Delinquenz der Protagonistin Aileen Wuornos im Kinofilm Monster
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Delinquenz der Protagonistin Aileen Wuornos im Kinofilm Monster Der Film Monster lief erstmals im April 2004 in den deutschen Kinos und beruht auf einer wahren Begebenheit. Dargestellt werden schwerpunktmäßig zwei Jahre aus dem Leben der Prostituierten Aileen Wuornos, die in den Jahren 1989 bis 1991 insgesamt sieben Männer tötete und am 09.10.2002 als erste Serienmörderin der Vereinigten Staaten von Amerika hingerichtet wurde. Die Protagonistin vereinigt verschiedene Konzepte des Delinquenzbegriffes in sich, die im Folgenden Gegenstand der Diskussion sein werden. Dabei wird der Delinquenzbegriff als graduell betrachtet, das bedeutet, dass es einen weichen und einen harten Delinquenzbegriff sowie etliche Zwischenstufen gibt. Der harte Delinquenzbegriff ergibt sich aus der Definition des „Delinquenten“ laut Duden: „jmd., der straffällig geworden ist“ 1 . Hier steht vor allem der tatsächlich kriminelle Aspekt im Vordergrund, das heißt im konkreten Fall von Aileen Wuornos die Morde an ihren Freiern. Aber auch das weniger an Straftaten angelehnte Verständnis von Delinquenz als „Verstoß gegen gesellschaftliche Normen, die nicht notwendigerweise auch rechtliche Normen sein müssen“ 2 findet im Film seine Entsprechungen. Einerseits wird sich die Protagonistin gleich zu Beginn des Filmes ihrer Homosexualität bewusst, zum anderen – und durchaus problematischer im Sinne der Strafbarkeit anzusehen – ist ihre ,berufliche’ Tätigkeit als Prostituierte. Bei Letzterem wird der Maßstab für das delinquente Verhalten die damals bestehenden Gesetzmäßigkeiten der USA in Bezug auf Prostitution sein und nicht das heutige Verständnis, wonach Prostitution durchaus als legaler Berufsstand angesehen wird. Nachdem die verschiedenen Fälle und Abstufungen der Normabweichungen näher betrachtet worden sind, bleibt die Frage, inwiefern die Gesellschaft an diesen Abweichungen Anteil nimmt, bzw. ob und auf welche Weise sie sie überhaupt erst heraufbeschwört. Hierbei wird der Schwerpunkt vor allem auf den im Film gezeigten Delinquenzfällen liegen, solche, die im Film nicht behandelt werden, wie zum Beispiel Aileens fragwürdig motivierte ,Bekehrung’ zum Christentum durch ihre Adoptivmutter und Pressesprecherin, den Prozess und die ,Vermarktung’ ihres Straffalles können hier nicht thematisiert werden. Um die Vermischung von historischen Personen und Filmfiguren zu vermeiden, werden die Filmfiguren durch die Benennung mit ihren Vornamen, die realen Personen durch die Verwendung des vollen Namens gekennzeichnet. In dieser Hinsicht ist noch zu beachten, dass die im Film mit Selby Wall titulierte Partnerin Aileens in der Realität den Namen Tyria Moore trägt. Das häufig im Film thematisierte Phänomen der Homosexualität entspricht zwar nicht der Dudendefiniton von Delinquenz, kann aber durchaus als ein Fall der Normabweichung angesehen werden, da es sich hierbei um eine gesellschaftliche Minderheitsgruppenerscheinung handelt. Daneben muss berücksichtigt werden, dass, ähnlich wie im Fall der Prostitution, im letzten Jahrhundert das Ansehen der Homosexualität noch eindeutig negativer beladen war, als es heute nach etlichen Gleichstellungsgesetzen ist. In Nick Bloomfields Dokumentation Aileen – Life and Death of a Serial Killer, die 2003 mit dem Amnesty International Doen Award ausgezeichnet wurde, sagt eine Frau aus: „Ich kann mich nicht erinnern, dass in der Schule jemand lesbisch war. Bis vor 10 Jahren gab es diesen ganzen Lesbenkram überhaupt nicht. Vielleicht waren es auch 15“3 . Somit ist die Homosexualität im Film „Monster“ in beiden Fällen ein Fall von Normabweichung; bei Aileen mangels Bezugsfeld weniger problematisiert, bei Selby durch deren Familie explizit ausgedrückt. 1 Drosdowski, Günther; Müller, Wolfgang; Scholze-Stubenrecht, Werner; Wermke, Matthias (Hgg.). Duden. Band 5. Fremdwörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. 51990. S.170. 2 Liebrand, Claudia. Kommentar zur Lehrveranstaltung Delinquenten. Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. 2004. Köln. S.32. 3 Broomfield: Nick. Aileen-Life and Death of a Serial Killer. e-m-s new media AG. 2004. TC 36:26 – 36:39 1
Aileens Homosexualität bezeichnet den vielleicht am wenigsten zur Kenntnis genommenen Delinquenzfall des Filmes. Hier muss die weichste Begriffsdefinition zugrunde gelegt werden, nämlich das Verständnis eines Delinquenten als Außenseiter. Diese Problematik ist aber auf Aileen nur eingeschränkt anwendbar; sie ist zum Zeitpunkt ihrer ersten homosexuellen Partnerschaft ohnehin Außenseiter in jeder Hinsicht und steht kurz davor Selbstmord zu begehen. Vor diesem Hintergrund erweist sich ihre ,Flucht’ in die Homosexualität als Ausgangspunkt für einen versuchten Lebenswandel. Ihrer Partnerin zuliebe versucht Aileen sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Sie möchte der Norm entsprechen, „aussteigen“ 4 und „anständig“ (TC 28:41) werden. So scheint die Hinwendung zu Selby zunächst ein Schritt aus der Prostitution und eine Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft zu sein, nicht aber die Konfrontation mit bestehenden gesellschaftlichen Normen. Und „obwohl man weiß, was geschehen wird, scheint sich die Geschichte zu diesen frühen Zeitpunkt noch in alle Richtungen entwickeln zu können“ 5 . Als sich ihre Pläne von einer normalen Arbeit und einem festen Wohnsitz aber mangels beruflicher Qualifikation (kein Schulabschluss, keine Ausbildung) nicht erfüllen, gewinnt die Dimension der Homosexualität jedoch eine neue Bedeutung. In Selby scheint Aileen erstmals eine Person zu finden, die sie um ihrer selbst willen liebt. Selbys Aussage „Du bist so schön“ (TC 6:17) wird zum Schlüsselsatz. Zusätzlich zu der Erfüllung ihres – in einer Art Prolog (TC 0:01 – 1:30) besonders hervorgehobenen – Traumes endlich „entdeckt“ (TC 0:50 – 1:15) zu werden, scheint die Gefahr körperlicher Misshandlungen, die sie durch ihren früheren Lebensgefährten erfahren hat, durch eine Frau als Partnerin zu sinken oder gar zu verschwinden. Aileen, die diese Liebe auf keinen Fall aufgeben möchte, ist daraufhin bereit, ihre Arbeit als Prostituierte wieder aufzunehmen, um ihrer Freundin den Lebensstandard bieten zu können, den sie verlangt. Als deren Ansprüche steigen, sinkt Aileens Hemmschwelle weitere Morde zu begehen, um an Geld zu kommen und der Grad an ,harter’ Delinquenz nimmt zu. Die anfänglich für Aileen selbst überraschende Tatsache, homosexuelle Neigungen zu haben (Aileen: „Hör zu, ich bin keine Lesbe, klar?“ TC 2:41 – 2:43), verursachen also noch im Vorfeld der Morde einen doppelten Vorzeichenwechsel in Aileens Lebens: zunächst die scheinbare Abkehr vom Leben als Prostituierte, dann aber den erneuten – verstärkten – Rückfall in die Rolle des gesellschaftlichen Außenseiters. So ist Aileens Homosexualität zwar allein nicht als bedeutsamer Delinquenzfall zu sehen, aber sie bietet unter den bestehenden Umständen doch die notwendige Basis für weitere Delinquenzfälle, die im Verlauf der Handlung deutlich an Härte zunehmen. Dass Homosexualität aber auch tatsächlich als Außenseitertum in der amerikanischen Gesellschaft der späten 1980er Jahre angesehen wurde, zeigt sich an Aileens Partnerin Selby. Sie verkörpert die junge Lesbe, die in einem scheinbar streng katholischen Haus bei Freunden ihres Vaters aufwächst, weil sie „von ihren Eltern […] nach Florida geschickt wurde, um von ihrer Homosexualität ,geheilt’ zu werden“ 6 . Sie wird dazu gedrängt, ihre Neigung zu verheimlichen. Des Weiteren wird ihr eine Arbeitstelle „zusammen mit einem ziemlich attraktiven, jungen Gentleman“ (TC 16:30) angeboten. Als Selby, die ihre Umgebung als „familiären Knast“ (TC 3:19) bezeichnet, sich trotz des Drängens der Freunde ihres Vaters dazu entschließt, weiterhin Kontakt zu Aileen zu haben, untersagen sie ihr die Beziehung. Nachdem Selby Aileen zuliebe ausgezogen ist, hat sie das Gefühl, sich nicht mehr bei ihrem Vater melden zu können und ihn um (finanzielle) Hilfe zu bitten. Reuters-Journalist Michael Reynolds bezeichnet Tyria Moores Homosexualität als „a touchy subject in the family” 7 und verdeutlicht die bestehende Devianz von Homosexualität im Bewusstsein der Gesellschaft, indem er schreibt: „Cadiz may have been Clark Gable’s hometown, 4 Jenkins: Monster. Newmarket Films & media 8 entertainment. 2004. TC 28:14. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Quelle nicht mehr explizit in den Fußnoten aufgeführt, sondern nur noch durch die Angabe des Timecodes markiert und belegt. 5 Nord, Christina. „American Psycho“. In: taz Berlin Nr. 7279 vom 09.02.2004. S.22. 6 Kaspar, Frank. „,Monster’: Blick hinter die Maske“. In: Online-Ausgabe des Kölner Stadtanzeiger vom 15.04.2004. http://www.ksta.de/artikel.jsp?id=1080836790760. 7 Reynolds, Michael. Dead Ends. New York: St. Martin’s True Crime Library. 102004. S.89. 2
but it was too small and too straight for Ty“ 8 . Dass Selby zum Zeitpunkt der Beziehung mit Aileen zudem noch nicht vollständig in ihrer Persönlichkeitsentwicklung ausgereift ist, scheint vor allem aus ihrem Verhalten hervorzugehen: Neben Theron agiert Christina Ricci in der Rolle der Freundin Selby, einer jungen Lesbe. An einem Tag legt sie sich Butch-Attribute zu, ein schweres Armband etwa, am nächsten Tag kauft sie einen Teddybär. Kaum hat sie ein paar Tage mit Wuornos verbracht, hält sie die Zigarette genau wie sie, eine Figur ohne Halt 9 . Die Figur der Selby weist noch etliche bedeutsame Fälle von Delinquenz auf, die nicht in direktem Bezug zu ihrer Homosexualität stehen, worauf später zurück zu kommen sein wird, doch um bei Aileen zu bleiben, soll nun zunächst das Thema Prostitution in den Fokus gerückt werden, welches sich wie ein roter Faden durch Aileens Leben zieht. Im Kindesalter wird sie von einem Bekannten sexuell missbraucht, als Teenager lässt sie erstmals Nähe gegen Bezahlung zu und im Erwachsenenalter dient ihr die Prostitution als Mittel zum Zweck ihr Überleben – und später auch das ihrer Freundin – zu sichern. Gelegentlich äußert sich die Protagonistin auch auf eine selbstreflexive Art über ihren Beruf. Dabei drückt sich Aileen teilweise recht drastisch aus und variiert dabei in ihrer Wertung zum Teil verhältnismäßig stark („scheiße“ TC 28:25 vs. „gar nicht so übel“ TC 28:29). Diese Eindrücke sind aber eindeutig emotional und situationsbezogen und werden daher nicht kritisch in den Gesellschaftskontext eingeordnet. Was Aileen als ,scheiße’ tituliert, ordnet sie nicht in den Bezugsrahmen ,gesellschaftsethisch falsch’ ein, sondern belässt es bei ihren subjektiven Empfindungen, die ihr zwar unterschwellig den Wunsch nach dem Ausstieg aufdrängen, aber immer wieder von Geldnot und Überlebensängsten zurückgedrängt werden. Der Delinquenzgehalt der Tätigkeit als Prostituierte muss in jedem Fall als im Wandel begriffen angesehen werden, zumindest in der heutigen Zeit. Zur erzählten Zeit des Filmes fällt die Prostitution eindeutig noch unter den Delinquenzbegriff des strafbaren Normverstoßes, wenn auch weniger extrem als Mord. Heute ist zumindest in Deutschland dieses Verständnis der Delinquenz auf die Ausübung der Prostitution nicht mehr anwendbar, da sie mittlerweile – zumindest dem Gesetz nach – ein anerkannter Beruf ist. Allerdings kann eine solche Erweichung des Delinquenzbegriffes in der heutigen Zeit nicht rückwirkend auf die im Film erzählte Geschichte angewendet werden und so muss Aileens Tätigkeit als straffällig relevantes und somit eindeutig delinquentes Verhalten gesehen werden. Einem Freier gegenüber formuliert Aileen eine Erklärung ihrer Tätigkeit als Prostituierte in ihrer unbeholfenen, bildlichen Sprache so: „Ich bin kein Friseurlehrling der nur shampoonieren kann, ich hab’ ausgelernt“ (TC 17:38 – 17:40). Hieraus geht die volle Identifikation mit dem Leben als Prostituierte in einem unteren sozialen Milieu hervor. Unterschwellig scheint sie aber auf irgendeine Art und Weise sogar stolz auf ihre Arbeit zu sein auch wenn sie nach eigener Aussage „scheiße“ (TC 28:25) ist. So stellt sie sich in einem ihrer Vorstellungsgespräche als Frau dar, die „harte Arbeit gewöhnt“ (TC 29:53) ist und „ein Leben lang mit Menschen zusammen gearbeitet“ (TC 30:02 – 30:04) hat. Gefördert wird diese Haltung vielleicht am ehesten durch Selby, die Aileen bei ihrem ersten Treffen für ihre Tätigkeit zu bewundern scheint. Sie vermittelt Aileen durch ihre naive Art („Die Männer müssen echt Schlange stehen um mit dir zusammen zu sein“ TC 10:22 – 10:24) das Gefühl bewundert zu werden. In Selbys Augen scheint die zu dieser Zeit in Amerika strafbare Tätigkeit als Prostituierte keineswegs ein Fall von Delinquenz zu sein, sondern eher etwas Interessantes, etwas Spannendes, etwas, das sich von ihrer katholischen Familienwelt abgrenzt. Tatsächlich gestaltet sich Aileens Verhältnis zu ihrem Beruf im Verlauf des Films recht unterschiedlich. Die Erlebnisse in der Kindheit geschehen eindeutig gegen ihren Willen, erst später wird die Prostitution Teil ihres Lebens, bevor sie durch die Vergewaltigung durch den damals 51- jährigen Richard Mallory (Name im Film geändert) dazu gezwungen wird, tiefer über ihre Tätigkeit und die gesellschaftliche Bedeutung ihres Berufes nachzudenken. Dass daraus dann weitere Morde 8 Ebd. S. 80. 9 Nord, Christina. „American Psycho“. In: taz Berlin Nr. 7279 vom 09.02.2004. S.22. 3
an Freiern erfolgen, kann als Konsequenz aus der Verkettung unglücklicher Umstände (finanzielle Notlage, Vergewaltigung, Mord aus Notwehr, Misstrauen in die Behörden, die Angst ihre Freundin zu verlieren und deren Ansprüche) gesehen werden, auch wenn der Film ausschließlich ,darstellen’ und nicht ,rechtfertigen’ will, so schreibt auch Kaspar im Kölner Stadtanzeiger: „In diesem Film wird nichts schöner gemacht, als es ist“ 10 . Ebenso wenig beschönigend schildert Anke Hofmann Wuornos Leben in ihrer Kindheit und frühen Jugend: Wuornos wuchs in Oakland in ärmlichen Verhältnissen auf. Gewalt war allgegenwärtig: Über Jahre wurde sie regelmäßig von einem Freund der Familie missbraucht, erstmals im Alter von acht. Als das verzweifelte Kind endlich sein Schweigen brach, prügelte der Vater noch zusätzlich auf seine Tochter ein. Mit 13 versuchte die längst psychisch gestörte Aileen der zerrütteten Familie zu entkommen und landete erst auf dem Strich, dann auf der schiefen Bahn 11 . Die käufliche Liebe spielt im Leben der Protagonistin schon seit ihrer Kindheit eine dominante Rolle. Gleich zu Beginn des Filmes erfährt der Zuschauer durch eine stark geraffte Rückschau auf Aileens Leben von der Bereitschaft, sich für Geld auszuziehen (TC 0:01 – 1:30). Später erzählt Aileen einem Freier auch von ihrem Missbrauch durch einen Bekannten ihres Vaters, von dem sie nach dem Missbrauch auch noch geschlagen wurde. Dass sie im Alter von 13 Jahren erstmals schwanger wird und ihr Kind zur Adoption freigibt, erfährt der Zuschauer später nur in einem Nebensatz (TC 29:40 – 29:43). Alle diese Vorfälle in der Kindheit weisen schon auf Aileens weitere Laufbahn hin. Daraus resultiert die Frage inwieweit diese Vergehen der Ausgangspunkt für den Werdegang der Protagonistin sind, oder wie Shoemaker es ausdrückt: „A persistent problem of […] explanations of delinquency, however, ist the lack of explanation as how social or societal conditions exert an influence over one’s behavior“ 12 . Im Film erfährt der Zuschauer lediglich, dass Aileen relativ früh das Elternhaus verlässt und sich recht schnell an ein Leben auf der Straße gewöhnt. Ihr weiterer Werdegang wird nicht näher ausgeführt, bis sie Selby trifft, so dass die Delinquenzentwicklung letztendlich in der filmischen Darstellung Lücken aufweist. Clarkson macht Aileens traumatische Erlebnisse in der Kindheit sogar für die Morde verantwortlich. In seinem Buch Wenn Frauen morden schreibt er über Aileens erstes Opfer: „Er verwandelte sich in ihren Vater, der sie tyrannisiert und immer wieder tätlich angegriffen hatte […] Jetzt wollte sie alle Erinnerungen an ihren Vater zerstören. Als Mallory sich niederbeugte, um seine Schuhe auszuziehen, zog sie die 22er Pistole aus der Tasche und schoß“ 13 . Allerdings scheint diese Darstellungsweise reine Spekulation zu sein, auch wenn der Klappentext des Buches verspricht, dass der Kriminalfall „so authentisch wie die Gerichtsprotokolle, die als Vorlage dienen“ 14 sein soll, da sich der Film, Prozessbeobachter wie zum Beispiel Michael Reynolds, Dokumentarfilmer Nick Broomfield und schließlich auch Aileen Wuornos selbst, für eine Tötung aus Notwehr im Fall Mallory ausgesprochen haben. Auch wenn sich in dem frühen Lebensabschnitt der Kindheit noch nicht die entscheidenden Fälle von Delinquenz auf Seiten der Protagonisten zeigen, sind hier jedoch schon die ersten Ansatzpunkte für delinquentes Verhalten auch im Erwachsenenleben zu finden, denn „delinquency is assumed to be primilarily caused by social factors“ 15 . Ob und wie weit die Delinquenz seitens ihres Umfeldes auf Aileen übergeht, ist aufgrund der erheblich gekürzten und stark subjektiven Darstellung seitens der Protagonistin jedoch nicht zu analysieren. 10 Kaspar, Frank. „,Monster’: Blick hinter die Maske“. In: Online-Ausgabe des Kölner Stadtanzeiger vom 15.04.2004. http://www.ksta.de/artikel.jsp?id=1080836790760 11 Hofmann, Anke. „Die Frau, die sie ,Monster’ nannten“. In: TV Digital 9. 2004. S. 218ff. 12 Shoemaker, Donald J.. Theories of Delinquency. New York: Oxford University Press. 1984. S.95. 13 Clarkson, Wensley. Wenn Frauen morden. München: Heyne. 1992. S.148. 14 Ebd. Klappentext. 15 Shoemaker, Donald J.. Theories of Delinquency. New York: Oxford University Press. 1984. S.71. 4
Im Erwachsenenalter stellt die Prostitution für Aileen zunächst keine Delinquenz im moralischen Sinne dar, denn sie sieht ihre Tätigkeit nur dann als gesetzeswidrig an, wenn sie Angst hat ,erwischt’ zu werden. Über sich selbst sagt sie im Gespräch mit Selby: „Ich geh’ jetzt anschaffen, seit ich 13 bin. Ich mach’ mir da keine Illusionen. Ich bin ’ne Nutte“ (TC 37:26 – 37:31). Mit zunehmender Tötungsrate werden aber auch ihre Bedenken größer. Zwar ist sie immer noch nicht in der Lage ihr eigenes Verhalten als delinquent zu erkennen und zu benennen, jedoch wird sie gegenüber ihren Freiern kritischer. Sie sieht im Gang zur Prostituierten ein deviantes Verhalten seitens der Männer, die ihrer Meinung nach ihre Frauen hintergehen und die Familie im Stich lassen („Sag mal, du bist doch verheiratet, oder? Ich kapier’ das einfach nicht. Wieso macht ihr versaute Sachen mit irgendwelchen fremden Mädchen, statt die eigene Frau zu vögeln?“ TC 57:26 – 57:30). Schließlich wird ihr diese Form der Gesellschaftsdelinquenz so zuwider, dass sie den Wunsch verspürt ihre Freier für ihr Vergehen zu bestrafen, d.h. zu töten. Die Prostitution an sich wird im Film jedoch als weniger deviant dargestellt. Die Ächtung durch die Polizei wird zwar gezeigt, allerdings nur randläufig und nur im Zusammenhang mit anderen Themen, wie zum Beispiel den Morden oder Aileens Wiedereinstieg in die Prostitution nach gescheiterten Vorstellungsgesprächen. Besonders in der Vergewaltigungsszene wird die Devianz der Prostitution durch die Darstellung der Protagonistin als ,Opfer’ verharmlost. Statt Geringschätzung oder Abneigung gegenüber Prostitution werden an dieser Stelle Mitleid und Verständnis für Aileen erweckt. Besonders unterstützt wird dieser Effekt durch die konkrete Darstellung der Vergewaltigung und die eindeutige Verschiebung Aileens in die Opferrolle durch ihren Freier, den sie tötet. Diese Sicht auf die Prostitution und ihre eventuellen Folgeerscheinungen steht in direktem Kontrast mit den darauf folgenden Morden an weiteren sechs Freiern, so dass es keine einheitliche Wertung hinsichtlich ihres Delinquenzgrades gibt, oder wie Robert Musil in einem seiner Romane schreibt: „Gerade Prostitution ist ja eine Angelegenheit, bei der es einen großen Unterschied macht, ob man sie von oben sieht oder von unten betrachtet“16 . Nur an einer einzigen Stelle im Film äußert Aileen den konkreten Wunsch aus der Prostitution auszusteigen, nämlich kurz nachdem sie mit ihrer Freundin Selby zusammengezogen ist. Selby, die schon vorher für Aileen als Symbol für die Erfüllung ihrer Träume gilt, erscheint ihr Motivation genug, ein neues Leben zu beginnen. Aber auch diese Zielsetzung geschieht nur aus einer Laune bzw. einer Verliebtheit heraus, ohne einen realistischen Hintergrund oder den tatsächlichen Wunsch seriös zu werden und ihrem delinquenten Leben ein Ende zu machen. Dementsprechend wird sie schon bald mit der Realität konfrontiert, als mögliche Arbeitgeber bei Bewerbungsgesprächen ihren fehlenden Schulabschluss und nicht eingereichten Lebenslauf bemängeln. Versuche seitens Aileen ihr deviantes Verhalten als Prostituierte als gesellschaftskonform darzustellen (,die Arbeit mit Menschen’), scheitern, genauso wie ihre Pläne aus dem Milieu auszusteigen. Stattdessen erfolgt der direkte Rückfall in die Delinquenz unmittelbar nach einem gescheiterten Vorstellungsgespräch, als sie einem Polizisten begegnet, der sie mit dem Wissen um ihre Tätigkeit erneut zu sexuellen Handlungen zwingt. Das bedeutet, dass die Zeitspanne, die ein tatsächlich den gesellschaftlichen Normen entsprechendes Verhalten zugrunde legt, im Film nur etwa einen Tag umfasst. Aileen ist spätestens ab dem Teenageralter eindeutig als Prostituierte tätig und bleibt dies auch während ihrer Beziehung mit Selby. Ihre Tätigkeit ist ihre finanzielle Überlebensgarantie, der Grund ihrer ständigen Flucht vor den Behörden, das Hindernis ein normales Leben zu beginnen, die Grundlage ihrer Morde und vor allem die Möglichkeit, ihre Freundin zu unterhalten. Gerade dieser letzte Aspekt ihrer Tätigkeit ist für Aileens Lebensgeschichte von zentraler Bedeutung; versetzt er doch Aileen in die Situation der Freier, die sie sonst gegen Geld in ihre Nähe lässt. Ihre Freundin Selby scheint diesem Freier-Typ zu Beginn der Beziehung noch ansatzweise zu entsprechen, denn sie bezahlt für Aileen die Getränke in der Bar, den Eintritt zur Skates-Bahn und lässt sie in ihrem Zimmer übernachten. Aber schon sehr bald lässt sich der Rollentausch der beiden Frauen und damit 16 Musil, Robert. Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt. 172003. S.23. 5
auch der Rollentausch von Bezahlter und Bezahlender beobachten. So ,erkauft’ Aileen Selbys Gesellschaft mit den Einnahmen eines Tages auf der Straße und dem Geld des getöteten Freiers, dem sie auch noch das Auto entwendet. Sie überredet Selby, die eigentlich nach Hause abreisen soll zu bleiben und drückt ihr dabei schließlich die Geldscheine in die Hand (TC 23:37 – 23:43). Dazu macht sie ihr falsche Versprechungen von „einem Haus, einem Auto […] und alles was dazu gehört“ (TC 28:45 – 28:47), was ein besonders hohes Maß von moralischer Delinquenz zeigt. Aileen benutzt das Geld ihres Opfers um Selby, sogar ein wenig gegen deren Willen, an sich zu binden. Dieses Verhalten findet in den darauf folgenden Morden seine Steigerung, wird durch Selby aber auch direkt verstärkt. Zu Beginn lässt sie sich von Aileens Vorstellungen überzeugen, äußert aber direkt nach ihrem Einzug bei Aileen den Wunsch versorgt zu werden („Du kannst doch für mich sorgen, Lee?“ TC 28:13 – 28:14). Dass dahinter nicht nur böse Absicht steckt, wird durch ihren gebrochenen Arm, mit dem sie vorerst arbeitsunfähig ist, und ihre sehr naive und noch sehr kindliche Art betont. Allerdings hat sie auch keine Skrupel, Aileen dazu zu drängen wieder in die Prostitution einzusteigen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Alle dieser Um- und Zustände führend letztendlich dazu, dass Aileen schließlich zur Mörderin an ihren Freiern wird. Dieser eindeutig identifizierbare Fall von Delinquenz ist mit Sicherheit der bedeutendste im Leben von Aileen Wuornos. Die zuvor beschriebenen Abweichungen von gesellschaftlichen Normen und die Verstöße gegen das Gesetz kennzeichnen zwar allesamt Formen und Fälle der Delinquenz, die entscheidensten Auswirkungen auf Aileens Leben haben aber die von ihr begangenen Morde, nämlich die Verurteilung zum Tod. Deshalb verwundert es nicht, dass diese Delinquenzfälle im Film die Schwerpunkthandlung bilden, die längste Zeitspanne umfassen und am detailreichsten beschrieben werden, obwohl die Zeit der Morde in Aileen Wournos Leben nur etwa zwei Jahre (Dezember 1989 bis November 1991) umfassen. Erst 12 Jahre nach ihren Taten war Aileen Wuornos bereit, die Morde an ihren Freiern zu gestehen und nicht weiter auf Notwehr zu plädieren, was Nick Bloomfield damit begründet, dass „bei vielen Delinquenten im Todestrakt aus der Verzweiflung heraus der Wunsch nach dem Tode laut wird“ 17 . Dieser Fall von Delinquenz entspricht eindeutig der im Duden gegebenen Definition von „jmd., der straffällig geworden ist“ 18 , und zwar im höchstmöglichen Maß, das das Gesetz vorsieht. Bei ihren Mordfällen plädierte Aileen Wuornos vor Gericht und während der Haft beständig auf Notwehr, indem sie immer wieder betont: „I still say that it was in self defense“ 19 , was aber höchstens auf den ersten Mordfall zutrifft. Dieser wird im Film dann auch eindeutig als Fall von Notwehr gekennzeichnet, aber Aileen findet – vielleicht aufgrund ihrer Tätigkeit als Prostituierte – nicht den Mut, sich an die Polizei zu wenden, sondern verwischt alle Spuren und versucht das Geschehene zu verdrängen, was schon als erste, unmittelbare, delinquente Folge der Tötung angesehen werden kann. Dieses delinquente Verhalten steigert sich dann, als Aileen Selby mit dem Geld ihres Opfers an sich bindet und findet seine Krönung in der Ermordung weiterer Freier. Das diese Fälle keine Notwehrfälle sind, wird im Film mit Hilfe der Porträtierung der Opfer verdeutlicht. Diese zeigen keinerlei Verhalten, das auf eine Bedrohung Aileens schließen lassen könnte. Ihr letztes Opfer, bietet ihr sogar Hilfe an, bittet darum verschont zu werden, verweist auf seine Frau, die er zurücklässt und wird nur getötet, weil er ihren Revolver sieht (TC 62:50 – 63:55). Die Delinquenz der Freier, für die Aileen sich an den Männern rächt, spielt sich in überzogener Form nur in ihrem Kopf ab und resultiert in den ungerechtfertigten Morden. Die unverhältnismäßige Steigerung der Verurteilung des Verhaltens der Freier kann als eine Folge der Vergewaltigung und der damit verbunden lebensbedrohlichen Situation von Aileen gesehen werden 20 , wird im Film aber nicht näher erklärt. Stattdessen werden Aileens Morde schon durch den Filmtitel Monster als überdurchschnittlich delinquent belegt. Lediglich einmal scheint sie noch 17 Broomfield, Nick. Aileen-Life and Death of a Serial Killer. e-m-s new media AG. 2004. TC 13:43 – 13:47. 18 Duden, Drosdowski, Günther; Müller, Wolfgang; Scholze-Stubenrecht, Werner; Wermke, Matthias (Hgg.). Duden. Band 5. Fremdwörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. 51990. S.170. 19 Broomfield, Nick. Aileen-Life and Death of a Serial Killer. e-m-s new media AG. 2004. TC 1:50 – 1:57. 20 Vgl. Broomfield, Nick. Aileen-Life and Death of a Serial Killer. e-m-s new media AG. 2004. TC 28:40 – 29:00. 6
von ihrem, durch den Titel als unmenschlich implizierten, Verhalten abzuweichen, als sie einen sehr schüchternen und unbeholfenen Mann nicht tötet (TC 44:10 – 45:22). Diese Szene wird von Kaspar interpretiert als „kurz, aber entscheidend, weil sie die Eindeutigkeit der Hauptfigur bricht, bevor man in Versuchung kommt, sich mit der Mörderin als Rächerin zu identifizieren“ 21 . Die Schuldigsprechung und Verurteilung vor Gericht, die jahrelang Haft und die anschließende Hinrichtung von Aileen Wuornos zeigen die gesellschaftliche Reaktion auf den Delinquenzfall ,Mord’, nämlich die Bestrafung nicht-normkonformen Verhaltens anhand bestimmter Richtlinien, den Gesetzen. Popitz definiert in seinem Vortrag „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens“ Strafe als „negative Sanktion auf abweichendes Verhalten“ 22 , also als logische Konsequenz, bzw. als ,wenn-dann-Relation’, die durch das Gesetz eindeutig festgelegt ist. Für seine Art der Darstellung der Morde ist Monster allerdings von verschiedenen Institutionen auch kritisiert worden, so zum Beispiel von der taz: bald hat Jenkins den Erzählmodus für ihren harten Stoff gefunden: die Emphase. Oder besser: die doppelte Emphase. Was die Maskenbilder mit dem Gesicht der Hauptdarstellerin angestellt haben, setzt sich in deren Overacting fort. Die Anspannung lässt niemals nach, es gibt keinen Moment der Ruhe, jedes Gespräch kippt in Geschrei, eine Begegnung mit einem Fremden lässt Aileens Körper in Aggressivität erstarren. Reicht das Repertoire nicht aus, setzt Jenkins Musik ein. Die wird lauter und lauter, kurz bevor Wuornos den zweiten Mord begeht – ganz so, als gäbe es keine anderen Mittel, innere Ruhe auf die Leinwand zu bringen 23 . Dass dieser Delinquenzfall laut der taz übermäßig deutlich gezeigt wird, mag mit dem Medium Film zusammenhängen, weil hier die Dramaturgie besonders durch musikalische Unterlegung von Szenen unterstützt werden kann und da viel von der Geschichte der Aileen Wuornos vom Publikum als Mitleid- oder Verständnis-erregend aufgefasst werden könnte, müssen die Morde umso schockierender dargestellt werden, um den Delinquenzfall ,Mord’ eindeutig als herausragende Normabweichung zu kennzeichnen und mögliche Sympathien für die Protagonistin zu verhindern. Obwohl Aileen im Film als vordergründig dominante Figur dargestellt wird, die wohl überlegt die Umzüge veranlasst, um der Polizei zu entgehen und ihre Mordopfer in einem abgelegenen Waldstück ermordet, wurde ihr Verhalten gelegentlich als Resultat geistiger Unzurechnungsfähigkeit gesehen, auf das auch ihre Anwälte plädierten. Reynolds zitiert beispielsweise Nick Broomfield: „we are executing someone who is mad. Here is somebody who has totally lost her mind. My overall impression doing the interview is that she was completely insane“ 24 und Aileen Wuornos Anwalt im ersten Mordprozess Billy Nolas, der Aileen Wuornos als “the most disturbed individual I have represented” 25 bezeichnet. In der Darstellung im Film und der Meinung der allgemeine Öffentlichkeit ist Aileen aber lediglich ein „blondiertes ,Monster’, das aus Liebe zu einer anderen Frau sechs ihrer Freier tötete“ 26 . Besonders bekräftigt wird die Darstellung Aileens als kaltblütige, äußerst delinquente Mörderin, durch das Hervorheben der Spurenverwischung nach jedem Mord, sowie das Schusstraining mit ihrer Waffe (TC 43:57 – 44:06). Zudem verführt sie unmittelbar nach einem Mord ihre Partnerin und wirft ihr das Geld des Mordopfers entgegen (TC 39:29– 39:40). Spätestens ab dem zweiten Mordfall geht sie kalt und berechnend vor; sie sucht sich ihre Opfer aus, lockt sie auf einen abgeschiedenen Waldweg, erschießt sie, verwischt die Spuren und kehrt mit dem Geld zu Selby zurück. Außerdem sammelt sie akribisch die über die Morde erscheinenden Zeitungsartikel. Diese Vorgehensweise und die 21 Kaspar, Frank. „,Monster’: Blick hinter die Maske“. In: Online-Ausgabe des Kölner Stadtanzeiger vom 15.04.2004. http://www.ksta.de/artikel.jsp?id=1080836790760. 22 Popitz, Heinrich. Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Tübingen. 1968. S.4. 23 Nord, Christina. „American Psycho“. In: taz Berlin Nr. 7279 vom 09.02.2004. S.22. 24 Reynolds, Michael. Dead Ends. New York: St. Martin’s True Crime Library. 102004. S.290. 25 Ebd. 26 Bauer, Edda. „Eine Schöne, die nicht nur schön sein will“. In: Online-Ausgabe des Kölner Stadtanzeiger vom 15.04.2004. http://www.ksta.de/artikel.jsp?id=1080836790907 7
Darstellung im Film zeigen das typische Verhalten eines Serienmörders, nicht das Töten aus Notwehr oder geistiger Verwirrtheit, so dass Aileen die Ansprüche eines Delinquenten im Sinne eines Mörders in jeder Hinsicht erfüllt. Der Titel, der zunächst scheinbar nur auf die Taten von Aileen als berechnende Serienmörderin referiert, gewinnt im Laufe des Filmes noch tiefere Bedeutungen. Dass der Begriff ,Monster’ nicht nur alleine auf Aileen anzuwenden ist, sondern – wenn auch in anderer Weise – auch auf Selby zutrifft, wird später zu diskutieren sein. Aileen verbindet mit dem Begriff ,Monster’ ein Erlebnis in ihrer Kindheit. Dort gab es auf einem Jahrmarkt ein hell erleuchtetes, hoch in die schwarze Nacht aufragendes Riesenrad, das die Kinder in ihrem Ort ,das Monster’ nannten und vor dem Aileen sich fürchtete. Alle drei Elemente werden im Film in einer Szene zusammengeführt, die hier exemplarisch für die Delinquenzfälle im Film zu analysieren ist. Unmittelbar vorausgegangen ist ein Streit zwischen Aileen und Selby, in dem Selby den Wunsch äußert etwas zu unternehmen („Leute treffen, ohne dass du sie gleich vergraulst“ TC 47:55 – 47:57). Daher fahren beide in einen Freizeitpark. Doch gleich zu Beginn zeigt Selby delinquentes Verhalten: Sie lässt Aileen stehen, beachtet sie nicht weiter und geht zu ihren Freundinnen. Aileen bleibt allein zurück. Analog zur Schilderung ihres Kindheitserlebnisses ist es bereits dunkel und die Fahrgeräte sind hell erleuchtet. Während die Handlung unscharf im Hintergrund weiterläuft, bleibt Aileen gedankenversunken zurück. Ihre Stimme aus dem Off lässt das Publikum an ihren Gedanken teilhaben: Ich hab’ sie geliebt. Und etwas, das keiner wusste, das mir keiner zugetraut hätte: ich war lernfähig. Ich konnte mich an alles anpassen. Die Leute rümpfen die Nase über Nutten, geben einem nie ’ne Chance, weil sie glauben man hätte sich’s leicht gemacht. Niemand weiß, wie viel Willenskraft es kostet, das zu tun, was wir tun, auf der Straße zu arbeiten, Nacht für Nacht, ständig zu fallen und immer wieder aufzustehen. Aber ich konnte es und sie sollten sich alle wundern. Die hatten ja keine Ahnung, zu was ich mich alles zwingen konnte, weil ich an etwas glaubte. Ich habe fest an sie geglaubt (TC 48:57 – 49:37). Diese Gedanken erscheinen aufgrund des gewählten Tempus und der Vermischung verschiedener Aspekt wie ein Rückblick auf Aileens Zeit mit Selby. Aileen reflektiert innerhalb kurzer Zeit über Selby, sich selbst, die (aus ihrer Perspektive delinquente) Gesellschaft, ihre Tätigkeit als Prostituierte und wieder Selby und scheint eine Art Resümee zu ziehen. Eine solche Äußerung wäre auch zu einem späteren Zeitpunkt denkbar, etwa nach der Trennung von Selby und dem Geständnis vor Gericht. Die Szene kann aber auch als Vorausdeutung der weiteren Morde gesehen werde, da Aileen verdeutlicht, Selby unbedingt bei sich halten zu wollen. Aufgrund ihrer Überlegungen scheint Aileen Selbys delinquentes Verhalten egal zu sein. In der nächsten Einstellung sieht der Zuschauer sie alleine in einem Go-Kart Runden fahren, als Selby von ihren vermeintlichen Freundinnen alleine gelassen wird. Erst jetzt wendet sie sich wieder Aileen zu, was ein weiterer Delinquenzfall ist. Doch Aileen, die sich nicht daran stört, lässt sich von Selby auf das Riesenrad führen, so dass in dieser Szene alle drei ,Monster’-Konzepte zusammengeführt werden. Die im Film dargestellten und auch die darüber hinausgehenden Delinquenzfälle, die sich in Aileens Umfeld ereignen, sind zahl- und facettenreich. In vielen Darstellungen wird immer wieder der Aspekt aufgegriffen, dass Aileen Wuornos verschiedene Instanzen stark belastete und ihnen teilweise absurde Verfehlungsthesen entgegenhielt. Auch das familiäre Umfeld ist von Delinquenzen unterschiedlichster Arten durchzogen, genau wie Aileen Wuornos’ weiterer Bekanntenkreis. Diese Aspekte werden im Film aber nur sehr komprimiert und randständig behandelt und teilweise auch gar nicht dargestellt. Deshalb werden hier aber nur die Hauptdelinquenzfälle behandelt, die als mögliche Voraussetzungen für Aileens Taten gesehen werden können, oder ihre Handlungen in entscheidender Weise beeinflussen. 8
Ein weiterer zentraler und explizit durch die Protagonistin ausgedrückter Aspekt ist die Frage nach der Delinquenz seitens der Freier. Zunächst scheint deren Verhalten Aileen nicht weiter zu berühren, sie geht mit ihrer Käuflichkeit überwiegend sachlich um und sieht es als eine Möglichkeit an, ihr Überleben zu sichern. Sie erwähnt mehrfach, dass sie sich an dieses Leben gewöhnt hat und als sie versucht für Selby Geld zu verdienen, wird sie im Film beinahe als ,beschwingt’ dargestellt. Erst nach ihrer Vergewaltigung und dem ersten Mord kommen ihr Zweifel. Sie projiziert ihre eigene Delinquenz auf die Freier und macht sie für das Unglück der Frauen verantwortlich. Sie würde „gern eine höhere Gerechtigkeit darin sehen, dass sie sich mit Gewalt nimmt, was ihr von allen vorenthalten wurde. Aber die Dinge entgleiten ihr. Ihr Feindbild löst sich auf. Sie tötet einen Mann, der ihr helfen wollte, nur um einen potenziellen Zeugen zu beseitigen“ 27 . Aileen erkennt in den Taten der Freier ein abweichendes Verhalten von der Mehrheit der Gesellschaft, kann diese Kriterien aber scheinbar nicht auf sich selbst anwenden, obwohl sie sich der Strafbarkeit ihrer Tätigkeit genauso bewusst ist, wie ihre Freier. Nach einer anfänglichen Tarnung als ,durchreisende Familienmutter’ (TC 16:50 – 17:30) kommt sie meist schnell zum Wesentlichen und will genau wie ihre Freier „nicht erwischt werden“ (TC 18:20 – 18:23). Trotz dieser offen geäußerten Gemeinsamkeit kann sie aber nicht selbstkritisch mit ihrem Beruf als Prostituierte umgehen. Und je länger sie mit Selby zusammen ist und je mehr Männer sie tötet, desto mehr steigert sich aber auch ihre Abneigung gegen die Freier und die Prostitution. Sie beschimpft die „scheiß Männer“ (TC 57:35) als „Schweine [, die] da draußen irgendwelche Frauen vergewaltigen“ (TC 54:59) und „verdammte Kinderficker“ (TC 38:56). Sie wendet sich vollkommen von den Männer ab („Ich kann sie nicht ausstehen“ TC 57:37) und wechselt von der Prostituierten zur Mörderin: „Ich bin keine Nutte. Ich ficke keine Männer. Früher ja, aber meist gegen meinen Willen“ (TC 57:38 – 57:46). Neben den Freiern gibt es weitere, im Verlauf der Hausarbeit schon kurz angeschnittene, Fälle von Delinquenz, auf die teilweise der härtere Delinquenzbegriff zutrifft. Das Verhalten der Jugendlichen gegenüber Aileen in ihrer Kindheit, die Misshandlungen durch ihren Vater und der Missbrauch durch einen Bekannten sind nämlich eindeutige Fälle gesellschaftlicher Delinquenz. Ein Bekannter der sich an einem Mädchen vergeht und ein Vater, der seine Tochter schlägt, sind – laut oben zitierter Dudendefinition – nicht minder schwere Fälle von Delinquenz, werden aber im Film nicht weiter ausgeführt. Auch der Missbrauch durch den Polizisten ist nicht weniger strafbar als der Missbrauch Aileens durch einen Bekannten. Stattdessen ist dieser Delinquenzfall vielleicht als noch problematischer anzusehen, da es sich bei dem Polizisten um einen gegen die Gesetze verstoßenden Gesetzeshüter handelt. Er missbraucht nicht nur Aileens Notlage sondern auch seinen Beruf als Polizist, was gleich einen zweifachen Delinquenzfall darstellt. Im Film wird dieses Norm abweichende Verhalten lediglich kurz gezeigt, die tatsächliche Darstellung dauert nicht länger als 1,5 Minuten (TC 33:10 – 34:50) und dient nur dazu, Aileens Rückfall in die Prostitution auszudrücken. Die Strafbarkeit dieser Missbrauchsfälle wird im Film nicht weiter thematisiert und auch Aileen äußert sich nicht näher dazu. Ein weiterer, Aileens Werdegang ummittelbarer beeinflussender, Fall von Delinquenz ist das Verhalten ihrer Partnerin Selby. Dabei vereint sie verschiedene Delinquenzkonzepte in ihrer Person. Beispielsweise ist sie die ,Ausreißerin’, die ihre Familie wegen Aileen verlässt, was ein minder schwerer Fall devianten Verhaltens ist, denn sie macht sich weder strafbar, noch ist es besonders moralisch verwerflich von zu Hause auszuziehen. Lediglich die Freunde ihres Vaters wollen in ihrem Verhalten eine Form von Delinquenz erkennen, da sie Aileen als Prostituierte ablehnen („Mit solchen Leuten wollen wir nichts zu tun haben“ TC 7:49 – 7:51). Die Darstellung dieses Verhaltens ist im Film zwar kurz, dafür aber alle Klischees sehr deutlich bedienend hervorgehoben. Selby erscheint in dem Gespräch mit ihrem Vater als unreifer Teenager, die Freunde ihres Vaters verhalten sich übermäßig vorurteilsvoll. Nach ihrem Auszug wirkt Selby als Motor für Aileens delinquentes Verhalten. Hat Aileen zuvor eventuell nur aus Notwehr gehandelt und deshalb ihr 27 Kaspar, Frank. „,Monster’: Blick hinter die Maske“. In: Online-Ausgabe des Kölner Stadtanzeiger vom 15.04.2004. http://www.ksta.de/artikel.jsp?id=1080836790760. 9
erstes Opfer getötet, tötet sie nun, um ihrer Freundin einen besseren Lebensstandard zu bieten und sie bei sich zu halten. Selby ermutigt sie in ihrem Verhalten, weist aber gleichzeitig jede Schuld von sich. Sie drängt Aileen dazu, ihre Tätigkeit als Prostituierte wieder aufzunehmen und verrät Aileen am Ende des Films sogar an die Polizei. Sie verlässt sie, führt sie in eine Falle und belastet sie vor Gericht. Dass sie im Film trotzdem nicht als dominante von beiden erscheint, mag an der Hervorhebung ihrer Jugendlichkeit liegen. Sie wird beständig als Teenager dargestellt, der auf unerfahrene und naive Art Aileens Nähe sucht. Dass sie die eigentliche Lenkerin, das eigentliche Monster – wenn auch nicht im Sinne einer Mörderin – ist, wird filmisch hinter großen, unschuldigen Augen, einem gebrochenen Arm und hin und wieder zaghaft geäußerten Bedenken versteckt. Eigentlich ist aber Selby diejenige, die einen relativ sicheren familiären Hintergrund, die Aussicht auf eine Arbeitsstelle und die frühe Gewissheit ihrer Homosexualität hat. Stattdessen überlässt sie aber Aileen die Führung, die zwar so gerade für sich selbst sorgen, nicht aber den Lebensunterhalt für zwei Personen bestreiten kann. Dabei äußert Selby ihre Wünsche sehr konkret („Wach auf, ich will was unternehmen!“ TC 46:15), „Also besorg uns jetzt gefälligst ein neues Auto! Wir müssen los!“ TC 59:50 – 59:53) und treibt Aileen schließlich energisch, wenn auch indirekt, zu ihrem letzten Mord, obwohl diese mit den Nerven völlig am Ende scheint. Es bleibt allerdings offen, inwieweit Selby mit der Situation überfordert ist. Schon bald wirkt sie desillusioniert („Ich sterb’ gleich vor Hunger“ TC 32:21 – 32:23); „Du hast gesagt wir würden feiern, feiern, feiern, immer nur feiern. Aber das ist jetzt alles andere als ’ne scheiß Party“ TC 35:31 – 35:36) und neigt zu Überreaktionen, wie zum Beispiel das Auftrennen des Gipses (TC 35:00) oder das Kaufen der Stofftiere (37:10 – 47:40). Diese Desillusionierung wird auch durch Reynolds näher thematisiert, indem er das Verhältnis der Frauen als nur kurzzeitige Liebesbeziehung darstellt: „That had been a long time ago, back when they were having sex, but that had lasted only a few months“ 28 und „There wasn’t enough love left between them to risk a life in prison“ 29 . Zusätzlich gibt Reynolds einen detaillierten Einblick in die von Aileen Wuornos mit Tyria Moore geführten Gespräche aus dem Gefängnis heraus. Diese Gespräche werden im Film auf ein beiderseitig sehr emotionales Gespräch reduziert. Aileen und Selby weinen; Selbys ,Verrat’ scheint ihr selbst unerträglich und Aileens Schuldeingeständnis, das Selbys Unschuld betont, wirkt beinahe heldenhaft. In gedruckter Form lesen sich diese Telefonate weniger romantisch, Tyria Moore wirkt emotionslos und berechnend und antwortet auf Aileens Frage „Will you get over me?“ mit „Yeah. I don’t think it will be any problem at all“ 30 . Am Ende der Gespräche fasst Reynolds zusammen: „In eleven conversations over those three days, with Wuornos constantly declaring her undying love, Tyria Moore had never once said ,I love you, too’” 31 . Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Figur der Aileen Wuornos im Film Monster viele Delinquenzkonzepte aufweist und dabei nahezu die volle Bandbreite zwischen den beiden im Eingangsteil dieser Arbeit zitierten Polen von Delinquenz umspannt. Aileen weist sowohl ein leicht deviantes, wie auch ein strafrechtlich zumindest heute fragliches, aber auch eindeutig delinquentes, kriminelles Verhalten auf. Die einzelnen ,Stationen’ ihres delinquenten Verhaltens sind gemäß ihrer Abstufung auf der im Eingangskapital zugrunde gelegten Delinquenzskala erörtert worden. Neben den ungünstigen familiären Voraussetzungen in Aileens Kindheit, muss vor allem Selby als Katalysator für immer stärker delinquentes Verhalten gesehen werden. Durch Selby durchläuft sie alle Stufen der Delinquenz in nur etwa einem Lebensjahr, während die in der Mitte der Delinquenzskala anzusiedelnden Normverstöße wie ihre berufliche Tätigkeit als Prostituierte ihr ganzes Leben konstant bleiben und nur durch das Zusammenwirken der Vergewaltigung durch einen Freier und Selbys Ansprüchen zum Mord gesteigert werden. Aileens delinquentes Verhalten entsteht bzw. verstärkt sich demnach nicht aus einer Eigendynamik heraus, sondern wird beständig durch die Gesellschaft katalysiert und besonders durch Selby extrem gesteigert. 28 Reynolds, Michael. Dead Ends. New York: St. Martin’s True Crime Library. 102004. S.80. 29 Ebd. S. 93. 30 Ebd. S. 168. 31 Ebd. S. 188. 10
Allerdings verweist das herzlose Verhalten, die kaltblütige Art der Morde, die fehlende Fähigkeit zur Selbstreflektion und Aileens Uneinsichtigkeit was ihre Schuld angeht, auf das im Filmtitel explizit angesprochene „Monster“. Aileen sieht sich selbst allerdings weder im Film noch in der Realität als Mörderin, vielmehr sagt sie aus: I’m not a murderer…by definition, murder is willful killing. I didn’t take their honor cards. I didn’t keep their cars and fence them off. I’m not a serial killer. I’ve killed a series of men but it was in self-defense. It wasn’t premidated design. My only premedition was to go out and make another dollar. It wasn’t in my mind to go out and kill a guy 32 . Die Morde werden im Film – mit Ausnahme der ersten Tötung aus Notwehr – nicht entschuldigt oder gerechtfertigt, vielmehr wird Aileens Lebensweg in verkürzter Weise aufgezeigt und die zwei entscheidenden Jahre in ihrem Leben, in denen sie sich völlig aus der Gesellschaft zurückzieht, als Schwerpunkt des Films behandelt. Dabei wird die Schuld von Aileen Wuornos so deutlich herausgestellt, dass die Haft und die darauf folgende Hinrichtung nicht mehr dargestellt werden. In Monster bedient Aileen nahezu jede Abstufung der beiden Delinquenzdefinitionen; allerdings lassen sich beinahe ebenso viele Fälle unterschiedlich schwerer Delinquenz im gesellschaftlichen Umfeld feststellen. Zudem gibt es zahlreiche Aspekte, die über den Film hinausgehen, der seinem Filmcharakter gemäß Zeiträume rafft, weglässt oder Dramaturgie begünstigend verändert. Er zeigt die Entwicklung einer Prostituierten zur Serienmörderin, die jede Fähigkeit zur Selbstkritik verliert, deren Verhalten durch ihre scheinbar grenzenlose Liebe zu ihrer Partnerin gefördert wird. Die Beziehung, die sich anfänglich positiv auf ihr Leben auszuwirken scheint, kehrt sich ins negative um und führt nach dem ersten Mord, bzw. der ersten Tötung aus Notwehr, zu weiteren Morden. Somit zeichnet Monster die Lebensgeschichte und besonders die Morde einer im Leben gescheiterten, rechtmäßig verurteilten Serienmörderin nach, einer Delinquentin in jeder Hinsicht. 32 Reynolds, Michael. Dead Ends. New York: St. Martin’s True Crime Library. 102004. S.2f. 11
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