DÖW-Jahrbuch 2021: Verfolgung und Ahndung - Christine Schindler

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Juli 2021                                                                                                                             1

               DÖW-Jahrbuch 2021: Verfolgung und Ahndung
                                                                                                            Christine Schindler

Der Untersuchung und Analyse der jus­-        bescheiden; angesichts der großen Zahl der     verbrechen, insbesondere an den ungari­
ti­ziellen Aufarbeitung der NS-Vergangen-     Verfahren ist das Ergebnis vor allem für       schen Jüdinnen und Juden, die gegen
heit widmet sich die Zentrale österreichi-    die ersten Nachkriegsjahre und vor dem         Kriegs­ ende auf österreichischem Boden
sche Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am     Hintergrund der zur Verfügung stehenden        (in Niederösterreich, im Burgenland und
DÖW (www.nachkriegsjustiz.at) – unter         personellen und materiellen Ressour­     cen   in der Steiermark sowie entlang der Rou-
der Leitung von Claudia Kuretsidis-Haider     beachtlich.                                    ten der sogenannten „Todesmärsche“ nach
und Winfried R. Garscha – seit Ende der       Die Mehrzahl der Angeklagten musste sich       Mauthausen) begangen worden waren.
1990er-Jahre. Zahlreiche Publikationen,       wegen ihrer Mitgliedschaft bei der verbo-      Hier waren ZeugInnen und Beschuldigte
Sym­posien, Vorträge, Vermittlungsprojek-     tenen NSDAP vor 1938 verantworten, ein         greifbar, das Geschehene vor den Augen
te, auch für angehende RichterInnen und       Delikt, das vergleichsweise leicht nachzu-     der einheimischen Bevölkerung und teil-
StaatsanwältInnen, hat die Forschungsstel-    weisen war und als Hochverrat geahndet         weise unter Beteiligung derselben noch
le in den über 20 Jahren ihres Bestehens      wurde. Prominenten Angeklagten wurde           frisch im Gedächtnis, die Tatorte zugäng-
vorgelegt und durchgeführt. Vergessen         vorgeworfen, den „Anschluss“ Österreichs       lich.
wäre sonst heute in der breiteren Öffent-     an NS-Deutschland im März 1938 führend         Tatorte im ganzen Bundesgebiet, verschie­
lichkeit die Tätigkeit der österreichischen   vorbereitet zu haben. Nicht wenige hohe        denste Tatbestände und Verbrechenskom­
Volksgerichte, die in den ersten Nach-        Haftstrafen – nicht nur im Bereich der For-    plexe, Ermittlungsschwierigkeiten, ge­
kriegsjahren TäterInnen des NS-Regimes        maldelikte, sondern auch wegen Kriegs-         rech­te und skandalöse Urteile, frühzeitige
zur Verantwortung zogen. Derzeit wird         und Humanitätsverbrechen – wurden nach         Begnadigungen und weitere Karrierever­
eine Publikation zur justiziellen Ahndung     wenigen Jahren nachgesehen.                    läufe werden von den AutorInnen be-
von NS-Verbrechen von 1945 bis zur Ge-        Bei der Ahndung von Gewaltverbrechen           schrieben. Sie schildern Akte entmensch-
genwart vorbereitet, welche die Forschun-     do­minierte vor allem in der ersten Zeit der   lichter Gnadenlosigkeit und Lichtblicke
gen der letzten Jahre widerspiegelt.          Volksgerichtsbarkeit 1945/46 der Verbre-       überraschender Zivilcourage inmitten des
Im vorliegenden Jahrbuch stellen Claudia      chenskomplex der sogenannten Endphase­         Terrors. In der Steiermark verweigerte ein
Kuretsidis-Haider, Winfried R. Garscha
und Siegfried Sanwald im umfassenden
Bei­trag Verfahren vor den österreichi-
schen Volksgerichten die Tätigkeit der
Volks­gerichte in der Zeit ihres Bestehens
zwischen 1945 und 1955 vor. Die Volks-                                                              Verfolgung und Ahndung
gerichte wurden 1945 zur Ahndung der
NS-Verbrechen eingerichtet, für deren                                                               Jahrbuch 2021
Monstrosität der damaligen provisorischen
Regierung das herkömmliche Strafrecht                                                               Hrsg. von Christine Schindler
nicht ausreichend erschien. In Wien, Graz,                                                          im Auftrag des
Linz, Innsbruck, an den Außensenaten                                                                Dokumentationsarchivs des
Leoben, Klagenfurt, Salzburg und Ried im                                                            österreichischen Widerstandes
Innkreis wurden in 136.829 Fällen gericht-
                                                                                                    Wien 2021, 358 Seiten
liche Untersuchungen eingeleitet, 108.000
                                                                                                    ISBN 978-3-901142-78-9
davon bis 1948. In mehr als 28.000 Fällen
wurde Anklage erhoben, 23.477 Verfah-                                                               19,50 Euro
ren endeten mit einem Urteil. Es ergingen
9.870 Freisprüche, 13.607 Schuldsprüche.                                                            Lieferbar ab Ende Juli 2021
43 Todesurteile wurden verhängt, 30 da-
von vollstreckt. 29 Mal wurde lebenslange
Haft verhängt. Angesichts der großen Zahl
an Tätern und Täterinnen und der begange-
nen Gräueltaten ist das Ergebnis mehr als
2                                                                                                           Mitteilungen 247
HJ-Angehöriger den Erschießungsbefehl
und meldete die Morde der Gendarmerie.
Ein anderer Bub, 16 Jahre alt, war aus
Heimweh desertiert und gefasst worden.
Vom selbst ernannten „Standgericht“ in
Schwarzau im Gebirge, das nicht einmal
den Vorschriften der Nationalsozialisten
entsprach, wurde er zum Tode verurteilt.
Das Kind klammerte sich weinend um
Gnade flehend und vergeblich an einen
seiner erbarmungslosen „Richter“ und
gleich­zeitig Vollstrecker – allesamt keine
Juristen, sondern lokale NS-Parteigänger.
Das Volksgericht verurteilte drei der ge-
fassten Mörder, die für zahlreiche Gräuel-    Eduard Nicka, NSDAP-Kreisleiter von Oberwart wurde 1948 u. a. wegen Zugehö-
taten verantwortlich waren, zum Tode. Sie     rigkeit zur illegalen NSDAP vor 1938 zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt.
wurden 1948 in Wien hingerichtet.             Hinsichtlich des Vorwurfs der Verantwortung für die Ermordung von unga-
Die Beschreibungen der Nachkriegsver-         risch-jüdischen Zwangsarbeitern in Deutsch Schützen und Rechnitz wurde das
fahren zitieren aus den Akten von Polizei     Verfahren gegen ihn eingestellt. | KPÖ-Archiv
und Justiz. Diese Quellen der Geschichts-
schreibung sind, zumal so kurz nach den
Geschehnissen, in ihrer Bedeutung über-
aus wertvoll. Die Unmittelbarkeit und
Ein­dringlichkeit ihrer Schilderungen sind
streckenweise schier unerträglich.

Das Volksgericht Wien führte zwischen
1945 und 1954 auch sechs Prozesse wegen
Verbrechen im Lager Engerau (heute ein
Bezirk von Bratislava) durch. Von 20 An-
geklagten wurden neun zum Tode verurteilt
und hingerichtet. Die Prozesse sind von
Claudia Kuretsidis-Haider umfassend           Josef Frühwirth gehörte einer „Werwolfgruppe“ an, die auf der Störingalpe bei
aufgearbeitet worden und sind auch The-       Übelbach (Steiermark) am 20. Mai 1945 – mehr als eineinhalb Wochen nach der
ma ihres Artikels Die ersten polizeilichen    Kapitulation der Deutschen Wehrmacht – neun ungarisch-jüdische Zwangsarbei-
Ermittlungen wegen NS-Verbrechen              ter ermordete. Er wurde 1962 vom Geschworenengericht Graz zu einer dreijähri-
in Österreich. Revierinspektor Johann         gen Haftstrafe verurteilt. | KPÖ-Archiv
Lutschinger und die Beweissicherung
in der Strafsache Engerau. Der Bei-
trag würdigt die Ermittlungstätigkeit des
Polizeibeamten Johann Lutschinger und
zeichnet die Sorgfalt seiner Untersuchun-
gen und Berichte nach. Lutschinger muss-
te in den schwierigen Nachkriegswochen
die verschiedensten Tatorte aufsuchen, die
verstreuten Gräber von Dutzenden Lei­
chen finden und ZeugInnen diesseits und
jenseits der Grenze befragen. Kuretsidis-
Haider skizziert und bebildert auch das
Schicksal der Familie Lutschinger-Pollak
zwischen Wien und Drösing im March-
feld.

Unersetzlich sind die Zeugnisse derjenigen
Menschen, die noch aus dem persönlichen
Erleben berichten können. Es sind nicht
nur die Authentizität, die Unmittelbarkeit,
die Anschaulichkeit der Ereignisse, die in
persönlichen Begegnungen und in schrift-      Der Volkssturmkommandant Leo Pilz (stehend) wurde 1946 wegen vielfachen voll-
lichen Erinnerungen spürbar werden, son-      brachten Mordes sowie wegen Kriegsverbrechens u. a. (Massaker im Zuchthaus
dern auch die Details des Alltags, die Be-    Stein, April 1945) zum Tode verurteilt und 1947 hingerichtet. | Franz Blaha / Verein
obachtungen im „gewöhnlichen“ Leben in        für Geschichte der Arbeiterbewegung
der Diktatur. Walter Winterberg wurde
Juli 2021                                                                                                                         3

     Skizze der Fundstellen der Leichen ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter auf der Straße zwischen Engerau und Bad
     Deutsch-Altenburg. Eine Kopie der Skizze ist in den Unterlagen des 5. Engerau-Prozesses (LG Wien Vg 1 Vr 99/53) enthalten.

                                               Oben: Rudolf Kronberger als Angeklagter im 1. Engerau-Prozess. Er gehörte
                                               der Wachmannschaft im Lager Engerau an und wurde im August 1945 zum
                                               Tode verurteilt. | KPÖ-Archiv

                                               Links oben: Der Arzt Rudolf Pevny war einer von mehr als 100 ungarisch-jüdischen
                                               Zwangsarbeitern, die 1945 auf dem Todesmarsch vom Lager Engerau in Richtung
                                               KZ Mauthausen umkamen. | Privatbesitz Károly Kengyel

                                               Links: Revierinspektor Johann Lutschinger | Privatbesitz Alfred Lutschinger
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1924 in Wien geboren und wuchs in einer
sozialdemokratischen Familie und Umge-
bung auf. Er deponierte seine Memoiren
zusammen mit zahlreichen Fotos und Do-
kumenten im DÖW, damit sie der Nach-
welt erhalten bleiben. Auszugsweise wer-
den sie im Jahrbuch wiedergegeben: „Be-
geisterung war nicht nur allgegenwär­
tig, Begeisterung musste sein“. Alltag,
Verfolgung und Widerstand im Natio-
nalsozialismus.
Winterberg war im Innsbrucker Gestapo-
Lager Reichenau und im KZ Buchenwald
inhaftiert. Der vorliegende Auszug aus sei-
nen Erinnerungen – Daniel Blahna gebührt
der Dank für die sorgfältige Texterfas-
sung – fokussiert auf seine Beobachtungen
des Alltags nach dem „Anschluss“ Öster-
reichs an NS-Deutschland. Winterberg
erinnert sich an seine Schulzeit, an seine
Kindheit im Gemeindebau, an die vie­len             Walter Winterberg (3. Reihe, 2. v. r.) im Gymnasium Franklinstraße
begeisterten NationalsozialistInnen, die            in Wien-Floridsdorf
Wendehälse, aber auch die Widerständi-
gen und Distanzierten. Er nennt Namen,
Hintergründe, Stärken und Schwächen von
Menschen in dunkelster Zeit. So zeigt sich
ein Handlungsspielraum, den Menschen
im Alltag damals nutzen konnten, um ihre
Mitmenschen, NachbarInnen, Schulkolle-
gInnen zu drangsalieren oder zu unterstüt-
zen. Winterberg erinnert daran, was die
Menschen damals vom Vernichtungskrieg
im Osten erfuhren, zu welchen Untaten
viele fähig waren und wie die Verdrän-
gung von Verantwortung schon während
des Krieges vonstatten ging.

Herbert Brettl beschreibt in seinem Bei-
trag Aspekte zur Genese und Struktur
des „Zigeunerlagers“ Lackenbach das
auf österreichischem Gebiet, im heutigen
Bur­gen­land, gelegene Lager. Brettl pu-            Einweisung der Roma in das Lager Lackenbach | Leopold Banny, Lackenbach
blizierte jüngst gemeinsam mit Gerhard
Baumgartner den reich bebilderten Band        in verschiedenen Lagern von Salzburg bis     be­achtetes Terrain. 119 ÖsterreicherInnen
„Einfach weg!“ Romasiedlungen im Bur-         ins Burgenland. Lackenbach war ab 1940       konnte Kanzler bisher eruieren, die sich
genland über die Zerstörung der über          das größte derartige Anhaltelager im Deut-   zwischen 1938 und 1945 für längere oder
120 burgenländischen Romasiedlungen           schen Reich. Brettl nennt Täter und deren    kürzere Zeit in Albanien aufhielten, fast
durch die Nationalsozialisten. Im Jahrbuch    Karriereverläufe sowie die milden Urteile    alle Verfolgte nach den „Nürnberger Ge-
konzentriert sich der Autor auf das Lager     nach dem Krieg. Er schildert das Schicksal   setzen“. Das Land erlebte im 20. Jahrhun-
Lackenbach, in dem Tausende Roma und          der Internierten und Deportierten, benennt   dert eine wechsel- und gewaltvolle Ge­
Romnija gefangen gehalten wurden, bevor       aber auch Akte der Menschlichkeit aus der    schichte: 1938 war das bitterarme Land
die meisten von ihnen in die Vernichtungs-    Bevölkerung.                                 eine junge autoritär regierte Monarchie,
lager im Osten deportiert wurden.                                                          1939 wurde es von Italien besetzt, 1943
Brettl führt die sozialen und ökonomi-        Dem Themenbereich Flucht und Exil wid-       von Deutschland, die folgenden Jahrzehn-
schen Hintergründe sowie politischen Ent-     men sich mehrere Beiträge im vorliegen-      te war das Land eine kommunistische
scheidungen an, die die Romabevölkerung       den Jahrbuch. Christine Kanzler forscht      Dik­tatur. Die Flüchtlinge waren diesen
schon vor dem „Anschluss“ an den Rand         dazu seit vielen Jahren und legt nun eine    be­drohlichen Wir­ren ausgesetzt, die ver-
der Gesellschaft drängten, und skizziert      Untersuchung über das Exilland Albanien      hinderte Weiter­emigration hat vielen von
die Eskalation der Unterdrückung nach der     vor: Flucht nach Albanien. Mit der zu-       ihnen aber vermutlich das Leben gerettet.
Machtergreifung der Nationalsozialisten,      grunde liegenden Vorstudie zur namentli-     Das Entkommen war so wenig planbar wie
die Deportationen nach Dachau, Buchen-        chen Erfassung österreichischer Emigran-     das Überleben, es hing von Parametern der
wald, Mauthausen und Ravensbrück sowie        tInnen in Albanien 1938–1945 erarbeitete     großen Politik, der Menschlichkeit Einhei-
die Internierung der Zurückgebliebenen        die Wissenschafterin ein bislang wenig       mischer und von Zufall wie Willkür ab.
Juli 2021                                                                                                                         5

                                                                                         Zur Aufarbeitung gehört zwingend auch
                                                                                         die Abwehr der Wiederholung. Die Ar-
                                                                                         beit des DÖW erhält auch durch den Ge-
                                                                                         genwartsbezug Bedeutung. Liest man die
                                                                                         ZeugInnenaussagen, die Erinnerungen
                                                                                         an die unmenschliche Verfolgung, an die
                                                                                         Mor­ de, Misshandlungen, Beraubungen,
                                                                                         er­
                                                                                           kennt das qualitative und quantitative
                                                                                         Aus­maß des geschehenen Unrechts, sieht
                                                                                         man die Bilder, auch Filme, die das Ge-
                                                                                         schehene visualisieren und noch greifba-
                                                                                         rer machen, werden die Relativierung, die
                                                                                         Leugnung, die Umdeutung, die Instrumen-
                                                                                         talisierung vollends unverständlich. Dieser
                                                                                         Verdrängung, Schuldumkehr, Verleugnung
                                                                                         ist mit aller Entschlossenheit und Konse-
                                                                                         quenz entgegenzutreten. Die Corona-Pan-
                                                                                         demie befördert zusätzlich antisemitische
                                                                                         Verschwörungstheorien ebenso wie der
                                                                                         Konflikt im Nahen Osten Juden und Jüdin-
                                                                                         nen in Europa antisemitischen Attacken
                                                                                         aussetzt.
                                                                                         Andreas Peham arbeitet seit Jahrzehnten
                                                                                         im Bereich der Rechtsextremismus- und
                                                                                         Antisemitismusforschung, er benennt den
                                                                                         antimuslimischen Rassismus der Rechts-
                                                                                         extremen ebenso wie den Antisemitismus
                                                                                         vieler MuslimInnen und die blinden Fle-
                                                                                         cken einer „antizionistischen“ Linken. Im
                                                                                         Beitrag Zur Vergleichbarkeit von Anti­
   Oben:
   Gedenktafel an der früheren                                                           semitismus und Rassismus präzisiert
   Wohndresse der Familie                                                                Peham die Begriffe des (antimuslimi-
   Schwarzbart, Wien-Landstraße,                                                         schen) Rassismus und Antisemitismus und
   Untere Viaduktgasse 21 | Andrea                                                       deren Bedeutung und Geschichte, er arbei-
   Hurton                                                                                tet Trennendes und Gemeinsames, Unter-
                                                                                         schiede und Ähnlichkeiten heraus.

   Rechts:                                                                               Monika Schwarz-Friesel von der TU
   Friedrich Schwarzbart                                                                 Ber­ lin veröffentlichte jüngst einige viel
   (1902–1945) | Yad Vashem
                                                                                         beachtete Kommentare zur aktuellen Be-
                                                                                         drohung durch einen immer offensiveren
                                                                                         Antisemitismus. Angesichts der antisemi-
                                                                                         tischen Szenen auch auf Europas Straßen
                                                                                         und hemmungsloser Hetze in den sozia-
                                                                                         len Medien wird im Jahrbuch Schwarz-
                                                                                         Friesels Kommentar Antisemitismus 2.0
Andrea Hurton widmet sich dem Exil in        in katholischen Klöstern unter. Wer ent-    oder: Wer so denkt, mordet wieder, der
Belgien, wohin rund 10.000 Österreiche­-     deckt wurde, wurde deportiert. Familien     zuerst in der Presse erschienen ist, abge-
r­Innen nach dem „Anschluss“ 1938 flüch-     wurden auseinandergerissen, viele in die    druckt.
teten, und geht den Spuren dreier Familien   Konzentrations- und Vernichtungsla­ger      Peham und Schwarz-Friesel definieren
nach: Verfolgung und Rettungswider-          verschleppt und ermordet.                   den Antisemitismus als einen komplexen
stand. Untergetauchte Wiener Juden           Hurton beschreibt die Schicksale am         historischen Prozess, der mit der Abspal-
und Jüdinnen in Belgien 1940–1945:           Beispiel dreier Familien aus Wien und       tung zweier Religionen begann und sich
drei Familiengeschichten. Auf dem euro­      versucht anhand von Erzählungen der         zu einem Weltdeutungssystem entwickel-
päischen Festland waren die Flüchtlinge      Überlebenden die Angst und Not nachzu­-     te, das mit den konkreten Juden und Jü-
nirgendwo sicher, auch in Belgien wurden     vollziehen. Vom Durch­gangslager Mali­-     dinnen und ihren Handlungen nichts zu
sie im Mai 1940 von der Deutschen Wehr­-     nes/Mechelen wurden Hunderte Romnija        tun hat, die wiederum nur oberflächlich als
macht eingeholt. Wer nicht weiterfliehen     und Roma und mehr als 25.000 Jüdinnen       jeweilige Pseudolegitimation verwendet
konnte, musste sich verstecken. Falsche      und Juden – „im Alter von 39 Tagen bis      werden. Die aktuell dominante Projektion,
Papiere, Verstecke, Essen, Hilfe mussten     93 Jahren“ – nach Auschwitz deportiert,     insbesondere auch von links und von mus-
laufend organisiert werden, viele tauchten   darunter 1.800 ÖsterreicherInnen. Nur we-   limischer Seite, richtet sich auf den Staat
bei belgischen Familien, auf Bauernhöfen,    nige überlebten.                            Is­rael. Der Antisemitismus ist kein Phäno-
6                                                                                                                Mitteilungen 247

       Der technische Beamte Alois Kaplan gehörte einer kommunistischen Zelle in der Simmeringer Waggonfabrik an.
       Er wurde 1942 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt und war bis zur Befreiung
       im Zuchthaus Garsten (OÖ) inhaftiert. Den Haftalltag hielt er in Zeichnungen fest. | Sonja Kaplan / DÖW
       Das DÖW erhielt 2020 zahlreiche Materialien, Dokumente, Fotos, Museumsgegenstände als Schenkungen oder dauerhafte
       Leihgaben. Sonja Kaplan übergab Zeichnungen von Alois Kaplan aus dem Zuchthaus Garsten, Ring und Feuerzeug sowie
       eine Holzkassette mit In­tar­­sien, hergestellt im Zuchthaus Garsten, und Dokumente zu Alois Kaplan.

men der Rechtsextremen und beschränkte         schen Exils nach, der (späten) Anerken-       macht, es werden Täter und Täterinnen,
sich auch nie auf sie.                         nung dieser Art von Regimegegnerschaft        Widerstandskämpferinnen und Wider­
                                               und dem Kampf um Deutungshoheit be-           stands­kämpfer, männliche und weibliche
Mit den aktuellen Medien des Rechtsex-         züglich der verschiedenen Formen des          Opfer benannt. „Gegendert“ wird dort,
tremismus in Österreich beschäftigt sich       deutschen Widerstandes. Er skizziert die      wo tatsächlich Frauen und Männer be-
Bernhard Weidinger in seinem Beitrag           jeweils besondere Situation in der BRD        teiligt waren. In Engerau beispielsweise
Medien von heute für eine Zukunft von          und DDR und die Entwicklung nach der          waren ausschließlich Männer Opfer der
gestern. Ein pu­  blizistisches Panorama       Wende. Heute ist zumindest in Österreich      Mordtaten; Frauen waren nicht in den
des österrei­chi­schen Rechtsextremis-         nicht präsent, wie sehr die EmigrantInnen     Mordeinheiten der SS, wohl aber im Ge-
mus. Spät hat die extreme Rechte in Ös-        und RegimegegnerInnen nach der Befrei-        folge der SS tätig. Frauen durften erst ab
terreich das Internet entdeckt, mittlerweile   ung (auch) in Deutschland beargwöhnt          1918/19 an der Universität Wien Jus stu-
ist sie dort sehr präsent und manche ein-      und angefeindet wurden. Unvorstellbar         dieren; die ersten Frauen wurden 1947
schlägigen Por­ tale erreichen beachtliche     ist, dass die Geflohenen und Hingerichte-     als Richterinnen eingesetzt. Nur in die-
Zugriffszah­len. Weidinger zählt Websites,     ten, die in der Gegenwart für das andere      ser historischen Genauigkeit sind das
aber auch Zeitschriften in diesem Dunst-       Deutschland stehen, noch viele Jahre und      Bemühen um eine geschlechtersensible
kreis auf, skizziert die jeweilige Stoßrich-   Jahrzehnte nach der Befreiung als „Verrä-     Darstellung und der dahinterliegende ge-
tung und den rechtlichen Hintergrund.          ter“ gebrandmarkt wurden.                     sellschaftspolitische An­spruch sinnvoll
Durch die Reichweiten und die permanen-        Die Diskussionen sollten nach 1989 anläss-    erfüllt.
te Empörungskultur sozialer Medien errei-      lich der neuen Ausstellung der Gedenkstät-
chen Fake News und Verschwörungsphan-          te wieder aufleben. Die einen wollten den     Der Tätigkeitsbericht der Projektmana-
tasien unzählige NutzerInnen und bisher        kommunistischen Widerstand nicht gelten       gerin des DÖW Christine Schindler be-
kaum erschlossene Milieus. Das Internet        lassen, die anderen lehnten die Protago-      schließt das Jahrbuch und zieht die Bilanz
eignet sich hervorragend für die Verbrei-      nisten des 20. Juli 1944 ab. Die Gedenk-      eines (außer)gewöhnlichen Jahres, des-
tung von Ressentiments und Verschwö-           stätte Deutscher Widerstand in Berlin und     sen ungewöhnliche wie auch übliche He-
rungstheorien, bietet aber im Gegenteil        das Dokumentationsarchiv des österrei-        rausforderungen gemeistert werden muss-
auch einen unerschöpflichen Zugang zu          chischen Widerstandes eint seit jeher der     ten.
fundiertem Wissen.                             sachliche Zugang jenseits von parteilicher
                                               Ideologie und die Würdigung aller Wider-
Der Wissenschaftliche Ko-Leiter der Ge-        standsformen samt ihren Ambivalenzen.
denkstätte Deutscher Widerstand Berlin         Das Vergessen der Gräueltaten, der großen
Peter Steinbach geht den vorangegange­         wie kleinen Unfreiheiten in einer Dikta-
nen Themen von Exil bis zur Verleugnung,       tur schadet unserer Achtung für die gute
Verdrängung, Anerkennung und zum Ge-           Ordnung, in der wir heute leben (dürfen).
denken aus deutscher Sicht nach: „Wahn-        Das ist die Essenz jeglicher Erinnerungs-
frei auf sich selber stehen“. Exil und         arbeit.
Wi­der­
      stehen – Selbstbehauptung im
Ge­gen­satz. Ohne ideologische Vorbehalte      In allen Arbeiten und Schriften des DÖW
geht Steinbach der Bedeutung des deut-         werden Frauen und Männer sichtbar ge-
Juli 2021                                                                                                                                  7

                                         Gerhard Ungar (1954 –2021)
Das DÖW trauert um seinen langjähri-            Widerstand und Verfolgung in Salzburg            Besitz des Deutschen Bundesarchivs und
gen Mitarbeiter Dr. Gerhard Ungar, der          1934–1945 (1991) sowie die Publikation           des polnischen Roten Kreuzes fand inter-
am 18. Mai 2021 verstarb.                       von Auszügen biografischer Interviews im         national weite Beachtung und lieferte in
                                                Band Jüdische Schicksale (1993, Reihe            vielen Fällen wertvolle Zusatzinformatio-
Mit Gerhard Ungar verliert das DÖW              Erzählte Geschichte) und betreute die Wie-       nen zu einzelnen Häftlingsschicksalen für
einen Mitarbeiter und Kollegen, dessen          ner Fassung der Ausstellung der Stiftung         die namentliche Erfassung der Holocaust­
Name untrennbar mit der Erfassung der           Preußischer Kulturbesitz Der Kreisauer           opfer und schlussendlich für die Datenba-
österreichischen Holocaustopfer sowie der       Kreis – Porträt einer Widerstandsgruppe          sis der Namensmauern-Gedenkstätte, die
Opfer politischer Verfolgung verbunden          im Adolf-Czettel-Bildungszentrum.                auf Anregung des Holocaustüberlebenden
ist. Ohne seine profunden Kenntnisse digi-      Im Rahmen seiner beruflichen Laufbahn            Kurt Tutter in Wien im Ostarrichi-Park er-
taler Datenverarbeitung einerseits, seiner      entwickelte sich Gerhard Ungar zu einem          richtet wird; im März 2021 wurde die erste
Fähigkeit zur Archivrecherche andererseits      anerkannten Experten für digitale Daten-         Steintafel enthüllt. Ohne die Leistungen
wären diese auch international hoch ge-         verwaltung. Auf diesem Gebiet befand er          Gerhard Ungars wäre dies nicht möglich
achteten Projekte nicht möglich gewesen.        sich unter den Pionieren des damals noch         gewesen.
Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, dass die   neuen methodischen Ansatzes historischer         Auch nach seiner Pensionierung 2019 hat
Namen der österreichischen Holocaust­           Forschung, den er in die Arbeit des DÖW          Gerhard Ungar weiterhin dem DÖW sei-
opfer auch in internationalem Zusammen-         integrierte und im Rahmen dessen er um-          ne Expertise, insbesondere im Bereich der
hang von allen Interessierten, vor allem        fangreiche Datenbanken mit mehreren              laufenden Aktualisierung der Datenban-
aber auch von den Nachkommen der Opfer          hunderttausend Datensätzen erstellte – die       ken, zur Verfügung gestellt. An mehreren
nicht nur im DÖW, sondern beispielsweise        Basis für die oben genannten Projekte.           Publikationen, die von MitarbeiterInnen
auch bei der israelischen Gedenkstätte Yad      Insbesondere seine Kooperation mit an-           des DÖW in den letzten Jahren zu Themen
Vashem, auf deren Anregung dieses Pro-          deren Datenbankexperten verschiedener            der Holocaustforschung vorgelegt wurden,
jekt zurückging, oder beim Denkmal für          KZ-Gedenkstätten zwecks gegenseitigen            hat er bis wenige Wochen vor seinem Tod
die ermordeten Juden Europas in Berlin          Informationsaustauschs sowie im Zu-              durch die Erarbeitung von Detailinforma-
abgerufen werden können.                        sammenhang mit der Digitalisierung von           tionen zu Deportierten, Ermordeten und
Als promovierter Historiker bearbeite-          144.000 Karteikarten des Wirtschaftsver-         Überlebenden unermüdlich mitgewirkt.
te Gerhard Ungar am DÖW unter an-               waltungshauptamts der SS zum Zwangs-
derem die zweibändige Dokumentation             arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen aus dem

                                                                                          NEUES VON GANZ RECHTSN

                                                eine patriotische Wende hat“. Er erkenne         Zeiten die richtige Entscheidung zu tref-
        Herbert Kickl:                          „die Probleme und inneren Widersprüche           fen. [...] Herbert Kickl ist derjenige [...]
    Stimmen von rechtsaußen                     des liberalen säkularen Rechtsstaates und        der uns allen Hoffnung gegeben hat, dass
                                                seine Wehrlosigkeit gegen die ethnoreli-         man doch noch etwas ändern könnte. Er
                                                giöse Unterwanderung“ und wolle diese            war der beste Innenminister aller Zeiten.“
5. Juni 2021                                    Probleme beheben, wie etwa seine Kritik
Martin Sellner, Führerfigur der Identi-         an der Europäischen Menschenrechtskon-           15. April 2021
tären Bewegung Österreich (IBÖ) und             vention (EMRK) zeige. Sellner weiter:            Heinz-Christian Strache konstatiert in
nunmehr von deren Nachfolgeorga-                „Die­se seltene Paarung von Strategie und        einem TV-Auftritt zur Lage der FPÖ:
nisation Die Österreicher, bezeichnet           ganzheitlichem Blick sowie Talent für das        „Den einzigen [sic!], den man sieht Poli-
Herbert Kickl in einem Posting auf Tele-        Symbolische und den Showeffekt hat kaum          tik machen, und der eine Position hat [...],
gram als den „ideale[n] Rechts- und Op-         ein Politiker sonst in Europa und Herbert        wer eine Linie hat, das ist der Herbert
positionspolitiker“ und veröffentlicht ein      Kickl vereint sie in sich. Er hat eine Vision,   Kickl.“
Video erneut, in dem er zu den National-        einen Traum und er ist intelligent, fleißig
ratswahlen 2019 um Vorzugsstimmen für           und realistisch genug, ihn im Rahmen des         Anfang April 2021
Kickl geworben hatte. In diesem Video be-       Möglichen konkret Schritt für Schritt um-        In der rechtsextremen Zeitschrift Info-
zeichnete Sellner Kickl als „den besten le-     zusetzen.“ Freilich sei auch Kickl „kein         DIREKT heißt es: „Herbert Kickl, der
benden patriotischen Politiker“ überhaupt.      Übermensch“, doch durch seinen von               ein­zige Oppositionspolitiker, der in allen
Kickl weigere sich, Distanzierungen von         „Dis­ ziplin, Askese, Routine und Fleiß“         Punk­ten kantig und bestimmt auftritt“.
Rechtsextremen oder deren Terminologie          geprägten Lebensstil unbestechlich und
vorzunehmen. Er habe eine „klare Weltan-        nicht erpressbar. Kurz, ein „Ausnahmepo-         6. März 2021
schauung“ und sei in der Lage, „die gro-        litiker, und wir dürfen uns glücklich schät-     Stefan Magnet, rechtsextremer Publizist
ßen Zusammenhänge und wichtige identi-          zen, dass wir in diesen dürftigen Zeiten         und ehemaliger Kader des Bundes freier
täre Verständnisse in einer griffigen Spra-     einen solchen Mann in der Spitzenpolitik         Jugend (BfJ), schreibt auf Telegram:
che“ zusammenzufassen. Auch sei Kickl           haben“. Er, Sellner, glaube, „dass nur           „Ex-Innenminister Kickl redet Klartext bei
„einer der wenigen Politiker, der [sic!]        Herbert Kickl den Weitblick und die not-         der Freiheitsdemo in Wien. Die internatio­
einen langfristigen strategischen Plan für      wendige Härte hat, um in diesen harten           nale Clique hätte die Welt noch im Griff.
8                                                                                                                 Mitteilungen 247
Doch der Widerstand ist jetzt in Österreich   ser sei „der beste Innenminister, den wir       bei seinen Kollegen mit der Lupe zu suchen
erwacht. Und wir brauchen endlich einen       je hatten“. Auf seine Frage hin, wer Kickl      und nicht zu finden sind.“
Kanzler, der den Mut zur Wahrheit und zur     bei der Nationalratswahl 2019 mit einer
Souveränität hat!“                            Vorzugsstimme bedacht habe, heben nach          Juli/August 2019
                                              Sellners Zählung rund 400 Anwesende die         In der neonazistischen deutschen Zeit-
31. Jänner 2021                               Hand, was in etwa der Gesamtteilnehmer-         schrift N.S. Heute wird der österreichische
Auf der Großdemonstration in Wien ge-         zahl der Demonstration entspricht. Die          Neonazi-Kader Gottfried Küssel nach
gen die Corona-Pandemiebekämpfung der         rund 75.000 Vorzugsstimmen für Kickl            seiner Meinung zur FPÖ befragt und führt
Bundesregierung zeigen Die Österreicher       zieht Sellner als Maßstab für den „har-         aus: „Der einzige in der ganzen FPÖ, der
ein Banner mit der Aufschrift „KURZ           te[n] Kern von Österreichs Patrioten“ he-       politisch denkt, ist der Kickl. Der Rest sind
WEGKICKLN“.                                   ran. Diese 75.000 würden „genauso den-          – im übertragenen Sinne – die Schweine,
                                              ken wie wir“.                                   die zum Trog rennen. Die haben ihre Welt­
29. Jänner 2021                                                                               anschauung doch schon tausendmal über
Martin Sellner konstatiert im Online-Ge-      Dezember 2019                                   Bord geworfen. [...] Der Kickl kann das,
spräch mit Michael Scharfmüller (Info-        In der Deutschen Stimme, Organ der              der sitzt als Innenminister an der übels-
DIREKT, ehemals BfJ) angesichts der An-       neo­­nazistischen Nationaldemokratischen        ten Stelle und schafft es, die Dinge, die er
kündigung Kickls, an der Demonstration        Par­tei Deutschlands (NPD), zeigt sich          machen will, auch umzusetzen. Er macht
am 31. Jänner teilzunehmen, „fast schon       ein Leserbriefschreiber enttäuscht über         jedenfalls das, was ihm möglich ist.“
eine revolutionäre Situation, im Rahmen       das Aus der Regierung Kurz-Strache, da
des Parlamentarismus. [...] Die FPÖ wen-      damit auch Herbert Kickl aus seinem Re-         August 2018
det sich vom Parlamentspatriotismus ab        gierungsamt scheiden musste: „In der Tat        In der Deutschen Stimme freut der deut-
und unterstützt stattdessen die Bewegung      war bzw. ist er ein absolut fähiger Mann,       sche Neonazi Jürgen Gansel sich über
aus dem Parlament.“ Dieser Schritt zeige,     den, hätte er früher gelebt, ein Bismarck       die entstehende „zuwanderungskritische
wer die Alternative zu Sebastian Kurz sein    oder Friedrich der Große möglicherwei-          Achse Rom – Wien“. Wie Salvini in Ita­
könne, „nämlich der Kickl. Ich sage Kurz      se in ihre Kabinette geholt hätten.“ Die        lien zeige auch Österreich „klare Kante“:
wegkickln.“                                   „na­tio­nale Opposition“ in Österreich ruft     auf Betreiben von Innenminister Kickl sei
                                              der DS-Leser auf, „noch stärker [zu] for­       „eine nochmalige Verschärfung des ohne-
2020                                          dern, anstelle von Apparatschiks Fachleu-       hin schon strengen Fremdenrechtsgeset-
In der rechtsextremen Zeitschrift gegen-      te von Kicklschem Format an die Spitze zu       zes“ erfolgt.
ARGUMENT wird ausgeführt: „Keiner             setzen“.
schreibt bessere Reden als Herbert Kickl,                                                     Mai/Juni 2017
keiner provoziert den politischen Geg-        Oktober 2019                                    Ein Artikel in der rechtsextremen Aula
ner und polarisiert so geschickt wie er.“     In der Deutschen Stimme, dem Organ der          fordert die FPÖ auf, „den rhetorischen
Als Innenminister sei er „eine der besten     neonazistischen Nationaldemokratischen          Pendelschwung“ der politischen Debatte
Personalentscheidungen der vergangenen        Par­tei Deutschlands (NPD), schreibt der        nach rechts „zu verstärken, indem man –
Jahrzehnte“ gewesen.                          österreichische Rechtsextremist Konrad          wie FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl
                                              Windisch: „Der fähigste Innenres-               im August 2015 auch forderte – an ‚die
3. Oktober 2020                               sort-Chef, den die Republik je hatte, war       Wurzel des Problems‘“ gehe und „die
Im Rahmen einer Demonstration von Die         FPÖ-Innenminister Kickl. [...] Der Mann         ‚Menschenrechte‘ in ihre Einzelteile [zer-
Österreicher in Wien kommt Sellner als        war bzw. ist korrekt, unbestechlich, ein-       legt]”.
Redner auf Herbert Kickl zu sprechen: die-    fallsreich, hatte also Eigenschaften, wie sie

     „Das Liebste aber ist mir ein Luftschloss“ – Albert Seifert (1921–1944)
Ein „Luftschloss“, wie es Albert Seifert während seiner Haft vorschwebte – ein Häuschchen, in dem er mit Eltern, Ehefrau und Kindern
leben wollte –, haben sich so oder ähnlich wohl viele Gefangene vorgestellt. Nichts „Außergewöhnliches“, wie er seiner Mutter schrieb,
ein „normaler“ Alltag im Kreis der Familie – für Seifert, der dem Kommunistischen Jugendverband (KJV) angehört hatte und deshalb
im Oktober 1943 zum Tode verurteilt worden war, blieb dies allerdings unerreichbar.
„Als radikalste Gruppe kann zweifellos der KJV angesehen werden“, heißt es im Schlussbericht über die Gebietsorganisation der KPÖ
und des KJV Himberg und Umgebung (30. 1. 1943); aufgezählt werden Aktivitäten wie Herstellung und Verbreitung von Flugblättern
und Streuzetteln, geplante Sabotageakte, Unterwanderung der Hitler-Jugend u. Ä. Entsprechend hart und kompromisslos war die Ver-
folgung und nicht nur Spitzen- und leitende FunktionärInnen des KJV mussten unter dem NS-Regime mit der Todesstrafe rechnen,
sondern auch im lokalen Rahmen tätige KJV-Angehörige wie der Drehergehilfe Albert Seifert aus Gramatneusiedl (NÖ, damals Teil des
23. Wiener Gemeindebezirks).

Seifert, am 8. Mai 1921 in Ebergassing ge-    überbrachte Mitgliedsbeiträge, gab Flug-        ger Gruppe. So erfuhr er im Sommer 1941
boren und in einem sozialdemokratischen       schriften weiter und nahm an Schulungs-         von der Sammlung von Zelluloidabfällen
Elternhaus aufgewachsen, war vom Som-         treffen teil. Im März 1941 zog sich Seifert     zur Herstellung von Brandplättchen und
mer 1939 bis 1941 Verbindungsmann zwi-        aufgrund von Heiratsplänen aus der politi-      beteiligte sich an dieser Aktion. Einzelne
schen den KJV-Gruppen in Ebergassing          schen Arbeit zurück, hatte aber weiterhin       Mitglieder der KJV-Gruppe Ebergassing
und Mitterndorf a. d. Fischa/Mariental; er    Kontakt zu Angehörigen der Ebergassin-          hat­ten sich ab dem Frühjahr 1941 – nach
Juli 2021                                                                                                                              9

Aufforderung seitens der Wiener Leitung       unter Ausnutzung der Kriegslage die in-      danken und Erinnerungen banne ich mei-
– Waffen (eine Pistole, ein Gewehr, Muni­     nere Front der Heimat zu unterhöhlen, um     nen Geist, damit ich mich nicht in Grauen
tion, Schießpulver und zwei Handgrana-        dadurch dem bolschewistischen Todfeind       und Angst verzehre. Was ja hier nichts aus-
ten) beschafft. Als nach der Aufdeckung       zum Siege zu verhelfen“. Und weiter wird     sergewöhnliches wäre. […] Vom sterben
der zentralen KJV-Leitungsorgane im           ausgeführt: „Da schwerere Folgen ihrer       fürchte ich mich schon längst nicht mehr.
Som­mer 1942 die Verbindung zur Wiener        Taten nicht auszuschließen waren, muss-      Und meine Eigenschaft, im Traume zu
Stadtleitung abbrach und auch in Ebergas-     ten sämtliche Angeklagten zu der vom         lachen, habe ich auch hier nicht verloren.
sing Haus­­durchsuchungen und Festnah-        Ge­setze (§ 91 b Abs. 1 StGB) angedroh-      [...] Aber auch bei Tag herrscht in unserer
men droh­ten, übernahm Seifert einen Teil     ten Todesstrafe verurteilt werden, ohne      Zelle nie Trübsal, da sorg schon ich dafür.
der Waf­fen und versteckte ihn.               dass ihren Geständnissen und ihrer zum       [...] Das liebste aber ist mir ein Luftschloß,
Im Herbst 1942 erfasste die Verhaftungs-      Teil bescheinigten guten Führung bei der     das zwar nur ein kleines Zweifamilienhaus
welle auch die Mitglieder des KJV Eber-       Wehrmacht ausschlaggebende Bedeutung         ist, aber in meiner Phantasie zum Paradie-
gassing. Seifert, zu diesem Zeitpunkt zur     beigemessen werden konnte.“                  se wird. Jeden Tag beschäftige ich mich
Deutschen Wehrmacht eingerückt und            Albert Seifert wurde am 10. Mai 1944,        und verträume damit auf das schönste die
Vater eines kleinen Sohnes, wurde eben-       zwei Tage nach seinem 23. Geburtstag, im     Zeit. Da habe ich im Geiste schon das Haus
falls festgenommen und im November            Landesgericht Wien hingerichtet. Noch am     gebaut, eingerichtet, weis ganz genau wie
1942 nach Wien überstellt. Am 8. Oktober      8. Mai hatte er seiner Mutter geschrieben    die Möbel in den einzelnen Zimmer stehn,
1943 wurde er gemeinsam mit vier An-          und ihr sein „Luftschloss“ geschildert:      wieviele Bäume im Garten sind und der
gehörigen des KJV Ebergassing – Wladi-                                                     Hasenstall ausschaut. Auch ein Schwein-
mir Kubak (1921–1944), Anton Watzek           „Oft erinnere ich mich an die Zeit wo ich    chen höre ich quieken und Kinder lachen.
(1924–1944), Erich Navratil (1924–1944)       noch bei ‚Albrecht’ war. An die kurze Mit-   Und in diesem Häuschen wohnt ihr, Du
und Oswald Smatlak (1924–1944) – vom          tagspause. Wo das Essen schon am Tische      und Vater, mit uns. Ja liebe Mama, mit sol-
Volksgerichtshof wegen „Vorbereitung          stand wenn ich kam und die Zeitung lag       cher kindischer Träumerei verschöner ich
zum Hochverrat“ und „Feindbegünsti-           daneben. Und wo wir immer noch die Zeit      mir das Dasein. Könnte es nicht Wahrheit
gung“ zum Tode verurteilt. Nach der ty-       fanden, über dieses und jenes zu plaudern.   werden?“ (Zitat in Originalorthografie)
pischen NS-Diktion wa­ren alle „bestrebt,     Denkst Du noch daran? Mit solchen Ge-

             Oben:
             Albert Seifert, 1943 zum Tode
             verurteilt und 1944 im Landesgericht
             Wien hingerichtet | DÖW

             Rechts:
             Letzte Nachricht Albert Seiferts aus der
             Haft | Privatbesitz (Kopie im DÖW)
10                                                                                                              Mitteilungen 247

                                                                                                           REZENSIONENN
                                             Eltern nach Wien, wo sie als Dolmetsche-        nen befand sich der Schriftsteller Wassilij
Arnautović, Ljuba: Junischnee. Roman.        rin und Rundfunkjournalistin arbeitete.         Grossmann, der seit Beginn des Krieges
Wien: Zsolnay Verlag 2021. 192 S.            Obwohl die literarische Ausgestaltung die-      als Kriegsberichterstatter arbeitete.
                                             ser komplizierten und bewegenden Fami-          Grossmann berichtet über die schlecht ver-
2018 gelang Ljuba Arnautović mit ihrem       liengeschichte auch fiktional ist, orientiert   wischten Spuren des Massenmordes, die er
Erstlingsroman Im Verborgenen ein Über-      sich Arnautović streng am zeitgeschicht-        dort entdecken konnte, all die „Knochen­
raschungserfolg. Mit ihrem zweiten Buch      lichen Hintergrund. Neben dem Nachlass          splitter, Zähne […] Hemden, Hosen, Schu-
Junischnee kann sie an diesen Erfolg naht-   ihres Vaters stützt sie sich auch auf um-       he […] Kinderschuhchen mit roten Pom-
los anknüpfen. Erneut behandelt sie darin    fangreiche Archivrecherchen. Die Prota-         pons […] Haare“, die aus „der berstenden
ihre Familiengeschichte, die mit den gro-    gonistInnen agieren demgemäß mit ihren          Erde kriechen“. (S. 74)
ßen Wendungen des 20. Jahrhunderts – mit     realen Namen. Gegenüber vergleichbaren          Bis auf diese Zeugnisse der Verbrechen
der Geschichte der österreichischen Ar­      Büchern von Nachgeborenen, die an eine          war schon damals vom eigentlichen Lager
beiterInnenbewegung, des Nationalsozia-      politisch-moralische Anklage erinnern (ich      nicht mehr viel vorhanden. Das Vernich-
lismus und Kommunismus – verwoben ist.       denke etwa an Peter Stephan Jungks ro-          tungslager (Treblinka II) war schon einige
Im Verborgenen war die Geschichte von        manhafte Biografie über die Kommunistin         Zeit davor aufgelöst und seine Spuren von
Eva und Walter Baumgarten, der Groß-         Edith Tudor-Hart), gelingt Arnautović ein       der deutschen Lagerverwaltung beseitigt
mutter von Ljuba Arnautović und jenes        großer emphatischer Wurf, distanziert und       worden. Dort, wo sich einst das Todeslager
jüdischen Mannes, den sie in den Jahren      einfühlsam zugleich. Ungekünstelt, ohne         befunden hatte, war ein Bauernhof einge-
der nationalsozialistischen Diktatur als     jede Sentimentalität oder falsches Pathos,      richtet worden. Das ganz in der Nähe lie-
„U-Boot“ versteckt hielt, um ihn vor der     komponiert sie in 33 lose verbundenen Ka-       gende Arbeitslager (Treblinka I) war kurz
drohenden Deportation in den Osten – und     piteln die entbehrungsreichen Lebenswege        vor dem Eintreffen der sowjetischen Trup-
damit vor der Vernichtung – zu retten. In    ihrer Eltern. Das Streben ihrer Vorfahren       pen geräumt worden.
Junischnee steht die Geschichte von Karl     nach einer besseren Welt wird von Ljuba         Dabei war das, was Grossmann zu Gesicht
Arnautović, des Vaters der Autorin, im       Arnautović ernst genommen und nicht als         bekam, einer der zentralen Orte des Holo­
Mittelpunkt, der als Schutzbundkind in die   Verirrung abgetan.                              caust gewesen. In der Zeit seiner Exis-
Sowjetunion kam und erst Jahrzehnte spä-     Da zumindest ein leiser Kritikpunkt nicht       tenz zwischen Juli 1942 und August 1943
ter nach Österreich zurückkehrte.            fehlen sollte, sei zuletzt die im Klappen-      fanden hier etwa 900.000 Menschen den
Nach den Februarkämpfen des Jahres 1934      text zu lesende Feststellung hinterfragt,       Tod.
und der Niederlage der österreichischen      dass die Mutter ihre Söhne 1934 „vor den        Aus den Eindrücken, die Grossmann bei
ArbeiterInnenbewegung flüchtete Karl         Nationalsozialisten“ – und nicht vor dem        seinem Besuch sammelte, entstand sein
Kafka, der Vater von Karl Arnautović, in     austrofaschistischen Regime – in Sicher-        Bericht treblinskij ad / Die Hölle von
die Tschechoslowakei und von dort weiter     heit brachte. Diese Fehleinschätzung, die       Treblinka. Im November 1944 erschien
nach England. Die beiden Kinder, Karl und    dem Verlag – und nicht der Autorin – an-        Grossmanns Darstellung in einer Zeit-
sein älterer (Halb-)Bruder Slavko, fanden    zulasten ist, hat unhinterfragt Eingang in      schrift der Roten Armee. Ein Jahr später
aufgrund einer Hilfsaktion der Internatio-   mehrere der bisher erschienenen Rezen­          wurde daraus eine Broschüre, die weite
nalen Roten Hilfe (MOPR) Aufnahme in         sio­nen gefunden. In einem Interview hat        (auch internationale) Verbreitung fand.
der Sowjetunion. Die Mutter, Eva (damals     die Autorin verraten, bereits am dritten Teil   Schon 1946 erschien sie (als eine von
Arnautović, spätere Baumgarten), blieb       ihrer Familiengeschichte zu schreiben.          mehreren Varianten) im Moskauer Verlag
zunächst in Wien, wurde nach mehreren                              Manfred Mugrauer          für fremdsprachige Literatur auf Deutsch.
Monaten Polizeihaft in die Tschechoslo-                                                      Nun erfolgt auf Basis dieser Ausgabe eine
wakei ausgewiesen und kehrte 1940 nach                                                       Neuauflage in der Studienreihe des Wiener
Wien zurück. Beide – Karl Kafka und Eva      Wassilij Grossmann: Die Hölle von               Wiesenthal Instituts für Holocaust-Stu-
Arnautović – waren in der KPÖ engagiert.     Treblinka. Mit einer Einleitung von             dien (VWI). Der ursprüngliche Text
                                                                                             ­
Die Kinder konnten sich zunächst auf der     Dieter Pohl und einem Nachwort                  Grossmanns wird dabei eingerahmt von
Krim erholen und wurden dann in einem        von Irina Scherbakova (= Studien-               einer Einleitung des Historikers Dieter
Kinderheim der MOPR in Moskau unter-         reihe des Wiener Wiesenthal Instituts           Pohl, der das Werk kenntnisreich in seinen
gebracht. 1939, kurz vor Kriegsbeginn,       für Holocaust-Studien, Bd. 5).                  historischen Kontext bettet, sowie einem
wurde das Kinderheim geschlossen. Wäh-       Wien–Hamburg: new academic                      aufschlussreichen Nachwort von Irina
rend Slavko Arnautović 1941 wegen „anti­     press 2020. 102 S.                              Scherbakova, die sich der literarischen
sowjetischer Agitation“ verhaftet wurde                                                      und politischen Biographie Grossmanns
und 1942 in der Haft starb, überlebte sein   Im Sommer 1944 hatte die Rote Armee auf         und des Schicksals seiner Werke in der po-
1943 verhafteter Bruder Karl mit viel        ihrem Vormarsch nach Westen den Osten           litischen und kulturellen Atmosphäre der
Glück die Lagerhaft. Im Roman wird seine     Polens erreicht. Am 18./19. August stießen      stalinistischen (und nachstalinistischen)
Geschichte mit jener von Nina Botscha-       die sowjetischen Truppen auf das Gelände        Sowjetunion widmet.
rowa verflochten, der in Kursk geborenen     des ehemaligen Vernichtungslagers Treb-         Seine Chronik von Treblinka beginnt
Mutter der Autorin. Die beiden lernten       linka vor.                                      Grossmann mit der Schilderung des All-
sich noch im Lager kennen und heirateten.    Schon kurze Zeit später, Anfang Septem-         tags im Arbeitslager (Treblinka I). Der
Ljuba Arnautović wurde 1954 geboren,         ber, machte sich eine kleine Gruppe so-         Terror, die Gewalt und die Demütigungen
ein Jahr nach der Entlassung ihres Vaters    wjetischer Offiziere auf, um den Ort des        im Arbeitslager bilden in der Beschreibung
aus der Lagerhaft. Sie kam 1956 mit ihren    Massenmordes zu inspizieren. Unter ih-          Grossmanns nur das Präludium für die
Juli 2021                                                                                                                                             11

„hundertfach grauenhaftere“ (S. 32) Rea-        fasst Grossmann sein Anliegen zusammen.        Dabei ist die Arbeit auf die Parteien kon-
lität des nahen Vernichtungslagers (Treb-       „Und die Bürgerpflicht des Lesers“, fährt      zentriert und nimmt einen europäischen
linka II). Den unmenschlichen Abläufen,         er fort, „ist es, sie zu erfahren.“ (S. 64)    Vergleich vor. Gerade dadurch gelingt es
der unvorstellbaren Grausamkeit und der                                        Peter Angerer   den Autoren, die entsprechenden Innova-
Technik des Massenmordes in Treblinka                                                          tionen gut herauszuarbeiten. Ihre Betrach-
gilt das Hauptaugenmerk Grossmanns.                                                            tung richtet sich dabei auf die Ideologien
Da­bei stützt er sich auf die „Erzählungen      Backes, Uwe, Patrick Moreau: Europas           und Programme. Deutlich wird etwa, dass
lebender Zeugen“ und die „Aussagen von          moderner Rechtsextremismus. Ideolo­            sich der modernere Rechtsextremismus
Leuten, die in Treblinka vom ersten Tag         gien, Akteure, Erfolgsbedingungen und          eher muslimenfeindlich und der traditio-
der Einrichtung […] gearbeitet haben“           Gefährdungspotentiale. Göttingen:              nelle Rechtsextremismus eher judenfeind-
(S. 35), sowie auf die ihm zugänglichen         Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 133 S.            lich orientieren. Auch Aspekte wie Anti-
ersten Analysen und Untersuchungen zu                                                          imperialismus und Querfront werden als
den Verbrechen der Nationalsozialisten.         Man kann den gegenwärtigen Rechtsextre-        Handlungsfelder thematisiert. Und dann
Und auch wenn Jahrzehnte historischer           mismus nicht analysieren, wenn man nicht       ist auch die Bedeutung der Corona-Frage
Auseinandersetzungen neuere und genau-          auch seine Modernisierung berücksichtigt.      für das gemeinte politische Lager wichtig.
ere Fakten und Daten hervorgebracht ha-         Dieser Auffassung sind auch die beiden         Dem folgt ein Blick auf die Erfolgsbilanz,
ben und manche Aussagen Grossmanns              Extremismusforscher Uwe Backes und             wobei es primär um die Europawahlergeb-
revidieren, bleibt sein Bericht, angesichts     Patrick Moreau, die dazu das Buch Euro-        nisse von 2019 geht. Darüber hinaus wären
der Faktenlage von 1944, erstaunlich ge-        pas moderner Rechtsextremismus. vorge-         noch Einschätzungen zu anderen Reso-
nau und präzise. Manchmal durchbrechen          legt haben.                                    nanzen interessant: Gibt es zwischen den
Sprachbilder voller Poesie und Pathos den       Darin wird der Begriff „Modernisierung“        demokratischen mit den hier gemeinten
fakten- und dokumentenbasierter Duktus          verständlicherweise formal verstanden.         Parteien politische Kooperationen? Sind
der Darstellung. Stil und Gestus des Textes     Es geht nicht um die Behauptung, wonach        sie oder könnten sie Koalitionspartner auf
verraten dabei die menschliche Empörung         es eine Demokratisierung oder Verbesse-        Regierungsebene sein? Werden sie gesell-
und das Entsetzen des Autors.                   rung gegeben habe. Gemeint sind primär         schaftlich als „normale Parteien“ wahrge-
Bemerkenswert an dem Text Grossmanns            Anpassungen an gesellschaftliche Verän-        nommen.
ist auch, dass er sich nicht scheute, der       derungen, die für eine strategische Lernfä-    Und dann geht es noch ausführlicher um
sowjetischen Öffentlichkeit Treblinka als       higkeit des gemeinten politischen Lagers       die Erfolgsbedingungen, wobei die Ana-
dezidiert „jüdisches Lager“ (S. 29) zu prä-     sprechen. Darüber wird immer mal wieder        lysekriterien Politische Nachfrage, Politi-
sentieren. Damit setzte er sich in Gegen-       in Andeutungen spekuliert, eine systema-       sche Gelegenheiten und Politische Ange-
satz zu seinen Schriftsteller- und Journalis-   tische Betrachtung zu eben den Moderni-        bote für einen Vergleich genutzt werden.
tenkollegen und der herrschenden Vorgabe        sierungspotentialen fehlte bislang. In diese   Auch hier erlaubt der länderübergreifende
des Regimes. Anfang der 1940er-Jahre            Lücke stoßen die beiden Politikwissen-         Blick besondere Erkenntnisse, die Bedin-
begann sich in der Sowjetunion eine anti­       schaftler. Sie wollen damit neue Analyse-      gungsfaktoren wie Spezifika deutlich ma-
semitische Kampagne abzuzeichnen. Die           optionen aufzeigen, sowohl zu den Posi­        chen. Die Autoren lassen sich dabei nicht
vom Regime angestoßenen Schikanen und           tionen wie zur Strategie.                      leichtfertig von nur scheinbaren Zusam-
Sanktionen gegen Jüdinnen und Juden             Am Beginn ihrer Betrachtungen stehen           menhängen täuschen, sondern verzichten
wuchsen sich im Laufe der kommenden             De­finitionsprobleme, denn das Gemeinte        auf einfache Erklärungen, wenn die Sach-
Jahre in eine ausgedehnte Aktion gegen          muss auch mit einer konkreten Nennung          lage solche eben nicht möglich macht. Da-
den jüdischen „Kosmopolitismus“ aus, der        verbunden sein. Und hier geraten die Be-       rüber hinaus geben sie bei den Ausführun-
zahlreiche jüdische Intellektuelle, Kunst-      griffe doch etwas durcheinander. Das           gen zu den Deutungen immer einen klei-
schaffende und Ärzte zum Opfer fielen.          Buch spricht von modernem „Rechtsextre­        nen Überblick, der Forschungsergebnisse
Ein erstes Anzeichen dieser Politik mani-       mismus“ im Titel. Meist wird aber die Be-      und -kontroversen thematisiert. Insofern
festierte sich etwa in der Weigerung des        zeichnung „Rechtsradikale“ verwendet.          hat man es auch mit einer guten Einfüh-
stalinistischen Regimes, den jüdischen          Ersteres steht für eine dezidiert antide-      rung zu tun, die durch die Differenzierung
Op­fern der Nationalsozialisten einen wie       mokratische Auffassung, „Rechtsradika-         von Einflussfaktoren und damit durch die
auch immer gearteten Sonderstatus zu-           le“ soll einen Standpunkt zwischen Fa-         Nennung von Untersuchungskriterien wei-
zuerkennen. Diese antisemitische Politik        schismus und Konservativismus erfassen         terführend wirkt. Ansonsten merkt man
des Stalinismus der 1940er- und frühen          und sich für einen länderübergreifenden        immer wieder die jahrelange Beschäfti-
1950er-Jahre – Irina Scherbakova macht          Vergleich besser eignen. Dann ist aber         gung mit dem Thema, welche auch in der
im vorliegenden Band darauf aufmerk-            auch von einer „weichen Form“ des Ex-          Aufmerksamkeit für Besonderheiten in
sam – hat auch das Schreiben und Publizie-      tremismus die Rede, was ja dann wieder         den jeweiligen Ländern deutlich wird.
ren Grossmanns wesentlich mitbestimmt.          für die Bezeichnung „Extremismus“ als                            Armin Pfahl-Traughber
Grossmanns Bericht über Treblinka (und          antidemokratische Strömung sprechen
sein Schicksal als jüdischer Autor in der       würde. Es kann ja hierfür unterschiedliche      An der Herstellung dieser Nummer wirkten mit:
Sowjetunion) werden so auch zum Beleg           Intensitätsgrade geben. So wäre das hier        Peter Angerer, Gerhard Baumgartner, Eva Kriss, Manfred
                                                                                                Mugrauer, Armin Pfahl-Traughber, Christine Schindler,
über den Umgang der Sowjetunion mit             Gemeinte ein neuerer Rechtsextremismus,         Bernhard Weidinger.
dem Holocaust. Primär aber bleibt es ein        während etwa neonazistische Gruppierun-         Impressum: Verleger, Herausgeber und Hersteller: Do­
wichtiges Zeitdokument für die Wahrneh-         gen für den traditionellen Rechtsextremis-      ku­mentationsarchiv des österreichischen Wi­derstan­
                                                                                                des, Wipplingerstraße 8 (Altes Rathaus), 1010 Wien;
mung und Bestimmung eines der zentralen         mus stehen würden. Blendet man indessen         Redaktion ebenda (Christa Mehany-Mitterrutzner,
NS-Vernichtungsorte.                            diese Begriffsproblematik aus, werden           Tel. 22 89 469/322, E-Mail: christa.mehany@doew.at;
                                                                                                Sekretariat, Tel.: 22 89 469/319, E-Mail: office@doew.at;
„Von einer furchtbaren Wahrheit zu be-          zutreffend die Modernisierungsbereiche          web: https://www.doew.at).
richten ist die Pflicht des Schriftstellers“,   aufgearbeitet.
Ich bestelle folgende Publikationen:

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Gedenken und Mahnen in Wien, Gedenkstätten zu Widerstand                 Jakob Rosenberg / Georg Spitaler, Grün-weiß unterm Haken-
und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, hrsg. v.            kreuz. Der Sportklub Rapid im Nationalsozialismus, hrsg. v.
DÖW, Wien 1998                                                           SK Rapid und DÖW, Wien 2011, 303 S., Euro 18,99
Gedenken und Mahnen in Wien. Ergänzungen I, Wien 2001.                                                                      ... Stück
Euro 13,– (statt Euro 15,–) 			                      ... Stück
                                                                         „Vor unserem Herrgott gibt es kein unwertes Leben“. Die Pre-
Institut Theresienstädter Initiative / DÖW (Hrsg.) Theresienstäd-        digt von Diözesanbischof Michael Memelauer bei der Silvester­
ter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden in There­             andacht am 31. Dezember 1941 im Dom zu St. Pölten, hrsg. v.
sienstadt 1942–1945, Prag 2005, 702 S., Euro 29,–         ... Stück      DÖW u. Diözesanarchiv St. Pölten, St. Pölten 2017, 42 S., Euro 5,–
                                                                                                                                   ... Stück
Herbert Exenberger / Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran,
Wien 2003, 112 S., Euro 5,–                           ... Stück          Zeithistoriker – Archivar – Aufklärer. Festschrift für Winfried
DÖW, Katalog zur permanenten Ausstellung. Wien 2006,                     R. Garscha, hrsg. v. Claudia Kuretsidis-Haider u. Christine
207 S., 160 Abb., Euro 24,50                 ... Stück                   Schindler im Auftrag des DÖW u. der Forschungsstelle Nach-
                                                                         kriegsjustiz, Wien 2017, 500 S., Euro 19,50            ... Stück
DÖW, Catalog to the Permanent Exhibition, Wien 2006, 95 S.,
über 100 Abb., Euro 14,50 			                     ... Stück              Claudia Kuretsidis-Haider, Österreichische Pensionen für jüdi­
                                                                         sche Vertriebene. Die Rechtsanwaltskanzlei Ebner: Akteure –
Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwir-                  Netz­werke – Akten, hrsg. v. DÖW, Wien 2017, 319 S., Euro 19,50
kungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer, hrsg. vom                                                                ... Stück
DÖW, Wien 2012, 420 S., Euro 19,50 		                    ... Stück
                                                                         Forschungen zu Vertreibung und Holocaust, Jahrbuch 2018,
Barry McLoughlin / Josef Vogl, „... Ein Paragraf wird sich
                                                                         hrsg. v. DÖW, Wien 2018, 382 S., Euro 19,50      ... Stück
finden“. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis
1945), hrsg. v. DÖW, Wien 2013, 622 S., Euro 24,50 ... Stück             Herwig Czech / Wolfgang Neugebauer / Peter Schwarz, Der Krieg
Florian Freund, Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumen-              gegen die „Minderwertigen“. Zur Geschichte der NS-Medizin in
tation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943–1945,               Wien / The War against the “Inferior.” On the History of Nazi
Braintrust, Verlag für Weiterbildung 2010, 444 S., Euro 29,–             Medicine in Vienna. Katalog zur Ausstellung in der Gedenkstätte
                                                         ... Stück       Steinhof im Otto-Wagner-Spital der Stadt Wien, hrsg. v. DÖW,
                                                                         Wien 2018, 243 S., Euro 25,–                          ... Stück
Wolfgang Neugebauer, The Austrian Resistance 1938–1945,
Edition Steinbauer 2014, 336 S., Euro 22,50 		  ... Stück                Claudia Kuretsidis-Haider / Rudolf Leo, „dachaureif“. Der Ös-
                                                                         terreichertransport aus Wien in das KZ Dachau am 1. April 1938.
Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945,           Biografische Skizzen der Opfer, hrsg. v. DÖW u. Zentraler öster-
überarb. u. erw. Fassung, Edition Steinbauer 2015, 351 S., Euro 22,50    reichischer Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Wien 2019, 344 S.,
                                                             ... Stück   zahlr. Abb., Euro 25,–                                  ... Stück
Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner,             Deportation und Vernichtung – Maly Trostinec. Jahrbuch 2019,
Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky.               hrsg. v. DÖW, Wien 2019, 359 S., Euro 19,50         ... Stück
Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärti-
gen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009, 630 S., Euro 29,90                Widerstand und Verfolgung in der Steiermark. ArbeiterInnen-
                                                       ... Stück         bewegung und PartisanInnen 1938–1945. Mit einer Einführung
                                                                         v. Heimo Halbrainer, hrsg. v. DÖW, CLIO 2019, 760 S., 150 Abb.,
Fanatiker, Pflichterfüller, Widerständige. Reichsgaue Nieder-            Euro 25,–                                              ... Stück
donau, Groß-Wien, Jahrbuch 2016, hrsg. v. DÖW, Wien 2016,
412 S., Euro 19,50 				                               ... Stück          Nisko 1939. Die Schicksale der Juden aus Wien, Jahrbuch 2020,
                                                                         hrsg. v. Christine Schindler im Auftrag des DÖW, Wien 2020,
80 Jahre Internationale Brigaden. Neue Forschungen über                  447 S., Euro 19,50                                   ... Stück
österreichische Freiwillige im Spanischen Bürgerkrieg, hrsg. v.
DÖW u. Vereinigung österreichischer Freiwilliger in der Spani-           Verfolgung und Ahndung, Jahrbuch 2021, hrsg. v. Christine
schen Republik 1936–1939 und der Freunde des demokratischen              Schindler im Auftrag des DÖW, Wien 2021, 358 S., Euro 19,50
Spanien, Wien 2016, 157 S., Euro 12,50                ... Stück                                                               ... Stück

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