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Demokratie? Eine Frage der Verfassung! Dokumentation eines Projektes zu neuen Wegen der historisch- politischen Bildung und gesellschaftlichen Verständigung
Inhalt Demokratie? Eine Frage der Verfassung! Von: Uta Rüchel S. 1 Demokratie? Eine Frage der Verfassung! Uta Rüchel S. 4 Und unter uns die Lava Christin Figl S. 8 Die Krise der einen ist der Alltag der anderen Iskandar Ahmad Abdalla es sinnvoll, mit Blick auf die offenen Wunden in der Vereinigungsgeschichte seit 1990, das S. 12 Ein vernachlässigter Absatz Deike Janssen Grundgesetz in eine Verfassung zu verwan- deln? Gibt es Änderungsbedarf, um die demo- S. 16 Eine Frage des Privilegs Büsra Delikaya kratische Verfasstheit unserer Gesellschaft zu sichern? Aus all diesen Überlegungen S. 20 Einfach mal zuhören Laura Maria Niewöhner entstand ein Projekt mit dem Titel Demo- kratie? Eine Frage der Verfassung! J S. 24 Warum Wählen nicht alles ist Claudia Gatzka Die Planungen waren in vollem Gange, ede Gesellschaft und jede Demo- da tauchten die ersten Meldungen über ein S. 28 Vertrauen in unsicheren Zeiten Uta Rüchel kratie sind historisch gewach- bislang unbekanntes Virus auf und schnell sen, den Wandlungen mal mehr wurden einschneidende Maßnahmen zu S. 32 Freiheit(en) in unsicheren Zeiten Bastian Rottinghaus und mal weniger unterworfen, seiner Eindämmung erlassen. Den daraufhin und gestaltbar. 2019/2020 tra- einsetzenden Debatten um das Grundgesetz und Uta Rüchel fen in Deutschland gleich vier konnten und wollten wir uns nicht entziehen. Jahrestage aufeinander: 170 Jahre Paulskir- An Bürgerforen war aufgrund der Abstands- S. 42 Über die Gemeinschaft Amel Ouissa chenverfassung, 100 Jahre Weimarer Reichs- regeln bis auf Weiteres nicht mehr zu den- verfassung, 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre ken. So dokumentierten wir als Erstes unter S. 46 Rückblick: Eine demokratische Zumutung Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. dem Titel: „Das Grundgesetz und das Virus“ Teresa Koloma Beck WIR MACHEN DAS, die Professur für Zeit- von Mitte März bis Ende Mai 2020 die inten- geschichte der Universität Bielefeld und die sive Diskussion um verschiedene politische, Robert-Havemann Gesellschaft e. V. planten juristische und philosophische Reaktionen. S. 50 Wer spielt mit? Dilek Güngör aus diesem Anlass eine bundesweite Debat- Die mehr als sechzig Texte aus Zeitungen, tenreihe. Die Fragestellungen: In welcher Zeitschriften und dem Verfassungsblog be- S. 54 Rückblick: Demokratie als Dialog Konrad Sziedat Verfassung ist unsere Demokratie? Wie legen eindrucksvoll, wie kontrovers diese demokratisch ist unsere Verfassung? Welche Debatte gleich zu Beginn der Pandemie ge- S. 62 Nachwort Christina Morina Bedeutung haben die im Grundgesetz for- führt wurde. mulierten Werte und Grundsätze für unser Unter dem Titel „Im Maschinenraum der S. 64 Autor*innen und Illustrator*innen Bios alltägliches Zusammenleben? Wo gehen Demokratie“ luden wir im Mai 2020 alle In- S. 65 Impressum 1 verfassungsmäßiger Anspruch und gesell- schaftliche Wirklichkeit auseinander? Wäre teressierten ein, einen Essay zu schreiben – aus wissenschaftlicher, journalistischer oder
persönlicher Perspektive, auf Deutsch, Eng- lange in Deutschland leben und gewisse Vertrauen und Grundrechte in der Pandemie“ kratischer Einmischung, Partizipation und lisch, Französisch oder Arabisch. Aus vier- Sprachkompetenzen haben. Laura Maria Nie- vom 25. Februar 2021 erlangte dank seines Verständigung. zig Einsendungen wählten wir am Ende vier wöhner dokumentierte die Veranstaltung zu- digitalen Formats, der verschiedenen Per- Die Illustratorin Miriam Barton begleitete Beiträge aus, die auch in diesen Projektband sammen mit der Fotografin Bahar Kaygusuz. spektiven und einer kontrovers geführten alle Veranstaltungen der Tagung mit einer aufgenommen wurden. Die Historikerin Dr. Claudia Gatzka von der Diskussion eine überaus große Reichweite. Live-Visualisierung. Und der Historiker Konrad Christin Figl fragt in ihrem Beitrag, wie wir Universität Freiburg ergänzte die Diskussion Der Oberbürgermeister von Neubranden- Sziedat gibt in seinem Tagungsresümee einen die aktuellen Spannungszustände aushalten mit einem Essay, der erläutert, warum Wäh- burg, Silvio Witt, der Chefredakteur des Überblick über das vielfältige demokratische können, und verweist auf hitzebeständige len nicht alles ist. Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags, Repertoire, das es weiterzuentwickeln und Materialien sowie ein bewegliches UND statt Um einen möglichst breiten Einblick zu Stefan Hans Kläsener, sowie der Soziologe auszubauen gilt. starrer Positionen. Den Ausgangspunkt des bekommen, wie die Freiheitsrechte, die der Armin Nassehi und die Politikwissenschaft- Die Tagung am Ende des Projekts lässt Textes von Iskandar Ahmad Abdalla bildet Demokratie zugrunde liegen, von den Bür- lerin Ulrike Guérot diskutierten einen Abend sich auch als Ausdruck einer historisch ge- die Angst, die in Zeiten von Corona alle Men- ger*innen verstanden und in Krisenzeiten lang über die neuen Herausforderungen an wachsenen Gesellschaft lesen, in der nach schen verbindet. Doch eben diese Angst und gewichtet werden, organisierten wir im Juni die Demokratie: Welche Rolle spielen frei- wie vor um die Demokratie als Lebensform, eingeschränkte Grundrechte seien für viele und Juli 2020 die Online-Umfrage: „Frei- heitliche Grundrechte in unsicheren Zei- Partizipation, aber auch um die dafür notwen- Migrant*innen nicht Ausdruck einer einzel- heit(en) in unsicheren Zeiten“. Neben sozio- ten? Wie verständigt sich eine demokratisch digen Institutionen und Formate gerungen nen Krise, sondern ihr Alltag, schreibt er. demografischen Daten wurden individuelle verfasste Gesellschaft über geeignete und wird. Neue Formen der demokratischen Ver- Deike Janssen beschäftigt sich mit der in Sichtweisen und Einschätzungen erfasst: die erforderliche Einschränkungen? Und wie ständigung zu erproben, wie es sich dieses Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes deklarierten eigene Betroffenheit von Grundrechtsein- wichtig ist Vertrauen in Politik und öffent- von der Bundeszentrale für politische Bil- Gleichheit der Geschlechter. Anders als im schränkungen, das Vertrauen in Regierung lich-rechtliche Medien für die Akzeptanz dung geförderte Modellprojekt zum Ziel ge- Gesetzestext gefordert, seien Frauen* bei und Justiz sowie die Position zu einem ange- von Grundrechtseinschränkungen in der Be- setzt hatte, war angesichts der Pandemie politischen Entscheidungsprozessen nicht messenen Umgang mit den sogenannten Risi- völkerung? während des Projektzeitraums kaum mög- angemessen beteiligt und repräsentiert. kogruppen. Auch ging es um die Bedeutung Die Schriftstellerin Dilek G üngör fragt sich lich. Doch die teilweise sehr polarisierten Doch gerade sie sind von den Auswirkungen von Medien und sozialen Netzwerken, die in einem ergänzenden Essay, wie Menschen Auseinandersetzungen um Corona-Politik der Pandemie zumeist überdurchschnittlich Wahrnehmung öffentlicher Grundrechtsde- mit Migrationsgeschichte das vergangene und Grundrechte haben einmal mehr ge- betroffen und erledigen die systemrelevan- batten und die eigene Bereitschaft, individu- Jahr erlebt haben – wirken sich doch die zeigt, wie dringend es ist, eine demokrati- ten Arbeiten. Büsra Delikaya plädiert für ein elle Einschränkungen von Freiheitsrechten Einschränkungen und Herausforderungen sche Verständigung – auch jenseits von par- allumfassendes Verständnis des Freiheits- zugunsten des Gemeinwohls zu akzeptieren – durch die Pandemie je nach Lebensbedin- lamentarischen Debatten – zu kultivieren. begriffs, der niemanden ausschließt. Ihrer etwa für das Erreichen von Klimazielen, die gungen sehr unterschiedlich aus. Und die Dabei wird zugleich deutlich, dass die Zahl Meinung nach werden derzeit nicht nur die Bekämpfung von Fluchtursachen oder für Soziologin Teresa Koloma Beck untersucht derer, die gemeinsam nach Lösungen für Widerstandsfähigkeit gesellschaftlicher So- soziale Gerechtigkeit. die Frage, wie eigentlich kommuniziert wird gegenwärtige Fragen suchen wollen, weit- lidarität sowie die Früchte politischer Bil- und welche Formen und Modalitäten des Mit- aus größer ist, als es im medialen Diskurs dung und demokratischer Aufklärung auf einander-Sprechens geeignet sind, um in der zuweilen scheint. Das direkte Gespräch, in die Probe gestellt. Auch die noch immer Vertrauen als Basis Bearbeitung von Problemen und Konflikten dem Menschen einander auf Augenhöhe von vorherrschende Kluft zwischen den sozi- alen Klassen sei besonders sichtbar und für gesellschaftlichen tatsächlich voranzukommen. Angesicht zu Angesicht begegnen, wird da- bei immer unersetzlich bleiben. müsse uns beschäftigen. Zusammenhalt Formen des Freiheitsrechte Mehr als 2.000 Personen haben den Frage- Austauschs suchen Berlin im Juni 2021 im Fokus bogen vollständig ausgefüllt. Der Soziologe Dr. Bastian Rottinghaus wertete die Ergeb- Dieser zentralen Frage und einer Vielzahl nisse gemeinsam mit mir als Projektleite- von Formen der demokratischen Verstän- Im Herbst 2020, kurz vor den Kommunal- rin aus. Die vollständige Studie ist auf der digung widmete sich die Abschlusstagung wahlen in Nordrhein-Westfalen, konnte noch Projektseite von WIR MACHEN DAS nachzu- des Projektes am 29. April 2021 „Demokra- ein Gesprächsformat realisiert werden. Die lesen, für die vorliegende Dokumentation tie als Dialog. Neue Wege der historisch- Veranstaltung „Du hast die Wahl!“ bot für wurde eine Kurzfassung erstellt. politischen Bildung und gesellschaftlichen Jugendliche und junge Erwachsene die Ge- In meinem Essay „Vertrauen in unsicheren Selbstverständigung“. Bis zum Nachmittag legenheit, über Volljährigkeit und Staats- Zeiten“ habe ich eines der wesentlichsten wurde in drei Panels über verschiedene For- bürgerschaft als Voraussetzungen für eine Ergebnisse der Befragung aufgenommen, in- men der Bürger*innenbeteiligung diskutiert: Teilnahme an Wahlen zu diskutieren. Einig dem ich den Voraussetzungen für Vertrauen Wo sind sie das Mittel der Wahl? Wo kom- waren sich alle, dass das Wahlalter auch auf nachgehe. Ergänzend dazu schreibt die Sozio- men sie an ihre Grenzen? Wer hat Zugang Bundesebene auf sechzehn Jahre herabge- login Amel Ouaissa über Gemeinschaften und wer nicht? Am Abend sprachen Stephan setzt werden sollte und dass die stetigen und den Umgang mit der Pandemie. Sie Detjen vom Deutschlandradio, die Künstlerin Zweifel älterer Generationen an der Ent- greift dabei auf ihre Erfahrungen als Kind Elske Rosenfeld, die sich mit den Verfas- scheidungs- und Verantwortungskompe- zurück und empfiehlt ein Denken in zeitli- sungsfragen seit 1989 auseinandersetzt, Jana tenz von Jugendlichen nerven. Um Exklusion cher Begrenzung auch für den Umgang mit Michael als Leiterin der Migrantinnenselbst- und mögliche Diskriminierung zu vermeiden, der aktuellen Pandemie. organisation Tutmonde und Rouzbeh Taheri plädierten viele dafür, das Wahlrecht auch auf Migrant*innen auszuweiten, die schon Das Gesprächspanel „Das Virus ist eine demokratische Zumutung‘ – Über Politik, 2 3 von der Initiative Deutsche Wohnen & Co ent- eignen! über Ansätze und Erfahrungen demo-
Christin Figl hat die Corona-Pandemie zum Anlass genommen, um zu hinterfragen, wie die derzeitigen gesellschaftlichen Spannungen am besten auszuhalten sind. Dabei ist sie exakt im Sprachbild geblieben: Von den hitzebeständigen Materialien des Maschinenraums über die geologischen Verhältnisse im Erdinnern denkt sie bis hin zu einer widerständigen Und unter Demokratie. uns die Lava — Von: Christin Figl Essaywettbewerb Illustration: Johanna Benz offen, spielt Leben gegen Freiheit aus, Schutz gegen internationale Solidarität und spitzt die Positionen zu. Die Demokratie steht da- zwischen, muss Vielstimmigkeit aushalten, sie nicht nur zulassen, sondern fördern und darf dennoch nicht zerreißen. Auch nicht in außergewöhnlichen Situationen. F Eine Lebenskrise wird in der Psychothe- euerbeständig soll er sein. Große rapie gerne als Chance gesehen. Wenn bis- Hitze aushalten, Flammen wider- herige Problemlösungsstrategien nicht mehr stehen, bestenfalls warm werden. greifen, bietet die Krise Lernmöglichkeiten, Nie mitfiebern, versengen, ver- kann notwendige Veränderungen aufzeigen brennen. Der Maschinenraum der und Menschen im besten Fall gestärkt dar- Demokratie. aus hervorgehen lassen. Eine schöne Vorstellung, so ein sicherer Ort, Es ist eine Krise, in der wir uns derzeit ein Raum, in dem das Triebwerk und alle befinden, höre und lese ich oft und ich frage essenziellen Einrichtungen gut geschützt mich, wer sie als solche lebt und erlebt, die sind. Aber kann Demokratie in einen solchen Ausnahmesituation. Bricht durch Corona Raum gesperrt werden? Lebt sie nicht von plötzlich die Krise in den Garten am Stadt- Austausch und Dialog? Ist ihr Kern nicht per rand ein, in das Leben der pensionierten In- se schon immer verbunden mit dem Außen? genieurin, in das Büros des Professors? Viel- Die Notwendigkeit von Schutz, Bestän- leicht. Wahrscheinlich wird sie dort jedoch digkeit und Sicherheit zerrt in die eine Rich- gut abgefedert durch Ressourcen, durch tung, der Wunsch nach Flexibilität, Mitbe- vorhandenen Raum, durch Geld und eine stimmung, Offenheit und Freiheit in die Vielzahl an Möglichkeiten. Ein ungebrems- andere. Diskussionen verhärten die Lage, ter Aufprall dagegen bricht mit voller Wucht wenn Forderungen gegeneinander ausge- ein, zerstört und gefährdet: Der gewalttäti- spielt werden und das Und nicht mehr denk- ge Partner wird zum einzigen Sozialkontakt 5 bar scheint. Ein Entweder-oder verstärkt die Spannung, lässt kaum Zwischenräume und zur ständigen Bedrohung, die Existenz des freiberuflichen Musikers bricht weg, die
Dafür müssten die Demokratie sowie wie jede*r Einzelne in dieser schwierigen Situ- ation gut aufeinander achten. Wir müssten Nein-Sagen lernen, wenn Grenzen massiv missachtet werden, für positive Erfahrungen sorgen und Neues ausprobieren. Statt sich zu isolieren, gilt es, Verbindungen zu fördern, positive Beziehungen zu stärken und sich gegenseitig zu unterstützen. Menschen in Krisensituationen können problemorientiert den Stressauslöser her- ausfinden und die Ursache beheben sowie emotionsorientiert das eigene Verhalten und die damit einhergehenden Gefühle ver- ändern. Der Auslöser dieser Krise ist be- kannt, mögliche Impf- und Behandlungs- stoffe werden erforscht, die Ungewissheit, wie die nächsten Monate verlaufen werden und damit einhergehende offene Fragen bleiben jedoch. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie kann Gerechtigkeit im Gesundheitssys- tem gewährleistet werden? Was braucht es für die Zukunft der Globalisierung und eine globale Verteilung von Gütern? Ist die Demokratie all diesen Fragen gewachsen? Schafft sie es, die Spannungszustände gut auszuhalten? Die Maßnahmen müssen dafür stets abgestimmt werden auf die sich ver- ändernden Verhältnisse, alles muss im Fluss alleinerziehende Mutter soll in der kleinen Demokratie, und kann sich der Ursache der bleiben. Nur so können Schutz und Solidari- Stadtwohnung Kindergarten, Schule und Krise stellen, Lösungsstrategien entwickeln tät gewahrt werden, ebenso Vertrauen und Homeoffice unterbringen, die dringend not- und aktiv auf Veränderungen eingehen. Kontrolle, Sicherheit und Freiheit. wendige psychotherapeutische Reha wird Covid-19 katalysiert an vielen Stellen, be- Auch tief unter uns ist es flüssig. Die für den arbeitslosen Fremdenführer bis schleunigt, vergrößert und verstärkt da- Hitze im Erdinneren spüren wir selten, die auf Weiteres verschoben. In Lars von Triers mit bisherige Situationen – individuelle schweren Stoffe sanken mit der Zeit hinein, „Melancholia“ sind das Näherkommen und Lebensumstände wie politische Systeme. leichtere Materialien kühlten außen nach der Aufprall des fremden Planeten nicht Verschleierte Strukturen werden sichtba- und nach ab. Fest und flüssig, stabil und be- mehr zu verhindern. In der jetzigen Situation rer, wenn Menschenrechte sich primär an weglich, widerstandsfähig und vulnerabel dagegen ist es Aufgabe der Demokratie, den Staatsbüger*innenschaft heften und der macht es uns die Erdkugel seit Jahrtausen- Aufprall abzufedern, auszubalancieren, um Schutz vor Covid-19 verebbt, wenn es um den vor – das geht. nicht die eigene Form zu verlieren. die Situation von geflüchteten Menschen Wie können wir sie nun schützen, die De- geht. Patriarchale Strukturen treten hervor, mokratie, die stabil und beweglich sein soll, wenn eine Riege an überwiegend weißen, Erschienen am 08.06.2020 offen und zugleich geschützt? männlichen Virologen, Politikern und Spe- Widerstandsfähige Materialien müssen zialisten das Sagen haben. Die Krise macht nicht starr sein, viele geben dem Druck bis deutlich, wo Schwachstellen liegen, wo die zu einem gewissen Grad nach und kehren Demokratie angreifbar wird, strauchelt und dann in den Ausgangszustand zurück. Brü- Nachbesserungen notwendig werden. cken müssen schwingen, damit sie die Be- lastung ausgleichen und sind dennoch stabil. Eine Demokratie kann sich nicht hermetisch In welcher Gesellschaft abschließen, einsperren und schützen, son- dern braucht immer auch das Korrektiv von wollen wir leben? außen und muss reagieren können. Vielleicht braucht es keinen Material- Doch wie kann sie gestärkt hervorgehen aus raum, vielleicht reichen hitzebeständige, der Pandemie? Welche Chancen liegen in widerstandsfähige Materialen als Basis. Da- mit ausgestattet bleibt sie gut sichtbar, die der derzeitigen Situation? Kann das Und ge- stützt und Vielstimmigkeit gelebt werden? 6 7
Die Angst vor dem Unbekannten, dem Unberechenbaren verbindet in Zeiten von Corona nahezu alle. Die Einschränkungen Die Krise der einen jedoch, unter denen die Gesellschaft derzeit leidet, kennen viele Menschen auch ohne Pandemie. Darüber, wer sich in ist der Alltag der Krisenzeiten Gehör verschafft und wessen Ängste im Vordergrund stehen, schreibt anderen Iskandar Ahmad Abdalla. — Von: Iskandar Ahmad Abdalla Essaywettbewerb Illustration: Johanna Benz Menschen werden derzeit also von täglichen Ängsten getrieben: der Angst, angesteckt zu werden oder andere anzustecken, der Angst um Nahestehende, Angst vor Arbeitslosig- keit, vor dem wirtschaftlichen Ruin, dem Verlust des Status, der Angst vor Einschrän- kungen bürgerlicher Freiheiten. Werden un- H sere Freiheiten nach Covid-19 dieselben sein at „die Gesellschaft der wie zuvor? Das fragen sich viele besorgt. Angst“, von der der Soziologe Ich frage mich das selber auch und hoffe Heinz Bude in seinem gleich- auf ein „Jein“ als Antwort. Denn sicher- namigen Buch schreibt, mit lich vermisse ich die Kinos, die Kneipen, die Covid-19 nun ihre entspre- Klubs und das gelassene Zusammensitzen chende Kulisse gefunden? mit Freunden in den arabischen Restaurants Nichts mag bedrohlicher und unmittelba- der Neuköllner Sonnenallee. Ich vermisse rer erscheinen als eine Pandemie. Denn wir meine Uni und meine Arbeit. Bestimmt ver- können nicht wissen, ob oder wann sie auf- missen andere ganz ähnliche Dinge, wollen hört. Für ihre Bekämpfung müssen Staaten das Leben, so wie es war, weiterführen. Doch Maßnahmen ergreifen, die unerwünschte das heißt keinesfalls, dass dieses Leben Folgen haben werden. Und wie schwerwie- für alle gleich gut, sicher und würdig war. Es 9 gend diese Folgen ausfallen, kann uns noch niemand sagen. bedeutet nicht, dass Angst im Leben aller eine ähnliche Rolle gespielt hat.
für Träumer*innen aus dem globalen Sü- den, die im Westen nach einem gerechteren Leben suchten, für Menschen in der Diaspora. Die Ausgangssperren, die heute europäische Städte blockieren, erscheinen vielen Asylsu- chenden, die nach dem Ankommen in Europa ihre Ortsgemeinde nicht verlassen durften, nicht allzu fremd. Auch das Gefühl, dass die Stadt einem nicht richtig gehört, dass man vermehrt auf sein Benehmen in der Öffent- lichkeit, sein Verhältnis zu anderen achten muss, die Unsicherheit, die einen während eines Spaziergangs oder beim Einkaufen be- gleitet – all dies sind Dauererfahrungen, die das öffentliche Leben vieler Migrant*innen und nichtweißer Menschen prägen. Was für einige die Krise ist, ist der All- tag der anderen. Was jedoch an der derzeiti- gen Krise besonders bleibt, ist, dass uns die Angst dieses Mal alle verbindet. Heinz Bude führt die Angst moderner Ge- sellschaften auf einen „Optimierungswahn“ und eine „Lebenshaltung“ zurück, die „auf nichts verzichten will“2. Damit bringt die aktuelle Angst vor der Pandemie neue Er- kenntnisse ins Spiel. Denn Verzicht gilt der- zeit als Beruhigungsmittel. Damit die Welt so bleibt, wie sie war, müssen wir Verzicht auf Privilegien und Freiheiten lernen. Ver- zicht kann aber auch zu einer Möglichkeit werden, endlich an all diejenigen zu denken, Die feministische Philosophin Sara Ahmed Sie ist allumfassend und global. Sie trifft die sonst selten mitgedacht werden und die lehrt uns einiges über die Angst. Angst be- Demokratien und Autokratien, reich und arm, das, worauf heute alle verzichten müssen, deutet für sie nicht bloß ein Gefühl, sie er- Unterdrücker und Unterdrückte. Und para- auch vorher nicht hatten. Eine neue Sensi- möglicht auch Dinge, setzt Grenzen, trennt doxerweise liegen hierin neue Möglichkeiten bilität für Verzicht macht Menschen- und das Innen vom Außen, organisiert das Ver- für unser Zusammenleben. Die Vehemenz, Freiheitsrechte in der jetzigen Situation hältnis von Körpern zueinander und zum mit der die besorgte bürgerliche Mitte in nicht obsolet, sondern schützt sie davor, Raum und regelt somit menschliche Kollek- Deutschland auf ihre Freiheitsrechte in der zum „Inbegriff heuchlerischen […] Idealis- tive und Zugehörigkeiten immer wieder neu. Krise pocht, ist nachvollziehbar. Freiheit ist mus“3 zu werden, wie Hannah Arendt einst im Grundgesetz verankert. Sie ist ein teures, warnte. Selbstreflexion und Verzicht sollten schwer erkämpftes Gut und wert, verteidigt dazu führen, dass die Zukunft in corona- Wie die Angst uns alle zu werden. Doch basiert das Einfordern jener freien Zeiten anders angestrebt wird als verbindet Freiheit auf Teilansichten. Denn in der Tat galt diese Freiheit niemals für alle, vielmehr bisher. Damit die kommende Welt gerechter und freier wird. Für alle. wurde sie für die einen häufig auf Kosten an- Angst, so Ahmed, kann ein Instrument zur derer bewahrt. Die zahlreichen Einschrän- Bildung von politischen Allianzen und der kungen, die gerade unerwartet die Mitte der Erschienen am 08.06.2020 Konstruktion von Feindbildern und Dro- westlichen Wohlstandsgesellschaften treffen, hungen sein. Zu diesen Bildern gehören die sind für viele Menschen trauriger Alltag – ob „fortschreitende Islamisierung“ oder die in Gaza oder an der türkisch-griechischen „Migrantenflut“. Angst dient also unter an- Grenze. Selbst hier, mitten in Europa, war derem als „Technologie des Regierens“, bei das öffentliche Leben, das nun vermisst 1 Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotions, der nicht selten emotionale Manipulation wird, niemals für alle gleich zugänglich. Das Edinburgh: Edinburgh University Press, 2004. und falsche Projektionen eingesetzt werden.1 freie, unbeschwerte Flanieren, dem viele Siehe das Kapitel über Angst „The Affective Spannend an unserer gegenwärtigen Angst jetzt nachweinen, ist für einige auch vorher Politics of Fear“, S. 62–82. ist jedoch, dass sie weder auf nationalen, keine Möglichkeit gewesen. 2 Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg: ethnischen oder kulturellen Mythen gründet Für sie waren nationale und soziale Gren- Hamburger Edition, 2014, S. 96. noch auf bestimmte Länder oder Gemein- schaften begrenzt ist. zen schon immer unüberwindbar – für et- liche Schutzsuchende aus Kriegsgebieten, 10 11 3 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper, 2001, S. 546.
In Artikel 3, Abs. 2 des Grundgesetztes steht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Deike Janssen schreibt, dass Frauen* seit Beginn der Corona- Pandemie dennoch viel zu wenig bei politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Dabei sind gerade sie von den Auswirkungen der Pandemie überdurchschnittlich betroffen. Ein erzeugen. Denn Frauen* werden in diesen Zeiten nicht nur systematisch benachteiligt, sondern sind auch evident stärker betroffen von Maßnahmen und deren Auswirkungen. vernachlässigter Beispielsweise vom Anstieg häuslicher Ge- D walt, dem eingeschränkte Schutzangebote ie Einschränkung der Grund- gegenüberstehen. Auch durch erhöhte öko- rechte zugunsten der Gesund- nomische Abhängigkeit vom Partner, Ver- Absatz heitsvorsorge ist unumstreit- bar und rechtens. Fraglich ist jedoch, warum die Maß- dienstausfälle oder Kündigungen. Vor allem, da Frauen überrepräsentiert sind im Nied- riglohnsektor, etwa im Gastgewerbe oder — nahmen im Kampf gegen die Pandemie nicht auf grundlegende Freiheits- im Tourismus, und dort oftmals in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Von: Deike Janssen rechte hin gestaltet werden. Denn derzeit scheint es, als wirke der Staat nicht auf die Essaywettbewerb tatsächliche Beseitigung von bestehenden Grundrechte sollen Nachteilen während der Covid-19-Pandemie hin. Die aktuelle Krise hat bestehende Ge- Freiheiten schützen Illustration: Johanna Benz schlechterungleichheiten nicht nur deutli- cher sichtbar gemacht, sondern auch ver- Die Grundrechte sollen die Freiheiten von schärft – ob es dabei um Lohngerechtigkeit, Bürgerinnen und Bürgern schützen. Wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gleichbe- also kann so ein wichtiges, im Grundgesetz rechtigte/-verteilte Erziehungs- und sonstige verankertes, Recht auf Gleichberechtigung Sorgearbeit, faire Arbeitsbedingungen oder während der Covid-Pandemie einfach nicht Entlohnung in all den Berufen geht, die noch mitgedacht werden? Vielleicht weil in der immer vorwiegend von Frauen* ausgeführt Krise – mal wieder – vor allem Männer an werden. Unterm Strich werden Frauen* der- entscheidenden Positionen sitzen, vom Ge- zeit in eigentlich überholte Rollenbilder zu- sundheitsminister über die konsultierten rückgedrängt. Doch warum ist das so? Experten aller Fachrichtungen bis hin zu Stimmen und Proteste von Frauen*, die den wichtigsten Meinungsmachern in den in der aktuellen Krise für die Einbeziehung Medien. Und weil sie den Paragrafen § 3 von Genderperspektiven eintreten, werden vielleicht schlicht und einfach vergessen schnell durch das Argument abgewiegelt, haben. Vermutlich wollen die zuständigen die Situation sei einzigartig. Erstmal stün- Fachkräfte und Politiker Frauen* derzeit den die Gesundheitsversorgung, der Schutz nicht systematisch benachteiligen, aber es des Lebens und der Wiederaufbau der Wirt- waren schlichtweg zu wenig Frauen* selbst schaft im Vordergrund. Es gehe schließlich an ihren Entscheidungen beteiligt. So saßen um Leben. Wie in jedem Krieg, jeder Pan- in der Expertengruppe, die die Bundesre- demie und jeder Katastrophe zuvor sind es gierung in ihrer Corona-Politik beriet, 24 13 exakt dieselben Mechanismen, die ein Zu- rückwerfen in patriarchalische Strukturen Männer und zwei Frauen* mit dem Durch- schnittsalter von sechzig Jahren.
müssen Frauen* angemessen in politischen Entscheidungsprozessen repräsentiert und daran beteiligt werden. Doch es geht um mehr als nur das Aushan- deln und Entscheiden von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Es geht nicht nur um den langsamen Prozess der realen Gleichstellung der Geschlechter und die Zeit nach der Pandemie. Auch nicht aus- schließlich um unbezahlte Care-Arbeit und geschlechterbasierte Ungerechtigkeiten. Die ‚bestehenden Nachteile‘, die das deutsche Grundgesetz nennt,1 sind, vor allem in inter- nationalem Maßstab, weitaus tragischer und extremer. Frauen* sind weltweit überpro- portional von Sterblichkeit und Erkran- kungsraten in Pandemien betroffen.2 Diese Tatsache wurde bisher bei der Covid-19- Pandemie noch nicht festgestellt, aber die Annahme, die Infektionen beträfen Männer und Frauen* gleichermaßen, ist fatal. Denn dadurch werden die Daten in und nach der Pandemie nicht nach Geschlechtern aufge- Die verstärkten Nachteile, die dadurch für Die Gender- schlüsselt, so dass geschlechtergerechte Frauen* entstehen, sind nicht gleich unmit- telbar zu erkennen, weil hier eine systemisch- perspektive fehlt Schutzkonzepte und Ungleichheiten noch weniger Beachtung finden. Dabei erledigen strukturelle Verschärfung bestehender Frauen* nicht nur mehr unbezahlte Care- Nachteile geschieht, keine ruckartige Ver- Ein Beispiel: Wenn durch eine Pandemie Arbeit, sondern sind auch traditionell eher schiebung. Viele Frauen* scheinen in Zeiten öffentliche Dienstleister wie Schulen und dort im Einsatz, wo ein erhöhtes Infektions- der Krise – wenn auch unter Protest – vor- Kitas schließen, sinkt nicht der Bedarf an risiko besteht. Als Putz- und Waschkräfte, in erst mehr oder weniger freiwillig auf ihr dieser Arbeit, sondern er wird verlagert – Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Super- Grundrecht zu verzichten. Sie scheinen es und zwar wie seit jeher auf Frauen*, mit- märkten, der Notbetreuung von Kindergärten hinzunehmen, weil ihr gesamtes Handeln samt allen negativen Auswirkungen auf und Grundschulen sind sie überproportional systemerhaltend ist und ihr gesellschaftli- deren Berufstätigkeit oder Freizeit. Das ge- vertreten und dadurch dem Risiko derzeit cher Beitrag traditionell als Selbstverständ- schieht nicht, weil jede einzelne Frau* sich am stärksten ausgesetzt. lichkeit gilt. individuell dazu entscheiden würde, diese Dabei sind Frauen* diejenigen, die während Aufgaben heroisch zu übernehmen, son- der Pandemie dringender gefragt sind denn dern weil diese Art der Arbeitsteilung für Erschienen am 09.06.2020 je. In den sogenannten systemrelevanten unser System immanent ist. Genau hier Berufen – im Krankenhaus und im Lebens- wird die fehlende Genderperspektive in der mitteleinzelhandel – machen sie über 70 Beschließung mancher Maßnahmen sicht- Prozent der Beschäftigten aus, in Kindergär- bar: Eine Expertengruppe, die sich nichts ten und Vorschulen sogar über 90 Prozent. anderes vorgestellt hat als ein dichotomes Das sollte nicht nur anerkannt, sondern Mann-Frau-Modell, verfehlt die Realität, in auch gewürdigt werden, zumal die Mitarbei- der Frau* derzeit fast automatisch in tradi- 1 Art. 3 Abs. 2 GG lautet vollständig: „ Männer und tenden in diesen Bereichen jetzt noch ge- tionelle Rollenbilder zurückgedrängt wird. Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die brauchter und betroffener sind als sonst. Absatz 2 des Artikels 3 des Grundgesetzes tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung Die Covid-19-Pandemie betrifft alle Men- basiert auf der Annahme, es gäbe ein reprä- von Frauen und Männern und wirkt auf die Besei- schen, ein Virus macht keinen Unterschied sentatives Wissen über Perspektiven, Struk- tigung bestehender Nachteile hin.“ zwischen Geschlecht, Gender, Hautfarbe, turen und Systematik der bestehenden 2 Siehe beispielsweise die Ebola-Epidemie in Liberia: Klasse oder Religion. Aber die Maßnahmen Nachteile. Tatsächlich aber führt das Fehlen 75 Prozent der an der Krankheit Verstorbenen und Restriktionen und die damit verbunde- von gesellschaftlicher und regulatorischer waren Frauen, in Sierra Leone bis zu 60 Prozent. nen Krisen und Infektionsraten treffen nicht Macht von Frauen* dazu, dass ihre Bedürf- Vgl. Jina Moore, Ebola Is Killing Women In Far alle gleich, sondern besonders die Grup- nisse und Perspektiven noch immer kaum Greater Numbers Than Men, BuzzFeedNews 20.8. pen, die unter normalen Bedingungen schon gehört werden. Ein Lösungsweg für dieses 2014. Unter: https://www.buzzfeednews.com/ benachteiligt sind. Deswegen fordert das Phänomen liegt auf der Hand: Um das Fehlen article/jinamoore/ebola-is-killing-women-in-far- Grundgesetz eben auch nicht Gleichheit für alle, sondern Gleichberechtigung. von Perspektiven zu beheben und gender- spezifische Themen sichtbar zu machen, 14 15 greater-numbers-than-men (abgerufen am 10.05.2020)
Büsra Delikaya plädiert für einen Freiheits- begriff, der tatsächlich alle Menschen umfasst. Sie glaubt, dass durch Corona die Widerstandsfähigkeit gesellschaftlicher Solidarität auf die Probe gestellt wird. Und dass wir uns dringend mit der Kluft zwischen den sozialen Klassen beschäftigen müssen. Eine Frage des se wieder in Kitas und Schulen, Spielplätze haben gerade erst wieder geöffnet, die Gas- Privilegs tronomie strauchelt – und es fühlt sich noch immer so an, als wäre vor das rege Leben Berlins ein Riegel geschoben worden. — Dieser Tage schienen vor allem politische Vakanz und Verdrossenheit an Bedeutung zu Von: Büsra Delikaya verlieren. Nicht aber die Pluralität der Bevöl- kerung, auch nicht die Transparenz poli- Essaywettbewerb tischen Handelns, noch weniger aber der D Raum für Debatten: Öffentlich und privat Die letzten Wochen und Mo- werden die Verhältnisse unter stets neuen nate sind eine so vehemente Vorzeichen diskutiert. Erleichtert kann man Verwirklichung des moder- beobachten, dass die Presse sich dem Thema nen Krisenbegriffs, dass wir in oftmals fundierten wie kritischen Beiträ- auch unseren gesellschaftli- gen widmet. Es waren Journalist*innen, die chen Verbleib neu diskutieren sich von Beginn der Krise an in nüchterner mussten. Es galt immens viel abzuwägen, zu Betrachtung und mit kritischem Ton an die debattieren und besprechen, zu diskutieren Öffentlichkeit wandten, um vernachläs- und befragen. Zweifeln und Aufklären waren sigten Diskursen mehr Reichweite zu ver- gegenläufige Begleiter. Stündlich hangelte schaffen. Um konträre Perspektiven nach- man sich von einem Dissens zum anderen. zuzeichnen, ja auch, um für Vorsicht und Und mittendrin das ewige Warten. Besonnenheit im Umgang mit den durch Co- So verstrich die anfängliche Spannung und rona bedingten Entwicklungen zu plädieren. das Absitzen der unabsehbaren Zeit vor der Es waren auch Journalist*innen, die strikte ersehnten Normalität ließ eine träge Akzep- Forderungen nach sofortigen Ausgangssper- tanz aufkommen. Es war von Anfang an ein ren anmahnten, als sich nicht wenige Bür- Zustand jenseits der Normalität, in dem ger*innen einer Panikstimmung hingaben. wir nun seit geraumer Zeit durch vage Tage Doch sah es teilweise auch so aus, als schaukeln. Das gewohnte Leben bleibt vie- fühlte sich die staatliche Autorität mit ei- lerorts noch immer aus, die neue Norm be- nem Freifahrtschein ausgestattet. Videose- steht aus immer neuen Umstrukturierun- quenzen, die größere Gruppen im öffentli- gen. Noch immer werden auf regelmäßigen chen Raum zeigten und als Rechtfertigung Pressekonferenzen Regierungsbeschlüsse ver- für deren Ächtung dienten, landeten zu- lautbart. Ständig melden sich politische Ak- hauf im Netz. Ebenso Fotos von Menschen teure über soziale Medien zu Wort, während ohne Masken und mit nicht anonymisiertem amtierende Abgeordnete die Ein- und Aus- Gesicht, damit zu sehen war, wer sich auf 17 führung einzelner Maßnahmen diskutieren. Kinder gehen inzwischen immerhin tagewei- welche Weise nicht an Regeln hielt. Diese Bilder wirkten wie virtuelle Zeigefinger, die
sich über die Timelines etlicher User*innen Landes ist es nicht, ausnahmslos jeden mit- von Flüchtenden, die er in einem Statement zogen, um nichts als destruktive Diskussi- zunehmen, sondern nur diejenigen, die ge- von 2018 mit „Aslytourismus“ umschrieb. onen zu forcieren – ähnlich schrill wie all meinsame Grundsätze achten, anstatt durch Erst vor drei Monaten stellte Söder sich ent- die Menschen, die für eine allgemeine Aus- stereotypisierende Haltungen Fronten zu schieden gegen die Aufnahme von Geflüch- gangssperre lautstark in den Vordergrund eröffnen und zu verhärten. teten aus Griechenland in Deutschland. traten. Mit Blick auf die außergewöhnlichen Ein gegen Geflüchtete hetzender Popsänger Inzwischen sind es fast 40.000 Menschen, Umstände war das zwar nachvollziehbar, wie Xavier Naidoo, der den ohnehin unauf- die auf griechischen Inseln unter unwürdigen aber – so entschied die Regierung letztend- hörlich wachsenden Antisemitismus und an- Bedingungen zwischen Ungewissheit und lich – nicht gerechtfertigt. Neben Journa- timuslimischen Rassismus befeuert, bedient Angst ausharren. list*innen und den Stimmen besonnener sich nicht der Meinungsfreiheit zugunsten Der Grund, weshalb Politiker*innen wie Bürger*innen war es die Bundeskanzlerin der Demokratie, sondern des Populismus zu- Söder innerhalb der Krise trotz allem gefeiert selbst, die implizit zum kritischen Denken gunsten rechter Ideolog*innen. Gänzliches werden, geht mit der Neuen Sozialen Frage anhielt. Die sich expressis verbis für die Ein- Misstrauen gegenüber der Regierung bedeu- einher. Die Frage, die sich für gewöhnlich führung von Maßnahmen unter genauer Ab- tet eine Kehrtwende in Richtung identitärer hierzulande stellt, ist die nach Freiheit und wägung ihrer Dringlichkeit aussprach. Strömungen – das Auffangbecken für poli- Sicherheit für deutsche Bürger*innen, nicht Erwartungen an die Politik stiegen parallel tische Verbitterung und ideologischen Hass aber die nach einem allumfassenden Frei- zum Verlauf der Kurve an. Sobald diese schlechthin. Doch Deutschland ist beileibe heitsbegriff. Nach diesem wird kaum ge- abflachte, hielten viele die Krise fälschli- kein Land, das sich einen Aussetzer im Den- sucht, es scheint den meisten zu genügen, cherweise für überstanden. Fortwährende ken von Gemeinschaftlichkeit leisten kann, wenn die eigene Freiheit und Sicherheit ge- Maßnahmen wurden lästig, erschienen un- erst recht kein Verlassen der demokrati- währleistet sind. Wer aber bleibt dabei auf nötig, wurden von Dilettant*innen willkür- schen Grundhaltung. der Strecke? Wenn diese Frage zweitrangig lich verfälscht. Die auf bürgerliche Freiheiten Derzeit wird hier mit Begriffen wie Dikta- bleibt, dann sehe ich die demokratischen bedachte Wachsamkeit über politisches tur und Regime um sich geworfen, in einem Werte Gefahr laufen, durch Hierarchien ab- Handeln begann von kruden Verschwö- Land, das zwischen 1933 und 1945 den gelöst zu werden, in denen beispielsweise rungstheorien überschattet zu werden. Pa- schlimmsten Auswüchsen einer Diktatur Heimatlose und Menschen ohne oder mit rallel entstand ein ausgeprägter Gegenpol, Raum gegeben hat. Mit Angst vor „Zwangs- nur schlecht bezahlter Arbeit keine Stimme der in konspirativen und meist rechten Ideo- impfungen“ und anderen Repressalien wird haben und den Privilegiertesten das Mikro- logien kulminierte. bei Demonstrationen gegen einen angeblich fon gereicht wird. Tatsächlich besteht nun die Gefahr, be- neu erwachenden Faschismus argumentiert. Stumm bleiben wieder einmal die sozial rechtigte und für eine Demokratie überle- In einem Land, das sich in jüngster Vergan- Unsichtbaren. Stumm sind sie auch geblieben, benswichtige Kritik (z. B. gegenüber Tracking- genheit in den öffentlichen Reaktionen auf als sie buchstäblich beklatscht wurden, weil Apps) nur als Produkt von Ignoranz und rechtsextreme Angriffe in Halle und Hanau sie in den vergangenen Wochen eine Arbeit Bildungsferne wahrzunehmen. Diese feh- an Unbeholfenheit nicht überbieten ließ. taten, deren Bedingungen jahrelang zu Recht lende Genauigkeit führt nicht allein dazu, Ein weiteres, großes Problem scheint mir Streikwellen auslösten. Sichtbar waren dass der politischen Mündigkeit einzelner der symptomatische Egoismus zu sein, der sie nur dort, wo die Mitte der Gesellschaft Bürger*innen Unrecht getan wird. Es rela- dringend überwunden werden muss. Denn Galionsfiguren für die zermürbende Krise tiviert auch den sozial übergreifenden Zu- ob wir wollen oder nicht: Wir sind Teil eines brauchte. Kaum beachtet wurden und werden lauf im Verschwörungsmilieu. Denn nicht großen gesellschaftlichen Kollektivs. Ver- darüber die sozialen Realitäten von Allein- immer sind es bildungsferne Bürger*innen, trauen in die Politik heißt nicht, passiv zu erziehenden, vereinsamten Älteren oder die den sogenannten Theorien über Gates & bleiben und den eigenen Verstand auszu- Frauen in Gewaltehen. Von Obdachlosen, Co. Glauben schenken. Es sind auch Men- schalten. Vertrauen in die Politik heißt, auf unterbezahlten Schichtarbeiter*innen oder schen, die Zugang zu fundiertem Wissen und das Grundgerüst der Demokratie zu setzen psychisch Erkrankten. Auch nicht die der aufklärerischen Ideen haben. Konspirative und die Entwicklungen in ihrem Namen zu sogenannten „Gastarbeiter*innen“, die noch Bewegungen ziehen ihre Kraft oft schlicht beobachten und mitzugestalten. Demokratie immer Schwerstarbeit verrichten und wie aus bestimmten Feindbildern, die histo- schließt Partizipation nicht aus, sie beruht viele andere keine Aussicht auf Homeoffice risch-kontextuell immer wieder changieren. darauf. Genauso wie sie auf vernunftbasier- haben – womöglich nicht einmal mehr Aus- ten Entschlüssen beruht. So werden Grund- sicht auf künftige Arbeit. In Zeiten der Krise rechte nicht gegeneinander ausgespielt, wird nicht nur die Widerstandsfähigkeit von Auf das Grundgerüst der wenn das Recht auf körperliche Unversehrt- Solidarität und Gemeinschaft auf die Pro- Demokratie setzen heit der Versammlungsfreiheit vorgezogen wird. Sie werden gegeneinander abgewogen be gestellt, sondern eben auch die Kluft zwischen den sozialen Klassen deutlich. und nach Verhältnismäßigkeit priorisiert. Und vor allem das muss uns dieser Tage Das Fundament einer resilienten Gesell- Der bayerische Ministerpräsident Markus beschäftigen. schaft aber bleibt die Bereitschaft zu einem Söder wurde für die von vielen als recht- am Gemeinwohl orientierten, kollektivisti- zeitig und angemessen strikt wahrgenom- schen Denken. Zu einer Demokratie gehört menen Maßnahmen im Übermaß gerühmt. Erschienen am 15.06.2020 neben dem Pluralismus auch ein mehr oder Vergessen war seine erzkonservative Hal- weniger einheitliches Wertesystem. Und die Aufgabe eines freiheitlich-demokratischen tung zu kontroversen Themen, auch seine geringschätzige Umschreibung der Situation 18 19
Kurz vor den Kommunalwahlen in NRW diskutierten im Herbst 2020 Jugendliche und junge Erwachsene bei der WIR MACHEN DAS-Veranstaltung „Du hast die Wahl!“ über Volljährigkeit, Staats- bürgerschaft und Wahlen. Einfach mal zuhören — Von: Laura Maria Niewöhner Fotos: Bahar Kaygusuz Das Veranstaltungsteam vor dem Gemeindehaus Heepen: Anja Voigt, Daniel Marchand, Felix Tiemann, Uta Rüchel und Lama Al Haddad die der Hotspot Heepen hier ausrichten will. Denn der Fokus liegt auf den individuellen Perspektiven und Fragen der jungen Leute: Was motiviert Euch zur Wahl zu gehen? Ist E Wählen ein Grundrecht für alle? Welche s ist ein später Freitagnachmit- Rolle spielen Alter und Staatsbürgerschaft? tag, das Wochenende naht und Diese Themen wurden zunächst in großer die Sonne scheint. Auf den ers- Runde und anschließend in Kleingruppen in- ten Blick wenig gute Gründe, tensiv diskutiert. um sich mit Politik zu be- Das Grundgesetz ist für die Bundesrepublik schäftigen. Doch die 22 Teil- Deutschland von großem Wert, darin waren nehmer*innen der Veranstaltung „Du hast sich alle Teilnehmer*innen einig. Aller- die Wahl!“, die gerade im Gemeindehaus in dings wurde gleich zu Beginn deutlich, dass Bielefeld Heepen ankommen, scheinen das nicht jede*r gleichermaßen damit vertraut anders zu sehen. Interessierte Erwachsene ist. Zunächst teilten die Anwesenden ihre treffen hier heute auf Jungen und Mädchen Erfahrungen eher zögerlich mit der Gruppe. zwischen 16 und 21 Jahren, die allein oder Einige waren erst in Jugendzentren mit in Begleitung von Mitarbeiter*innen der ört- dem Grundgesetz in Berührung gekommen, 21 lichen Jugendzentren gekommen sind. Es soll eine Begegnung auf Augenhöhe werden, während andere sich bereits in Schule oder Universität ausführlich damit auseinander-
Mitgestaltung diskutiert – manche Gruppe plädierten sie dafür, das Wahlrecht auf die- vergaß darüber die Zeit. Alle Jugendlichen jenigen auszuweiten, die bereits eine lange fanden, dass das Wahlalter auch auf Bun- Aufenthaltsdauer und gewisse Sprachkom- desebene auf 16 Jahre herabgestuft werden petenzen aufwiesen. Der Onkel eines Teil- sollte. Viele junge Menschen wären reif genug, nehmers wohnt seit mehr als zehn Jahren sich politisch zu artikulieren und je früher in Deutschland, hat hier seinen Lebensmit- sie Verantwortung übernähmen, desto mehr telpunkt, spricht fließend Deutsch und darf Verantwortungsbewusstsein würden sie auf nach wie vor nicht wählen. In dem Jungen Dauer gegenüber ihren Mitmenschen entwi- weckt das großes Unverständnis. Aus Bei- ckeln. Einstimmig genervt zeigten sie sich spielen wie diesen entspann sich schließlich von den stetigen Zweifeln älterer Generati- auch ein Gespräch über Rassismus, Sexis- onen an der Entscheidungs- und Verantwor- mus, Menschenrechte – und über die teuren tungskompetenz von Jugendlichen. Nahverkehrspreise, welche die Jugendlichen Eine Anpassung der Strafmündigkeit bei gerne mal in ruhiger Minute mit Angela Merkel einer Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre besprechen würden. sahen sie dagegen eher kritisch. Man müsse Jugendlichen und jungen Erwachsenen Fehler machen und daraus lernen dürfen, einfach mal zuzuhören und ihre Perspekti- sagte ein Junge, was schnell Zustimmung ven einzufangen, das hat an diesem ersten fand. Als Jugendliche*r träfe man manch- Veranstaltungstag ausgesprochen gut funk- mal eben Fehlentscheidungen und probiere tioniert. Die lockere Atmosphäre hat – trotz sich aus, ohne sich über die Konsequenzen Sicherheitsabstand – bestimmt dazu bei- bewusst zu sein. Daher sahen die Teilneh- getragen, dass sie sich drei Stunden lang Im Gespräch mit den Teilnehmenden menden ein altersabhängiges Strafrecht mit abstrakten Fragen auseinandergesetzt als Chance für einen Neustart, „um von der haben. Vielleicht aber auch die Aussicht, schiefen Bahn wieder wegzukommen.“ dass die gesammelten Informationen und Diskussionsergebnisse am Ende der Veran- gesetzt hatten. Doch unabhängig vom unter- Wahlaufforderung von den Musikern ‚Die staltungsreihe an die Parteien und zustän- schiedlichen Wissensstand: Alle sahen es Ärzte‘ gefreut, weil sie deren Meinung teile Auseinandersetzung mit digen politischen Einrichtungen übergeben als starke Säule des Zusammenlebens in Deutschland an – als gemeinsamen Werte- und sich mit den Songs identifizieren könne. Trotzdem ging es auch ihr vor allem darum, Rassimsus, Sexismus und werden. Auf dieser Basis konnten sie poli- tische Vorstellungen nicht nur entwickeln. und Normenkanon, der von jeder*m Bürger*in mit gutem Gewissen hinter den politischen Menschenrechten Sondern auch Gehör damit finden. respektiert werden sollte. Inhalten ihrer Wahl zu stehen. Ähnlich wichtig schien den Jugendlichen Als offene Fragen formulierte die Gruppe, Kritisch sahen sie auch den Umstand, dass das Thema Wahlen zu sein. Nach anfäng- warum sich so wenig Jugendliche an Wahlen das derzeitige Wahlrecht an die Staatsbür- Erschienen am 17.09.2020 licher Schüchternheit erzählten sie, dass beteiligen und wieso es kaum junge Politi- gerschaft geknüpft ist. Um Exklusion und die meisten von ihnen schon einmal ge- ker*innen gebe. Auch haderten sie mit dem mögliche Diskriminierung zu vermeiden, wählt hatten. Bei einem Rundgang durch Eindruck, Politiker*innen seien oft unehr- die Räumlichkeiten löste sich die Zurück- lich. Und damit, dass die Umwelt noch im- haltung dann endgültig auf. Auf einmal dis- mer ein zweitrangiges Thema sei. kutierten die jungen Wähler*innen, warum Als Möglichkeiten, sich selbst politisch zu sie ihr Wahlrecht genutzt hatten, was sie engagieren und Einfluss zu nehmen, sahen dazu motiviert hatte, wählen zu gehen und sie neben Wahlen und Demonstrationen – welche Fragen sie zum Thema hatten. Viele etwa zu Themen wie Black Lives Matter – erzählten von dem besonderen Erlebnis, auch das Internet. Insbesondere Youtuber*in- Politik aktiv mit gestalten zu können. Aber nen inspirierten sie dazu, politische Bot- auch von der ‚moralischen Pflicht‘, die Wahl schaften in Social Media-Beiträgen kritisch als essentiellen Bestandteil des eigenen zu hinterfragen und sich selbst dazu zu posi- Demokratieverständnisses zu begreifen. tionieren. Mehrere Jugendliche fühlten sich Einem Mädchen schien ‚Wählen gehen‘ so von den politischen Positionen des blauhaa- selbstverständlich wie Zähneputzen. Und rigen Youtubers Rezo angesprochen. Seinem mit Blick auf die Proteste in Belarus wurde Beispiel folgend fingen sie nun selbst an, allen Teilnehmer*innen klar, dass freie ihre Überzeugungen zu entwickeln. Wahlen keinesfalls eine Selbstverständ- lichkeit sind. Vielen ging es gerade deshalb auch um die Wahlalter und Wahlrecht persönliche Identifizierung mit den Parteien. Sie bräuchten keine VIPs, die via Twitter Im Anschluss an das Gespräch in großer Runde zur Wahl aufriefen, befanden sie einstim- mig. Einzig ein Mädchen hätte sich über eine wurde in Kleingruppen über die Vorausset- zungen für das Wahlrecht und politische 22 23 Gruppenarbeit im Workshop
Das Wahlrecht zeigt an, wer zum politischen Gemeinwesen dazugehört. Doch inhaltlich mitgeredet wird an der Wahlurne nicht. Dafür braucht es direktere Kanäle – am besten zu den Abgeordneten. Warum Wählen nicht alles ist — Von: Claudia Gatzka Wählen ist in der Demokratie symbolisch Foto: Harris & Ewing Collection / Librairy of Congress wichtig, weil dadurch die Teilhabe an der politischen Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Es schließt ein und zugleich aus, in- dem es festlegt, wer vom Prinzip der Volks- souveränität Gebrauch machen darf und wer nicht. Es zeigt an, wer „dazugehört“. Die Kri- terien dieser Zugehörigkeit jedoch sind ver- änderbar: In der Bundesrepublik wurde das Wahlalter 1970 von 21 auf 18 Jahre gesenkt (in der DDR durfte man bereits mit 18 wäh- len); das Kommunalwahlrecht wurde 1992 für EU-Ausländer*innen geöffnet. D Auch derzeit gibt es keine formalen as Wahlrecht ist das grund- Gründe, am aktuellen Mindestwahlalter von legendste Teilhaberecht in 18 Jahren festzuhalten, und es gibt keine der parlamentarischen Demo- staatsrechtliche Notwendigkeit, das Wahl- kratie. Doch Wählen ist nicht recht an die Staatsbürgerschaft – anstatt an die einzige Möglichkeit, sich den Wohnort oder die Arbeitsstätte – zu bin- politisch zu engagieren – und den. Und tatsächlich wird es problematisch, das ist gut so. Denn ein beträchtlicher Teil der wenn die Relation zwischen Wohnbevölke- Menschen, die in der Bundesrepublik leben, rung und Wahlberechtigten in eine Schieflage ihren Regeln und Gesetzen unterworfen gerät. Ob das demokratische Prinzip der sind, dürfen nicht wählen. Das Wahlrecht ist Selbstbestimmung gewahrt ist, wenn in ein- nämlich an zwei Bedingungen gebunden: die zelnen migrantisch geprägten Gemeinden Volljährigkeit und die Staatsbürgerschaft. die Hälfte der Einwohner*innen nicht wählen Und selbst für jene, die wählen dürfen, darf, ist fraglich. Wenn der Wunsch nach stellt der Wahlakt eine zwar bedeutsame, Wahlrecht artikuliert wird, etwa in Wahl- 25 aber vergleichsweise passive Form der Mit- sprache dar. rechtsdemonstrationen, die es in Deutsch- land seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab,
allem bei den jungen, so wenig bekannt nete*r werden können sie über diesen Weg sind? In den 1960er und 1970er Jahren war jedoch nicht. Denn um gewählt werden zu kön- das noch anders. Damals bemühten sich nen, ist das passive Wahlrecht unabdingbar. die Wahlkreiskandidat*innen intensiv, auf Weil unsere Demokratie auch den Wahlbe- Wahlveranstaltungen, in Kneipen, an Haus- rechtigten bei der Mitsprache enge Grenzen türen, auf der Straße und per Brief mit ihren setzt, sind alternative, zivilgesellschaftliche Wähler*innen ins Gespräch zu kommen. Vor Partizipationsräume so wichtig. Hier können allem die Lokalpresse, damals noch das alle gemeinsam großen Einfluss entfalten: wichtigste Medium für die Wählenden, mach- in außerparlamentarischen Bewegungen, te die Kandidat*innen bekannt. Das Inter- Wähler*innen- und Bürger*inneninitiativen, net und die sozialen Medien bieten heute Vereinen und Verbänden, durch Demonstra- theoretisch noch bessere Kommunikations- tionen und Aktionen, mittlerweile vor allem möglichkeiten, und manche Abgeordneten über YouTube oder Twitter. Bürger*innenbe- nutzen Twitter auch schon intensiv, um sich wegungen haben in der Geschichte der Bun- ihren Wähler*innen mitzuteilen. Doch künftig desrepublik Großes bewegt, gerade auch, müsste es auch darum gehen, die Menschen wenn es um Anti-Diskriminierung und Minder- aus dem Wahlkreis selber sprechen zu las- heitenrechte ging – etwa für Frauen oder sen, ob mit oder ohne Wahlrecht: über ihre für Homosexuelle. Über die sozialen Medi- Wünsche und Sorgen, vor allem aber über en können Minderheiten oder stumme Wäh- ihre Einschätzungen zu den politischen Fra- ler*innenmehrheiten heute ein viel größe- gen, die im Bundestag behandelt werden. res Publikum erreichen als vor der digitalen Deutschland ist mit einer responsiven Transformation. Demokratie aber wenig vertraut. Das Grund- Unterm Strich sind die politischen Teil- gesetz verpflichtet die Gewählten eben gerade habechancen über diese Kanäle wohl also nicht darauf, den Willen der Wähler*innen tatsächlich noch bedeutsamer als das umzusetzen. Abgeordnete sind nur ihrem Kreuz im Wahllokal. Denn Politiker*innen Anspruch auf Repräsentation: Frauen erkämpfen vor 100 Gewissen verpflichtet, sie sind nicht gebun- orientieren sich zwar an der Maximierung den an inhaltliche Aufträge und unterliegen von Wahlstimmen, können sich jedoch der Jahren ihr Wahlrecht in den USA. auch nicht irgendeiner Kontrolle. Faktisch öffentlichkeitswirksamen Artikulation des jedoch binden sie sich längst, und zwar an Volkswillens nicht entziehen. Und User*in- die Direktiven ihrer Parteien. Faktisch unter- nen können sich heute außerparlamentari- ist es für Staaten eigentlich immer oppor- Gerade politisch interessierte Wähler*innen liegen sie auch durchaus einer Kontrolle, sche Repräsentant*innen suchen, die qua tun, dem nachzugeben. Denn mit dem An- und Menschen, die es werden wollen, haben und zwar durch die Parteibasis, die in ihrem Likes und Followers dieselbe Legitimität spruch auf Repräsentation ist ja immer auch klare Sachfragen vor Augen, über die sie Wahlkreis darüber entscheidet, ob sie eine*n beanspruchen mögen wie gewählte Volks- ein Bekenntnis zum politischen Gemeinwe- durch Wahlen mitbestimmen wollen. Doch Abgeordnete*n wieder als Kandidat*in auf- vertreter*innen. Vom Wahlrecht ausge- sen verknüpft, das Wertschätzung verdient. der Einfluss der Personalisierung von Politik stellt oder nicht. nommen zu sein, bedeutet in der Demokra- zeigt sich heute unter anderem darin, dass tie also nicht mehr explizit, seiner Stimme junge Menschen ausgerechnet mit der Bun- beraubt zu sein. Und auch für Wahlbe- Es geht um Repräsentation deskanzlerin über Themen wie die teuren Alternativen der rechtigte verheißen die neuen Medien eine Nahverkehrspreise diskutieren wollen. Die Erweiterung ihrer Stimme über den reinen Und doch ist Wählen nicht alles, wenn es um Bundeskanzlerin ist dafür aber gar nicht zu- politischen Mitbestimmung Wahlakt hinaus. politische Mitbestimmung geht. In der par- ständig, und vor allem wird sie nicht vom Volk lamentarischen Demokratie geht es beim gewählt: Es sind Bundestagsabgeordnete, Für Wähler*innen ohne Parteibuch sind solche Wählen ohnehin vorrangig um Repräsenta- die in Deutschland gewählt werden, und Feedbackschleifen in der repräsentativen Erschienen am 05.11.2020 tion: Per Wahl entscheiden die Wahlberech- diese bestimmen dann nach den Mehrheits- Demokratie nicht vorgesehen. Auch der tigten, wer sie für eine absehbare Zeit im verhältnissen im Bundestag die Regierungs- Stimmzettel enthält keine Kommentarfunk- Kommunal-, Landes- oder Bundesparlament chefin oder den Regierungschef. tion, durch die Wähler*innen mitteilen könn- vertritt und dort in ihrem Namen abstimmt. Wie sehr junge Menschen heute an diesen ten, was sie an ihren Repräsentant*innen gut Wählen ist also lediglich die Delegation von Verhältnissen vorbei die Exekutive im Blick fanden und was schlecht. Es ist den Abgeord- Mitbestimmung, aus dem Wahlakt leiten sich haben, zeigt sich auch bei Rezo. Er adressiert neten überlassen, außerparteiliches Feed- keine weiteren Rechte für die Wählenden auf YouTube die große Politik, die Partei- back aus ihrem Wahlkreis einzuholen. ab. Ein Kreuz auf einem Stimmzettel sagt vorstände und das Bundeskanzleramt – Was Wahlberechtigte wie Nicht-Wahl- noch nichts über die Motive, Wünsche, Hal- nicht jedoch jene politischen Instanzen, über berechtigte schon jetzt tun können, um tungen und Bedürfnisse der Wählenden aus. die er und andere Wähler*innen abstimmen mehr Mitsprache zu üben, ist, in eine Partei Ob Inhalte angesichts der seit Jahrzehnten könnten: Kommunal-, Landtags- und Bundes- einzutreten. Gerade junge Menschen und anhaltenden Personalisierung von Politik bei tagsabgeordnete. An sie müssten wir uns Migrant*innen sollten darüber nachdenken, der Wahlentscheidung überhaupt eine nen- wenden. denn dort können sie politisch Einfluss neh- nenswerte Rolle spielen, wird in der Wahl- forschung schon lange angezweifelt. Wie kommt es, dass die wahren Reprä- sentant*innen bei ihren Wähler*innen, vor 26 27 men, ohne über ein Wahlrecht zu verfügen – jedenfalls bei den meisten Parteien. Abgeord-
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