Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...

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Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
Demokratie?
Eine Frage der
Verfassung!
       Dokumentation eines
       Projektes zu neuen
       Wegen der historisch-
       politischen Bildung
       und gesellschaftlichen
       Verständigung
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
Inhalt                                                                                 Demokratie?
                                                                                       Eine Frage der
                                                                                       Verfassung!
                                                                                       Von: Uta Rüchel

S. 1 		 Demokratie? Eine Frage der Verfassung!                       Uta Rüchel

S. 4 		 Und unter uns die Lava             Christin Figl

S. 8 		 Die Krise der einen ist der Alltag der anderen
           Iskandar Ahmad Abdalla
                                                                                                                                      es sinnvoll, mit Blick auf die offenen Wunden
                                                                                                                                      in der Vereinigungsgeschichte seit 1990, das
S. 12 		 Ein vernachlässigter Absatz              Deike Janssen
                                                                                                                                      Grundgesetz in eine Verfassung zu verwan-
                                                                                                                                      deln? Gibt es Änderungsbedarf, um die demo-
S. 16 		 Eine Frage des Privilegs           Büsra Delikaya                                                                           kratische Verfasstheit unserer Gesellschaft
                                                                                                                                      zu sichern? Aus all diesen Überlegungen
S. 20		 Einfach mal zuhören           Laura Maria Niewöhner                                                                          entstand ein Projekt mit dem Titel Demo-
                                                                                                                                      kratie? Eine Frage der Verfassung!

                                                                                       J
S. 24 		 Warum Wählen nicht alles ist               Claudia Gatzka                                                                      Die Planungen waren in vollem Gange,
                                                                                                   ede Gesellschaft und jede Demo-    da tauchten die ersten Meldungen über ein
S. 28		 Vertrauen in unsicheren Zeiten                 Uta Rüchel                                 kratie sind historisch gewach-     bislang unbekanntes Virus auf und schnell
                                                                                                   sen, den Wandlungen mal mehr       wurden einschneidende Maßnahmen zu
S. 32 		 Freiheit(en) in unsicheren Zeiten                 Bastian Rottinghaus                    und mal weniger unterworfen,       seiner Eindämmung erlassen. Den daraufhin
                                                                                                   und gestaltbar. 2019/2020 tra-     einsetzenden Debatten um das Grundgesetz
        und Uta Rüchel                                                                             fen in Deutschland gleich vier     konnten und wollten wir uns nicht entziehen.
                                                                                       Jahrestage aufeinander: 170 Jahre Paulskir-    An Bürgerforen war aufgrund der Abstands-
S. 42		 Über die Gemeinschaft              Amel Ouissa                                chenverfassung, 100 Jahre Weimarer Reichs-     regeln bis auf Weiteres nicht mehr zu den-
                                                                                       verfassung, 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre     ken. So dokumentierten wir als Erstes unter
S. 46  		 Rückblick: Eine demokratische Zumutung                                      Friedliche Revolution und Deutsche Einheit.    dem Titel: „Das Grundgesetz und das Virus“
           Teresa Koloma Beck                                                             WIR MACHEN DAS, die Professur für Zeit-     von Mitte März bis Ende Mai 2020 die inten-
                                                                                       geschichte der Universität Bielefeld und die   sive Diskussion um verschiedene politische,
                                                                                       Robert-Havemann Gesellschaft e. V. planten     juristische und philosophische Reaktionen.
S. 50 		 Wer spielt mit?       Dilek Güngör
                                                                                       aus diesem Anlass eine bundesweite Debat-      Die mehr als sechzig Texte aus Zeitungen,
                                                                                       tenreihe. Die Fragestellungen: In welcher      Zeitschriften und dem Verfassungsblog be-
S. 54 		 Rückblick: Demokratie als Dialog                  Konrad Sziedat
                                                                                       Verfassung ist unsere Demokratie? Wie          legen eindrucksvoll, wie kontrovers diese
                                                                                       demokratisch ist unsere Verfassung? Welche     Debatte gleich zu Beginn der Pandemie ge-
S. 62 		 Nachwort       Christina Morina                                              Bedeutung haben die im Grundgesetz for-        führt wurde.
                                                                                       mulierten Werte und Grundsätze für unser          Unter dem Titel „Im Maschinenraum der
S. 64 		 Autor*innen und Illustrator*innen Bios                                       alltägliches Zusammenleben? Wo gehen           Demokratie“ luden wir im Mai 2020 alle In-

S. 65 		 Impressum                                                                1   verfassungsmäßiger Anspruch und gesell-
                                                                                       schaftliche Wirklichkeit auseinander? Wäre
                                                                                                                                      teressierten ein, einen Essay zu schreiben –
                                                                                                                                      aus wissenschaftlicher, journalistischer oder
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
persönlicher Perspektive, auf Deutsch, Eng-        lange in Deutschland leben und gewisse                  Vertrauen und Grundrechte in der Pandemie“         kratischer Einmischung, Partizipation und
lisch, Französisch oder Arabisch. Aus vier-        Sprachkompetenzen haben. Laura Maria Nie-               vom 25. Februar 2021 erlangte dank seines          Verständigung.
zig Einsendungen wählten wir am Ende vier          wöhner dokumentierte die Veranstaltung zu-              digitalen Formats, der verschiedenen Per-             Die Illustratorin Miriam Barton begleitete
Beiträge aus, die auch in diesen Projektband       sammen mit der Fotografin Bahar Kaygusuz.               spektiven und einer kontrovers geführten           alle Veranstaltungen der Tagung mit einer
aufgenommen wurden.                                Die Historikerin Dr. Claudia Gatzka von der             Diskussion eine überaus große Reichweite.          Live-Visualisierung. Und der Historiker Konrad
   Christin Figl fragt in ihrem Beitrag, wie wir   Universität Freiburg ergänzte die Diskussion            Der Oberbürgermeister von Neubranden-              Sziedat gibt in seinem Tagungsresümee einen
die aktuellen Spannungszustände aushalten          mit einem Essay, der erläutert, warum Wäh-              burg, Silvio Witt, der Chefredakteur des           Überblick über das vielfältige demokratische
können, und verweist auf hitzebeständige           len nicht alles ist.                                    Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags,          Repertoire, das es weiterzuentwickeln und
Materialien sowie ein bewegliches UND statt           Um einen möglichst breiten Einblick zu               Stefan Hans Kläsener, sowie der Soziologe          auszubauen gilt.
starrer Positionen. Den Ausgangspunkt des          bekommen, wie die Freiheitsrechte, die der              Armin Nassehi und die Politikwissenschaft-            Die Tagung am Ende des Projekts lässt
Textes von Iskandar Ahmad Abdalla bildet           Demokratie zugrunde liegen, von den Bür-                lerin Ulrike Guérot diskutierten einen Abend       sich auch als Ausdruck einer historisch ge-
die Angst, die in Zeiten von Corona alle Men-      ger*innen verstanden und in Krisenzeiten                lang über die neuen Herausforderungen an           wachsenen Gesellschaft lesen, in der nach
schen verbindet. Doch eben diese Angst und         gewichtet werden, organisierten wir im Juni             die Demokratie: Welche Rolle spielen frei-         wie vor um die Demokratie als Lebensform,
eingeschränkte Grundrechte seien für viele         und Juli 2020 die Online-Umfrage: „Frei-                heitliche Grundrechte in unsicheren Zei-           Partizipation, aber auch um die dafür notwen-
Migrant*innen nicht Ausdruck einer einzel-         heit(en) in unsicheren Zeiten“. Neben sozio-            ten? Wie verständigt sich eine demokratisch        digen Institutionen und Formate gerungen
nen Krise, sondern ihr Alltag, schreibt er.        demografischen Daten wurden individuelle                verfasste Gesellschaft über geeignete und          wird. Neue Formen der demokratischen Ver-
Deike Janssen beschäftigt sich mit der in          Sichtweisen und Einschätzungen erfasst: die             erforderliche Einschränkungen? Und wie             ständigung zu erproben, wie es sich dieses
Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes deklarierten       eigene Betroffenheit von Grundrechtsein-                wichtig ist Vertrauen in Politik und öffent-       von der Bundeszentrale für politische Bil-
Gleichheit der Geschlechter. Anders als im         schränkungen, das Vertrauen in Regierung                lich-rechtliche Medien für die Akzeptanz           dung geförderte Modellprojekt zum Ziel ge-
Gesetzestext gefordert, seien Frauen* bei          und Justiz sowie die Position zu einem ange-            von Grundrechtseinschränkungen in der Be-          setzt hatte, war angesichts der Pandemie
politischen Entscheidungsprozessen nicht           messenen Umgang mit den sogenannten Risi-               völkerung?                                         während des Projektzeitraums kaum mög-
angemessen beteiligt und repräsentiert.            kogruppen. Auch ging es um die Bedeutung                   Die Schriftstellerin Dilek G üngör fragt sich   lich. Doch die teilweise sehr polarisierten
Doch gerade sie sind von den Auswirkungen          von Medien und sozialen Netzwerken, die                 in einem ergänzenden Essay, wie Menschen           Auseinandersetzungen um Corona-Politik
der Pandemie zumeist überdurchschnittlich          Wahrnehmung öffentlicher Grundrechtsde-                 mit Migrationsgeschichte das vergangene            und Grundrechte haben einmal mehr ge-
betroffen und erledigen die systemrelevan-         batten und die eigene Bereitschaft, individu-           Jahr erlebt haben – wirken sich doch die           zeigt, wie dringend es ist, eine demokrati-
ten Arbeiten. Büsra Delikaya plädiert für ein      elle Einschränkungen von Freiheitsrechten               Einschränkungen und Herausforderungen              sche Verständigung – auch jenseits von par-
allumfassendes Verständnis des Freiheits-          zugunsten des Gemeinwohls zu akzeptieren –              durch die Pandemie je nach Lebensbedin-            lamentarischen Debatten – zu kultivieren.
begriffs, der niemanden ausschließt. Ihrer         etwa für das Erreichen von Klimazielen, die             gungen sehr unterschiedlich aus. Und die           Dabei wird zugleich deutlich, dass die Zahl
Meinung nach werden derzeit nicht nur die          Bekämpfung von Fluchtursachen oder für                  Soziologin Teresa Koloma Beck untersucht           derer, die gemeinsam nach Lösungen für
Widerstandsfähigkeit gesellschaftlicher So-        soziale Gerechtigkeit.                                  die Frage, wie eigentlich kommuniziert wird        gegenwärtige Fragen suchen wollen, weit-
lidarität sowie die Früchte politischer Bil-                                                               und welche Formen und Modalitäten des Mit-         aus größer ist, als es im medialen Diskurs
dung und demokratischer Aufklärung auf                                                                     einander-Sprechens geeignet sind, um in der        zuweilen scheint. Das direkte Gespräch, in
die Probe gestellt. Auch die noch immer                Vertrauen als Basis                                 Bearbeitung von Problemen und Konflikten           dem Menschen einander auf Augenhöhe von
vorherrschende Kluft zwischen den sozi-
alen Klassen sei besonders sichtbar und
                                                      für gesellschaftlichen                               tatsächlich voranzukommen.                         Angesicht zu Angesicht begegnen, wird da-
                                                                                                                                                              bei immer unersetzlich bleiben.
müsse uns beschäftigen.                                   Zusammenhalt
                                                                                                                    Formen des
          Freiheitsrechte                          Mehr als 2.000 Personen haben den Frage-
                                                                                                                 Austauschs suchen                               Berlin im Juni 2021

             im Fokus                              bogen vollständig ausgefüllt. Der Soziologe
                                                   Dr. Bastian Rottinghaus wertete die Ergeb-              Dieser zentralen Frage und einer Vielzahl
                                                   nisse gemeinsam mit mir als Projektleite-               von Formen der demokratischen Verstän-
Im Herbst 2020, kurz vor den Kommunal-             rin aus. Die vollständige Studie ist auf der            digung widmete sich die Abschlusstagung
wahlen in Nordrhein-Westfalen, konnte noch         Projektseite von WIR MACHEN DAS nachzu-                 des Projektes am 29. April 2021 „Demokra-
ein Gesprächsformat realisiert werden. Die         lesen, für die vorliegende Dokumentation                tie als Dialog. Neue Wege der historisch-
Veranstaltung „Du hast die Wahl!“ bot für          wurde eine Kurzfassung erstellt.                        politischen Bildung und gesellschaftlichen
Jugendliche und junge Erwachsene die Ge-              In meinem Essay „Vertrauen in unsicheren             Selbstverständigung“. Bis zum Nachmittag
legenheit, über Volljährigkeit und Staats-         Zeiten“ habe ich eines der wesentlichsten               wurde in drei Panels über verschiedene For-
bürgerschaft als Voraussetzungen für eine          Ergebnisse der Befragung aufgenommen, in-               men der Bürger*innenbeteiligung diskutiert:
Teilnahme an Wahlen zu diskutieren. Einig          dem ich den Voraussetzungen für Vertrauen               Wo sind sie das Mittel der Wahl? Wo kom-
waren sich alle, dass das Wahlalter auch auf       nachgehe. Ergänzend dazu schreibt die Sozio-            men sie an ihre Grenzen? Wer hat Zugang
Bundesebene auf sechzehn Jahre herabge-            login Amel Ouaissa über Gemeinschaften                  und wer nicht? Am Abend sprachen Stephan
setzt werden sollte und dass die stetigen          und den Umgang mit der Pandemie. Sie                    Detjen vom Deutschlandradio, die Künstlerin
Zweifel älterer Generationen an der Ent-           greift dabei auf ihre Erfahrungen als Kind              Elske Rosenfeld, die sich mit den Verfas-
scheidungs- und Verantwortungskompe-               zurück und empfiehlt ein Denken in zeitli-              sungsfragen seit 1989 auseinandersetzt, Jana
tenz von Jugendlichen nerven. Um Exklusion         cher Begrenzung auch für den Umgang mit                 Michael als Leiterin der Migrantinnenselbst-
und mögliche Diskriminierung zu vermeiden,         der aktuellen Pandemie.                                 organisation Tutmonde und Rouzbeh Taheri
plädierten viele dafür, das Wahlrecht auch
auf Migrant*innen auszuweiten, die schon
                                                      Das Gesprächspanel „Das Virus ist eine
                                                   demokratische Zumutung‘ – Über Politik,         2   3   von der Initiative Deutsche Wohnen & Co ent-
                                                                                                           eignen! über Ansätze und Erfahrungen demo-
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
Christin Figl hat die Corona-Pandemie zum
                                                   Anlass genommen, um zu hinterfragen,
                                                   wie die derzeitigen gesellschaftlichen
                                                   Spannungen am besten auszuhalten
                                                   sind. Dabei ist sie exakt im Sprachbild
                                                   geblieben: Von den hitzebeständigen
                                                   Materialien des Maschinenraums über die
                                                   geologischen Verhältnisse im Erdinnern
                                                   denkt sie bis hin zu einer widerständigen

Und unter                                          Demokratie.

uns die Lava
—
Von: Christin Figl
Essaywettbewerb
Illustration: Johanna Benz
                                                                                  offen, spielt Leben gegen Freiheit aus, Schutz
                                                                                  gegen internationale Solidarität und spitzt
                                                                                  die Positionen zu. Die Demokratie steht da-
                                                                                  zwischen, muss Vielstimmigkeit aushalten,
                                                                                  sie nicht nur zulassen, sondern fördern und
                                                                                  darf dennoch nicht zerreißen. Auch nicht in
                                                                                  außergewöhnlichen Situationen.

                                 F
                                                                                     Eine Lebenskrise wird in der Psychothe-
                                              euerbeständig soll er sein. Große   rapie gerne als Chance gesehen. Wenn bis-
                                              Hitze aushalten, Flammen wider-     herige Problemlösungsstrategien nicht mehr
                                              stehen, bestenfalls warm werden.    greifen, bietet die Krise Lernmöglichkeiten,
                                              Nie mitfiebern, versengen, ver-     kann notwendige Veränderungen aufzeigen
                                              brennen. Der Maschinenraum der      und Menschen im besten Fall gestärkt dar-
                                              Demokratie.                         aus hervorgehen lassen.
                                 Eine schöne Vorstellung, so ein sicherer Ort,       Es ist eine Krise, in der wir uns derzeit
                                 ein Raum, in dem das Triebwerk und alle          befinden, höre und lese ich oft und ich frage
                                 essenziellen Einrichtungen gut geschützt         mich, wer sie als solche lebt und erlebt, die
                                 sind. Aber kann Demokratie in einen solchen      Ausnahmesituation. Bricht durch Corona
                                 Raum gesperrt werden? Lebt sie nicht von         plötzlich die Krise in den Garten am Stadt-
                                 Austausch und Dialog? Ist ihr Kern nicht per     rand ein, in das Leben der pensionierten In-
                                 se schon immer verbunden mit dem Außen?          genieurin, in das Büros des Professors? Viel-
                                    Die Notwendigkeit von Schutz, Bestän-         leicht. Wahrscheinlich wird sie dort jedoch
                                 digkeit und Sicherheit zerrt in die eine Rich-   gut abgefedert durch Ressourcen, durch
                                 tung, der Wunsch nach Flexibilität, Mitbe-       vorhandenen Raum, durch Geld und eine
                                 stimmung, Offenheit und Freiheit in die          Vielzahl an Möglichkeiten. Ein ungebrems-
                                 andere. Diskussionen verhärten die Lage,         ter Aufprall dagegen bricht mit voller Wucht
                                 wenn Forderungen gegeneinander ausge-            ein, zerstört und gefährdet: Der gewalttäti-
                                 spielt werden und das Und nicht mehr denk-       ge Partner wird zum einzigen Sozialkontakt

                             5   bar scheint. Ein Entweder-oder verstärkt
                                 die Spannung, lässt kaum Zwischenräume
                                                                                  und zur ständigen Bedrohung, die Existenz
                                                                                  des freiberuflichen Musikers bricht weg, die
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
Dafür müssten die Demokratie sowie wie
                                                                                                       jede*r Einzelne in dieser schwierigen Situ-
                                                                                                       ation gut aufeinander achten. Wir müssten
                                                                                                       Nein-Sagen lernen, wenn Grenzen massiv
                                                                                                       missachtet werden, für positive Erfahrungen
                                                                                                       sorgen und Neues ausprobieren. Statt sich
                                                                                                       zu isolieren, gilt es, Verbindungen zu fördern,
                                                                                                       positive Beziehungen zu stärken und sich
                                                                                                       gegenseitig zu unterstützen.
                                                                                                          Menschen in Krisensituationen können
                                                                                                       problemorientiert den Stressauslöser her-
                                                                                                       ausfinden und die Ursache beheben sowie
                                                                                                       emotionsorientiert das eigene Verhalten
                                                                                                       und die damit einhergehenden Gefühle ver-
                                                                                                       ändern. Der Auslöser dieser Krise ist be-
                                                                                                       kannt, mögliche Impf- und Behandlungs-
                                                                                                       stoffe werden erforscht, die Ungewissheit,
                                                                                                       wie die nächsten Monate verlaufen werden
                                                                                                       und damit einhergehende offene Fragen
                                                                                                       bleiben jedoch.
                                                                                                          In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
                                                                                                       Wie kann Gerechtigkeit im Gesundheitssys-
                                                                                                       tem gewährleistet werden? Was braucht
                                                                                                       es für die Zukunft der Globalisierung und
                                                                                                       eine globale Verteilung von Gütern? Ist die
                                                                                                       Demokratie all diesen Fragen gewachsen?
                                                                                                       Schafft sie es, die Spannungszustände gut
                                                                                                       auszuhalten? Die Maßnahmen müssen dafür
                                                                                                       stets abgestimmt werden auf die sich ver-
                                                                                                       ändernden Verhältnisse, alles muss im Fluss
alleinerziehende Mutter soll in der kleinen     Demokratie, und kann sich der Ursache der              bleiben. Nur so können Schutz und Solidari-
Stadtwohnung Kindergarten, Schule und           Krise stellen, Lösungsstrategien entwickeln            tät gewahrt werden, ebenso Vertrauen und
Homeoffice unterbringen, die dringend not-      und aktiv auf Veränderungen eingehen.                  Kontrolle, Sicherheit und Freiheit.
wendige psychotherapeutische Reha wird          Covid-19 katalysiert an vielen Stellen, be-               Auch tief unter uns ist es flüssig. Die
für den arbeitslosen Fremdenführer bis          schleunigt, vergrößert und verstärkt da-               Hitze im Erdinneren spüren wir selten, die
auf Weiteres verschoben. In Lars von Triers     mit bisherige Situationen – individuelle               schweren Stoffe sanken mit der Zeit hinein,
„Melancholia“ sind das Näherkommen und          Lebensumstände wie politische Systeme.                 leichtere Materialien kühlten außen nach
der Aufprall des fremden Planeten nicht         Verschleierte Strukturen werden sichtba-               und nach ab. Fest und flüssig, stabil und be-
mehr zu verhindern. In der jetzigen Situation   rer, wenn Menschenrechte sich primär an                weglich, widerstandsfähig und vulnerabel
dagegen ist es Aufgabe der Demokratie, den      Staatsbüger*innenschaft heften und der                 macht es uns die Erdkugel seit Jahrtausen-
Aufprall abzufedern, auszubalancieren, um       Schutz vor Covid-19 verebbt, wenn es um                den vor – das geht.
nicht die eigene Form zu verlieren.             die Situation von geflüchteten Menschen
   Wie können wir sie nun schützen, die De-     geht. Patriarchale Strukturen treten hervor,
mokratie, die stabil und beweglich sein soll,   wenn eine Riege an überwiegend weißen,                 Erschienen am 08.06.2020
offen und zugleich geschützt?                   männlichen Virologen, Politikern und Spe-
   Widerstandsfähige Materialien müssen         zialisten das Sagen haben. Die Krise macht
nicht starr sein, viele geben dem Druck bis     deutlich, wo Schwachstellen liegen, wo die
zu einem gewissen Grad nach und kehren          Demokratie angreifbar wird, strauchelt und
dann in den Ausgangszustand zurück. Brü-        Nachbesserungen notwendig werden.
cken müssen schwingen, damit sie die Be-
lastung ausgleichen und sind dennoch stabil.
Eine Demokratie kann sich nicht hermetisch        In welcher Gesellschaft
abschließen, einsperren und schützen, son-
dern braucht immer auch das Korrektiv von
                                                     wollen wir leben?
außen und muss reagieren können.
   Vielleicht braucht es keinen Material-       Doch wie kann sie gestärkt hervorgehen aus
raum, vielleicht reichen hitzebeständige,       der Pandemie? Welche Chancen liegen in
widerstandsfähige Materialen als Basis. Da-
mit ausgestattet bleibt sie gut sichtbar, die
                                                der derzeitigen Situation? Kann das Und ge-
                                                stützt und Vielstimmigkeit gelebt werden?      6   7
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
Die Angst vor dem Unbekannten, dem
                                                    Unberechenbaren verbindet in Zeiten von
                                                    Corona nahezu alle. Die Einschränkungen

Die Krise der einen
                                                    jedoch, unter denen die Gesellschaft
                                                    derzeit leidet, kennen viele Menschen auch
                                                    ohne Pandemie. Darüber, wer sich in
ist der Alltag der                                  Krisenzeiten Gehör verschafft und wessen
                                                    Ängste im Vordergrund stehen, schreibt
anderen                                             Iskandar Ahmad Abdalla.
­—
 Von: Iskandar Ahmad Abdalla
Essaywettbewerb
Illustration: Johanna Benz

                                                                                 Menschen werden derzeit also von täglichen
                                                                                 Ängsten getrieben: der Angst, angesteckt zu
                                                                                 werden oder andere anzustecken, der Angst
                                                                                 um Nahestehende, Angst vor Arbeitslosig-
                                                                                 keit, vor dem wirtschaftlichen Ruin, dem
                                                                                 Verlust des Status, der Angst vor Einschrän-
                                                                                 kungen bürgerlicher Freiheiten. Werden un-

                                   H
                                                                                 sere Freiheiten nach Covid-19 dieselben sein
                                                 at „die Gesellschaft der        wie zuvor? Das fragen sich viele besorgt.
                                                 Angst“, von der der Soziologe      Ich frage mich das selber auch und hoffe
                                                 Heinz Bude in seinem gleich-    auf ein „Jein“ als Antwort. Denn sicher-
                                                 namigen Buch schreibt, mit      lich vermisse ich die Kinos, die Kneipen, die
                                                 Covid-19 nun ihre entspre-      Klubs und das gelassene Zusammensitzen
                                                 chende Kulisse gefunden?        mit Freunden in den arabischen Restaurants
                                   Nichts mag bedrohlicher und unmittelba-       der Neuköllner Sonnenallee. Ich vermisse
                                   rer erscheinen als eine Pandemie. Denn wir    meine Uni und meine Arbeit. Bestimmt ver-
                                   können nicht wissen, ob oder wann sie auf-    missen andere ganz ähnliche Dinge, wollen
                                   hört. Für ihre Bekämpfung müssen Staaten      das Leben, so wie es war, weiterführen. Doch
                                   Maßnahmen ergreifen, die unerwünschte         das heißt keinesfalls, dass dieses Leben
                                   Folgen haben werden. Und wie schwerwie-       für alle gleich gut, sicher und würdig war. Es

                               9   gend diese Folgen ausfallen, kann uns noch
                                   niemand sagen.
                                                                                 bedeutet nicht, dass Angst im Leben aller
                                                                                 eine ähnliche Rolle gespielt hat.
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
für Träumer*innen aus dem globalen Sü-
                                                                                                           den, die im Westen nach einem gerechteren
                                                                                                           Leben suchten, für Menschen in der Diaspora.
                                                                                                           Die Ausgangssperren, die heute europäische
                                                                                                           Städte blockieren, erscheinen vielen Asylsu-
                                                                                                           chenden, die nach dem Ankommen in Europa
                                                                                                           ihre Ortsgemeinde nicht verlassen durften,
                                                                                                           nicht allzu fremd. Auch das Gefühl, dass die
                                                                                                           Stadt einem nicht richtig gehört, dass man
                                                                                                           vermehrt auf sein Benehmen in der Öffent-
                                                                                                           lichkeit, sein Verhältnis zu anderen achten
                                                                                                           muss, die Unsicherheit, die einen während
                                                                                                           eines Spaziergangs oder beim Einkaufen be-
                                                                                                           gleitet – all dies sind Dauererfahrungen, die
                                                                                                           das öffentliche Leben vieler Migrant*innen
                                                                                                           und nichtweißer Menschen prägen.
                                                                                                               Was für einige die Krise ist, ist der All-
                                                                                                           tag der anderen. Was jedoch an der derzeiti-
                                                                                                           gen Krise besonders bleibt, ist, dass uns die
                                                                                                           Angst dieses Mal alle verbindet.
                                                                                                               Heinz Bude führt die Angst moderner Ge-
                                                                                                           sellschaften auf einen „Optimierungswahn“
                                                                                                           und eine „Lebenshaltung“ zurück, die „auf
                                                                                                           nichts verzichten will“2. Damit bringt die
                                                                                                           aktuelle Angst vor der Pandemie neue Er-
                                                                                                           kenntnisse ins Spiel. Denn Verzicht gilt der-
                                                                                                           zeit als Beruhigungsmittel. Damit die Welt
                                                                                                           so bleibt, wie sie war, müssen wir Verzicht
                                                                                                           auf Privilegien und Freiheiten lernen. Ver-
                                                                                                           zicht kann aber auch zu einer Möglichkeit
                                                                                                           werden, endlich an all diejenigen zu denken,
Die feministische Philosophin Sara Ahmed        Sie ist allumfassend und global. Sie trifft                die sonst selten mitgedacht werden und die
lehrt uns einiges über die Angst. Angst be-     Demokratien und Autokratien, reich und arm,                das, worauf heute alle verzichten müssen,
deutet für sie nicht bloß ein Gefühl, sie er-   Unterdrücker und Unterdrückte. Und para-                   auch vorher nicht hatten. Eine neue Sensi-
möglicht auch Dinge, setzt Grenzen, trennt      doxerweise liegen hierin neue Möglichkeiten                bilität für Verzicht macht Menschen- und
das Innen vom Außen, organisiert das Ver-       für unser Zusammenleben. Die Vehemenz,                     Freiheitsrechte in der jetzigen Situation
hältnis von Körpern zueinander und zum          mit der die besorgte bürgerliche Mitte in                  nicht obsolet, sondern schützt sie davor,
Raum und regelt somit menschliche Kollek-       Deutschland auf ihre Freiheitsrechte in der                zum „Inbegriff heuchlerischen […] Idealis-
tive und Zugehörigkeiten immer wieder neu.      Krise pocht, ist nachvollziehbar. Freiheit ist             mus“3 zu werden, wie Hannah Arendt einst
                                                im Grundgesetz verankert. Sie ist ein teures,              warnte. Selbstreflexion und Verzicht sollten
                                                schwer erkämpftes Gut und wert, verteidigt                 dazu führen, dass die Zukunft in corona-
   Wie die Angst uns alle                       zu werden. Doch basiert das Einfordern jener               freien Zeiten anders angestrebt wird als
         verbindet                              Freiheit auf Teilansichten. Denn in der Tat
                                                galt diese Freiheit niemals für alle, vielmehr
                                                                                                           bisher. Damit die kommende Welt gerechter
                                                                                                           und freier wird. Für alle.
                                                wurde sie für die einen häufig auf Kosten an-
Angst, so Ahmed, kann ein Instrument zur        derer bewahrt. Die zahlreichen Einschrän-
Bildung von politischen Allianzen und der       kungen, die gerade unerwartet die Mitte der                    Erschienen am 08.06.2020
Konstruktion von Feindbildern und Dro-          westlichen Wohlstandsgesellschaften treffen,
hungen sein. Zu diesen Bildern gehören die      sind für viele Menschen trauriger Alltag – ob
„fortschreitende Islamisierung“ oder die        in Gaza oder an der türkisch-griechischen
„Migrantenflut“. Angst dient also unter an-     Grenze. Selbst hier, mitten in Europa, war
derem als „Technologie des Regierens“, bei      das öffentliche Leben, das nun vermisst                    1   Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotions,
der nicht selten emotionale Manipulation        wird, niemals für alle gleich zugänglich. Das                  Edinburgh: Edinburgh University Press, 2004.
und falsche Projektionen eingesetzt werden.1    freie, unbeschwerte Flanieren, dem viele                       Siehe das Kapitel über Angst „The Affective
Spannend an unserer gegenwärtigen Angst         jetzt nachweinen, ist für einige auch vorher                   Politics of Fear“, S. 62–82.
ist jedoch, dass sie weder auf nationalen,      keine Möglichkeit gewesen.                                 2   Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg:
ethnischen oder kulturellen Mythen gründet         Für sie waren nationale und soziale Gren-                   Hamburger Edition, 2014, S. 96.
noch auf bestimmte Länder oder Gemein-
schaften begrenzt ist.
                                                zen schon immer unüberwindbar – für et-
                                                liche Schutzsuchende aus Kriegsgebieten,         10   11   3   Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler
                                                                                                               Herrschaft, München: Piper, 2001, S. 546.
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
In Artikel 3, Abs. 2 des Grundgesetztes
                                                    steht: „Männer und Frauen sind
                                                    gleichberechtigt“. Deike Janssen schreibt,
                                                    dass Frauen* seit Beginn der Corona-
                                                    Pandemie dennoch viel zu wenig bei
                                                    politischen Entscheidungsprozessen
                                                    beteiligt sind. Dabei sind gerade sie von
                                                    den Auswirkungen der Pandemie
                                                    überdurchschnittlich betroffen.

Ein
                                                                                   erzeugen. Denn Frauen* werden in diesen
                                                                                   Zeiten nicht nur systematisch benachteiligt,
                                                                                   sondern sind auch evident stärker betroffen
                                                                                   von Maßnahmen und deren Auswirkungen.

vernachlässigter
                                                                                   Beispielsweise vom Anstieg häuslicher Ge-

                                  D
                                                                                   walt, dem eingeschränkte Schutzangebote
                                                  ie Einschränkung der Grund-      gegenüberstehen. Auch durch erhöhte öko-
                                                  rechte zugunsten der Gesund-     nomische Abhängigkeit vom Partner, Ver-

Absatz                                            heitsvorsorge ist unumstreit-
                                                  bar und rechtens. Fraglich
                                                  ist jedoch, warum die Maß-
                                                                                   dienstausfälle oder Kündigungen. Vor allem,
                                                                                   da Frauen überrepräsentiert sind im Nied-
                                                                                   riglohnsektor, etwa im Gastgewerbe oder

—                                                 nahmen im Kampf gegen die
                                  Pandemie nicht auf grundlegende Freiheits-
                                                                                   im Tourismus, und dort oftmals in prekären
                                                                                   Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind.

Von: Deike Janssen                rechte hin gestaltet werden. Denn derzeit
                                  scheint es, als wirke der Staat nicht auf die
Essaywettbewerb                   tatsächliche Beseitigung von bestehenden              Grundrechte sollen
                                  Nachteilen während der Covid-19-Pandemie
                                  hin. Die aktuelle Krise hat bestehende Ge-
                                                                                        Freiheiten schützen
Illustration: Johanna Benz        schlechterungleichheiten nicht nur deutli-
                                  cher sichtbar gemacht, sondern auch ver-         Die Grundrechte sollen die Freiheiten von
                                  schärft – ob es dabei um Lohngerechtigkeit,      Bürgerinnen und Bürgern schützen. Wie
                                  Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gleichbe-   also kann so ein wichtiges, im Grundgesetz
                                  rechtigte/-verteilte Erziehungs- und sonstige    verankertes, Recht auf Gleichberechtigung
                                  Sorgearbeit, faire Arbeitsbedingungen oder       während der Covid-Pandemie einfach nicht
                                  Entlohnung in all den Berufen geht, die noch     mitgedacht werden? Vielleicht weil in der
                                  immer vorwiegend von Frauen* ausgeführt          Krise – mal wieder – vor allem Männer an
                                  werden. Unterm Strich werden Frauen* der-        entscheidenden Positionen sitzen, vom Ge-
                                  zeit in eigentlich überholte Rollenbilder zu-    sundheitsminister über die konsultierten
                                  rückgedrängt. Doch warum ist das so?             Experten aller Fachrichtungen bis hin zu
                                     Stimmen und Proteste von Frauen*, die         den wichtigsten Meinungsmachern in den
                                  in der aktuellen Krise für die Einbeziehung      Medien. Und weil sie den Paragrafen § 3
                                  von Genderperspektiven eintreten, werden         vielleicht schlicht und einfach vergessen
                                  schnell durch das Argument abgewiegelt,          haben. Vermutlich wollen die zuständigen
                                  die Situation sei einzigartig. Erstmal stün-     Fachkräfte und Politiker Frauen* derzeit
                                  den die Gesundheitsversorgung, der Schutz        nicht systematisch benachteiligen, aber es
                                  des Lebens und der Wiederaufbau der Wirt-        waren schlichtweg zu wenig Frauen* selbst
                                  schaft im Vordergrund. Es gehe schließlich       an ihren Entscheidungen beteiligt. So saßen
                                  um Leben. Wie in jedem Krieg, jeder Pan-         in der Expertengruppe, die die Bundesre-
                                  demie und jeder Katastrophe zuvor sind es        gierung in ihrer Corona-Politik beriet, 24

                             13   exakt dieselben Mechanismen, die ein Zu-
                                  rückwerfen in patriarchalische Strukturen
                                                                                   Männer und zwei Frauen* mit dem Durch-
                                                                                   schnittsalter von sechzig Jahren.
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
müssen Frauen* angemessen in politischen
                                                                                                          Entscheidungsprozessen repräsentiert und
                                                                                                          daran beteiligt werden.

                                                                                                          Doch es geht um mehr als nur das Aushan-
                                                                                                          deln und Entscheiden von Maßnahmen zur
                                                                                                          Bekämpfung der Pandemie. Es geht nicht
                                                                                                          nur um den langsamen Prozess der realen
                                                                                                          Gleichstellung der Geschlechter und die
                                                                                                          Zeit nach der Pandemie. Auch nicht aus-
                                                                                                          schließlich um unbezahlte Care-Arbeit und
                                                                                                          geschlechterbasierte Ungerechtigkeiten. Die
                                                                                                          ‚bestehenden Nachteile‘, die das deutsche
                                                                                                          Grundgesetz nennt,1 sind, vor allem in inter-
                                                                                                          nationalem Maßstab, weitaus tragischer und
                                                                                                          extremer. Frauen* sind weltweit überpro-
                                                                                                          portional von Sterblichkeit und Erkran-
                                                                                                          kungsraten in Pandemien betroffen.2 Diese
                                                                                                          Tatsache wurde bisher bei der Covid-19-
                                                                                                          Pandemie noch nicht festgestellt, aber die
                                                                                                          Annahme, die Infektionen beträfen Männer
                                                                                                          und Frauen* gleichermaßen, ist fatal. Denn
                                                                                                          dadurch werden die Daten in und nach der
                                                                                                          Pandemie nicht nach Geschlechtern aufge-
Die verstärkten Nachteile, die dadurch für                Die Gender-                                     schlüsselt, so dass geschlechtergerechte
Frauen* entstehen, sind nicht gleich unmit-
telbar zu erkennen, weil hier eine systemisch-
                                                        perspektive fehlt                                 Schutzkonzepte und Ungleichheiten noch
                                                                                                          weniger Beachtung finden. Dabei erledigen
strukturelle    Verschärfung      bestehender                                                             Frauen* nicht nur mehr unbezahlte Care-
Nachteile geschieht, keine ruckartige Ver-       Ein Beispiel: Wenn durch eine Pandemie                   Arbeit, sondern sind auch traditionell eher
schiebung. Viele Frauen* scheinen in Zeiten      öffentliche Dienstleister wie Schulen und                dort im Einsatz, wo ein erhöhtes Infektions-
der Krise – wenn auch unter Protest – vor-       Kitas schließen, sinkt nicht der Bedarf an               risiko besteht. Als Putz- und Waschkräfte, in
erst mehr oder weniger freiwillig auf ihr        dieser Arbeit, sondern er wird verlagert –               Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Super-
Grundrecht zu verzichten. Sie scheinen es        und zwar wie seit jeher auf Frauen*, mit-                märkten, der Notbetreuung von Kindergärten
hinzunehmen, weil ihr gesamtes Handeln           samt allen negativen Auswirkungen auf                    und Grundschulen sind sie überproportional
systemerhaltend ist und ihr gesellschaftli-      deren Berufstätigkeit oder Freizeit. Das ge-             vertreten und dadurch dem Risiko derzeit
cher Beitrag traditionell als Selbstverständ-    schieht nicht, weil jede einzelne Frau* sich             am stärksten ausgesetzt.
lichkeit gilt.                                   individuell dazu entscheiden würde, diese
   Dabei sind Frauen* diejenigen, die während    Aufgaben heroisch zu übernehmen, son-
der Pandemie dringender gefragt sind denn        dern weil diese Art der Arbeitsteilung für                   Erschienen am 09.06.2020
je. In den sogenannten systemrelevanten          unser System immanent ist. Genau hier
Berufen – im Krankenhaus und im Lebens-          wird die fehlende Genderperspektive in der
mitteleinzelhandel – machen sie über 70          Beschließung mancher Maßnahmen sicht-
Prozent der Beschäftigten aus, in Kindergär-     bar: Eine Expertengruppe, die sich nichts
ten und Vorschulen sogar über 90 Prozent.        anderes vorgestellt hat als ein dichotomes
Das sollte nicht nur anerkannt, sondern          Mann-Frau-Modell, verfehlt die Realität, in
auch gewürdigt werden, zumal die Mitarbei-       der Frau* derzeit fast automatisch in tradi-
                                                                                                          1   Art. 3 Abs. 2 GG lautet vollständig: „ Männer und
tenden in diesen Bereichen jetzt noch ge-        tionelle Rollenbilder zurückgedrängt wird.
                                                                                                              Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die
brauchter und betroffener sind als sonst.        Absatz 2 des Artikels 3 des Grundgesetzes
                                                                                                              tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
Die Covid-19-Pandemie betrifft alle Men-         basiert auf der Annahme, es gäbe ein reprä-
                                                                                                              von Frauen und Männern und wirkt auf die Besei-
schen, ein Virus macht keinen Unterschied        sentatives Wissen über Perspektiven, Struk-                  tigung bestehender Nachteile hin.“
zwischen Geschlecht, Gender, Hautfarbe,          turen und Systematik der bestehenden                     2   Siehe beispielsweise die Ebola-Epidemie in Liberia:
Klasse oder Religion. Aber die Maßnahmen         Nachteile. Tatsächlich aber führt das Fehlen                 75 Prozent der an der Krankheit Verstorbenen
und Restriktionen und die damit verbunde-        von gesellschaftlicher und regulatorischer                   waren Frauen, in Sierra Leone bis zu 60 Prozent.
nen Krisen und Infektionsraten treffen nicht     Macht von Frauen* dazu, dass ihre Bedürf-                    Vgl. Jina Moore, Ebola Is Killing Women In Far
alle gleich, sondern besonders die Grup-         nisse und Perspektiven noch immer kaum                       Greater Numbers Than Men, BuzzFeedNews 20.8.
pen, die unter normalen Bedingungen schon        gehört werden. Ein Lösungsweg für dieses                     2014. Unter: https://www.buzzfeednews.com/
benachteiligt sind. Deswegen fordert das         Phänomen liegt auf der Hand: Um das Fehlen                   article/jinamoore/ebola-is-killing-women-in-far-
Grundgesetz eben auch nicht Gleichheit für
alle, sondern Gleichberechtigung.
                                                 von Perspektiven zu beheben und gender-
                                                 spezifische Themen sichtbar zu machen,         14   15       greater-numbers-than-men (abgerufen am
                                                                                                              10.05.2020)
Demokratie? Eine Frage der Verfassung! - Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch-politischen Bildung und gesellschaftlichen ...
Büsra Delikaya plädiert für einen Freiheits-
                                             begriff, der tatsächlich alle Menschen
                                             umfasst. Sie glaubt, dass durch Corona
                                             die Widerstandsfähigkeit gesellschaftlicher
                                             Solidarität auf die Probe gestellt wird. Und
                                             dass wir uns dringend mit der Kluft
                                             zwischen den sozialen Klassen beschäftigen
                                             müssen.

Eine Frage des                                                            se wieder in Kitas und Schulen, Spielplätze
                                                                          haben gerade erst wieder geöffnet, die Gas-

Privilegs
                                                                          tronomie strauchelt – und es fühlt sich noch
                                                                          immer so an, als wäre vor das rege Leben
                                                                          Berlins ein Riegel geschoben worden.

—                                                                         Dieser Tage schienen vor allem politische
                                                                          Vakanz und Verdrossenheit an Bedeutung zu

Von: Büsra Delikaya                                                       verlieren. Nicht aber die Pluralität der Bevöl-
                                                                          kerung, auch nicht die Transparenz poli-
Essaywettbewerb                                                           tischen Handelns, noch weniger aber der

                           D
                                                                          Raum für Debatten: Öffentlich und privat
                                          Die letzten Wochen und Mo-      werden die Verhältnisse unter stets neuen
                                          nate sind eine so vehemente     Vorzeichen diskutiert. Erleichtert kann man
                                          Verwirklichung des moder-       beobachten, dass die Presse sich dem Thema
                                          nen Krisenbegriffs, dass wir    in oftmals fundierten wie kritischen Beiträ-
                                          auch unseren gesellschaftli-    gen widmet. Es waren Journalist*innen, die
                                          chen Verbleib neu diskutieren   sich von Beginn der Krise an in nüchterner
                           mussten. Es galt immens viel abzuwägen, zu     Betrachtung und mit kritischem Ton an die
                           debattieren und besprechen, zu diskutieren     Öffentlichkeit wandten, um vernachläs-
                           und befragen. Zweifeln und Aufklären waren     sigten Diskursen mehr Reichweite zu ver-
                           gegenläufige Begleiter. Stündlich hangelte     schaffen. Um konträre Perspektiven nach-
                           man sich von einem Dissens zum anderen.        zuzeichnen, ja auch, um für Vorsicht und
                           Und mittendrin das ewige Warten.               Besonnenheit im Umgang mit den durch Co-
                              So verstrich die anfängliche Spannung und   rona bedingten Entwicklungen zu plädieren.
                           das Absitzen der unabsehbaren Zeit vor der     Es waren auch Journalist*innen, die strikte
                           ersehnten Normalität ließ eine träge Akzep-    Forderungen nach sofortigen Ausgangssper-
                           tanz aufkommen. Es war von Anfang an ein       ren anmahnten, als sich nicht wenige Bür-
                           Zustand jenseits der Normalität, in dem        ger*innen einer Panikstimmung hingaben.
                           wir nun seit geraumer Zeit durch vage Tage        Doch sah es teilweise auch so aus, als
                           schaukeln. Das gewohnte Leben bleibt vie-      fühlte sich die staatliche Autorität mit ei-
                           lerorts noch immer aus, die neue Norm be-      nem Freifahrtschein ausgestattet. Videose-
                           steht aus immer neuen Umstrukturierun-         quenzen, die größere Gruppen im öffentli-
                           gen. Noch immer werden auf regelmäßigen        chen Raum zeigten und als Rechtfertigung
                           Pressekonferenzen Regierungsbeschlüsse ver-    für deren Ächtung dienten, landeten zu-
                           lautbart. Ständig melden sich politische Ak-   hauf im Netz. Ebenso Fotos von Menschen
                           teure über soziale Medien zu Wort, während     ohne Masken und mit nicht anonymisiertem
                           amtierende Abgeordnete die Ein- und Aus-       Gesicht, damit zu sehen war, wer sich auf

                      17   führung einzelner Maßnahmen diskutieren.
                           Kinder gehen inzwischen immerhin tagewei-
                                                                          welche Weise nicht an Regeln hielt. Diese
                                                                          Bilder wirkten wie virtuelle Zeigefinger, die
sich über die Timelines etlicher User*innen       Landes ist es nicht, ausnahmslos jeden mit-               von Flüchtenden, die er in einem Statement
zogen, um nichts als destruktive Diskussi-        zunehmen, sondern nur diejenigen, die ge-                 von 2018 mit „Aslytourismus“ umschrieb.
onen zu forcieren – ähnlich schrill wie all       meinsame Grundsätze achten, anstatt durch                 Erst vor drei Monaten stellte Söder sich ent-
die Menschen, die für eine allgemeine Aus-        stereotypisierende Haltungen Fronten zu                   schieden gegen die Aufnahme von Geflüch-
gangssperre lautstark in den Vordergrund          eröffnen und zu verhärten.                                teten aus Griechenland in Deutschland.
traten. Mit Blick auf die außergewöhnlichen       Ein gegen Geflüchtete hetzender Popsänger                 Inzwischen sind es fast 40.000 Menschen,
Umstände war das zwar nachvollziehbar,            wie Xavier Naidoo, der den ohnehin unauf-                 die auf griechischen Inseln unter unwürdigen
aber – so entschied die Regierung letztend-       hörlich wachsenden Antisemitismus und an-                 Bedingungen zwischen Ungewissheit und
lich – nicht gerechtfertigt. Neben Journa-        timuslimischen Rassismus befeuert, bedient                Angst ausharren.
list*innen und den Stimmen besonnener             sich nicht der Meinungsfreiheit zugunsten                    Der Grund, weshalb Politiker*innen wie
Bürger*innen war es die Bundeskanzlerin           der Demokratie, sondern des Populismus zu-                Söder innerhalb der Krise trotz allem gefeiert
selbst, die implizit zum kritischen Denken        gunsten rechter Ideolog*innen. Gänzliches                 werden, geht mit der Neuen Sozialen Frage
anhielt. Die sich expressis verbis für die Ein-   Misstrauen gegenüber der Regierung bedeu-                 einher. Die Frage, die sich für gewöhnlich
führung von Maßnahmen unter genauer Ab-           tet eine Kehrtwende in Richtung identitärer               hierzulande stellt, ist die nach Freiheit und
wägung ihrer Dringlichkeit aussprach.             Strömungen – das Auffangbecken für poli-                  Sicherheit für deutsche Bürger*innen, nicht
    Erwartungen an die Politik stiegen parallel   tische Verbitterung und ideologischen Hass                aber die nach einem allumfassenden Frei-
zum Verlauf der Kurve an. Sobald diese            schlechthin. Doch Deutschland ist beileibe                heitsbegriff. Nach diesem wird kaum ge-
abflachte, hielten viele die Krise fälschli-      kein Land, das sich einen Aussetzer im Den-               sucht, es scheint den meisten zu genügen,
cherweise für überstanden. Fortwährende           ken von Gemeinschaftlichkeit leisten kann,                wenn die eigene Freiheit und Sicherheit ge-
Maßnahmen wurden lästig, erschienen un-           erst recht kein Verlassen der demokrati-                  währleistet sind. Wer aber bleibt dabei auf
nötig, wurden von Dilettant*innen willkür-        schen Grundhaltung.                                       der Strecke? Wenn diese Frage zweitrangig
lich verfälscht. Die auf bürgerliche Freiheiten      Derzeit wird hier mit Begriffen wie Dikta-             bleibt, dann sehe ich die demokratischen
bedachte Wachsamkeit über politisches             tur und Regime um sich geworfen, in einem                 Werte Gefahr laufen, durch Hierarchien ab-
Handeln begann von kruden Verschwö-               Land, das zwischen 1933 und 1945 den                      gelöst zu werden, in denen beispielsweise
rungstheorien überschattet zu werden. Pa-         schlimmsten Auswüchsen einer Diktatur                     Heimatlose und Menschen ohne oder mit
rallel entstand ein ausgeprägter Gegenpol,        Raum gegeben hat. Mit Angst vor „Zwangs-                  nur schlecht bezahlter Arbeit keine Stimme
der in konspirativen und meist rechten Ideo-      impfungen“ und anderen Repressalien wird                  haben und den Privilegiertesten das Mikro-
logien kulminierte.                               bei Demonstrationen gegen einen angeblich                 fon gereicht wird.
    Tatsächlich besteht nun die Gefahr, be-       neu erwachenden Faschismus argumentiert.                     Stumm bleiben wieder einmal die sozial
rechtigte und für eine Demokratie überle-         In einem Land, das sich in jüngster Vergan-               Unsichtbaren. Stumm sind sie auch geblieben,
benswichtige Kritik (z. B. gegenüber Tracking-    genheit in den öffentlichen Reaktionen auf                als sie buchstäblich beklatscht wurden, weil
Apps) nur als Produkt von Ignoranz und            rechtsextreme Angriffe in Halle und Hanau                 sie in den vergangenen Wochen eine Arbeit
Bildungsferne wahrzunehmen. Diese feh-            an Unbeholfenheit nicht überbieten ließ.                  taten, deren Bedingungen jahrelang zu Recht
lende Genauigkeit führt nicht allein dazu,           Ein weiteres, großes Problem scheint mir               Streikwellen auslösten. Sichtbar waren
dass der politischen Mündigkeit einzelner         der symptomatische Egoismus zu sein, der                  sie nur dort, wo die Mitte der Gesellschaft
Bürger*innen Unrecht getan wird. Es rela-         dringend überwunden werden muss. Denn                     Galionsfiguren für die zermürbende Krise
tiviert auch den sozial übergreifenden Zu-        ob wir wollen oder nicht: Wir sind Teil eines             brauchte. Kaum beachtet wurden und werden
lauf im Verschwörungsmilieu. Denn nicht           großen gesellschaftlichen Kollektivs. Ver-                darüber die sozialen Realitäten von Allein-
immer sind es bildungsferne Bürger*innen,         trauen in die Politik heißt nicht, passiv zu              erziehenden, vereinsamten Älteren oder
die den sogenannten Theorien über Gates &         bleiben und den eigenen Verstand auszu-                   Frauen in Gewaltehen. Von Obdachlosen,
Co. Glauben schenken. Es sind auch Men-           schalten. Vertrauen in die Politik heißt, auf             unterbezahlten Schichtarbeiter*innen oder
schen, die Zugang zu fundiertem Wissen und        das Grundgerüst der Demokratie zu setzen                  psychisch Erkrankten. Auch nicht die der
aufklärerischen Ideen haben. Konspirative         und die Entwicklungen in ihrem Namen zu                   sogenannten „Gastarbeiter*innen“, die noch
Bewegungen ziehen ihre Kraft oft schlicht         beobachten und mitzugestalten. Demokratie                 immer Schwerstarbeit verrichten und wie
aus bestimmten Feindbildern, die histo-           schließt Partizipation nicht aus, sie beruht              viele andere keine Aussicht auf Homeoffice
risch-kontextuell immer wieder changieren.        darauf. Genauso wie sie auf vernunftbasier-               haben – womöglich nicht einmal mehr Aus-
                                                  ten Entschlüssen beruht. So werden Grund-                 sicht auf künftige Arbeit. In Zeiten der Krise
                                                  rechte nicht gegeneinander ausgespielt,                   wird nicht nur die Widerstandsfähigkeit von
 Auf das Grundgerüst der                          wenn das Recht auf körperliche Unversehrt-                Solidarität und Gemeinschaft auf die Pro-
   Demokratie setzen                              heit der Versammlungsfreiheit vorgezogen
                                                  wird. Sie werden gegeneinander abgewogen
                                                                                                            be gestellt, sondern eben auch die Kluft
                                                                                                            zwischen den sozialen Klassen deutlich.
                                                  und nach Verhältnismäßigkeit priorisiert.                 Und vor allem das muss uns dieser Tage
Das Fundament einer resilienten Gesell-              Der bayerische Ministerpräsident Markus                beschäftigen.
schaft aber bleibt die Bereitschaft zu einem      Söder wurde für die von vielen als recht-
am Gemeinwohl orientierten, kollektivisti-        zeitig und angemessen strikt wahrgenom-
schen Denken. Zu einer Demokratie gehört          menen Maßnahmen im Übermaß gerühmt.                          Erschienen am 15.06.2020
neben dem Pluralismus auch ein mehr oder          Vergessen war seine erzkonservative Hal-
weniger einheitliches Wertesystem. Und die
Aufgabe eines freiheitlich-demokratischen
                                                  tung zu kontroversen Themen, auch seine
                                                  geringschätzige Umschreibung der Situation      18   19
Kurz vor den Kommunalwahlen in NRW
                                                    diskutierten im Herbst 2020 Jugendliche
                                                    und junge Erwachsene bei der WIR
                                                    MACHEN DAS-Veranstaltung „Du hast
                                                    die Wahl!“ über Volljährigkeit, Staats-
                                                    bürgerschaft und Wahlen.

Einfach mal
zuhören
—
Von: Laura Maria Niewöhner
Fotos: Bahar Kaygusuz

                                    Das Veranstaltungsteam vor dem Gemeindehaus
                                         Heepen: Anja Voigt, Daniel Marchand, Felix
                                          Tiemann, Uta Rüchel und Lama Al Haddad

                                                                                   die der Hotspot Heepen hier ausrichten will.
                                                                                   Denn der Fokus liegt auf den individuellen
                                                                                   Perspektiven und Fragen der jungen Leute:
                                                                                   Was motiviert Euch zur Wahl zu gehen? Ist

                                  E
                                                                                   Wählen ein Grundrecht für alle? Welche
                                                s ist ein später Freitagnachmit-   Rolle spielen Alter und Staatsbürgerschaft?
                                                tag, das Wochenende naht und       Diese Themen wurden zunächst in großer
                                                die Sonne scheint. Auf den ers-    Runde und anschließend in Kleingruppen in-
                                                ten Blick wenig gute Gründe,       tensiv diskutiert.
                                                um sich mit Politik zu be-            Das Grundgesetz ist für die Bundesrepublik
                                                schäftigen. Doch die 22 Teil-      Deutschland von großem Wert, darin waren
                                  nehmer*innen der Veranstaltung „Du hast          sich alle Teilnehmer*innen einig. Aller-
                                  die Wahl!“, die gerade im Gemeindehaus in        dings wurde gleich zu Beginn deutlich, dass
                                  Bielefeld Heepen ankommen, scheinen das          nicht jede*r gleichermaßen damit vertraut
                                  anders zu sehen. Interessierte Erwachsene        ist. Zunächst teilten die Anwesenden ihre
                                  treffen hier heute auf Jungen und Mädchen        Erfahrungen eher zögerlich mit der Gruppe.
                                  zwischen 16 und 21 Jahren, die allein oder       Einige waren erst in Jugendzentren mit
                                  in Begleitung von Mitarbeiter*innen der ört-     dem Grundgesetz in Berührung gekommen,

                             21   lichen Jugendzentren gekommen sind. Es
                                  soll eine Begegnung auf Augenhöhe werden,
                                                                                   während andere sich bereits in Schule oder
                                                                                   Universität ausführlich damit auseinander-
Mitgestaltung diskutiert – manche Gruppe         plädierten sie dafür, das Wahlrecht auf die-
                                                                                                           vergaß darüber die Zeit. Alle Jugendlichen       jenigen auszuweiten, die bereits eine lange
                                                                                                           fanden, dass das Wahlalter auch auf Bun-         Aufenthaltsdauer und gewisse Sprachkom-
                                                                                                           desebene auf 16 Jahre herabgestuft werden        petenzen aufwiesen. Der Onkel eines Teil-
                                                                                                           sollte. Viele junge Menschen wären reif genug,   nehmers wohnt seit mehr als zehn Jahren
                                                                                                           sich politisch zu artikulieren und je früher     in Deutschland, hat hier seinen Lebensmit-
                                                                                                           sie Verantwortung übernähmen, desto mehr         telpunkt, spricht fließend Deutsch und darf
                                                                                                           Verantwortungsbewusstsein würden sie auf         nach wie vor nicht wählen. In dem Jungen
                                                                                                           Dauer gegenüber ihren Mitmenschen entwi-         weckt das großes Unverständnis. Aus Bei-
                                                                                                           ckeln. Einstimmig genervt zeigten sie sich       spielen wie diesen entspann sich schließlich
                                                                                                           von den stetigen Zweifeln älterer Generati-      auch ein Gespräch über Rassismus, Sexis-
                                                                                                           onen an der Entscheidungs- und Verantwor-        mus, Menschenrechte – und über die teuren
                                                                                                           tungskompetenz von Jugendlichen.                 Nahverkehrspreise, welche die Jugendlichen
                                                                                                              Eine Anpassung der Strafmündigkeit bei        gerne mal in ruhiger Minute mit Angela Merkel
                                                                                                           einer Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre        besprechen würden.
                                                                                                           sahen sie dagegen eher kritisch. Man müsse          Jugendlichen und jungen Erwachsenen
                                                                                                           Fehler machen und daraus lernen dürfen,          einfach mal zuzuhören und ihre Perspekti-
                                                                                                           sagte ein Junge, was schnell Zustimmung          ven einzufangen, das hat an diesem ersten
                                                                                                           fand. Als Jugendliche*r träfe man manch-         Veranstaltungstag ausgesprochen gut funk-
                                                                                                           mal eben Fehlentscheidungen und probiere         tioniert. Die lockere Atmosphäre hat – trotz
                                                                                                           sich aus, ohne sich über die Konsequenzen        Sicherheitsabstand – bestimmt dazu bei-
                                                                                                           bewusst zu sein. Daher sahen die Teilneh-        getragen, dass sie sich drei Stunden lang
                              Im Gespräch mit den Teilnehmenden                                            menden ein altersabhängiges Strafrecht           mit abstrakten Fragen auseinandergesetzt
                                                                                                           als Chance für einen Neustart, „um von der       haben. Vielleicht aber auch die Aussicht,
                                                                                                           schiefen Bahn wieder wegzukommen.“               dass die gesammelten Informationen und
                                                                                                                                                            Diskussionsergebnisse am Ende der Veran-
gesetzt hatten. Doch unabhängig vom unter-      Wahlaufforderung von den Musikern ‚Die                                                                      staltungsreihe an die Parteien und zustän-
schiedlichen Wissensstand: Alle sahen es        Ärzte‘ gefreut, weil sie deren Meinung teile                Auseinandersetzung mit                          digen politischen Einrichtungen übergeben
als starke Säule des Zusammenlebens in
Deutschland an – als gemeinsamen Werte-
                                                und sich mit den Songs identifizieren könne.
                                                Trotzdem ging es auch ihr vor allem darum,
                                                                                                           Rassimsus, Sexismus und                          werden. Auf dieser Basis konnten sie poli-
                                                                                                                                                            tische Vorstellungen nicht nur entwickeln.
und Normenkanon, der von jeder*m Bürger*in      mit gutem Gewissen hinter den politischen                      Menschenrechten                              Sondern auch Gehör damit finden.
respektiert werden sollte.                      Inhalten ihrer Wahl zu stehen.
Ähnlich wichtig schien den Jugendlichen         Als offene Fragen formulierte die Gruppe,                  Kritisch sahen sie auch den Umstand, dass
das Thema Wahlen zu sein. Nach anfäng-          warum sich so wenig Jugendliche an Wahlen                  das derzeitige Wahlrecht an die Staatsbür-          Erschienen am 17.09.2020
licher Schüchternheit erzählten sie, dass       beteiligen und wieso es kaum junge Politi-                 gerschaft geknüpft ist. Um Exklusion und
die meisten von ihnen schon einmal ge-          ker*innen gebe. Auch haderten sie mit dem                  mögliche Diskriminierung zu vermeiden,
wählt hatten. Bei einem Rundgang durch          Eindruck, Politiker*innen seien oft unehr-
die Räumlichkeiten löste sich die Zurück-       lich. Und damit, dass die Umwelt noch im-
haltung dann endgültig auf. Auf einmal dis-     mer ein zweitrangiges Thema sei.
kutierten die jungen Wähler*innen, warum           Als Möglichkeiten, sich selbst politisch zu
sie ihr Wahlrecht genutzt hatten, was sie       engagieren und Einfluss zu nehmen, sahen
dazu motiviert hatte, wählen zu gehen und       sie neben Wahlen und Demonstrationen –
welche Fragen sie zum Thema hatten. Viele       etwa zu Themen wie Black Lives Matter –
erzählten von dem besonderen Erlebnis,          auch das Internet. Insbesondere Youtuber*in-
Politik aktiv mit gestalten zu können. Aber     nen inspirierten sie dazu, politische Bot-
auch von der ‚moralischen Pflicht‘, die Wahl    schaften in Social Media-Beiträgen kritisch
als essentiellen Bestandteil des eigenen        zu hinterfragen und sich selbst dazu zu posi-
Demokratieverständnisses zu begreifen.          tionieren. Mehrere Jugendliche fühlten sich
Einem Mädchen schien ‚Wählen gehen‘ so          von den politischen Positionen des blauhaa-
selbstverständlich wie Zähneputzen. Und         rigen Youtubers Rezo angesprochen. Seinem
mit Blick auf die Proteste in Belarus wurde     Beispiel folgend fingen sie nun selbst an,
allen Teilnehmer*innen klar, dass freie         ihre Überzeugungen zu entwickeln.
Wahlen keinesfalls eine Selbstverständ-
lichkeit sind.
   Vielen ging es gerade deshalb auch um die    Wahlalter und Wahlrecht
persönliche Identifizierung mit den Parteien.
Sie bräuchten keine VIPs, die via Twitter       Im Anschluss an das Gespräch in großer Runde
zur Wahl aufriefen, befanden sie einstim-
mig. Einzig ein Mädchen hätte sich über eine
                                                wurde in Kleingruppen über die Vorausset-
                                                zungen für das Wahlrecht und politische          22   23                                    Gruppenarbeit im Workshop
Das Wahlrecht zeigt an, wer zum politischen
                                                                                 Gemeinwesen dazugehört. Doch inhaltlich
                                                                                 mitgeredet wird an der Wahlurne nicht.
                                                                                 Dafür braucht es direktere Kanäle – am
                                                                                 besten zu den Abgeordneten.

Warum Wählen
nicht alles ist
­—
 Von: Claudia Gatzka
                                                                                                                 Wählen ist in der Demokratie symbolisch
Foto: Harris & Ewing Collection / Librairy of Congress                                                           wichtig, weil dadurch die Teilhabe an der
                                                                                                                 politischen Gemeinschaft zum Ausdruck
                                                                                                                 kommt. Es schließt ein und zugleich aus, in-
                                                                                                                 dem es festlegt, wer vom Prinzip der Volks-
                                                                                                                 souveränität Gebrauch machen darf und wer
                                                                                                                 nicht. Es zeigt an, wer „dazugehört“. Die Kri-
                                                                                                                 terien dieser Zugehörigkeit jedoch sind ver-
                                                                                                                 änderbar: In der Bundesrepublik wurde das
                                                                                                                 Wahlalter 1970 von 21 auf 18 Jahre gesenkt
                                                                                                                 (in der DDR durfte man bereits mit 18 wäh-
                                                                                                                 len); das Kommunalwahlrecht wurde 1992
                                                                                                                 für EU-Ausländer*innen geöffnet.

                                                              D
                                                                                                                    Auch derzeit gibt es keine formalen
                                                                               as Wahlrecht ist das grund-       Gründe, am aktuellen Mindestwahlalter von
                                                                               legendste Teilhaberecht in        18 Jahren festzuhalten, und es gibt keine
                                                                               der parlamentarischen Demo-       staatsrechtliche Notwendigkeit, das Wahl-
                                                                               kratie. Doch Wählen ist nicht     recht an die Staatsbürgerschaft – anstatt an
                                                                               die einzige Möglichkeit, sich     den Wohnort oder die Arbeitsstätte – zu bin-
                                                                               politisch zu engagieren – und     den. Und tatsächlich wird es problematisch,
                                                              das ist gut so. Denn ein beträchtlicher Teil der   wenn die Relation zwischen Wohnbevölke-
                                                              Menschen, die in der Bundesrepublik leben,         rung und Wahlberechtigten in eine Schieflage
                                                              ihren Regeln und Gesetzen unterworfen              gerät. Ob das demokratische Prinzip der
                                                              sind, dürfen nicht wählen. Das Wahlrecht ist       Selbstbestimmung gewahrt ist, wenn in ein-
                                                              nämlich an zwei Bedingungen gebunden: die          zelnen migrantisch geprägten Gemeinden
                                                              Volljährigkeit und die Staatsbürgerschaft.         die Hälfte der Einwohner*innen nicht wählen
                                                              Und selbst für jene, die wählen dürfen,            darf, ist fraglich. Wenn der Wunsch nach
                                                              stellt der Wahlakt eine zwar bedeutsame,           Wahlrecht artikuliert wird, etwa in Wahl-

                                                         25   aber vergleichsweise passive Form der Mit-
                                                              sprache dar.
                                                                                                                 rechtsdemonstrationen, die es in Deutsch-
                                                                                                                 land seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab,
allem bei den jungen, so wenig bekannt           nete*r werden können sie über diesen Weg
                                                                                                          sind? In den 1960er und 1970er Jahren war        jedoch nicht. Denn um gewählt werden zu kön-
                                                                                                          das noch anders. Damals bemühten sich            nen, ist das passive Wahlrecht unabdingbar.
                                                                                                          die Wahlkreiskandidat*innen intensiv, auf           Weil unsere Demokratie auch den Wahlbe-
                                                                                                          Wahlveranstaltungen, in Kneipen, an Haus-        rechtigten bei der Mitsprache enge Grenzen
                                                                                                          türen, auf der Straße und per Brief mit ihren    setzt, sind alternative, zivilgesellschaftliche
                                                                                                          Wähler*innen ins Gespräch zu kommen. Vor         Partizipationsräume so wichtig. Hier können
                                                                                                          allem die Lokalpresse, damals noch das           alle gemeinsam großen Einfluss entfalten:
                                                                                                          wichtigste Medium für die Wählenden, mach-       in außerparlamentarischen Bewegungen,
                                                                                                          te die Kandidat*innen bekannt. Das Inter-        Wähler*innen- und Bürger*inneninitiativen,
                                                                                                          net und die sozialen Medien bieten heute         Vereinen und Verbänden, durch Demonstra-
                                                                                                          theoretisch noch bessere Kommunikations-         tionen und Aktionen, mittlerweile vor allem
                                                                                                          möglichkeiten, und manche Abgeordneten           über YouTube oder Twitter. Bürger*innenbe-
                                                                                                          nutzen Twitter auch schon intensiv, um sich      wegungen haben in der Geschichte der Bun-
                                                                                                          ihren Wähler*innen mitzuteilen. Doch künftig     desrepublik Großes bewegt, gerade auch,
                                                                                                          müsste es auch darum gehen, die Menschen         wenn es um Anti-Diskriminierung und Minder-
                                                                                                          aus dem Wahlkreis selber sprechen zu las-        heitenrechte ging – etwa für Frauen oder
                                                                                                          sen, ob mit oder ohne Wahlrecht: über ihre       für Homosexuelle. Über die sozialen Medi-
                                                                                                          Wünsche und Sorgen, vor allem aber über          en können Minderheiten oder stumme Wäh-
                                                                                                          ihre Einschätzungen zu den politischen Fra-      ler*innenmehrheiten heute ein viel größe-
                                                                                                          gen, die im Bundestag behandelt werden.          res Publikum erreichen als vor der digitalen
                                                                                                             Deutschland ist mit einer responsiven         Transformation.
                                                                                                          Demokratie aber wenig vertraut. Das Grund-          Unterm Strich sind die politischen Teil-
                                                                                                          gesetz verpflichtet die Gewählten eben gerade    habechancen über diese Kanäle wohl also
                                                                                                          nicht darauf, den Willen der Wähler*innen        tatsächlich noch bedeutsamer als das
                                                                                                          umzusetzen. Abgeordnete sind nur ihrem           Kreuz im Wahllokal. Denn Politiker*innen
         Anspruch auf Repräsentation: Frauen erkämpfen vor 100                                            Gewissen verpflichtet, sie sind nicht gebun-     orientieren sich zwar an der Maximierung
                                                                                                          den an inhaltliche Aufträge und unterliegen      von Wahlstimmen, können sich jedoch der
                              Jahren ihr Wahlrecht in den USA.                                            auch nicht irgendeiner Kontrolle. Faktisch       öffentlichkeitswirksamen Artikulation des
                                                                                                          jedoch binden sie sich längst, und zwar an       Volkswillens nicht entziehen. Und User*in-
                                                                                                          die Direktiven ihrer Parteien. Faktisch unter-   nen können sich heute außerparlamentari-
ist es für Staaten eigentlich immer oppor-     Gerade politisch interessierte Wähler*innen                liegen sie auch durchaus einer Kontrolle,        sche Repräsentant*innen suchen, die qua
tun, dem nachzugeben. Denn mit dem An-         und Menschen, die es werden wollen, haben                  und zwar durch die Parteibasis, die in ihrem     Likes und Followers dieselbe Legitimität
spruch auf Repräsentation ist ja immer auch    klare Sachfragen vor Augen, über die sie                   Wahlkreis darüber entscheidet, ob sie eine*n     beanspruchen mögen wie gewählte Volks-
ein Bekenntnis zum politischen Gemeinwe-       durch Wahlen mitbestimmen wollen. Doch                     Abgeordnete*n wieder als Kandidat*in auf-        vertreter*innen. Vom Wahlrecht ausge-
sen verknüpft, das Wertschätzung verdient.     der Einfluss der Personalisierung von Politik              stellt oder nicht.                               nommen zu sein, bedeutet in der Demokra-
                                               zeigt sich heute unter anderem darin, dass                                                                  tie also nicht mehr explizit, seiner Stimme
                                               junge Menschen ausgerechnet mit der Bun-                                                                    beraubt zu sein. Und auch für Wahlbe-
Es geht um Repräsentation                      deskanzlerin über Themen wie die teuren                          Alternativen der                           rechtigte verheißen die neuen Medien eine
                                               Nahverkehrspreise diskutieren wollen. Die                                                                   Erweiterung ihrer Stimme über den reinen
Und doch ist Wählen nicht alles, wenn es um    Bundeskanzlerin ist dafür aber gar nicht zu-
                                                                                                          politischen Mitbestimmung                        Wahlakt hinaus.
politische Mitbestimmung geht. In der par-     ständig, und vor allem wird sie nicht vom Volk
lamentarischen Demokratie geht es beim         gewählt: Es sind Bundestagsabgeordnete,                    Für Wähler*innen ohne Parteibuch sind solche
Wählen ohnehin vorrangig um Repräsenta-        die in Deutschland gewählt werden, und                     Feedbackschleifen in der repräsentativen            Erschienen am 05.11.2020
tion: Per Wahl entscheiden die Wahlberech-     diese bestimmen dann nach den Mehrheits-                   Demokratie nicht vorgesehen. Auch der
tigten, wer sie für eine absehbare Zeit im     verhältnissen im Bundestag die Regierungs-                 Stimmzettel enthält keine Kommentarfunk-
Kommunal-, Landes- oder Bundesparlament        chefin oder den Regierungschef.                            tion, durch die Wähler*innen mitteilen könn-
vertritt und dort in ihrem Namen abstimmt.        Wie sehr junge Menschen heute an diesen                 ten, was sie an ihren Repräsentant*innen gut
Wählen ist also lediglich die Delegation von   Verhältnissen vorbei die Exekutive im Blick                fanden und was schlecht. Es ist den Abgeord-
Mitbestimmung, aus dem Wahlakt leiten sich     haben, zeigt sich auch bei Rezo. Er adressiert             neten überlassen, außerparteiliches Feed-
keine weiteren Rechte für die Wählenden        auf YouTube die große Politik, die Partei-                 back aus ihrem Wahlkreis einzuholen.
ab. Ein Kreuz auf einem Stimmzettel sagt       vorstände und das Bundeskanzleramt –                          Was Wahlberechtigte wie Nicht-Wahl-
noch nichts über die Motive, Wünsche, Hal-     nicht jedoch jene politischen Instanzen, über              berechtigte schon jetzt tun können, um
tungen und Bedürfnisse der Wählenden aus.      die er und andere Wähler*innen abstimmen                   mehr Mitsprache zu üben, ist, in eine Partei
Ob Inhalte angesichts der seit Jahrzehnten     könnten: Kommunal-, Landtags- und Bundes-                  einzutreten. Gerade junge Menschen und
anhaltenden Personalisierung von Politik bei   tagsabgeordnete. An sie müssten wir uns                    Migrant*innen sollten darüber nachdenken,
der Wahlentscheidung überhaupt eine nen-       wenden.                                                    denn dort können sie politisch Einfluss neh-
nenswerte Rolle spielen, wird in der Wahl-
forschung schon lange angezweifelt.
                                                  Wie kommt es, dass die wahren Reprä-
                                               sentant*innen bei ihren Wähler*innen, vor        26   27   men, ohne über ein Wahlrecht zu verfügen –
                                                                                                          jedenfalls bei den meisten Parteien. Abgeord-
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