Delphi als ein Planungsinstrument der Berufsbildungsforschung?
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FACHBEITRAG Delphi als ein Planungsinstrument der Berufsbildungsforschung? Erste Ergebnisse einer BIBB-Studie E Delphi-Befragungen gelten als brauchbare Nutzen von Delphi-Untersuchungen Methode, wenn Experten sich zur Zukunft In Zeiten des Wandels und der Unsicherheit treibt der äußern sollen. Nach den bisherigen Untersu- Wunsch, die Glaskugel hervorzuholen und in die Zukunft zu schauen, dicke Blüten. Die alten Griechen hörten auf chungen wird die Entwicklung in der beruf- Pythia im Apollontempel zu Delphi. In der Moderne haben die Wissenschaftler die alten Seher abgelöst. Bevorzugte lichen Bildung weitaus dynamischer verlaufen Methode der Wahl: die sogenannte Delphi-Befragung. Der als im allgemeinen oder universitären Sektor. Name erinnert noch an die Wirkungsstätte der berühmten Seherin, doch es verbirgt sich dahinter nichts Mythisches Die Berufsbildungsforschung hat auf diese mehr: In der Regel wird ein Fragebogen entwickelt, der un- Dynamik zu reagieren. Dabei müssen wichtige terschiedlichste Hypothesen zur zukünftigen Entwicklung enthält. Diese Hypothesen werden dann von ausgesuchten Entscheidungen getroffen werden. Wo sind Experten beurteilt. Sie geben an, was sie für wahrschein- forschungsrelevante Veränderungen zu erwar- lich und wichtig halten. In einer weiteren Runde werden dann die Experten über die Antworten ihrer Kollegen in- ten, und welche Aufgaben müssen zuerst formiert. Sie sollen damit die Chance erhalten, die eigenen angegangen werden? Keine einfachen Fragen. Antworten zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigie- ren. Dahinter steckt die Vermutung, dass mit steigender Doch was liegt näher, als die Delphi-Methode Einheitlichkeit des Urteils der Experten die Trefferquote auch in der Forschungsplanung einzusetzen? richtiger Vorhersagen zunimmt. 1 Dies ist die klassische Vorgehensweise.2 So oder mit leichten Variationen wurde Das BIBB startete einen ersten Versuch. es auch in den bisherigen Delphi-Untersuchungen im Bil- dungsbereich gemacht – in der BWP-Ausgabe 6/98 wurde WA LT E R B R O S I bereits darüber berichtet.3 Stellv. Generalsekretär des Bundesinstituts für Berufsbildung Aber dürfen wir überhaupt davon ausgehen, dass die Wis- senschaftler heute so viel treffsicherer als die früheren Pro- pheten Zukunft vorhersagen können? Ist das Ganze nicht ELISABETH M. KREKEL in Wirklichkeit viel komplizierter geworden, da sich die Be- Dr. phil., Soziologin, wiss. Rätin im gleitumstände hierfür – man denke an den immer schnel- Arbeitsbereich „Bildungsökonomie, leren Wandel in der Technik – doch so erheblich erschwert Kosten und Nutzen“, BIBB haben? Unsere moderne Bildungsphilosophie lautet doch geradezu, die Jugendlichen auf eine berufliche Zukunft JOACHIM GERD ULRICH vorzubereiten, die in ihrer Entwicklung selbst nicht vor- Dr. rer. pol., Dipl.-Psych., wiss. Rat im Arbeits- hersehbar sei. Ist die Delphi-Methode also nicht doch nur bereich „Qualifikationskonzepte, Fachkräfte- ein bloßer Mythos, der allein von den offenbar unzerstör- bedarf, Qualifizierungsstrategien“, BIBB baren Sehnsüchten des Menschen nach Einblick in die Zu- kunft lebt? Tatsächlich endeten viele frühere Vorhersagen, BWP 6 /1999 11
FACHBEITRAG wie „Der Spiegel“ in etwas salopper Form formulierte, in Delphi als Instrument der einem ziemlichen „Debakel“: Prophezeiungen im Bereich Forschungsplanung der Technik hätten sich nur selten bewahrheitet (z. B. für 1990: Wetterkontrolle und regional machbare Wetterbeein- Ende 1998 wurden Mitarbeiter/-innen des BIBB gebeten, flussung, 1982: bemannte, ständige Mondstationen). Ei- Ideen und Vorschläge für zukünftige Forschungs- und Ent- gentlich sei die Methode tot, aber im Zuge „der neu ent- wicklungsaufgaben im Bereich der beruflichen Bildung zu standenen Wissenschafts- und Technologiegläubigkeit“ formulieren. Ausdrücklich wurde dazu aufgefordert, der wieder ausgegraben worden.4 Kreativität in dieser ersten Delphi-Runde breiten Raum zu lassen und auch neue, vielleicht zunächst ungewohnt an- Die Kritiker der Zukunfts- mutende Pfade zu beschreiten. Ziel der ersten Delphi- Delphi-Methode forschung haben sicherlich Runde war es, ungefiltert ein breites Spektrum an Ideen Eine von amerikanischen Wissenschaft- Recht: Man muss sich über abzuschöpfen; die Phase der Selektion und Bewertung war lern entwickelte Prognosetechnik. Wäh- den Sinn einer Delphi-Stu- der zweiten Runde vorbehalten. An dieser ersten Runde be- rend bei dem berühmten Orakel in Del- die Gedanken machen. Man teiligten sich 136 Mitarbeiter/-innen. Im Durchschnitt phi die Pythia als Medium des Gottes sollte aber nicht allzu machten sie jeweils fünf und insgesamt 688 Vorschläge Apollon diente und die Fragen von Rat schnell den Stab brechen. zukünftiger Forschungs- und Entwicklungsaufgaben. Suchenden beantwortete, sollen heute Denn selbst wenn man hin- mit Hilfe von Expertenbefragungen Aus- sichtlich Trefferquote der Zur Vorbereitung der zweiten Runde wurden die Vorschläge sagen über die Zukunft gewonnen wer- „modernen Priester“ durch- auf Doppelungen hin überprüft und gegebenenfalls über- den. In mehreren (meist bis zu drei) aus skeptisch sein sollte und arbeitet. Damit blieben 499 Ideen übrig, die – auf insge- Befragungsrunden werden Informationen getrost davon ausgehen samt 28 verschiedene Themenbereiche aufgeteilt – als von den Experten gewonnen und wieder darf, dass die Berufsbildung Items in einen standardisierten Fragebogen überführt und an diese zurückgespielt. im Jahr 2020 in vielen so an die BIBB-Experten zurückgekoppelt wurden.6 Die an- Punkten anders aussehen gesprochenen Themenbereiche deckten das gesamte Feld wird als im Jahr 1998 ver- der heutigen Berufsbildungsforschung ab. Die BIBB-Mitar- mutet, ist eine Delphi-Befra- beiter/-innen wurden nun gebeten, jeden einzelnen Vor- gung nicht nutzlos. Denn genau genommen geht es gar schlag einzuschätzen hinsichtlich des bisherigen For- nicht so sehr darum, zutreffende Aussagen über die Zukunft schungsstandes, der Wichtigkeit des Themas für die Fort- zu entwickeln, sondern darum, Aussagen über die Gegen- entwicklung der beruflichen Bildung sowie des Zeitpunkts, wart zu gewinnen: nämlich darüber, wie sich Experten ge- wann die Forschungs- oder Entwicklungsaufgabe spätes- genwärtig die Zukunft vorstellen. Dies ist ein feiner, aber tens in Angriff genommen werden sollte (siehe Abb. 1). Ins- wichtiger Unterschied. Er verweist zugleich darauf, dass gesamt bearbeiteten 61 Mitarbeiter/-innen den Fragebogen. Delphi-Expertisen nur dann ihre Berechtigung haben, wenn Die Teilnahme war freiwillig. Der Rücklauf lag bei rund sie ihren Nutzen bereits in der Gegenwart finden. Als Nutz- 45 %, dies war angesichts der ungewöhnlichen Länge des nießer kommen dabei all jene Personen und Institutionen Fragebogens mit rund 37 Seiten ein recht gutes Ergebnis. in Betracht, die zukunftsorientiert Entscheidungen treffen müssen und dabei die beraterische Hilfe von Experten her- In der dritten Delphi-Runde wurden die Antworten der anziehen möchten. In diesem Sinne trägt Delphi dazu bei, Teilnehmer an alle BIBB-Mitarbeiter/-innen zurückgekop- die Legitimität politischen Handelns zu stärken. Die Alter- pelt und für eine institutsinterne Diskussion zur Verfügung native wären intuitive, ratlose und willkürliche Entschei- gestellt. Nachfolgend werden 30 Forschungs- und Ent- dungen.5 wicklungsvorschläge aus der zweiten Runde vorgestellt, die Wir sehen die Stärken des Delphi-Ansatzes gerade darin: als besonders wichtig für die Fortentwicklung der beruf- eine größere Gruppe von Experten mit einem ökonomisch lichen Bildung eingestuft wurden. handhabbaren Befragungs- und Feedbackverfahren in ei- nen systematischen Beratungsprozess einzubinden. Worauf sich diese Beratung bezieht, ist variabel: Es kann sich z. B. um erwartete Entwicklungen in der Wirtschaft, Bildung Ergebnisse aus der zweiten Delphi- und Technik oder auch um die zukünftigen Kernaufgaben Runde: Wichtige Forschungsaufgaben eines Unternehmens handeln. Die Bildung ist aufgrund ih- der Zukunft res investiven, auf die Bewältigung von Zukunft ausge- richteten Charakters sicherlich ein typisches Delphi-Thema. Die 30 Vorschläge, die auf der Skala zur Erfassung der Das BIBB entschloss sich, Möglichkeiten und Nutzen des Wichtigkeit (vgl. Abb. 1) die höchsten Durchschnittswerte Delphi-Ansatzes für die Identifizierung zukünftiger For- erzielten, lassen sich im Wesentlichen drei Themenkreisen schungs- und Entwicklungsaufgaben in der beruflichen zuordnen. So wurden zum einen Forschungsaufgaben zum Bildung zu überprüfen. Themenkomplex „Neue Qualifikationen, neue Berufe“ als 12 BWP 6 /1999
Auszug aus dem Abbildung 1 Fragebogen des BIBB-Delphi Wie ist der Stand der Wie wichtig ist das Wann sollte mit Die zu beurteilenden Forschungsvorschläge bisherigen Forschung Thema für die der Bearbeitung finden sich in der linken Spalte, rechts die oder Entwicklung? Fortentwicklung spätestens drei Skalen zur Erfassung des Forschungs- der berufl. Bildung? begonnen werden? standes, der Wichtigkeit und des vorge- schlagenen Bearbeitungsbeginns. DELPHI kann ich nicht beurteilen kann ich nicht beurteilen kann ich nicht beurteilen 2003 bzw. noch später gar nicht / nicht mehr Themenbereich II: völlig unzureichend eher unzureichend völlig ausreichend eher ausreichend völlig unwichtig eher unwichtig Qualifikations- und eher wichtig sehr wichtig 1999/2000 2001/2002 Beschäftigungs- entwicklung in s p e z i f i s c h e n B e re i c h e n 1 Konsequenzen der Einführung bzw. stärkeren Nutzung von ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Electronic Commerce (z.B. Internethandel) für die berufliche Bildung 2 Tätigkeitsfelder, Qualifikations- anforderungen und über- fachliche Qualifikationen in ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Call-Centern (von der Seel- sorge bis hin zu Maklerdiensten der verschiedensten Art) 3 Untersuchung der Qualifikationsentwicklungen ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ in Multimedia-Berufen besonders dringlich eingestuft (vgl. Abbildung 2). Dazu mittelbar mit Forschung und Entwicklung selbst, sondern zählen z. B. die Folgen aktueller betriebswirtschaftlicher mit der Präsentation, Verbreitung und Verwendung von Entwicklungen für die Ausbildung und die Entwicklung Forschungs- und Entwicklungsergebnissen sowie sonstigen neuer Ausbildungsberufe (Outsourcing, Internet-Marketing, wichtigen Daten zu tun haben. Hier deutet sich offenbar Online-Shopping, Globalisierung der Märkte) oder die Qua- ein erweitertes Aufgabenverständnis der Forschung an. Un- lifikationsentwicklung in neuen expandierenden Beschäf- ter Nutzung der neuen Medien soll eine offensivere Ver- tigungsfeldern samt ihren Konsequenzen für die berufliche antwortung als bisher für die öffentlichkeitswirksame Ver- Aus- und Weiterbildung. breitung der eigenen Produkte übernommen werden. So wurden als die beiden wichtigsten Aufgaben der Aufbau Weiterhin wurden jene Forschungsvorschläge als ganz be- eines interaktiven Internet-Netzwerkes „Neue Berufe“ (mit sonders wichtig angesehen, die sich auf aktuelle Problem- Umsetzungshilfen für kleine und mittlere Unternehmen) lagen im Ausbildungsstellenmarkt und Maßnahmen zu ih- sowie der Aufbau einer im Internet abrufbaren Informati- rer Behebung beziehen. Hierunter fällt die Entwicklung von onsdatenbank für ausbildungsunerfahrene Betriebe (Tipps neuen Maßnahmen zur Förderung der Ausbildungs- und für Betriebe, die in die Ausbildung einsteigen, Verbund- Übernahmebereitschaft von Betrieben ebenso wie die Über- konzepte) genannt. Ganz vorne landeten auch in puncto prüfung der Wirkung des Sofortprogramms und sonstiger Wichtigkeit die Erstellung einer berufsbezogenen Daten- bereits bestehender Initiativen zur Verbesserung der Aus- bank (so dass für jeden Ausbildungsberuf alle relevanten bildungssituation von Jugendlichen. Informationen aus einer Quelle abrufbar sind), die Installa- tion eines Servers, von dem Unterrichtsmaterialien und di- Bemerkenswert war, welch hohe Bedeutung die Befragten daktische Leitfäden abgerufen werden können, der Aufbau informationstechnisch gestützten Service-Aufgaben ge- eines Informationssystems im Internet mit regionalen Da- genüber Dritten zuschrieben: Aufgaben also, die nicht un- ten zur Berufsbildung sowie die Entwicklung eines BIBB- BWP 6 /1999 13
FACHBEITRAG Informationssystems für Schulabgänger und deren Eltern tionsgehalt niedrig einzu- im Internet. stufen: So werden z. B. Die sonstigen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben, die durch eine differenzierte zu den dreißig wichtigsten gezählt wurden, berühren die Analyse der Enthaltungen Felder Ausbildungsordnungsforschung, internationale Ver- zum „Stand der Forschung“ gleichsforschung, Evaluierung, Berufsbildungsstatistik und wichtige Informationen Differenzierung der Berufsbildung (vgl. Abbildung 2). über den Etablierungs- und Verbreitungsgrad eines be- stimmten Forschungsthemas gewonnen. Zudem machten die Antworten der Befragten deutlich, dass klar zwischen Delphi als Planungsinstrument der „sachstandsbezogener“ („Was wurde bereits erforscht und Forschung: Schlussfolgerungen für erarbeitet?“) und „politisch-normativer“ Expertise („Was ist zukünftige Anwendungen wichtig für die Fortentwicklung der beruflichen Bildung?“) unterschieden werden muss: Die eine Form der Enthaltung Unseres Wissens ist die BIBB-Studie der erste Ansatz, die (zum Stand der Forschung) ist nicht zwangsläufig mit der Delphi-Methode unmittelbar zur Ermittlung zukünftiger anderen Form (zur Wichtigkeit des Themas) verbunden. Forschungs- und Entwicklungsarbeit heranzuziehen. Des- halb interessierten uns neben den inhaltlichen Ergebnissen Die institutsinterne Eingrenzung der Stichprobe auf BIBB- vor allem auch methodische Schlussfolgerungen aus die- Mitarbeiter/-innen entlastete uns von einem Problem: Die sem institutsinternen Selbstversuch. Es zeigte sich z. B., Ideologie des Delphi-Verfahrens ist auf Konsens hin aus- dass es richtig war, bei den Fragen klar zwischen der gelegt; die Experten sollen letztendlich zu möglichst ein- Wichtigkeit des Themas und dem Stand der Forschung zu heitlichen Urteilen gelangen. Tatsächlich ist aber, dies zei- unterscheiden (vgl. Abbildung 1). Beide Aspekte hängen gen die bisherigen Delphi-Studien zur Entwicklung im auch statistisch nur schwach zusammen: Zu einigen For- Bildungsbereich, die Varianz im Urteil der Experten nicht schungsthemen liegen bereits Ergebnisse vor, zu anderen gering und korreliert mit Herkunftsmerkmalen wie der be- wiederum nicht. Relativ stark korrelieren dagegen die Ant- ruflichen Funktion. Damit wird aber die Stichprobenzu- worten zur „Wichtigkeit des Themas“ und zum „spätesten sammensetzung bei allen Delphi-Untersuchungen zu einem Beginn der Bearbeitung“. Was als wichtig eingestuft wird, zentralen Thema. Denn die Gesamtergebnisse sind davon soll in der Regel auch früher begonnen werden. Allerdings abhängig, aus welchen Teilstichproben von Experten sich gibt es hier auch Ausnahmen, die nahe legen, bei zukünf- der Befragtenkreis zusammensetzt. Unserer Meinung nach tigen Befragungen nicht auf die Zeitschiene zu verzichten. ist diesem Aspekt in den meisten bisherigen Delphi-Stu- dien zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Das Gleiche gilt für die Auswertung und einer nach Teilgrup- Warum urteilen pen differenzierten Analyse unter bewusster Hintanstellung des Konsens-Gedankens. Man wird bei einer erneuten, über Experten bisweilen Institutsgrenzen hinausgehenden Anwendung der Delphi- Methode nicht darüber hinwegkommen, differenzierte unterschiedlich? Strukturdaten zu den Befragten selbst zu erheben. Dabei darf jedoch die Möglichkeit zur anonymen Bearbeitung des Fragebogens nicht verloren gehen. Was die Ideenproduktion in der ersten Runde und somit Richtig war es auch, die Ausweichkategorie „kann ich die Item-Entwicklung angeht, waren die Vorschläge der nicht beurteilen“ anzubieten, und dies nicht nur global für BIBB-Mitarbeiter/-innen erfreulich zahlreich. Dennoch ganze Themenblöcke, sondern bei jeder einzelnen Ein- sollte bedacht werden, dass Delphi selbst keine Kreati- schätzung eines konkreten Forschungsvorschlags und hier vitäts-, sondern eher eine Sammel- und Evaluationstechnik wiederum gesondert nach Wichtigkeit, Stand der For- ist. Auch wenn Experten zur schöpferischen Ideenproduk- schung und Beginn der Bearbeitung. Die Forschung und tion hin aufgefordert werden, so heißt dies nicht, dass dies Entwicklung ist auf dem Gebiet der beruflichen Bildung so allen Experten gleichermaßen gut gelingt. Es ist unreali- weit fortgeschritten, dass sich nur wenige Personen zu- stisch, davon auszugehen, dass der Expertenstatus als sol- trauen dürften, hier eine „Universalkompetenz“ zu besit- cher mit einer überdurchschnittlichen Kreativität in Hin- zen. Dies gilt selbst innerhalb identischer Themenblöcke blick auf die Prognose zukünftiger Entwicklungen verbun- wie z. B. der „Bildungsökonomie“. Es wäre im Übrigen ein den wäre. Deshalb sollte die Ideensammlung durch kreati- Fehler, Urteilsenthaltungen einfach nur wie fehlende An- vitätsförderliche Techniken (z. B. Szenario-Verfahren) un- gaben („missing values“) zu behandeln und ihren Informa- terstützt werden. Damit könnte die unterschiedliche 14 BWP 6 /1999
Abbildung 2 Übersicht über wichtige Forschungsaufgaben aus Sicht der BIBB-Mitarbeiter/-innen* Quelle: BIBB-Delphi zur Entwicklung zukünftiger Forschungsfragestellungen Wichtigkeit Stand zu bear- des der beiten bis Themas Forschung spätestens: eher/sehr völlig/eher 1999 wichtig unzu- oder reichend 2000 Neue Qualifikationen, neue Berufe • Folgen aktueller betriebswirtschaftlicher Entwicklungen für die Ausbildung und die Entwicklung neuer Ausbildungsberufe (Outsourcing, Internet-Marketing, Online-Shopping, Globalisierung der Märkte usw.) 96% 96% 65% • Qualifikationsentwicklung in neuen expandierenden Beschäftigungsfeldern: Konsequenzen für die berufliche Aus- und Weiterbildung 94% 76% 44% • Lebenslanges Lernen als gesellschaftliche Aufgabe. Welche Rahmenbedingungen (Institutionen, Standards, Zugänge, Mitbestimmungsebenen, Finanzierungsmodelle) sind notwendig, um lebenslanges Lernen zu fördern? 91% 74% 33% • Folgen der Ausweitung von informationstechnisch gestützten Dienstleistungen für die Berufsbildung 90% 80% 63% • Qualifikationsbedarf und Rekrutierungsstrategien bei neu gegründeten Unternehmen 90% 79% 29% • Neue Berufe und Beschäftigungsfelder (z.B. elektronischer Supermarkt) im Gefolge von Multimedia und technikbasierter Wissensgesellschaft 88% 80% 59% • Entwicklung von Instrumenten zur Früherkennung: z.B. innovative Projekte und Modellversuche, regionale Qualifizierungsmaßnahmen 88% 68% 49% • Neue Dienstleistungen und ihre arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Konsequenzen 87% 71% 40% • Sammlung von „Best practice“-Beispielen für Branchenaktivitäten bzw. sonstige Aktivitäten zur Umsetzung von Neuordnungen/neuen Berufen in die Praxis (Entwicklung eines „Werkzeugkastens“) 87% 82% 50% • Welche (berufsübergreifenden) Fähigkeiten werden in der sich entwickelnden Informations- und Wissensgesellschaft speziell gebraucht, und wie sind sie zu vermitteln? 83% 58% 32% Maßnahmen zur Förderung der Ausbildungsbereitschaft • Erhöhung und Förderung der Ausbildungs- und Übernahmebereitschaft von Betrieben 91% 57% 34% • Überprüfung der Wirkung des Sofortprogramms 89% 87% 84% • Erforschung von Faktoren zur Erhöhung der Ausbildungsbeteiligung ausländischer Unternehmen 89% 76% 51% • Umfang und Nutzen von staatlichen Programmen zur Erhöhung des betriebl. Ausbildungsplatzangebots 88% 70% 57% • Ermittlung der Kosten, Finanzierung und des Nutzens von Verbundausbildungsmodellen 88% 83% 41% • Policy Research: Evaluation einzelner oder Kombination mehrerer Ad-hoc-Maßnahmen zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze 83% 79% 54% • Entwicklung von Berufsbildungsmedien für neue Berufe, um die Ausbildungsbereitschaft zu fördern 75% 73% 44% Informationstechnisch gestützte Service-Leistungen • Aufbau eines interaktiven Internet-Netzwerkes „Neue Berufe“ (mit Umsetzungshilfen für kleine und mittlere Unternehmen) 100% 95% 71% • Aufbau einer im Internet abrufbaren Informationsdatenbank für ausbildungsunerfahrene Betriebe (Tipps für Betriebe, die in die Ausbildung einsteigen, Verbundkonzepte) 91% 95% 71% • Aufbau einer berufsbezogenen Datenbank, die die Berufsbildungs- und Beschäftigtenstatistik mit Ergebnissen aus empirischen Erhebungen und qualitativen Informationen (z.B. Ausbildungsordnung) so zusammenführt, dass für jeden Ausbildungsberuf alle relevanten Informationen aus einer Quelle abrufbar sind 89% 79% 55% • Aufbau eines Servers, von dem Unterrichtsmaterialien, didakt. Leitfäden etc. abgerufen werden können 86% 90% 49% • Herstellen der Markttransparenz für Lernsoftware in der Berufsbildung: Entwicklung einer Datenbank und eines Informationsangebots zum multimedialen Lernen 88% 90% 42% • Aufbau eines Informationssystems im Internet mit regionalen Daten zur Berufsbildung 85% 76% 58% Sonstige Forschungs- und Entwicklungsaufgaben • Analyse und Systematisierung der derzeitigen Ansätze für neue/geänderte Strukturen in Ausbildungsordnungen 92% 63% 41% • Systematische Beobachtung und Evaluierung ausländischer Entwicklungen in der beruflichen Bildung als Daueraufgabe: Wo gibt es Innovationen, Anregungen und Anstöße, die auch auf das deutsche Bildungssystem übertragen werden sollten? 91% 85% 53% • Entwicklung eines Evaluationsverfahrens (-systems) für Modellversuche (national) und internat. Projekte 90% 79% 33% • Entwicklung eines Konzeptes zur Modernisierung von Lernerfolgskontrollen in der beruflichen Bildung 88% 85% 33% • Aufbau einer jährlichen Statistik zur Erfassung der latenten Nachfrage von Lehrstellenbewerbern, die in der offiziellen Nachfrageberechnung nicht ausgewiesen werden 87% 85% 59% • Wirkungsanalysen von Maßnahmen zur Qualifizierung und Verbesserung der Chancen von benachteiligten Jugendlichen 87% 57% 21% • Neue lernerfolgsabhängige Qualifizierungsansätze für eine differenzierte Berufsausbildung (z.B. Stufenausbildung: Optionsmodell, Durchstiegsmodell, Lerneinheiten, Module, Zusatzqualifizierung) 84% 69% 29% * Aufgeführt sind jene 30 Vorschläge, die auf der vierstufigen Skala zur Erfassung der Wichtigkeit (1 = völlig unwichtig, 2 = eher unwichtig, 3 = eher wichtig, 4 = sehr wichtig) die höchsten Mittelwerte erzielten. Berechnungen jeweils unter Ausschluss der Personen, die sich eines Urteils enthielten („kann ich nicht beurteilen“). BWP 6 /1999 15
FACHBEITRAG Befähigung der Experten zur Ideengenerierung reduziert Fazit und der Output insgesamt vergrößert werden. Die Erfahrungen mit diesem ersten Forschungsdelphi sind, Notwendig sind zudem weitere konzeptionelle Überlegun- was die Ökonomie des Verfahrens angeht, vielverspre- gen in Hinblick auf die Auswertung der gewonnenen Da- chend. Relativ schnell gelingt es, eine Vielzahl von Ideen ten. Es ist bisher nicht ausreichend belegt, dass Fragestel- und Informationen bei einer relativ großen Menge von Be- lungen, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen, bereits teiligten abzuschöpfen und zurückzuspielen. Dies macht heute von der Mehrzahl der Experten als solche erkannt das Verfahren sicherlich überall dort interessant, wo un- werden. Möglicherweise sind neue, kreative Ideen zunächst terschiedliche Institutionen in die Förderung eines gesell- einmal strittig, werden von Außenseitern vertreten und schaftlichen Bereichs eingebunden sind, je nach Funktion finden erst im Laufe der Zeit allgemeine Anerkennung. verschiedene Problemhorizonte entwickeln und dennoch Dies würde bedeuten, dass das Innovative und Zukunfts- gemeinsam die Zukunft verantworten. Der Sektor der be- weisende womöglich nicht so sehr auf den vorderen Plät- ruflichen Bildung ist dafür ein gutes Beispiel. Notwendig- zen einer nach Zustimmungsgrad geordneten Rangreihe keiten für konzeptionelle Verbesserungen und genauere (wie in Abbildung 2) zu entdecken ist, sondern im mittle- Überlegungen betreffen weniger die Delphi-Befragung als ren oder gar unteren Feld. Welche Heuristiken aber kön- solche als vielmehr die Phasen des In- und Outputs, die der nen den Weg zu diesen Ideen weisen? Erhebung vorausgehen (Stichprobenziehung, Item-Gene- rierung) bzw. sich ihr anschließen (Auswertungsmodelle Was gegenwärtig noch fehlt, sind bereichsspezifische Ana- und Schlussfolgerungen). lysen, also detailliertere Untersuchungen darüber, welche Ausgehend von den vorliegenden Ergebnissen zeigt sich, Forschungsaufgaben innerhalb verschiedener Themenbe- dass sich die Forschungs- und Entwicklungsaufgaben des reiche, wie z. B. „Bildungsökonomie“, „Lernstrategien“, BIBB vor allem auf drei Ebenen bewegen: der Gewinnung, „Medien“, „Europäische Berufsbildung“ oder „Qualitätsma- Analyse und Systematisierung von Daten, der Bewertung nagement“, als besonders relevant und innovativ erachtet und Interpretation von aktuellen Entwicklungen aus der werden können.7 Es reicht auch hier nicht aus, lediglich Sicht unterschiedlicher Entscheidungsträger (z. B. Politik, einfache Rangreihen anhand der Häufigkeitsverteilungen Betriebe, Individuum) sowie einer informationstechnisch oder Skalenmittelwerte zu bilden. Es gilt, differenziertere gestützten Vermittlung (Service) von zentralen Ergebnis- Hypothesen zu entwickeln, wie Konsens und Dissens un- sen der Berufsbildungsforschung und -entwicklung. Die ter den Befragten einerseits und Kreativität und Treffsi- mit der Delphi-Befragung gewonnenen Ergebnisse sollen cherheit andererseits miteinander in Beziehung stehen. Zu- die Forschungsplanung im BIBB unterstützen und für die dem gibt es personengebundene Einflüsse auf das Ant- Überarbeitung der Forschungsprioritäten herangezogen wortverhalten: Nicht nur das Ausmaß der Fachexpertise werden. Bevor jedoch konkrete Schlussfolgerungen getrof- bestimmt offenbar darüber, ob ein Urteil abgegeben wird, fen werden, gilt es die Ergebnisse in einem breiten Dialog, sondern z. B. auch die individuelle Risikofreudigkeit. auch außerhalb des Institutes, zu diskutieren. Anmerkungen 1 Erwartet wird, dass Befragungs- Arbeitsbericht Nr. 94/02. Mann- 5 Natürlich kann eine Delphi- 6 Mitglieder der Arbeitsgruppe, teilnehmer, die in ihrer Ein- heim, 1994; Häder, M. & Häder, Expertise allein politisches die das BIBB-Delphi durchführ- schätzung unsicherer sind als S.: Neuere Entwicklungen bei Handeln nicht determinieren. te, waren neben den Autoren ihre Kollegen, eher dazu neigen, der Delphi-Methode. Literatur- Sie ermöglicht einen qualifizier- Dr. Peter Dehnbostel, Guido ihre von der Mehrheitsmeinung bericht II. ZUMA-Arbeitsbericht ten Diskurs, ist aber kein Ersatz Franke, Dr. Peter-Werner Kloas, abweichenden Urteile zu korri- Nr. 98/05. Mannheim, 1998 für die politische Entscheidung. Dr. Dagmar Lennartz, Dr. Joaa- gieren und dem Meinungstrend sowie Franke, R.; Zerres, M.P.: Vgl. zum Nutzen von Delphi chim Reuling, Dr. Ernst Roß anzugleichen. Die höhere Unsi- Planungstechniken. Instrumente auch die im Ausbilder-Hand- und Dr. Jens Schmidt. cherheit könnte z. B. Folge einer für zukunftsorientierte buch (28. Erg,-.Lfg., Februar 7 Wir haben uns innerhalb der geringeren Sachkompetenz sein. Unternehmensführung. Frank- 1999) veröffentlichten Rezen- BIBB-internen Delphi-Arbeits- Durch die Korrektur werden ins- furt a.M., 1994, Kap. 10. sionen zweier Zukunftsstudien: gruppe darauf verständigt, bis gesamt jene Urteile stärker ge- 3 Vgl. Kuwan, H.; Ulrich, J.G.; BMBF (Hrsg.): Delphi-Befra- zum Frühjahr 2000 einen Be- wichtet, die auf einer „sichere- Westkamp, H.: Die Entwicklung gung 1996/1998. Potentiale richtsband zu erarbeiten, in dem ren“ und damit womöglich auch des Berufsbildungssystems bis und Dimensionen der Wissens- die inhaltlichen und methodi- valideren Basis gefällt wurden. zum Jahr 2020. Ergebnisse des gesellschaft – Auswirkungen schen Ergebnisse dieser Analy- 2 Einen sehr lesenswerten Über- Bildungs-Delphi 1997/98. In: auf Bildungsprozesse und sen nachgelesen werden können. blick zur Delphi-Methode geben: BWP 27 (1998) 6. S. 3-9 Strukturen; W. Kau u.a.: Häder, M. & Häder, S.: Die 4 Vgl. „Debakel von Delphi“. In: Berufsbildung hat Zukunft. Grundlagen der Delphi-Methode. „Spiegel Spezial“, Nr. 10, Ergebnisse einer Befragung von Ein Literaturbericht. ZUMA- 29.09.1998 Mittel- und Großbetrieben. 16 BWP 6 /1999
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