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DIE PLATYPUS REVIEW - deutschsprachige Ausgabe - DAS SCHEITERN DER ANTIDEUTSCHEN Michael Fischer WENN DU DIE RISSE IM SYSTEM NICHT ERKENNST, LÄUFST DU GEGEN DIE WAND Ein Interview mit Wolf Wetzel Anne Koppenburger und Tom Schmidt ZUR REKONSTRUKTION REVOLUTIONÄRER THEORIE BEI HANS-JÜRGEN KRAHL 17 Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 Marcel Kleufer www.platypus1917.org/die-platypus-review/
1 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 DAS SCHEITERN DER Gefördertes Sonderprojekt der HochschülerInnenschaft an der Universität Wien ANTIDEUTSCHEN den Slogans von den westlichen Plutokratien und den von Michael Fischer proletarischen Nationen sich aus.2 Hörügels Kritik trifft selbst dort nicht so ganz, wo sie zumindest dem Anschein nach etwas Richtigem auf der „Wer sind die überhaupt, diese Antideutschen? Spur ist, etwa dem Mitschleifen des schlechten Erbes der Vielleicht alle und die Regierung vornedran.“ Neuen Linken mit Blick auf die Arbeiterklasse. Die Ausla- gerung der Produktion in die kapitalistische Peripherie, Wolfgang Pohrt1 die auf den Öl-Schock 1973 folgte, hintertrieb zuneh- mend die Streikfähigkeit des Proletariats im Westen. Das Die Antideutschen sind gescheitert, erfährt man in von postmodernen Vordenkern proklamierte Ende des der vergangenen Ausgabe der Platypus Review. Einem Subjekts affirmierte diese sich abzeichnende Nieder- Befund, dem man gemessen am eigenen Anspruch der lage und verhalf der linksliberalen Identitätspolitik zum Antideutschen, das Abbruchsunternehmen der Linken Durchbruch. Die spezifisch antideutsche Ausformung zu sein, nicht groß widersprechen kann. Die Linke davon durchschaute Wolfgang Pohrt schon vor knapp erfreut sich eines mittlerweile gesamtgesellschaftlich 20 Jahren. Im Nachgang einer völlig schiefgelaufenen populären Fortwesens und verkam trotz aller Inter- Veranstaltung, bei der er zusammen mit Henryk Broder ventionen zum letzten ideologischen Abwehrbollwerk das herbeigeeilte antideutschen Publikum offensiv vor der im Niedergang begriffenen neoliberalen Ordnung. den Kopf gestoßen hatte, polemisierte er in seinem Buch Für Platypus-Aktivist Max Hörügel rührt das Scheitern FAQ gegen jene Linke, als deren Vordenker er galt: jedoch daher, dass schon die frühen Antideutschen nicht vermocht hätten, was im Grunde die Zielvorstel- Während die Arbeitslosen auf den Status von Almo- lung jener Organisation ist, der er selbst angehört und senempfängern zurückgeworfen werden und die arbei- die ihre idealisierten Wunschkonzerte seit nun 15 Jahren tende Bevölkerung zwecks Altersvorsorge zum Kauf auch nicht verwirklichen konnte: die Arbeiter zu einem von Spekulationspapieren angehalten ist, welche dem bewussten gesellschaftlichen Akteur zu formen und in Verkäufer einen Platz an der Sonne und dem Besitzer Richtung Revolution anzuführen. Kurzum: Eine Kader- einen im Armenhaus sichern, währenddessen also kennt partei aufzubauen, der dann qua magischer Hand die diese Linke keine Klassen mehr, nur noch Rassen.3 werktätigen Massen folgen, weil ein paar Studenten von Sozialismus träumen und Vorträge darüber halten. Nicht Eine Vielzahl jener pop-antideutschen Linken, die so gerne spricht man dagegen über den Antisemitismus damals noch mit blau-weißen Fahnen gegen Antise- innerhalb der Linken. Augenfällig wird dies, wenn der mitismus, Rassismus und deutsche Zustände zu Felde Artikel nur am Rande die Begeisterung für den antiimpe- zogen, aber von Klasse und Ausbeutung nichts wissen rialistischen Kampf der Neuen Linken thematisiert. Die wollten, entdeckten wohl aufgrund ihrer prekären Uni- in den Metropolen enttäuschte Hoffnung auf den Sozia- Jobs ihre Liebe zu Gender-Sternchen, Hautfarben und lismus sei lediglich in andere Weltgegenden verschoben skurrilen Minderheiten. Wem die akademische Karriere worden – so lautet zumindest die wohlmeinende Inter- trotz emsigsten Anpassungswillen verwehrt blieb, pretation. landete bei den Grünen oder stritt in der Linkspartei für deren Grünifizierung. Die Antideutschen zerfielen Der keine Irritation erweckende Schauplatzwechsel derweil schon Mitte des vorletzten Jahrzehnts in eine von Vietnam nach Palästina lässt jedoch auch auf Soft- und Hardcorefraktion, wobei letztere von der anderes schließen. Vielleicht war es der antizivilisato- Bezeichnung antideutsch zunehmend Abstand nahm und rische und antiwestliche Unterstrom, von dem Adorno sich ausschließlich als ideologiekritisch verstand. Im sprach, der die Begeisterung für antikoloniale Kämpfe Streit darum, ob die angeblichen Leerstellen des Deter- bei jenen entfachte, die einem Milieu entsprangen, das ministen Adorno um den Freiheitsbegriff von Sartre sich nur wenige Jahrzehnte zuvor in großem Maße für zu erweitern seien, gründete sich die leicht einschlä- den Nationalsozialismus begeisterte. Was der studenti- fernde Zeitschrift sans phrase in Wien und während der schen Jugend an Deutschland abging, der Kampf gegen Flüchtlingskrise vollzog sich eine Spaltung in Links- und den Westen, den Mammon und die Juden, die man jetzt Rechtsantideutsche. Zwar bleibt dies alles im Dunkeln, Zionisten nannte, fanden sie im trikontinentalen Natio- dafür verrät der Text einiges über Platypus selbst. Nicht nalismus wieder, der mit dem „faschistischen Wunsch- mehr die sich verändernden ökonomischen Konstella- bild“ (Adorno) verschmolz: tionen, die die materialistische Kritik der Gesellschaft, die auf den Kommunismus zielt, unentwegt in sich Einverständnis mit denen, die in der imperialistischen aufnehmen muss, um nicht falsch zu werden, sind Richt- Konkurrenz sich zu kurz gekommen fühlten und selber an schnur des eigenen Handelns und Denkens, sondern den Tisch wollten, drückte schon während des Krieges in unter spezifischen Bedingungen gemachte Erkennt-
2 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 nisse, die zu doktrinären Ideen gerinnen. Selbst der Ausdruck in einem spezifischen Antikapitalismus findet, historische Materialismus regrediert zu einer Spielart der sich gegen die möglichen egoistischen und zugleich des Idealismus, wenn er als verdinglichte Theorie keine spalterischen Zielsetzungen der Bourgeoisie und der Erfahrungen mehr in sich aufnimmt, die diese verändert, Arbeiterklasse richtet. damit der Dialektik entschlägt und wie der von Platypus bemühte Georg Lukács, dies der erst zu verstehenden Zu intervenieren wäre gegen jene linken und links- Gesellschaft von oben herab überstülpt. Gegen diesen liberalen Akteure, die die wachsenden ökonomischen zur Dogmatik erstarten Materialismus gerichtet, schrieb Verwerfungen hinter Ausgrenzungskategorien zum Friedrich Engels kurz vor seinem Tod in einem Brief an Verschwinden bringen und damit als ideologische Blitz- „ Werner Sombart: ableiter der Gesellschaftskritik fungieren. Die aktu- ellen Kulturkämpfe entspringen den Klasseninteressen [D]ie ganze Auffassungsweise von der PMC auf der Linken und des alten Marx ist nicht eine Doktrin, sondern Kleinbürgertums auf der Rechten, eine Methode. Sie gibt keine fertigen denen mit einer Fokussierung auf Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu vermeintlich rein ökonomische Fragen weiterer Untersuchung und die Methode Auch die Idee einer deshalb nichts entgegenzusetzen ist, für diese Untersuchung.4 Kaderpartei ist weil sie selbst Ausdruck davon sind. von einer Verachtung Die postmoderne Identitätspolitik Die aktuelle gesellschaftliche entpuppt sich dabei als kümmerliches, Bedeutungslosigkeit der radikalen gegenüber den aber überaus kostengünstiges Emanzi- Linken, auch die des kommunisti- Arbeitern getragen. pationsversprechen des Kapitalismus, schen Resthaufens, resultiert auch die die gerechte Verteilung des Elends aus dem notorischen Unwillen, über- nach Hautfarbe, Geschlecht und sexu- haupt verstehen zu wollen, unter welchen Verhält- eller Orientierung verspricht und damit die Ausbeutung nissen sie agieren.Jener Hang zum Idealismus folgt aus verewigt und hierarchisiert statt aufhebt. Die Kritik daran einer unhinterfragten Klassenlage als geistige Arbeiter, und an der Linken, die dies mitträgt, ist ein durchaus die unbewusst von der verändernden Kraft der Ideen verzweifelter Versuch, die Grundlage für radikale Gesell- ausgehen, weil sie selbst nichts anderes produzieren. schaftskritik wieder herzustellen. Platypus erscheint Dieses auch an Platypus vermachte Erbe der Neuen dies jedoch als per se falscher Kampf, der nur die Entge- Linken, sich vollständig aus Angehörigen der neuen gensetzung der Identitätspolitik für Arbeiter gegen jenen Mittelklasse zusammenzusetzen, erklärt deren Abwehr für Minderheiten befeuere. So ist man fein raus aus der in Bezug auf die Kritik an der PMC. Eine Kritik, die Barbara Beschäftigung mit den aktuellen Verhältnissen und kann und John Ehrenreich aus einer materalistischen Klas- sich wieder den Texten im Lesekreis widmen, die nicht senanalyse des Progressivismus um 1900 und der Neuen jünger als 50 Jahre sein dürfen.|P Linken entwickelten. Sie warnten davor, dass linke Ideo- logie, sofern sie ihre Klasseninteressen nicht begreife, Michael Fischer hat Politikwissenschaft, Germanistik Gefahr laufe, anstelle einer Diktatur des Proletariats und Geschichte studiert und lebt in Wien. Seine Texte eine Diktatur der PMC zu etablieren. Denn auch die Idee erscheinen regelmäßig in der Zeitschrift Bahamas. der Kaderpartei ist von einer Verachtung gegenüber den Dieser Text ist eine Replik auf Max Hörügels Artikel Die Arbeitern getragen. Bestechlich und leicht beeinflussbar frühen Antideutschen und die Arbeiterklasse, der in der brauchen sie nur die richtige Führung, die sie gen Sozia- PR #16 (Herbst 2021) erschienen ist. lismus bringt. In Zeiten verschärfter ökonomischer Ungleichheit, 1 Wolfgang Pohrt: „FAQ”, in: Wolfgang Pohrt Werke (Bd. in der sich die kapitalistischen Widersprüche nicht 9), Hrsg. Klaus Bittermann, Berlin 2021, S. 25. zu Widersprüchen gegen ihn fortentwickeln, weil die 2 Theodor Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Ver- Antagonismen zunehmend ideologisch und immer gangenheit“, in: Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg.: weniger sozialstaatlich stillgestellt werden, ist es jedoch Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, S. 565. unerheblich, „ob die Idee dieser Umwälzung schon 3 Pohrt: „FAQ“, S.28. hundertmal ausgesprochen ist.“5 Bei dieser Sistierung 4 Brief von Friedrich Engels an Werner Sombart am der Klassengegensätze spielt die neue Mittelklasse, die 11.03.1895, in: Karl Marx/Friedrich Engels — Werke (Bd. im Gegensatz zum Kleinbürgertum über keine Produkti- 39), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zen- tralkomitee der SED, Berlin 1968, S. 428. onsmittel verfügt, beginnend mit der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Die 5 Karl Marx, Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie. Klassenlage von Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen, Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Re- präsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des Schauspielern, Journalisten und Ingenieuren weist ihnen deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Pro- die Aufgabe zu, die Reproduktion der kapitalistischen pheten“, in: Karl Marx/Friedrich Engels — Werke (Bd. 3), Kultur und die der Klassenbeziehung sicherzustellen. Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentral- Daraus folgt die Wunschvorstellung einer harmonisch komitee der SED, Berlin 1978, S. 39. und pluralistisch eingerichteten Gesellschaft, die ihren
3 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 WENN DU DIE RISSE und verschmutzt nach Hause – wie erkläre ich das? Ohne dass ich damals wirklich wusste, was die SS ist. Mein IM SYSTEM NICHT Vater hat mir immer von Kriegsberichten erzählt, das war ganz toll und ich fand meinen Vater auch ganz toll, weil der ganz abenteuerliche Geschichten erzählt hat. ERKENNST, LÄUFST Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie es ausgegangen ist – also verprügelt wurde ich nicht und ich habe jetzt auch DU GEGEN DIE WAND keine schreckliche Erinnerung daran. Und weil ihr gefragt habt, in welcher Zeit ich politisiert Ein Interview mit Wolf Wetzel wurde und auf was für eine Linke ich gestoßen bin – ach, da könnten einem die Tränen kommen –; damals hat man über die Geschichte der Neuen das natürlich als normal wahrgenommen. Wenn ich jetzt 50 Jahre zurückschaue, dann war das eine Traumland- Linken nach 1968, das Schei- schaft für jeden, der politisiert werden wollte. Für jeden, der nicht mit dem leben will, was er vorfindet oder was tern der Autonomen und den die Eltern ihm vorgeben, ist diese Post-68er-Zeit eine Zustand der Linken heute Traumzeit gewesen. Sowohl die Schulkameraden, die alle ein bisschen rebellisch waren, lange Haare hatten, Parker trugen und gekifft haben als auch die politi- von Anne Koppenburger und Tom Schmidt sierte Stimmung waren für mich unglaublich beeindruc- kend und lagen jenseits dessen, was ich mir später an Wolf Wetzel war Mitglied der ehemaligen autonomen Theorie draufgeladen habe. Ich habe dann verstanden L.U.P.U.S.-Gruppe, welche unter anderem durch die wo Vietnam liegt und warum dieser US-Krieg in Vietnam Startbahnbewegung 1980-1991, die Anti-AKW-Bewe- ein Kriegsverbrechen war. Aber von den Freundschaften gung, die Häuserkampfbewegung und die Libertären und davon, wie die Einzelnen miteinander umgegangen Tage in Frankfurt a. M. 1986 geprägt war. Er ist seit 1991 sind – im Gegensatz zu meinen Eltern – war ich faszi- journalistisch und publizistisch tätig. Zuletzt erschien niert und bin so auch in die ersten Wohngemeinschaften 2015 sein Buch Der Rechtsstaat im Untergrund: Big gekommen. Für mich war diese Welt eine Traumland- Brother, der NSU-Komplex und notwendige Illoyalität im schaft. Meine Eltern lebten brav in ihrer Dreizimmer- PapyRossa Verlag. Kastenwohnung – eine ganz fürchterliche Ehe. Dann kommst du plötzlich in eine WG, wo die Matratzen auf Das Interview wurde am 12. Februar 2021 von Tom dem Boden liegen und die Leute noch um zwölf im Bett Schmidt und Anne Koppenburger geführt. Sie sind liegen. Mitglieder der Platypus Affiliated Society. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs. Wie hat dich dann dein Weg zu den Autonomen gebracht? Und wie hast du diesen Übergang von den ANNE KOPPENBURGER UND TOM SCHMIDT: Wann Siebzigern in die frühen Achtziger erlebt? und wie bist du politisiert worden? Und auf welche Linke bist du damals dabei gestoßen? Man fragt sich ja tatsächlich: Wie bin ich zu den Auto- nomen gekommen? Warum gab‘s die überhaupt? Es WOLF WETZEL: Das war 1970. Es fand eine der letzten gab ja so viele Linke damals. Es ist nicht wie heute, dass Demonstrationen gegen den Angriffskrieg der USA in du das Gefühl hast, da sind drei Linke und die haben 27 Vietnam statt. Und in Offenbach, da bin ich zur Schule Meinungen, sondern damals war es umgekehrt. Damals gegangen, gab es eine US-Kaserne. Wir waren damals gab es 27 verschiedene Sorten von Linken, Antiimperia- im Gymnasium und haben gedacht, das kann nicht falsch listen und Anarchisten. Damals waren in Frankfurt die sein. Ich muss ehrlich sagen, ich wusste nicht viel über Spontis ganz stark, die sich traditionell gegen kommu- den US-Imperialismus. Wenn ich ehrlich bin, ich wusste nistische, gegen hierarchische Strukturen gewehrt nistische nicht einmal, wo Vietnam liegt. haben, vor allem gegen hierarchische, zentralisti- sche Strukturen. Ich glaube, sie waren nicht gegen den Aber ich glaube, der wirksamste und treueste Zugang Kommunismus, aber gegen den Kommunismus, den wir war über Freunde, die mir gesagt haben: „Da ist eine von der DDR kannten und von dem wir erahnten, dass er Demonstration, komm doch mit, wir gehen da auch hin!“ ziemlich spießig und nicht das Land unserer Träume ist. Und da war ich dann auch, hatte keine Ahnung, was Die 68er-Generation hat sich dann gespalten. Anfang der passiert, und irgendwie ist die aufgelöst worden, aber 70er, in der Zeit, in der ich politisiert wurde, war dieser ich habe das viel zu spät mitgekriegt. Sprich, die Wasser- Zerfallsprozess sehr stark. Ein Teil ging in diese Partei- werfer haben mich weggeblasen. Ich habe damals noch organisationen, von denen es mindestens 20 Versionen bei meinen Eltern gelebt. Mein Vater war in der SS, mit gab: vom Kommunistischen Bund Westdeutschland 16 Jahren. Ich wusste das wird der Horror: Wie komme (KBW), der maoistisch geprägt war, bis zu den Trotz- ich an einem strahlend sonnigen Tag völlig durchnässt kisten, die damals auch stark waren. Wir fanden letztere,
4 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 als eine von den Splittergruppen recht spannend, vor spontaneistische Moment nicht ausschlossen. Ich kann allem als wir uns später mit der Russischen Revolution mich in Deutschland mit Blick auf die letzten 50 Jahre auseinandergesetzt haben. Dann gab es noch die anar- nicht daran erinnern, dass eine Linke jemals wieder so chistische Bewegung, die hat uns natürlich ganz beson- klar probiert hat, diese Bezugnahme zur Arbeiterklasse ders gefallen, weil sie in unserer Vorstellung mit unserem nicht nur im Kopf und auf dem Papier zu vollziehen, Lebensgefühl am engsten verbunden war. Wobei ich sondern tatsächlich ihr Leben, ihr akademisches Leben auch sagen muss, wir haben den Anarchismus auch eher aufs Spiel zu setzen, in die Fabrik zu gehen, dort Streiks so verstanden, wie die Bild-Zeitung ihn versteht: wild, zu organisieren, diese Erfahrungen aufzuarbeiten und gefährlich, chaotisch, alles durcheinander, kiffen, Steine das in einem Rahmen von einem revolutionären Konzept werfen, Bomben bauen, vögeln. umzusetzen. Das war für mich sehr beeindruckend. Ein zentraler Punkt für unsere Generation war dieses Ich muss ehrlich sagen, ich habe erst retrospektiv antiautoritäre Moment: also keiner Herrschaft, auch kapiert, dass diese zwei Elemente zusammengehen. keiner Guten zu vertrauen; keinem Führer zu vertrauen, Sowohl die klaren Strukturen, die sehr konsequent waren auch keinem guten, sondern ohne Führer auszukommen; und meiner Meinung nach auch sehr beeindruckend als sich selbst zu artikulieren und möglichst basisdemokra- auch ein Lebensstil, der die Vorstellung von Morgen, tische Strukturen aufzubauen. von dem was kommen muss, heute sichtbar macht. Das entsprach auch einer Kritik am Kommunismus, dessen In Frankfurt hatten wir Glück, innerhalb dieses Zerfall- auf die kommunistische Zukunft projiziertes Versprechen prozesses der 68er formierten sich hier die sogenannten vom Paradies auf Erden wir für ein religiöses Verspre- Spontis. Die sind entstanden aus der Kritik sowohl an chen hielten. Wir wollten nicht warten. der Sozialdemokratie als auch an der DKP, die für sie viel zu spießig und bürgerlich war – was ihre Politikvor- Diese verschiedenen Momente haben für mich eine stellungen anging. Auf der anderen Seite gab es schon entscheidende Rolle dafür gespielt, dass ich dann zu damals eine Auseinandersetzung mit dem Kommu- den Autonomen ging – wobei ich die Anarchisten auch nismus, von der wir allerdings wenig wussten. sympathisch fand. Aber das hat natürlich auch etwas mit der Geschichte der Autonomia in Europa zu tun. Sie war Ich glaube, da lag die 68er-Bewegung schon brach, in den 70er-Jahren die stärkste massenmilitante Bewe- den Prager Frühling hatte es bereits gegeben. Wir gung. Sie hatte eine Wucht, sie war unglaublich theore- haben das eher intuitiv, gefühlsmäßig mitbekommen. tisch fundiert, hatte aber auch eine Praxis, die sowohl in Die Linken, die schon aktiv waren, die haben sich damit den Fabriken stattgefunden hat als auch in den Stadt- intensiv auseinandergesetzt und deswegen kam es teilen. Das war für uns total faszinierend. Wir konnten ja auch zu diesen verschiedenen Ausdeutungen der nach Italien fahren und an diesen Kämpfen teilnehmen kommunistischen Erfahrungen, von denen wir keine – zumindest schnuppern. Bei Anarchisten war das ein Ahnung hatten. Es gab in der Sowjetunion ein paar Jahr- Problem: Die schönste Zeit war die spanische Republik zehnte Erfahrung, es gab die Erfahrungen in der DDR, es 1936–39 mit ganz tollen Leuten und ganz tollen Kämpfen gab die Erfahrungen in den Ostblockstaaten, von denen – ja, aber das war uns zu weit weg und zu lange her und wir nichts wussten. Wir wussten nur, dass es offensicht- zu wenig Gegenwart. Deswegen, glaube ich, hat sich das lich auf die Krisen und Kritik innerhalb der kommuni- dann hier mit der Idee der Autonomia ergeben. stischen Bewegung verschiedene Antworten gibt. Wir haben uns damals eher den antiautoritären Tendenzen Zwischen der Sponti-Szene und den Autonomen lag der verschrieben. deutsche Herbst und die Gründung der Grünen. Die nach- folgenden Kämpfe, die dann mit den Autonomen mobili- So kam die Geschichte der Autonomia – also der italie- siert werden konnten, sind zahlenmäßig aus heutiger nischen militanten Neuen Linken –, ohne dass wir sie gut Sicht sehr beeindruckend: 100.000 in der Anti-AKW- kannten, in der Gestalt der Spontis nach Deutschland, Bewegung, 15.000 im Häuserkampf. die selbst – jetzt kommt diese Ambivalenz, die völlig Wie hast du damals das Verhältnis zwischen den Auto- verrückt ist – sehr kadermäßig organisiert waren. Ein Teil nomen und den Grünen, die ja auch teilweise aus der der Spontis hieß Revolutionärer Kampf und hat Betriebs- Generation der Spontis stammten, wahrgenommen? Und arbeit gemacht in den 70er-Jahren. Die sind sehr organi- wie erklärst du dir, dass die Grünen als parlamentarische siert in die Betriebe gegangen, hier im Rhein-Main-Gebiet Partei gestärkt aus dieser Zeit hervorgegangen sind und waren es die Opel-Werke, und haben dort Innenkader nicht eine gestärkte, organisierte autonome Szene? gebildet. Man muss sich das heute vorstellen, das waren Kader, die für ein halbes Jahr in der Fabrik gearbeitet Eine gute Bruchstelle, extrem wichtig, um Bewegungs- haben. Und dann gab es Außenkader, die das politisiert, geschichte zu begreifen und warum meiner Meinung analysiert und sozusagen vergesellschaftet haben. Nach nach Bewegungsgeschichte nicht reicht. Das kann man einem halben Jahr hat man gewechselt. Es kam tatsäch- eigentlich an der Partei der Grünen sehr gut festmachen. lich auch bei Opel zu wilden Streiks, die Gewerkschaft Ich hatte Glück, damals in Frankfurt zu leben. Dort hatte hat natürlich getobt ohne Ende. Diese Episode zeigt, dass von 1970–74 der für uns tollste Häuserkampf überhaupt klare, hierarchische, aber auch verdeckte Strukturen das stattgefunden. Da waren 10.000 bis 15.000 Leute in sehr
5 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 guten, nicht hierarchischen, aber klaren Strukturen der Startbahnbewegung, in der Häuserkampfbewegung. organisiert. Da gab es den Häuserrat, der verschie- Da waren die Grünen nicht Unterstützer oder gar Händ- dene Gruppierungen von besetzten Häusern zusam- chenhalter, sondern sie waren politische Gegner und ich „ mengefasst hat, und den Revolutionären Kampf, der ein würde auch sagen: zu Recht. bisschen wie eine Partei war. Die haben zwar die Bewe- gung unterstützt, aber sie waren nicht Du meintest, du hast die Einsicht, dass Teil der Bewegung. Und ich glaube, man Parlament und Bewegung braucht, wenn ich jetzt gerade so darüber nach- damals schon gehabt. Trotzdem wurde denke, das war immer etwas, was mich sie nicht von den Autonomen, sondern beeindruckt hat. Es braucht Strukturen, die von den Grünen erfolgreich umgesetzt. eine Bewegung überdauern. Warum war das so und wann ist dort Es braucht Strukturen, die eine Gleichzeitig darf man nicht etwas gekippt? Bewegung überdauern, die nicht von nur Partei, sondern muss einer Bewegung abhängig sind, auch auch Bewegung sein. Das Erste ist der parlamentarische nicht von Bewegungslaunen getrieben Weg, den die Grünen gegangen sind, werden, sondern von der Erfah- auf dem sie dann ihr Standbein verloren rung, die vielleicht viele andere davor oder sogar verbrannt haben. Man muss gemacht haben. Gleichzeitig darfst du nicht nur Partei daran denken, es gab unglaublich viele Bewegungen: sein, sondern du musst Bewegung sein; also dort sein, die Frauenbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die wo Leute einfach die Schnauze voll haben und aufbe- Friedensbewegung, die antimilitaristische Bewegung, gehren und Erfahrungen machen; sie davon überzeugen, die Antikriegsbewegung etc. Und keine Partei hatte dass das, worüber wir nachdenken, was wir wollen, gut einen Zugriff darauf. Die Grünen haben sich sozusagen ist. Es braucht beides. Bei den Spontis stellte sich nach zum Sprecher der außerparlamentarischen Bewegung dem Ende des Häuserkampfs – und das ist ja immer in gemacht. Das war für die Herrschenden ideal. Denn jedem Bewegungszyklus so – die Frage: Was machst du? sie hatten natürlich ihre Wasserwerfer und haben auch Was nun? Ein großer Teil kehrte einfach dahin zurück, Polizeieinheiten hoch aufgerüstet. Aber natürlich waren wogegen er aufbegehrt hatte, und fiel gar nicht mehr sie auch so klug, zu erkennen, dass sie damit die Jugend auf. Zu sagen, dass da alle „umgekippt“ sind, wäre unfair. nicht wirklich erreichen. Es braucht auch ein Angebot Nein, das ist immer bei Bewegungen so, 90% kehren neben der reinen Repression. Die Grünen wurden dieses dahin zurück, wo sie mal waren. Wenn du in den 70er- Angebot. und 80er-Jahren eine militante Geschichte hattest, dann war das der Zugang in den Kulturbereich, weil du irgen- Und umgekehrt, weil ihr gefragt habt, wann es gekippt detwas Bizarres mitbringen musstest. ist: Wir hatten einen Kongress 1986 und da haben wir thematisiert, dass es so nicht weitergeht; dass der Ein kleiner Teil der Spontis hat natürlich gesagt: „Naja, Zenit der autonomen Bewegung als Bewegung über- wir wollen weiterhin politisch aktiv sein, aber gut, das schritten ist; dass wir mit der Repression nicht Schritt mit dem Häuserkampf und dem Kampf auf der Straße halten können. Es ist eine ziemlich massive Repression und außerparlamentarisch – das hat nix gebracht, also ausgeübt worden, die natürlich Wirkung hinterlassen tragen wir den Kampf in die Parlamente.“ Das war zum hatte. Auf der anderen Seite waren die Strukturen der Teil ihr Slogan: „Die Kämpfe sind nur dann erfolgreich, Bewegung nicht in der Lage, mit dem, was da auf uns wenn sie auch im Parlament eine Vertretung haben.“ Da zukam, zurechtzukommen. Autonome waren jetzt auch entstand dann die Konstruktion des Spielbeins und des nicht gerade Universitätstüftler. Es gab ein paar, die Standbeins innerhalb der Grünen. Und wie ihr ja wisst, mit Theorie etwas anfangen konnten, aber der große haben sie ein Bein ganz verloren und von dem anderen Teil, der hat sich das mit Mühe und Not angehört. Die wissen sie nichts mehr, haben also nur noch Phantom- Reflexion darauf, was gerade passiert, hat glaube ich zu schmerzen. Es waren so viele Spontis bei der Gründung wenig stattgefunden. Man hätte tatsächlich, um zurück- der Grünen in Frankfurt beteiligt, Daniel Cohn-Bendit, zukommen auf die ursprüngliche Idee, etwas finden Joschka Fischer und so weiter, dass sie gesagt haben: müssen – organisatorische Strukturen – die nicht unbe- „Wir wollen nicht die Strukturen des Parlamentarismus dingt Bewegung sind. wiederholen und reproduzieren, also hierarchische Strukturen, Delegationen und entsprechenden Entfrem- Du hast ja gerade beschrieben, dass ihr euch in so eine dung, sondern wir wollen basisdemokratische Struk- Art Sackgasse hineinmanövriert habt: bei euch verstärkte turen.“ Wenn das heutige Grüne hören, denken sie an Repression – die Grünen gehen durchs Parlament. War einen Putsch, den Kommunismus. Aber nein, das war das die Krise, die wir bereits erwähnt haben? Warum auf ihre Gründungsidee! Damit haben sie natürlich relativ einmal L.U.P.U.S.? Warum auf einmal ein theoretischer viele Leute gewinnen können. Interessante Idee von den Klärungsprozess? Grünen – und das ist alles baden gegangen. Diese Wand- lung haben wir in Frankfurt sehr konkret mitbekommen. Die autonome L.U.P.U.S.-Gruppe wurde während den Und irgendwann sind sie uns als politische Gegner libertären Tagen deutlich wahrgenommen, da haben wir entgegengetreten. Das war schon in den 80er-Jahren, in ganz große Papiere geschrieben. Über diese ganze Politik
6 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 – Internationalismus, Trikont, Befreiungskämpfe – haben Bezogen auf die Gegenwart heißt das: Welche Rolle wir auch schon vorher geschrieben, nur das ging dann spielt die AfD? Ist sie wirklich das „Rechtsaußen“ oder unter oder man hat es unter anderen Namen publiziert. ist sie die Bereitstellung einer Option, die es schon in den Es war 1986 nur so, dass wir gesagt haben, wir müssen 20er- und 30er-Jahren gab? Das sind Fragen, mit denen unsere theoretischen Auseinandersetzungen bündeln, beschäftige ich mich heute unheimlich intensiv. Damals wir müssen eine Debatte anregen und wir müssen natür- ging uns das am Arsch vorbei, weil es doch egal war, was lich der Sache auch einen Namen geben. Für uns war das die machen, wir machten, was wir für richtig hielten – damals ungewöhnlich, es gab ja kaum Namen. Und dann und das ist ein politisch katastrophaler Fehler! Wenn du natürlich reflektieren: Was ist mit der Politik der Grünen? die Risse im System nicht erkennst, läufst du gegen die Mit Parlamentarismus, bewaffnetem Kampf, militanten Wand. Du musst die Risse im System sowohl politisch und basisdemokratische Strukturen? Mit Strukturen, die als auch ökonomisch als auch ideologisch erkennen. Die vielleicht auch so etwas wie eine Partei sein könnten? muss man mitberücksichtigen und das kann keine Bewe- gung. Das ist alles in der Zeit auf den Tisch gekommen und wir haben versucht, uns durch die verschiedenen Kapitel der Du hast von einem Fehler gesprochen, von einer Geschichte der Linken durchzuschlagen. Na ja, ich weiß Einsicht, die du retrospektiv gewonnen hast. Ist die nicht, ob wir in dieser historischen Dimension gedacht Geschichtsschreibung, zu der du und ihr mit euren dama- haben – aber wir haben schon gedacht, dass es vielleicht ligen Texten aus der L.U.P.U.S.-Gruppe beigetragen habt, eine Chance ist, 1986 diese Debatten zu führen und viel- nicht gelungen? Denn obwohl die letzten großen Veröf- leicht aus der Falle des Militarismus heraus zu kommen; fentlichung der L.U.P.U.S.-Gruppe diese Erfahrungen der uns nicht mehr in der Repression zu erschöpfen; zu über- vorherigen Jahrzehnte dokumentierten, kommst du zehn legen, was wir falsch gemacht haben, abgesehen davon, Jahre später in einem Interview zu dem Ergebnis, dass dass wir eben zu schwach waren. Und es war unser nur ein kleiner Teil der Anwesenden auf deinen Veran- Anliegen, auch organisatorische Strukturen aufzubauen. staltungen sich auf bestimmte Texte der autonomen Das war damals die Intention und die Hoffnung, aber es Geschichte beziehen kann, während das für den größten war völlig klar – ich glaube, da lagen wir nicht falsch Teil exotisch und weit entfernt ist, wie für euch damals die –, dass die Bewegungen Mitte der 80er-Jahre, egal ob Geschichte des spanischen Bürgerkrieges 1936–39. Wie Frauenbewegung, Anti-AKW-Bewegung oder antimili- erklärst du dir diese Distanz? taristische Bewegung, an die Grenzen ihres guten Poten- tials kamen. Und es ist natürlich sehr spannend, wie man Ich glaube, meine Kritik von damals trifft auch nach damit umgeht. Also weder die Bewegung zu instrumen- weiteren zehn Jahren noch zu. Ich habe immer darunter talisieren noch umgekehrt eine Struktur oder eine Partei gelitten, dass wir zu sehr auf unsere eigenen Füße zu schaffen, die über alles hinweggeht. Ich glaube, das schauen und auf die allerletzte Verletzung. ist bis heute aktuell. Ein Versuch, die welthistorische Situation einzu- Kannst du das Potential einerseits und die Grenzen ordnen, in der wir uns bewegen, ist notwendig. Es reicht andererseits noch etwas ausführen? Es wäre auch span- nicht zu sagen: „Wir machen das und das ist richtig!“ nend zu hören, was deine Einschätzung ist, warum es Wenn Leute zum Beispiel sagen, dass die Startbahn- eben nicht gelungen ist, die Grünen einzuholen, ihnen bewegung gescheitert ist und dass das alles gar keinen etwas entgegenzusetzen oder sie vielleicht auch wieder Sinn gemacht hat: Da musst du kapieren, dass damals ins Boot zu holen. Gab es eine Alternative, einen Schritt, 30.000 Leute auf der Straße waren! Dass Fraport eine der nicht gegangen wurde? Regierung ist! Wenn wir damals gewonnen hätten, dann wäre die hessische Regierung vermutlich zusammenge- Ja, es war zu wenig. Aber große Bewegungen, ob anar- brochen. Fraport ist die nicht gewählte Regierung! Und chistische im spanischen Bürgerkrieg oder die Räte- darüber muss man sich im Wald, draußen an der Start- bewegung 1918/1919 in Deutschland, hatten auch nur bahn, Gedanken machen.Ich meine, das hat uns gefehlt eine kurze starke Phase. Oder in der Sowjetunion: Räte und ich würde sagen, das haben wir 1986 mit den liber- versus Partei. Und ja, dieses Bewegungs-Ding – es ist tären Tagen adressiert. Das war für die damalige Zeit ein notwendig und es ist automatisch ab einem bestimmten ungewöhnliches Ereignis, wo Autonome und Anarchi- Punkt kontraproduktiv. Ich glaube, die allergrößte sten, 2.000 bis 3.000 Leute, zwei oder drei Tage disku- Herausforderung ist zu wissen, wie man mit einer poli- tiert haben wie blöd, ohne einen Stein zu werfen. Das ist tischen Analyse umgeht, also zu fragen: In welchen schon eine irre Leistung, besonders mit diesen schwie- Verhältnissen bewegen wir uns? Das heißt weit über das rigen Texten und Themen. Morgen und das Gestern hinausgehen: Was passiert in den nächsten Jahren? In was für einem kapitalistischen Natürlich ist es eine wichtige Frage, inwieweit man auch Zyklus sind wir? In welchem Zustand befindet sich die das Parlament zu einem politisch umkämpften Raum politische Klasse? Das haben wir uns als Autonome nie macht oder alternativ denjenigen überlässt, die prinzi- gefragt. Uns war es völlig egal, was die da oben denken piell gegen uns sind. Ich würde immer noch sagen, es ist und ob die sich jetzt zerstreiten oder sonst etwas. Heute nicht grundsätzlich falsch, ein so öffentliches Terrain wie würde ich sagen, das ist ein ganz großer Fehler. das Parlament zu nutzen. In den 80er-Jahren in Wuppertal
7 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 haben Autonome einen Wahlkampf gemacht. Die haben aufwand für irgendwelche 50, 100 oder 300 Faschisten, das ganze Wahlkampfgeld abgezockt und haben ihre die da aufmarschiert sind.Was mich am Beispiel des NSU autonomen Inhalte in die Liste der Unwählbaren einge- interessiert hat, ist eine Geschichte, die für die Linke bracht. Sie haben versprochen, im Parlament nie irgen- unglaublich zentral ist: Welche Rolle spielen neofaschi- detwas Vernünftiges zu machen, sondern nur das ganze stische Gruppierungen im Kontext staatlicher Struk- Geld und den Ort der öffentlichen Rede und Widerrede turen, die sie fördern, wie der Verfassungsschutz? Wie auszunutzen. Wenn man so denken würde, dann wäre für sind diese Strukturen genau beschaffen, wenn der Staat mich auch ein Ort wie das Parlament nicht tabu. Ich meine: über den NSU, eine im Untergrund operierende Gruppe, Warum diesen Ort den anderen überlassen? Darüber zu Bescheid weiß. Wie machen sie das, wie treffen sie ihre diskutieren ist notwendig. Auch um zu wissen, warum Entscheidungen? Da gibt es innerhalb der Linken die man es nicht macht. Was ich trotzdem ganz wichtig finde, verrücktesten Ideen, etwa von einem verselbststän- das ist die Erfahrung mit der Ohnmacht, die ganz Viele in digten Geheimdienst, der macht, was er will. Da sage ich, den letzten zwei, drei, vier, fünf Jahren gemacht haben; ok, das ist eine These, die andere ist: Es gibt einen Unter- mit dem was sie tun, was nicht klappt, was nicht geht, grund im Staat, den tiefen Staat. Das ist ein Begriff, der was von vorneherein aussichtslos ist. Darüber muss man wissenschaftlich Hand und Fuß hat, in der Wirklichkeit reden und das ist überhaupt nicht schlimm, sich da die auch. Karten auf den Tisch zu legen. So wie ich sage, 1985/86 war das, was machbar war, ausgereizt. Wir waren da mit Aber was ist es jetzt? Die dritte Möglichkeit, die es den Möglichkeiten, die wir hatten, am Ende. Das ist nicht beim NSU gibt, ist, dass die Bullen rassistisch, schlampig schlimm. und blöd sind und dass sie deswegen die Sachen nicht sehen. Diese drei großen Theorien gibt es. (Theorien ist Du hast die Partei der Unwählbaren erwähnt, die von großzügig gesagt.) Es gibt keine historische Situation Autonomen organisiert wurde. War das die Beerdigung für mich, in der man diese Fragen so genau beantworten der Autonomen? kann, wie am Beispiel des NSU. Das hat etwas mit den Rissen zu tun, die ich erwähnte. Es gibt manchmal Risse Wir haben es allgemein nicht geschafft, eine Struktur im System, da fällt Licht durch. Die sind am Beispiel des zu entwickeln, die dauerhaft ist, die nicht bewegungsori- NSU sichtbar geworden. Es gab natürlich auch massive entiert, nicht skandalorientiert ist. Ich glaube, das ist eine innere Spannungsrisse bei uns: Warum haben wir nicht Menschheitsfrage, das ist nicht nur eine Autonomen- früher den NSU bekämpft? Warum lässt man Migranten Frage. Zum Beispiel: Warum ist Russland, damals die einfach umbringen? Aber auch in der Regierung kommen Sowjetunion, das geworden, was es heute ist? Das war solche Fragen auf den Tisch: Wie kann es kommen, nicht nur der Feind. Die entscheidende Frage ist: Welche dass wir eine Struktur fördern, begleiten, beobachten, inneren Strukturen haben dazu beigetragen, dass die die unseren eigenen Regierungspräsidenten, Walter Sowjetunion 1989 implodiert, einfach in sich zusammen- Lübcke, umbringt? gebrochen ist? Der Grund dafür lag nicht nur im Verhalten des Westens gegenüber der Sowjetunion. Diese Fragen Hier müssen wir ansetzen. Ich könnte an bestimmten musst du angehen. Woran lag es? Lag es nur an ein paar Punkten sehr genau beantworten: Wie waren die Struk- verrückten Führern? Nein, es sind Strukturen, die so turen? Welche Institutionen spielten eine Rolle? Die etwas möglich machen, die dann zu solchen Personen Polizei spielte zum Beispiel eine mäßige Rolle. Für die führen, die man anklagt, die Idee zu verraten. antirassistischen Gruppierungen sind es immer die Bullen, die rassistisch sind. Ich versuche ihnen dann Kommen wir jetzt zu deiner aktuellen Tätigkeit. Du immer zu erklären, dass es bestimmte Beispiele inner- warst in den letzten Jahren viel journalistisch tätig. Zum halb des NSU-Komplexes gibt, die beweisen, dass es Beispiel auf deinem Blog, mit dessen Hilfe wir viel über nicht die Bullen waren, auch nicht die rassistischen die Geschichte der Autonomen lernen konnten, aber Bullen. Das ist keine Frage mehr von Spekulationen, auch gemeinsam mit dem Recherchenetzwerk Exit. Was Verschwörungstheorien oder irgendwelchen Spinne- bedeutet diese Arbeit für dich in Bezug auf deine politi- reien. Nein, in den zehn Jahren ist Material öffentlich schen Ziele? geworden, mit denen diese drei Fragen zu beantworten sind. Das ist historisch unglaublich wichtig für uns, wenn Ich glaube, da berühren wir sehr viel von dem, was wir uns einer Nazi-Demonstration entgegenstellen oder schon angesprochen wurde. Ich sagte es bereits: An wenn es einen NSU 2.0 gibt. Wie hängt das zusammen, diesen Punkt kommen alle Bewegungen ‒ auch die Auto- auf was müssten wir uns einlassen, was greifen wir poli- nomen sind an den Rand ihrer Möglichkeiten gelangt. An tisch an? diesem Punkt jammerst du entweder oder leckst Wunden oder du versuchst zu kapieren: Was haben wir gesehen, Du hast die antirassistische Linke angesprochen, in der was konnten wir nicht sehen? Am NSU/VS-Komplex das Problem auf Seiten der Polizei verortet wird. Andere gibt es eine zentrale Sache, die unglaublich fruchtbar Teile der gesellschaftlichen Linken sehen in politischen für mich war. Mit faschistischen Gruppierungen hatte Führungspersonen wie Salvini oder Trump Faschi- man die letzten Jahrzehnte in Frankfurt nie viel zu tun. sten. Du hast dich mit der Genese und Entwicklung von Es war mehr Hokuspokus und unglaublich viel Energie- faschistischen Bewegungen und Gruppierungen auch
8 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 in deinem Buch zum NSU/VS-Komplex1 auseinanderge- Auf die Situation in den USA übertragen, wo Trump setzt, wie schätzt du die gegenwärtige Rede von einem teilweise als Faschist bekämpft wurde und der Wahl- entstehenden Faschismus ein? sieg Joe Bidens auch von Linken als Erfolg – eben gegen den Faschismus – gefeiert wurde, muss man fragen: Seit Schön, dass ihr es ansprecht. Zwei Drittel meines wann genügen der Linken sozialdemokratische Wahler- Buches zum NSU/VS-Komplex ist Recherche für den folge? Versuch, die angesprochenen drei Fragen zu beant- worten. Dann gibt es aber noch ein ganzes Drittel, da Das ist etwas ganz Zentrales: Die AfD hier, Le Pen in geht es um Faschismustheorien seit den 20er-Jahren. Frankreich, Trump in den USA, sie retten das System. In Deutschland gibt es exzellente Faschismustheorien. Bis in die Linke hinein sind sie froh über Joe Biden, der In den 20er-Jahren waren wirklich tolle Leute in linken ein imperialistisches Arschloch ist. Unter Trump gab es wissenschaftlichen Apparaten dabei, den aufkom- weniger Kriege als unter Obama. Aber Obama war ja bis menden Faschismus zu erklären, Theorien zu entwickeln hin zur Queer-Szene, bis hin zur schwarzen Community und sie verfügbar zu machen. Ich habe das in dem letzten eine Lichtgestalt – und der lächelt auch so nett! Doch Drittel dargestellt. Ich sage jetzt nur zur Gegenwart und es geht um die Strukturen dahinter, das worüber wir Präsenz dieser Frage: Bei ungefähr 100 Veranstaltungen, geredet haben. Joe Biden ist eine Null. Trump ist eine die ich in den letzten fünf Jahren gemacht habe, ist kein Null. Diejenigen, die nie gewählt werden, die sind immer einziges Mal dieses letzte Drittel thematisiert worden. an der Macht. Es ging immer um Skandal, es ging immer um die Rolle des Verfassungsschutzes, um Heilbronn, um die toten Es gibt in den USA ja das geflügelte Wort von dem Zeugen. Das meine ich damit, nur vor die eigenen Füße ehemaligen US-Präsidenten Eisenhower, dass der zu schauen. Das größte Problem ist, das ist durchweg bei militärisch-industrielle Komplex das Sagen hat. Auf allen Veranstaltungen von Norden bis Süden so gewesen, jeden Fall Personen, die nicht gewählt werden. Die dass es keine Bereitschaft gibt, sich damit auseinander- sind bei Joe Biden wie bei Trump am Tisch und es sind zusetzen, welche Faschismustheorie das erklären kann, dieselben. Aber wenn die Linke meint, sie hätte jetzt was gerade passiert. Wo sind wir heute? Was ist Trump, den Faschismus bekämpft, indem sie Trump aus dem was ist Macron in Frankreich, was ist Salvini in Italien? Weißen Haus gejagt hat, dann verleugnet sie eigentlich Welche Rolle spielt die AfD? Es gibt keine öffentliche all die notwendigen Kämpfe, die wichtig sind, damit ein Debatte dieses letzten Drittels. Das könnte ich auch raus- Joe Biden nicht die Antwort ist. Die Linke betreibt auch in reißen aus dem Buch und es würde nicht auffallen. Für Deutschland in den letzten Jahren keine eigenständige mich ist das deprimierend, weil diese Fragen notwendig oppositionelle Politik, sondern ist im Prinzip im Baby- zu stellen sind – um etwa einzuschätzen, welche Rolle wagen der Großen Koalition mitgefahren und merkt gar der NSU spielt und andere Gruppierungen, die es ja nicht, wie überflüssig sie sich macht. Aber natürlich heißt immer noch gibt. Das Entscheidende verstehe ich nicht: es immer: „Wir müssen Höcke verhindern!“ Das erklärt Es gab den Faschismus, es gibt bei den Herrschenden die auch gleichzeitig, warum es die AfD für die politische Erfahrung mit dem Faschismus und was er hinterlassen Klasse geben muss: weil es sonst ja keinen Unterschied hat. Ich behaupte, bei den Beispielen, die wir in Griechen- mehr gibt zu „richtig scheiße“. Ich finde die Verhältnisse land, Frankreich, Italien und ich glaube auch in Deutsch- auch ohne AfD und Höcke nicht aushaltbar und für eine land haben, wird möglichst viel getan, um keine Option Gesellschaft, die glücklich sein könnte aufgrund der in Richtung Faschismus zuzulassen. Also möglichst technischen Möglichkeiten und aufgrund des materi- den Fehler der 20er- und 30er-Jahre zu vermeiden. Das ellen Wissens, finde ich es fürchterlich, einen Skandal. widerspricht überhaupt nicht der Tatsache, dass man So eine Gesellschaft immer weiter fortzuführen, immer sich den NSU hält, dass man die Morde nicht verhindert, wieder zu verlängern und mit ganz viel Ohnmacht und dass man diese Angst-Stimmung, die dadurch entsteht, Enttäuschung auszukommen, die man damit produziert nutzt. Das ist kein Widerspruch. Wenn du heute über – ich finde das untragbar. Ich brauche keine AfD, um mit Faschismus reden willst, dann musst du immer davon den Verhältnissen unzufrieden zu sein. ausgehen: Er hat ganz viel zerstört, er hat ganz Vieles gar nicht einlösen können. Das ist immer in der Rechnung, Wir haben viel über die Problematiken einer Partei wenn in Frankreich nicht Le Pen drankommt, sondern gesprochen: Wäre es fürchterlich, jetzt eine Partei zu Macron. In Griechenland kam nicht die faschistische gründen? Goldene Morgenröte an die Macht, sondern eine „Linke“. Das war in einem gewissen Sinn geduldet bis gewollt; Eine solche Option würde voraussetzen, dass es eine man musste Syriza zurechtschneiden, bis sie reformi- ganz starke außerparlamentarische Bewegung gibt, stisch und brav war, aber man hat nicht auf die Option der die organisiert ist, die strukturiert ist, die stark ist; die Goldenen Morgenröte gesetzt. Eine Linke muss darüber die Partei führt. Also nicht die Partei für die Bewegung, nachdenken, warum das nicht passiert ist. Oder warum sondern umgekehrt. Das was die Partei von außen poli- die politische Klasse in Frankreich mit La République tisch organisiert, müsste sich eigenständig organisieren, en Marche eine eigene Partei gründet, wo es eine starke so könnte es Ausdruck in einer Partei finden. Wobei man faschistische Partei gibt? dann aus den Erfahrungen der Grünen lernen muss, denn die Idee am Anfang, mit dem Spiel- und dem Standbein, war nicht schlecht. Im Prinzip haben sie ein imperatives
9 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 Mandat eingeführt, mit den zweijährigen Perioden. Ich glaube auch, dass man bei einer Partei oder einer ZUR Struktur, die wir finden müssten, bestimmte Sachen verhindern kann, dass man sehr wohl aus den Erfah- REKONSTRUKTION rungen lernen kann. Der NSU, Walter Lübcke, Aufklärung, Parlamentari- REVOLUTIONÄRER scher Untersuchungsausschuss und rassistische Grup- pierungen stellen uns vor die Frage: Wie gehen wir damit THEORIE BEI um? Ich glaube, dass ganz viel notwendig wäre, um zu kapieren, welche Rolle spielte der NSU, welche Rolle spielen staatliche Institutionen, welche Rolle spielen die HANS-JÜRGEN KRAHL politischen Parteien, die darum wissen, was da passiert oder nicht passiert? Welche Rolle spielt die AfD? Das Ein Schlaglicht auf das habe ich ja gerade schon beschrieben – jetzt zum Abschluss kann man ja ein bisschen böse werden –: Für Verhältnis von Marxismus und die Linke ist es gut, dass es die AfD gibt, denn so muss sie sich nicht mit der Politik auseinandersetzen, die sie aus Revolutionstheorie Ohnmacht hinnimmt. von Marcel Kleufer Die AfD ist dagegen ein Kindermädchen, die haben gar nicht die Macht. Wenn ich den Rassismus und den Als Hans-Jürgen Krahl im Alter von 27 Jahren am Nationalismus bekämpfe, dann ist es natürlich wichtig, Abend des 13. Februar 1970 in einem Autounfall starb, die AfD da einzuordnen. Aber noch wichtiger ist es, die war dies gleichbedeutend mit dem Ende der antiauto- Wirklichkeit zu begreifen. Wer hat zurzeit die Macht, für ritären Studentenbewegung in Westdeutschland und rassistische Verhältnisse zu sorgen, etwa an den Außen- hatte die offizielle Auflösung des Sozialistischen Deut- grenzen, wo Monat für Monat Tausende sterben, wo mit schen Studentenbunds (SDS) zur Folge. Hans-Jürgen faschistischen Regimen zusammengearbeitet wird, um Krahl gilt heute neben Rudi Dutschke als zweiter Kopf die Außengrenzen zu sichern? Jahr für Jahr werden die des SDS, als der intellektuelle Kopf der Studentenbe- Fluchtursachen organisiert und es entstehen Verhält- wegung, als marxistischer Robespierre von Frankfurt nisse, die nicht nur an den europäischen Außengrenzen Bockenheim und als der Quälgeist Theodor W. Adornos. zu sehen sind. Die AfD hat an keinem einzigen Punkt Krahls Marxismus, der sich allen voran in posthumer einen Fuß in der Tür, die Regierungsparteien schon. Ich Niederschrift mündlicher Aussagen nachvollziehen glaube, man kann manchmal in einer Nebenstraße noch lässt, behandelt weitgehend die Aktionen der Studen- eine kleine Schlacht führen, aber man muss wissen, wo tenbewegung und hat in einem sehr strikten Sinne seine die Hauptstraße ist. Man kann sich manchmal in einer Grenzen an den Themen seiner Zeit, die sich in gege- Seitenstraße verstecken, aber ganz wichtig ist es, dass bener Kürze nur reduziert und in eklektischer Auswahl man weiß, wo die Hauptstraße ist. Ich glaube diese vorstellen lassen. Krahls Thema probandum von 1967 Diskussion um das kollektive Wissen, was wir uns erst bis 1970 war dabei die Theorie der Revolution im Spät- aneignen müssen, die fehlt ganz stark. Das vermisse ich kapitalismus. sehr.|P PROPAGANDA DER SCHÜSSE UND 1 Wolf Wetzell: Der Rechtsstaat im Untergrund. Big Bro- PROPAGANDA DER TAT ther, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität, Köln 2015. Für Krahl bedeuteten der erfolgreiche Widerstand des vietnamesischen Volkes gegen die gigantische technologische Gewaltmaschine der USA, das sozialistische Modell Kuba und die revolu- tionären Kämpfe der Guerilleros in Lateinamerika […] die qualitativ neue weltgeschichtliche Aktualität der Revo- lution.1 Es sei für ihn nicht nur offensichtlich, dass die Armee der USA am Widerstand in Vietnam scheitern könne. Zusätz- lich, so Krahl in seiner Rede auf dem Berliner Vietnam- Kongress im Februar 1968, deuteten Widersprüche zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den Vereinigten Staaten darauf hin, dass das System
10 Platypus Review | Ausgabe #17 | Winter 2021/2022 des Spätkapitalismus im internationalen Maßstab vulne- für diesen Konflikt war zunächst die Auseinandersetzung rabel sei. Dabei war für Krahl Georg Lukács‘ Kategorie der mit Habermas, der zu Krahls Privatfeind werden sollte. „Aktualität der Revolution“ maßgeblich, mit der Lukács Aber auch Adorno wurde Stück für Stück in den Konflikt das Zentrum von Lenins Denken und Aktion bezeichnete, hineingezogen. Schon im Juni 1967 auf einem Kongress gleichsam Gegenwart, Legitimität und Möglichkeit der in Hannover, der nach der Beerdigung des von einem Revolution.2 In seinen Angaben zur Person schilderte Polizisten am 2. Juni erschossenen Benno Ohnesorgs Krahl im Oktober 1969 seinen persönlichen Werdegang stattfand, wurde der Grundstein für den Konflikt gelegt. vom rechtsextremen Ludendorff-Bund, zur CDU und Dort sprach sich Krahl für eine Taktik friedlicher Provo- schließlich zum SDS, von Meister Eckhardt, über Martin kation aus und votierte für eine Praxis an der Hochschule, Heidegger, zum logischen Positivismus und schließlich die von direkter Kritik in Seminaren bis zu „Destruk- zu Karl Marx. Indirekt lernen wir dadurch auch über den tion des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes und der politischen Bildungsprozess der Studentenbewegung: Errichtung qualitativer Gegenseminare“ reichen sollte.6 Die Kämpfe in der Dritten Welt boten den Studenten Veränderungen von Hochschule und Gesellschaft waren einen veränderten Bezugspunkt, der sowohl eine Distan- für ihn komplementär. Mit Bezug auf Habermas, der vor zierung von der Sowjetunion, der Theorie der friedlichen einer masochistischen und voluntaristischen Praxis der Koexistenz, als auch vom Kapitalismus und Antikommu- Studenten warnte, verwarf Krahl das aus der „tradi- nismus der Bundesrepublik der Nachkriegszeit ermög- tionellen Dezisionismuskritik“ stammende Argument, lichte. Der verbale Bezug auf diese Kämpfe drückte eine dass die „Provokation von Gewalt faschistisch sei“.7 Bewusstseinsalternative aus. In der Dritten Welt trat Wenig später äußerte Habermas in Erwiderung auf Rudi für Krahl der Charakter des Spätkapitalismus offen zu Dutschke, aber mit indirektem Bezug auf Krahl, dass Tage: Es herrsche offene und terroristische Unterdrüc- dieser „eine voluntaristische Ideologie entwickelt [hat], kung. Die Solidarität mit dem Widerstand in der Dritten die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt Welt habe den Studenten ermöglicht, die Gewalt der hat, und der unter heutigen Umständen […] linken Ausbeutung, die auf Tauschverkehr und Vertrag beruhe, Faschismus nennen muß [sic].“ 8 Der Linksfaschismus- zu durchschauen: „Che Guevara, Fidel Castro, Ho Tschi Vorwurf machte Schlagzeilen.Im Organisationsreferat Minh und Mao Tse-tung sind Revolutionäre, die uns eine antworteten Dutschke und Krahl auf Habermas: politische Moral kompromissloser Politik vermittelten.“ 3 Durch die globale Eindimensionalisierung aller Schon im Organisationsreferat mit Dutschke im ökonomischen und sozialen Differenzen ist die damals September 1967 spielte die Dritte Welt und insbesondere praktisch berechtigte und marxistisch richtige Anarchis- der Guerillero eine zentrale Rolle. In diesem Referat, muskritik, die des voluntaristischen Subjektivismus, daß das die antiautoritäre Ausrichtung des SDS während der Bakunin sich hier auf den revolutionären Willen allein Hochphase der Studentenbewegung begründen sollte, verlasse und die ökonomische Notwendigkeit außer acht forderten Dutschke und Krahl die „Urbanisierung ruraler lasse, hinfällig.9 Guerilla-Tätigkeit“ durch Ergänzung der Und noch im Mai 1968 behauptete Krahl: „Die seiner- „Propaganda der Schüsse“ (CHE) in der „Dritten zeit praktisch richtige und theoretisch wahre Polemik Welt“ […] durch die „Propaganda der Tat“ in den Metro- Marxens gegen den idealistisch abstrahierenden Volun- polen […]. Der städtische Guerillero ist der Organi- tarismus der Bakunisten scheint vom kapitalistischen sator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Geschichtsverlauf selbst außer Kraft gesetzt.“10 Dem Systems der repressiven Institutionen.4 entgegnet Adorno wiederum im Frühjahr 1969 in seinem Rundfunkvortrag Resignation, bei dem Titel und Themen Diese Aussagen, die sowohl auf Dutschkes Beschäf- auf Vorwürfe Krahls verweisen: tigung mit Régis Debray, als auch auf das Pathos der großen Weigerung Herbert Marcuses bezogen sind, Auch politische Tathandlungen können zu Pseudo- verweisen ebenfalls – und das ist wohl Krahl zuzu- Aktivitäten absinken, zum Theater. Kein Zufall, daß die rechnen – auf Carl Schmitts Theorie des Partisanen. Der Ideale unmittelbarer Aktion, selbst die Propaganda faschistische Staatsrechtler und Theoretiker des Dezi- der Tat, wiederauferstanden sind, nachdem ehemals sionismus bestimmte die Irregularität als Grundmerkmal progressive Organisationen sich willig integrierten des Partisanen, der bei Dutschke und Krahl als Gueril- und in allen Ländern der Erde Züge dessen entwickeln, lero figurierte.5 wogegen sie einmal gerichtet waren. Dadurch aber ist die Kritik am Anarchismus nicht hinfällig geworden. Seine Wiederkehr ist die eines Gespensts.11 ANTIAUTORITARISMUS UND LINKSFASCHISMUS Sowohl die Erwähnung der „Propaganda der Tat“ als Das Organisationsreferat hatte nicht nur einen auch die Zurückweisung des Anarchismus bezogen sich verbandsinternen, sondern auch einen spezifisch auf das Organisationsreferat und spätere Aussagen lokalen Kontext: den „Hausstreit“ zwischen Krahl und Krahls. Hier ist nicht nur bereits der grundlegende den Leuten, die ihn umgaben, auf der einen und Jürgen Konflikt zwischen den Frankfurter Schülern und den Habermas und Adorno auf der anderen Seite. Treibend Lehrern angelegt, die mit der Besetzung des Instituts für
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