalls dauerhafte der der Andere unverblümt und ohne Vorbehalt als Bleibe einrichten möchten. Fremdgefährdung stigmatisiert und bekämpft wird. Zum In diesem Moment unterliegt Ihr Leben massiven anderen hat er eine implizit-verdeckte Verwendung, nach Veränderungen, die sie zu verkraften lernen werden. der nicht offen ausgesprochen wird, dass der Andere böse Das einsame Ich des Einzelnen will über das kollektive ist, aber als solcher behandelt wird. Beide Spielarten des Wir herrschen. Unwillkürlich entsteht eine Situation der Bösen beeinflussen die soziale Einstellung. Diese besteht unmittelbaren Konkurrenz mit den neuen Inselbewoh- aus Kognition, Emotion und Verhalten. Die Kognition nern, in der die Negation verhältnisbestimmend wirkt. sagt: ‹Du bist gut oder böse.› Das ist die Feststellung. Konkurrenz macht sich allmählich unter Ihnen breit. Die Emotion sagt: ‹Du bist anzuerkennen oder abzuleh- Damit beginnt ein Kampf um die Ressourcen und das nen.› Das ist das Urteil. Das Verhalten sagt: ‹Du bist zu Sagen auf der Insel. Diese Spirale setzt sich fort und kann unterstützen oder zu beseitigen.› Das ist die Forderung: zur Entwicklung böser Gedanken und letztlich physischer Feststellung, Urteil und Forderung. Gewalt führen. Konkurrenz steht der Rivalität nahe, die Wie wir sehen, verursacht die Bezeichnung des An- alle Sprachen spricht und alle Rollen spielt. deren als böse auf mentaler Ebene eine starke Identi- Dieses Modell hat einen unmittelbaren Realitätsbezug fizierung und Unterscheidung. Auf emotionaler Ebene auf allen möglichen Ebenen des zwischenmenschlichen erfolgt eine Ablehnung und schliesslich auf der Ebene Lebens. Denken Sie an Gewalttaten wie Mord und Tot- des Verhaltens eine Forderung nach Sanktion und/oder schlag, manipulierte Geschäftsbeziehungen oder politische Beseitigung. Auf diese Weise funktionieren Feindbilder Sanktionen, die bewusst zur Ruinierung des Gegners und werden durch politische und mediale Wiederho- führen sollen. Ein möglicher Weg, den Entstehungs- lungen und Präsentation operationalisiert und in die grund des Guten und Bösen zu erörtern, oder genauer Gehirne der Adressaten förmlich eingebrannt. Solche gesagt, das Schwarz-Weiss- und Konkurrenzdenken, ist Feindbilder in Form einer Gut-Böse-Dichotomie erfüllen das Eintauchen in die Psychologie des Menschen, in die mehrere Funktionen: unergründlichen Tiefen seines Unbewussten. a) Gut-Böse-Dichotomien im menschlichen Leben ha- In der Tiefe der Seele eines jeden Menschen liegt eine ben eine Identitätsfunktion. Sie bringt zum Ausdruck, Antriebs- und Motivationsquelle bzw. eine elementare selbst gut, stark, gerecht, hilfsbereit und blosses, oft Urkraft, aus der alle Leidenschaften und jedes Begehren unschuldiges Opfer des Bösen zu sein. Schuld haben zu Sinn- und Selbstsuche und zum Weltverstehen hervor- hier immer die anderen, die nur provozieren und das geht. Diese als ‹Ur-Sehnsucht› bezeichnete Urkraft ist eine Böse unterstützen. Man selbst sieht sich dabei zumeist intrinsische Funktion des Selbst, mit dem auch das Ich als unschuldig, bestenfalls als Opfer widriger Umstände zusammenhängt. Während das Selbst naturgegeben aktiv an. Diese Feindbild-Ideologie fördert das Ich-Gefühl, im Inneren und bezogen auf das Sein ist, ist das Ich sozial das Wir-Gefühl und mobilisiert vor allem das kollektive geprägt, aktiv zwischen den Welten und bezogen auf das Bewusstsein gegen das vermeintliche Feindbild. Eine Haben. Wird die Kommunikation des Selbst mit dem Ich solche Suggestion zwingt die Mitglieder der eigenen gestört, so werden die vier Bewusstseinsfunktionen des Gruppe oder der eigenen Gesellschaft zur Abgrenzung Denkens, Fühlens, Empfindens und Intuierens verändert von anderen und legitimiert seine Bekämpfung. Arthur (Yousefi, 2020c). Das selbstverliebte und machtsuchende Schopenhauer (1977, S. 236) bringt dieses selbstpro- Ich will die Befriedigung der eigenen Sehnsüchte erfahren, filierende und fremdverachtende Verhalten auf den ohne zu merken, wie es sich und dem Selbst im Inneren Punkt: «Alles, was sich dem Streben seines Egoismus und seinem Verhältnis nach aussen Gefahren aussetzt und entgegenstellt, erregt seinen Unwillen, Zorn, Hass; er letztlich das Böse hervorbringt (Yousefi, 2021). wird es als seinen Feind zu vernichten suchen. Er will, 62 Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021
Hamid Reza Yousefi: Entmythologisierung des Bösen wo möglich, alles genießen, alles haben; da aber dies Feindbilder und die Psyche unmöglich ist, wenigstens alles beherrschen.» Viele Gewalttaten hängen mit dieser Vereinfachung zusam- Die Gut-Böse-Dichotomie ist nicht nur für die Betei- men, die Welt in lediglich zwei Seiten einzuteilen. Diese ligten, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt, Schwarz-Weiss-Einteilung sollte einer Katharsis unter- mit weitreichenden Konsequenzen verbunden (Pflüger, zogen werden, doch ist es illusionär, dass der Mensch 1986). Der Ausdruck ‹Achse des Bösen› ist ein solches diese Einsicht aus sich heraus gewinnt und dann auch Feindbild, das nach ähnlichen Mechanismen funktio- noch beherzigt. Eine mögliche Methode wäre dabei die niert. Es war Winston Churchill, der das Deutschland Selbstthematisierung eigener Denkweisen, Denknutzun- des Zweiten Weltkrieges und seinen militärischen Ver- gen und Denkleistungen. bündeten Japan als ‹Achse des Bösen› titulierte. Ronald b) Gut-Böse-Dichotomien haben eine Orientierungsfunk- Reagan bezeichnete im Anschluss daran die Sowjetunion tion. Man weiss schnell, wo man steht und woran als ‹Achse des Bösen› und seit George W. Bush wer- man ist. Man braucht nicht Psychologe zu sein, um den Länder wie Nordkorea, Simbabwe, Birma, China, zu merken, dass Gruppenegoismus den Dialog im Russland und der Iran ebenfalls mit diesem Begriff zu- Keim erstickt und darüber hinaus selbst Konflikte sammengefasst. Im Sinn der Verabsolutierungen einer verursacht. Alles, was im Sinne der eigens konzipierten politischen Metaphysik und Gesinnungsethik wird diese Dichotomie als ‹gut› betrachtet wird, ist zugleich er- Tendenz immer stärker. Sie hängt mit Macht und Inte- strebens- oder wünschenswert, alles was als ‹böse› gilt, ressen zusammen, in der Grund und Ursache bewusst wird vom Kollektiv verachtet, künstlich diskreditiert miteinander vertauscht werden und eine willkürliche und versucht, zu vernichten. Nennung des Bösen legitimieren. c) Gut-Böse-Dichotomien besitzen schliesslich eine Recht- Es ist leicht vorstellbar, dass aus der Perspektive fertigungsfunktion im menschlichen Leben. Sie ermög- dieser sogenannten ‹Schurkenstaaten› auch die USA licht den Mitgliedern der eigenen Gruppe, die Schuld und unsere gesamte Führungsmacht im Westen eine an Miseren und Unruhen in Familie, Freundschaft, ‹Achse des Bösen› darstellen, die gewaltsam nach Macht Nachbarschaft, Gesellschaft und in der Welt überhaupt trachtet, Feindbilder konstruiert, diese in eigenen Ge- beim anderen zu suchen, nämlich bei demjenigen, der als sellschaften popularisiert und ihre Interessen durch Feindbild gilt. Die Idee des sogenannten gerechten Krie- Sanktionen und notfalls durch Krieg durchsetzen will. ges oder des ‹Heiligen Krieges› im Sinne der Vernich- Bereits Max Weber hat auf die Verantwortungslosigkeit tung des Anderen sind die bösen und unberechenbaren von Macht und Interessen in der Politik hingewiesen, Kinder dieses Feindbildes. Solche Feindbilder können die, wie ich meine, das Böse und damit Gewalt bevorzugt oftmals generationenübergreifend, wenn nicht gar als hervorbringen können. insofern pervertierte Form historischer ‹Tradition› Wie gestaltet sich nun das Wechselverhältnis zwischen bestehen, die eine lange Vorgeschichte aufweisen. Oft dem Willen zum Bösen und dem wahrhaftigen Dialog? werden derartig erwachsende Zuschreibungen zeitweise Einen echten und verständigungsorientierten Dialog als ‹gute Umgangsformen› verstanden, in denen es zur zwischen Vertretern der Gut-Böse-Dichotomie können kommunikativen Etikette einer sich selbst profilierenden wir kaum beobachten. Es sind lediglich Scheindialoge Elite gehört, derartige Feindbilder zu pflegen. und Formen der Scheintoleranz, die die politische Praxis der Dichotomisten bestimmen. Was faktisch geschieht, Verstärker und Beschleuniger der Gut-Böse-Dichotomie ist, dass sie in ihren jeweiligen Medien nicht miteinander, sind in allen soziokulturellen Regionen der Völker Macht sondern nur übereinander sprechen. Dabei werden wech- und Interesse, Expansionspathologie und im weitesten selseitig despektierliche Schmähungen und Häme ausge- Sinne ein verfestigtes Interesse an der Weltbeherrschung. tauscht, die oftmals zu noch grösseren Anschuldigungen Diese Mentalität beobachten wir am deutlichsten auf bis hin zu juristischen Schritten führen, deren Ziel die politischer Ebene in diversen hegemonialen Ansprüchen letztendlich-vollständige Vernichtung der Gegenseite der Welt- und Regionalmächte, die nach allen Regeln darstellt. Nennen möchte ich einige Diskurse, die aus psy- der Hinterlistigkeit ihrer Vorstellungskraft und Fantasie- chologischer Sicht als selbstdemagogisierende Monologe fähigkeit bemüht sind, eigene Interessen notfalls mittels bezeichnet werden können: Gewalt zu erreichen. a) Der Apologie- bzw. Verteidigungsdiskurs verfolgt Hier spielen die destruktive Diversität von Vorstel- zielstrebig nur die eigenen Interessen, nimmt dabei in lungskraft und Fantasiefähigkeit der Parteien eine eminent Kauf, das Recht des Anderen aufzuheben und seine wichtige Rolle. Der Zweck heiligt dabei die Mittel. Die Existenz nachhaltig zu gefährden. allseits bekannte Theorie der strukturellen Gewalt, von b) Der Kriminalisierungsdiskurs stigmatisiert den An- der Johan Galtung (1975) jahrzehntelang gesprochen hat, deren als Inbegriff des Bösen und Unterstützer des ist ein Mechanismus, der ausschliesslich nach einem Gut- Terrorismus, ohne in Erwägung zu ziehen, was eine Böse-Dichotomie-Massstab funktioniert. Die strukturelle solche Unterstellung im anderen auslöst. Jede Reaktion Gewalt soll den Gegner auf allen Ebenen durch Kontrolle, der Beschuldigten wird als weitere Indikationen des Beobachtung und Sanktion beherrschbar machen und Bösen oder gar als Schuldgeständnis wahrgenommen. notfalls durch die Anwendung praktischer Gewalt, also c) Der Ausschliesslichkeitsdiskurs verbietet jeden Kontakt Krieg, eliminieren. mit den vermeintlichen Unterstützern des Bösen und des Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021 63
Originalarbeit | Article inédit ausgemachten Terrorismus, um diesen gezielt zu isolieren zu vermeiden. Nebenbei bemerkt gibt es keinen ‹Kampf und aus bestehenden Sozialsystemen auszuschliessen. der Kulturen›, sondern nur einen ‹Kampf der Commu- d) Der Mitleids- und Bevormundungsdiskurs betrachtet nities› und ihren Interessen, die das Böse im Menschen den Anderen als rückständig und unfähig, ein zivilisier- entwickeln lassen. Dabei sind selbst innerhalb der Com- tes Leben führen zu können. Aus diesem Anlass heraus munities verschiedene Subgruppierungen enthalten, die löst er Mitleid aus, das als Zeichen guten Willens eine oftmals nur partielle Interessen der sie umgebenden Com- Hierarchie einführt, in der der vermeintlich Mächtigere munity teilen. Eine Gruppe etwa ist traditionalistisch- als Gönner auftreten und sich profilieren kann. konservativ, während eine andere radikal-konservativ e) Der Religionsfanatismusdiskurs führt alles auf eine auftritt und eine aggressive Missionierung vollzieht, um Religion zurück, die nur Extrempositionen, Gewalt mit ihrer Meinung Nonkonforme zu überzeugen. und Unmenschlichkeit kenne. Ihre Welt- und Men- Diese Beispiele veranschaulichen lediglich eine Aus- schenbilder müssten daher aufs Schärfste bekämpft wahl von Manifestationen der oft eigens erzeugten Geis- werden, mitunter gar soweit, die gesamte Glaubens- teshaltung, die den Menschen dazu anhält, im Sinne gemeinschaft zu vernichten. einer Weltvereinfachung in Schwarz-Weiss, Gut-Böse, f) Der Säkularismusdiskurs betrachtet die nichtreligiöse Richtig-Falsch-Relationen zu denken und nach diesen zu Welt als verkommen und ohne Moral, die ihre Pietät- handeln. Oft von mühevoller Arbeit gekennzeichnet ist losigkeit unter dem Deckmantel von Meinungsfreiheit dabei das Anliegen, derartige Strukturen zu verlassen und und Gehegefreiheiten versteckt. Die Doppelmoral eines eine Perspektive einzunehmen, die dialogisch verfährt, ‹anything goes›-Plakativ wird dabei gekonnt überspielt. statt exklusivistisch ein- oder auszuladen. Die Mutter dieser Diskurse ist die schwarze Rhetorik. Sie kann als Manipulationstechnik, mit der die Wirk- Elementarethik als Gegengift lichkeit des Anderen beliebig verdreht wird, begriffen werden. Die vermeintlich Guten betrachten sich selbst Wie können wir die antidialogische Gut-Böse-Dichotomie als das unschuldige Rotkäppchen aus dem eingangs in einen echten Dialog überführen und eine wechselseitige aufgeführten Märchenbeispiel, das immer wieder von Verständigung im Geiste der gewaltfreien Hermeneutik bösen Wölfen heimgesucht wird, um ihm alles zu ermöglichen (Yousefi, 2020a)? nehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht Zarathustra vor 3.000 Jahren mit seiner Elementar die Welt nur noch aus unschuldigen Rotkäppchen, die ethik und Immanuel Kant vor 200 Jahren mit seinem von bösen Wölfen umgeben sind. Solche wechselsei- kategorischen Imperativ haben eine mögliche Lösung tigen Schuldzuweisungen führen jedoch nicht weiter, geliefert. Zarathustra, für den die Welt des Menschen sondern propagieren ein Menschenbild, das von der von den Polaritäten Gut und Böse, also Ahriman und gegenseitigen, willentlichen Vernichtung ausgeht, um Ahuramazda geprägt ist, sieht den Sieg des Guten über das eigene Selbst zu erhalten. das Böse durch die wahrhaftige Praxis des guten Denkens, Die Transkulturelle Psychologie legt offen, dass jeder des guten Redens und des guten Handelns. den in sich entwickelten ‹bösen Wolf erblicken› sollte. Kant sucht die Bekämpfung des Bösen durch eine Das dauernde ‹Ich bin das Opfer› ist das Ergebnis der echte Praxis seines Wahlspruches: Handele so, dass die Hinterlistigkeit unserer Vorstellungskraft und Fanta- Maxime deines Willens jederzeit zugleich als allgemeine siefähigkeit, auf die ich eingangs hingewiesen habe. Es Gesetzgebung gelten könnte. Zarathustra und Kant kön- geht letztlich um Macht und Interesse, die Menschen nen uns heute mit ihrer Elementarethik wegweisend sein. verändern und unmenschlich werden lassen können. Dies setzt den echten Willen voraus, die jeweils eigene Ihre verblendenden und ebenso versuchenden Einflüsse Vorstellungskraft und Fantasiefähigkeit zu regulieren, geben dieser Konstellation letztlich eine wirkungsmäch- um das Böse nicht entstehen zu lassen. tige Bühne, auf der sie sich dem Menschen als zutiefst Wilhelm Busch fasst die besagte kantische Formu- wünschenswerte Wege präsentieren, sein eigenes Selbst- lierung in seiner humoristisch-künstlerischen Bildsatire wertgefühl zu steigern und jeden Widersacher erfolgreich Die fromme Helene von 1872 in einer greifbaren Form vernichten zu können. zusammen: «Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets Worauf es bei der kontextuellen Psychologie an- das Böse, das man lässt», worin zugleich vielfach eine kommt, ist die Beachtung der kulturellen, gesellschaftli- Anlehnung an die Mitleidsethik Schopenhauers gesehen chen und politischen Kontexte, in denen sich der Mensch wird, die eine Negativdefinition des Bösen mit der Defi- bewegt. Phänomene des Guten und Bösen auf Kulturen nition des Guten intendiert. So wird, wie bereits aus der zu reduzieren, ist ein Denkfehler. Alles spielt sich in Kon- kantischen Bekämpfung der rein triebgesteuerten Existenz texten ab, weil sich der Mensch als kontextuelles Wesen des Menschen zu sehen ist, eine Tugend abgeleitet, die in Kontexten bewegt. das Gute als die bewusste Vermeidung von Schlechtem Ein Synonym für das Wort ‹Kontext› ist ‹Commu- positioniert. Religionen als Hüterinnen der Moral und nity›, die eine Gemeinschaft oder Gruppe beschreibt, Mitmenschlichkeit betonen das Gleiche. die gemeinsame Ziele und Interessen nach bestimmten Die hier zugrunde gelegte Elementarethik greift über Wertvorstellungen verfolgen. Diese Differenzierung diese teils oberflächlichen Vorstellungen hinaus, um ihren hilft, die gern verwendeten Vorurteile und Stereotype eigentlichen Ansatzpunkt beim Menschen selbst zu su- 64 Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021
Hamid Reza Yousefi: Entmythologisierung des Bösen chen. Elementarethik ist eine Ethik, die einen Bestandteil Literatur aller Moralvorstellungen der Völker darstellt, auch wenn diese, je nach Kontext und Sozialisation, anders artikuliert Aquin, T. von (1990). Summe gegen die Heiden. Bd. 3, Teil 1: Buch III, wird. Der Mensch besitzt aus sich heraus eine Ethik des Kapitel 1–83. Hrsg. u. übers. v. K. Allgaier. Darmstadt: wbg. gesunden Menschenverstandes. Aristoteles (2017). Nikomachische Ethik. Stuttgart: Reclam. Dawkins, R. (1978). Das egoistische Gen. Berlin: Springer. Elementarethik lässt sich als ein anthropologischer Eliade, M. (1957). Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Zü- Entwurf betrachten, der darum bemüht ist, bestehende rich: Rascher. Hierarchieverhältnisse zu hinterfragen. Hiermit kön- Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Reinbek: Rowohlt. nen Charakterisierungen wie ‹Achse des Bösen› oder Heinemann, T. (2016). Die neurowissenschaftliche Suche nach dem ‹Schurkenstaaten› in ihrem Wesenskern als rein propa- Bösen. psychosozial, 39(144), 81–94. gandistische Konstrukte enttarnt und ein Abbau von Jaspers, K. (1984). Der philosophische Glaube angesichts der Offen- barung. München: Pieper. unreflektierten Vorurteilen auf Basis einseitiger Infor- Jaspers, K. (1996). Das Kollektiv und der Einzelne (1956). In H. Saner mationen ermöglicht werden. Elementarethik möchte (Hrsg.), Das Wagnis der Freiheit (S. 173–180). München: Piper. den Menschen dazu motivieren, sich reflexiv mit seinen Kant, I. (1986). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver- Erfahrungen auseinanderzusetzen, die eigene Urteilsbil- nunft. Stuttgart: Reclam. dung zunächst zurückzustellen und an ihrer Stelle einen Kierkegaard S. (1843). Entweder/Oder. Zweiter Teil, Zwei erbauliche echten, gelingenden Dialog auf Augenhöhe zu suchen. Rede, 16. V. (2./3. Abteilung). Grundsätzliche Voraussetzung für ein derartiges Gelin- Lorenz, K. (1998). Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München: dtv. gen ist jedoch die bewusste Bereitschaft, in dieser Absicht Mensching, G. (1950). Gut und Böse im Glauben der Völker. Stutt selbst tätig zu werden, was letztlich in der Verantwortung gart: Ehrenfried Klotz. jedes Einzelnen auf individueller, aber auch auf medialer Omer, H., von Schlippe, A. & Alon, N. (2007). Feindbilder. Psycho- wie gesellschaftlicher, ja gar kultureller Ebene zu suchen logie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ist. Hierbei müssen Institutionen und Interessengruppen Pflüger, P. -M. (Hrsg.). (1986). Freund- und Feindbilder. Begegnung zusammenarbeiten, um in ihrer anleitenden und vor- mit dem Osten. Olten: Walter. Plotin (1878/80). Die Enneaden. Übers. v. H. F. Müller. Bde. 1 & 2. bildhaften Funktion positiven Einfluss auszuüben, ohne Berlin: Weidmann. dabei gezielte Beeinflussungs- oder Wirtschaftsinteressen Ricœur, P. (2006). Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie in den Mittelpunkt zu rücken. Dies führt zu einem Streit und Theologie. Zürich: TVZ. zwischen dem Ich und dem Selbst. Vermag das egoistische Schneider, J. (2006). Gut und böse – falsch und richtig. Zu Ethik und Ich sich zurückzunehmen und bescheidener aufzutreten, Moral der sozialen Berufe. Frankfurt/M.: Fachhochschulverlag. so können grössere Ziele realisiert werden, von denen Schopenhauer, A. (1977). Über die Grundlage der Moral. Zürich: womöglich wieder alle unterschiedlich profitieren können. Meiner. Thome, G. (1993). Vorstellungen vom Bösen in der lateinischen Lite- ratur. Begriffe, Motive, Gestalten. Stuttgart: Steiner. Yousefi, H. R. (2017). Der Mensch und seine Sehnsüchte. In T. Schrei- Fazit jäck & V. Serikov (Hrsg.), Das Heilige interkulturell (S. 401–410). Berlin: Matthias-Grünewald. Die Entstehung des Bösen ist nicht bloss auf die indi- Yousefi, H. R. (2018). Kampfplätze des Denkens. Praxis der interkul- viduellen Anlagen des Menschen zurückzuführen. Eine turellen Kommunikation. München: UTB. Yousefi, H. R. (2020a). Gewaltfreie Hermeneutik der Identität. Eine Vielzahl von unterschiedlichen psychosomatischen, em- Orientierungshilfe für Theorie und Praxis der Psychotherapie. Psy- pirischen wie reflexiven Einflussfaktoren können für ein chotherapie-Wissenschaft, 10(1) 51–59. verwerfliches Handeln verantwortlich gemacht werden. Yousefi, H. R. (2020b). Hermeneutik der Kulturen und ihr Einfluss Möchten wir jedoch das Bewusstsein für unsere Eigenver- auf das Unbewusste. SFU Forschungsbulletin, 8(1), 13–32. antwortlichkeit und Selbstbestimmtheit in unser geistiges Yousefi, H. R. (2020c). Psychologie der Kommunikation. dvb forum. Zentrum rücken, so sind wir verpflichtet, in unserem Zeitschrift des Deutschen Verbandes für Bildungs- und Berufsbe- ratung e. V.: Zuwanderung – Zukunft im Miteinander, 59, 4–8. Denken, Reden und Handeln jene Lücken zu suchen, Yousefi, H. R. (2021). Das Haus des Selbst und die Ätiologie des süch- in denen wir uns, von einem Moment eines Tages zum tigen Verhaltens. Gestörte Sozialisation und die Wiedererweckung anderen, bewusst dafür entscheiden, unsere Intentionen der Ur-Sehnsucht. In H. R. Yousefi & H. Seubert (Hrsg.), Restrik- zu hinterfragen. Auf diese Weise werden wir unserer tionen in der Wissenschaft und das Wagnis des Neuen (S. 67–93). Verantwortung für uns selbst und für unsere Welt gewahr Nordhausen: Bautz. und können ein Leben führen, das wir als würdige Men- schen mit absichtsvollem Handeln verdienen. Wollen wir unserer ureigenen, zutiefst menschlichen Verantwortung Demythologising Evil. A Contextual Perspective entsprechen, sind wir dazu aufgefordert, dies für unser Abstract: Human beings are neither good nor evil by nature. Denken, Reden und Handeln zu berücksichtigen. The primary and secondary socialisation transform them into Die Entmythologisierung der Kategorie des Bösen the beings they eventually become. Therefore, the category verbunden mit der gewaltfreien Hermeneutik bilden of evil must be subjected to demythologisation. Competitive zwei Grundpfeiler der kontextuellen Psychotherapie. Sie thinking creates images of enemies. The world is divided into helfen, die Facetten der soziokulturellen Hintergründe good and evil, friend and enemy, creating identity and a sense of der Betroffenen sowie latent und explizit wirksames belonging to a group, religion or ethnicity. From these centres of Konkurrenzdenken vielfältig zu ergründen. gravity, life becomes a battleground for power and conflicting Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021 65
Originalarbeit | Article inédit interests, which force us into an interaction based on stereotypes Parole chiave: desiderio primordiale, demonizzazione, psico- such as ‹good› and ‹evil›. By contrast, a nonviolent hermeneutic patia, libero arbitrio, male, demitizzazione, biofilia, necrofilia approach can contribute towards empathising with the world of the Other and resolving conflicts amicably. Der Autor Keywords: primal longing, demonisation, psychopathy, free Hamid Reza Yousefi ist Professor für Interkulturelle Philosophie will, evil, demythologisation, biophilia, necrophilia und Dialog der Religionen an der University of Religions and Denominations in Qom und Lehrbeauftragter der Universität Potsdam. Zudem ist er Gründungspräsident des Instituts zur Demitizzare il male. Una prospettiva contestuale Förderung der Interkulturalität e. V. in Trier. Seine Arbeitsfelder Riassunto: L’essere umano non è né buono né cattivo per na- sind Theorien der Toleranz, Ethik, Hermeneutik und Psycho- tura. La socializzazione primaria e secondaria lo trasformano logie der Kommunikation. Gegenwärtig habilitiert er sich an in quell’essere che è diventato. Pertanto, la categoria del male der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien mit dem Thema deve essere sottoposta a smitizzazione. Il pensiero competitivo «Über die Wiedererweckung der Ur-Sehnsucht. Grundzüge des crea immagini di nemici. Il mondo è diviso in bene e male, Avicenna-Modells der Suchttherapie». amico e nemico, il che crea identità e senso di appartenenza ad un gruppo, religione o etnia. Da questi centri di gravità, la vita diventa un campo di battaglia di potere e interessi, che ci Kontakt costringono a interagire con stereotipi come ‹bene› e ‹male›. Prof. Dr. Dr. h. c. Hamid Reza Yousefi Un’ermeneutica nonviolenta può contribuire ad entrare in Auf Thurnbaum 8 empatia con il mondo dell’Altro e a risolvere amichevolmente D–54317 Gutweiler i conflitti. E-Mail: pddr.yousefi@gmail.com 66 Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 2021
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