Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge - Zeitschrift für - Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern - IIGS
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
23. Jahrgang | Nr. 90 – Oktober 2018 ISSN 1991-7635 Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern Gestaltarbeit und das letzte Drittel des Lebens
74 Aus der Redaktion Aus der Redaktion Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Inhaltsverzeichnis Aus der Redaktion „Dynamisch, kreativ und H. Neuhold: „Dynamisch, kreativ und genussvoll bis genussvoll bis ins hohe Alter“ ins hohe Alter“ – eine provokative Überschrift......... 74 Biblisch-spirituelle Impulse – eine provokative Überschrift E. Petschnigg: Zwischen Mythos und Empirie ................ 75 Der Titel der Zeitschrift mag und soll durch- L. Neureiter: Ein neugeborenes Kind und aus irritieren, vielleicht auch provozieren. „Für zwei alte Menschen................................................. 78 immer jung“ singt Wolfgang Ambros schon vor R. Schwarzenberger: Die Pieta – eine noch Jahren und landete damit einen Hit, der in Ös- junge Frau und ihr alter Sohn?................................. 80 terreich zum Volkslied wurde und von jedem/ Zum Thema jeder mitgesungen werden kann. Es zeigt sich J. Pock: Die Heilsmittel des Christentums. Beichte und hier eine eigenartige Spannung unter der das Al- Krankensalbung – und die Sorge umd das Heil tern steht: einerseits werden wir Menschen statis- des Menschen .......................................................... 80 tisch gesehen tatsächlich immer älter und bleiben K. Furrer: Erikson – Der letzte Lebenszyklus: auch (meist) länger gesund, das heißt dieser Le- 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 Versöhnung............................................................. 83 D. Tropper: Biografiearbeit mit alten Menschen............. 85 bensabschnitt hat sich massive erweitert und will A. Ulz: Seelsorge und Spiritualität im Krankenhaus bestenfalls „dynamisch, kreativ und genussvoll“ und ihr Beitrag zu einem „dynamischeren“ gestaltet werden; andererseits aber bedeutet Al- gelingendem Altern ................................................ 87 tern auch ein Schwinden der Lebenskräfte und E. Kapper-Weidinger: Hochaltrigsein als Energien, ein Abschiednehmen von vielen ver- Herausforderung ..................................................... 89 trauten Möglichkeiten des Lebens, von liebgewor- Berichte aus unserem Umfeld denen Menschen, ein Zurechtkommen-müssen F. Feiner: Geragogik – Lern- und Lifecoaching mit körperlichen Beeinträchtigungen, vielleicht für die 2. Lebenshälfte ............................................ 91 auch ein gesamtes Ermüden bis hin eben zu Das aktuelle Interview schwerer Krankheit und Tod. Für viele erwacht Interview mit Sr. Cécile Leimgruber ............................... 92 in dieser Phase auch ein neues Interesse an Spi- Interview mit Cornelia Coenen-Marx ............................. 94 ritualität und Auseinandersetzen mit den letz- Aus der Praxis – für die Praxis ten Fragen. Einige Aspekte davon sollen in dieser E. Pöcksteiner: Altenpastoral und Gestalt – Alten- Ausgabe unserer Zeitschrift zur Sprache kom- pastoral in Krankenhaus und Pflegeheim ................. 96 men. Zunächst werden biblische, sakramenten- Literatur zum Thema theologische und pastorale Befunde geortet und I. Schrettle: Grenzland Zwischenland – Erkundungen........98 bedacht. Psychologische, beraterisch-therapeu- Buchbesprechungen – Buchempfehlungen.................. 99 tische Aspekte werden ebenso besprochen wie Gedicht: A. Sauseng: Ein Suchen war es ........................ 99 auch Fragen der Pflege alter Menschen. Interviews bringen einerseits biographische und sehr per- Das weite Land unserer Seele – Aus der Psychiatrie sönliche Blickwinkel ein, andererseits aber auch S. Zankl: Närrische Alte oder alte Weise?...................... 100 medizinisch-fachliche Überlegungen. Natürlich Aus den Vereinen gibt es auch Einblicke in die Arbeit der Vereine G. Kraxner-Zach: JA zur Liebe! Ja zum Licht! bzw. Rückblicke auf den Kongress in Celje oder JA zum Leben! ...................................................... 103 die Sommerwoche in Tainach. H. Gohla: Transformationsprozess auch in Religions pädagogik und Pastoral ........................................ 104 Ein bunter Mix, der hoffentlich auf Ihr In- Termine / Inserate......................................................... 106 teresse trifft und dieses wichtige Thema unserer Gesellschaft differenziert zur Diskussion stellt. Titelbild: © rosa michor, cargocollective.com/iltiskollektiv Hans Neuhold – Chefredakteur
Biblisch-spirituelle Impulse 75 Edith Petschnigg Gestalten lesen wir, dass sie dieses Ideal erreich- ten, sieht man von den mythischen Altersangaben Zwischen Mythos und Empirie der Ur- und Erzelternzeit ab. Im 2. Samuelbuch begegnet uns etwa der wohlhabende Gileaditer Biblische Perspektiven auf das Alter Barsillai, ein Förderer König Davids, der als „sehr alt“, als „ein Mann von 80 Jahren“ vorgestellt wird Ein „biblisches Alter“ zu erreichen ist sprich- (2 Sam 19,33). Im Kreis der biblischen Hochbe- wörtlich geworden – und diesem Idealzustand tagten tritt weiters der Priester Eli in Erscheinung, sind wir heute, zumindest in den industrialisier- der im Alter von 98 Jahren an den Folgen eines ten Ländern, weitaus näher als es Menschen zu Sturzes verstirbt (1 Sam 4,15–18). „Ein sehr ho- „biblischen“ Zeiten. Die Lebenserwartung ist seit hes Alter“, nämlich 105 Jahre, erreicht ferner Ju- den 1960er Jahren weltweit stetig gestiegen, be- sonders trifft dies auf europäische Länder und dit (Jdt 16,23), die damit neben der Erzmutter Nordamerika zu. Ein Kind, das heute in Ös- Sara, von deren Tod im mythischen Alter von terreich das Licht der Welt erblickt, sieht einer 127 Jahren erzählt wird (Gen 23,1), die einzige durchschnittlichen Lebenserwartung von 81,8 weibliche Figur ist, der ein derart hohes Lebens- Jahren entgegen. Der Topos der „alternden Ge- alter zugeschrieben wird. Möglicherweise spie- sellschaft“ ist medial präsent und wird immer gelt sich in der seltenen Nennung hochaltriger stärker auch zum Thema der Forschung (vgl. Al- Frauen auch die empirische Beobachtung wider, ternde Gesellschaft, 2018). Gänzlich anders stell- wonach Frauen vielfach früher starben als Män- ten sich die Alterspyramide und Lebenserwartung ner (biblisch erzählt wird dieses Faktum etwa im in der antiken Welt dar; ein hohes Alter zu errei- vorzeitigen Tod Rahels bei der Geburt ihres zwei- ten Sohnes, vgl. Gen 35,16–19). 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 chen war ein höchst seltener Ausnahmefall. Für Jerusalem um die Zeitenwende zeigen archäo- Eine durchaus realistische, wenn auch in bi- logische Funde, dass lediglich sechs Prozent al- blischen Zeiten selten erreichte Lebensdauer von ler Bewohnerinnen und Bewohner älter als 60 70, höchstens 80 Jahren thematisiert Psalm 90 (V. Jahre wurden (vgl. Hossfeld, 1990, 2). Das Durch- 10), wie überhaupt Psalmen die verschiedenen schnittsalter der Könige des Südreichs Juda lag Phasen des Lebens und so auch das Älterwerden bei rund 50 Jahren. Geht man davon aus, dass mehrfach zur Sprache bringen. „Alt und lebens- die Lebensbedingungen der Bevölkerung weitaus satt“, wörtlich „satt an Tagen“, zu sterben galt im weniger privilegiert waren als jene der Königsfa- Alten Israel als Idealzustand und beschreibt die milie, muss mehrheitlich mit einer geringeren Le- natürliche Hinnahme des Todes nach einem lan- benserwartung gerechnet werden (vgl. Pola, 2011, Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge gen, erfüllten Leben (vgl. Neumann-Gorsolke, 128; Zwickel, 2011, 76f.). Altersbestimmungen 2009, 119; 132). In Anbetracht der realiter ge- in Nekropolen zeigen eine durchschnittliche Le- ringen Lebenserwartung spiegelt sich in diesem benserwartung von nur 30 bis 40 Jahren, wobei literarischen Topos ein nur allzu verständlicher Frauen aufgrund von Komplikationen während Wunsch wider, der bis heute, auch in Zeiten hoher der Schwangerschaft und Geburt häufig früher Lebenserwartung, als Ideal sicherlich nicht an Be- starben als Männer (vgl. Frevel, 2016, 340f.). deutung verloren hat. Bemerkenswert ist, dass die biblische Erzähltradition diese Notiz ausschließ- „Alt und lebenssatt“ (Gen 25,8) – hohes Alter lich Männern vorbehält: Abraham (Gen 25,8), als Segen Isaak (Gen 35,29), David (1 Chr 23,1; 29,28), der Ein Lebensalter jenseits des Medians zu er- Priester Jojada (2 Chr 24,15) und Ijob (Ijob 42,17) reichen, wurde aus biblischer Perspektive dem- – sie alle sterben „alt und lebenssatt“ (vgl. Neu- entsprechend als Segen und graues Haar als mann-Gorsolke, 2009, 119). Das Erreichen eines „prächtige Krone“ (Spr 16,31) betrachtet (vgl. (fiktiv) hohen Lebensalters ist aus biblischer Sicht Hossfeld, 1990, 8). Nur von wenigen biblischen charakteristisch für ein besonderes Nahverhält-
76 Biblisch-spirituelle Impulse nis zu Gott, das nicht zuletzt in den Bildern ei- alter Menschen, das eine existenzsichernde Ar- Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge ner kommenden Heilszeit seinen Ausdruck findet beit unmöglich macht. Die Sorge um die altern- (vgl. Neumann-Gorsolke, 2012, 263). Im neuen, den Eltern ist dementsprechend im Elterngebot endzeitlichen Jerusalem, welches das Buch Jesaja des Dekalogs ausdrücklich verankert (vgl. Fre- beschreibt (Jes 65), wird es kein Weinen mehr ge- vel 2016, 351) und wird auch in der späten Weis- ben und keinen vorzeitigen Tod; das Leben wird heitsliteratur explizit wieder aufgenommen (vgl. lange und voll Freude sein: Liess 2009, 465-467): Ja, jugendlich ist, wer 100-jährig stirbt, Das Sirachbuch korreliert wie das Buch der und wer 100 Jahre nicht erreicht, gilt als Sprüche Alter und Weisheit (Sir 25,5), verschweigt estraft von Gott wegen einer Verfehlung. b aber auch die beschwerlichen Seiten des Alters nicht (Sir 25,20) (vgl. ebd., 467). Eine der poe- (Jes 65,20) tischsten und eindringlichsten Darstellungen der Hohes Alter scheint gleichsam eine Klammer Mühsal des Alters zeichnet wohl das Koheletbuch zu sein zwischen einer ideal vorgestellten An- in seinem Schlussgedicht (Koh 11,9-12,8). An- fangszeit und einer eschatologischen Heilszeit. gesichts von Alter und Tod ruft es dazu auf, dem Jenseits dieser beiden Pole liegt die reale Lebens- Schöpfer zu gedenken und sich in jungen Jahren 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 welt der Menschen hinter den biblischen Texten; am Leben zu erfreuen (vgl. Hieke, 2012, 176f.): ihre Erfahrungen mit der Lebensphase des Alters 1 Bedenke in den Tagen deiner Jugend, und ihre theologischen Deutungen derselben sol- wer dich geschaffen hat, bevor die schlech- len im Folgenden zur Sprache kommen. ten Tage kommen und die Jahre herannahen, "Bevor die schlechten Tage kommen" von denen du sagen wirst: „Ich habe keinen Gefallen an ihnen“, 2bevor sich die Sonne und (Koh 12,1) – die Mühsal des Alters das Licht verfinstern wie der Mond und die Die Schriften der Bibel zeichnen ein realisti- Sterne, und die Wolken nach der Regenzeit sches Bild des Menschseins in all seinen Facet- wiederkehren – […]. ten, und dazu gehören auch alle Erfahrungen, die (Koh 12,1-2.7) mit dem Älterwerden verbunden sind, im positi- ven wie im negativen Sinne. Wer an Lebensjah- ren zunimmt, nimmt auch an Weisheit zu – nicht „Bis zum grauen Haar, verlass mich nicht, Gott“ zwangsläufig, aber doch tendenziell, dies zeigen (Ps 71,18) – Alter und Spiritualität uns vor allem die biblischen Weisheitsschriften Die Lebensphase des Alters und das damit (vgl. Müllner, 2006, 9). Das Buch der Sprüche einhergehende verstärkte Bewusstsein der eige- sieht in ergrautem Haar – heute vielfach uner- nen Vergänglichkeit stellen nicht zuletzt in spi- wünscht – ein Zeichen für Lebenserfahrung und ritueller Hinsicht besondere Herausforderungen Weisheit, das dementsprechend positiv bewertet für das Menschsein dar. Sucht man nach einer bi- wird (Spr 16,31; 20,29). Der Lebensphase des Al- blischen Theologie des Alters, lohnt ein Blick in ters wird sehr wertschätzend begegnet (vgl. Liess, die Psalmen. Vergänglichkeit und Tod sind zen- 2009, 463f.), und sie ist durch besondere Aufga- trale Themen des Psalters, wobei die Todessphäre ben gekennzeichnet, wie die Weitergabe von Wis- im biblischen Verstehenshorizont viel weiter ge- sen und Tradition an die junge Generation und dacht wurde als wir dies heute für gewöhnlich die Funktion des Rat-Gebens (vgl. Hossfeld, 2006, tun. Krankheit, soziale Isolation oder Bedrohung 273). Bei aller Hochschätzung des Alters beschö- durch Feinde zählen ebenfalls in diesen Bereich. nigt die Bibel die letzte Lebensphase jedoch nicht, Das hohe Alter als Lebensphase wird explizit al- benennt das zunehmende Schwinden der kör- lerdings nur selten thematisiert (vgl. Liess, 2012, perlichen und manchmal auch geistigen Kräfte 162), vor allem geschieht dies in weisheitlich ori-
Biblisch-spirituelle Impulse 77 entierten Psalmen (vgl. Hossfeld, 2006, 273). Ex- MMaga.Drin. Edith Petschnigg, Theologin und emplarisch sei Psalm 71 näher beleuchtet. Der Historikerin, lehrt und forscht an der KPH Wien/ Psalm beschreibt eine intensive Gottesbeziehung, Krems besonders im Bereich Altes Testament und die für die in die Jahre gekommene betende Per- Judentum. son bereits seit frühester Jugend, ja bereits vom Mutterleib an besteht (V. 6). Die als so vertrau- Literatur: ensvoll geschilderte Gottesbeziehung wird hier Alternde Gesellschaft: Österreich könnte besser vorbe- reitet sein, in: https://diepresse.com/home/panorama/ jedoch nicht idealisiert, der Mensch bleibt ange- oesterreich/5490694/Alternde-Gesellschaft_Oesterreich- fochten, er leidet unter Anfeindungen und be- koennte-besser-vorbereitet-sein (4.9.2018). Gesehen 25. September 2018. fürchtet das Fernbleiben Gottes, vor allem in der Frevel, Chr. (2016): „Du wirst jemanden haben, der dein letzten Lebensphase: „Verwirf mich nicht in der Herz erfreut und dich im Alter versorgt“ (Rut 4,15). Al- Zeit des Alters, wenn meine Kraft schwindet, ver- ter und Altersversorgung im Alten/Ersten Testament, in: Ders.: Gottesbilder und Menschenbilder. Studien zu An- lass mich nicht“ (V. 9). Doch die Angst hat in thropologie und Theologie im Alten Testament (S. 327 – diesem Psalm nicht das letzte Wort, die so lange 357) Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft. gepflegte Gottesbeziehung erweist sich auch in Hieke, Th. (2012): Das Gedicht über Freude, Alter und Tod am Ende des Koheletbuches (Prediger Salomonis), in: Fit- fortgeschrittenem Alter als tragfähig. Die Bitte in zon, Thorsten u. a. (Hrsg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebens- V. 9 mündet schließlich in den Lobpreis Gottes alter in Literatur, Theologie und Geschichte (S. 171 – 191) Berlin, Boston: De Gruyter. (V. 14-16) und den, auch musikalisch ausgedrück- Hossfeld, F.-L. (1990): Graue Panther im Alten Testament? ten, Dank (V. 22). Und nicht nur das – die selbst – Das Alter in der Bibel, in: Arzt und Christ (S. 1 – 11). erfahrene Gottesnähe drängt zur Weitergabe an 36/1990. Hossfeld, F.-L. (2006): Glaube und Alter, in: Theologie der die nächste Generation (V. 18). So zeigt sich die 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 Gegenwart (S. 267-276). 49/2006. Glaubensverkündigung, das Erzählen über das Sir 3,2-4, vgl. Liess, K. (2009): „Der Glanz der Alten ist ihr selbst erlebte Heilshandeln Gottes, als die zent- graues Haar“ (Spr 20,29). Alter und Weisheit in der alttes- tamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur, in: B. Ja- rale sinnstiftende Aufgabe im Leben älterer Men- nowski / K. Liess (Hrsg.): Der Mensch im alten Israel. Neue schen (vgl. Liess, 2012, 145-162). Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59) (S. 453 – 484) Freiburg i. Br.: Herder. „Jung war ich – nun bin ich alt geworden“ Liess, K. (2012): „Jung bin ich gewesen und alt geworden“. Lebenszeit und Alter in den Psalmen, in: Fitzon, Thorsten (Ps 37,25) – ein Fazit u. a. (Hrsg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Lite- ratur, Theologie und Geschichte (S. 131 – 164) Berlin, Bos- Die biblische Rede vom Alter, so lässt sich ton: De Gruyter. zusammenfassend feststellen, ist ein vielfältiges Müllner, I. (2006): Das hörende Herz. Weisheit in der he- Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Kaleidoskop zwischen Mythos und empirischen bräischen Bibel. Stuttgart: Kohlhammer. Einsichten. Biblische Altersnarrative oszillieren Neumann-Gorsolke, U. (2009): „Alt und lebenssatt …“ – der Tod zur rechten Zeit, in: A. Berlejung / B. Janow- zwischen symbolischen Implikationen für die Zeit ski (Hrsg.): Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner der Anfänge respektive die eschatologische Heils- Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäolo- gische und ikonographische Aspekte (S. 111 – 136) Tübin- zeit und einer realistischen Sicht auf das Leben gen: Mohr Siebeck. alter Menschen. Das Alter wird nicht idealisiert, Neumann-Gorsolke, U. (2012): „Aber Abraham und Sarah aber hochgeschätzt und zeichnet sich besonders waren alt, hochbetagt …“ (Gen 18:11). Altersdarstellun- gen und Funktionen von Altersaussagen im Alten Testa- durch die Weitergabe von Lebens- und Glaubens- ment, in: A. Berlejung / J. Dietrich / J. F. Quack (Hrsg.): erfahrungen aus. So dürfen wir dem vertrauen, Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (ORA 9) (S. 255 – 285) Tü- was uns ein „alt gewordener“ Mensch in Psalm bingen: Mohr Siebeck. 37 zuspricht: „Labe dich am Ewigen, er wird dir Pola, Th. (2011): Vom Kleinkind bis zu den „Ältesten“. Zu geben, was dein Herz erbittet. Überlass dem Ewi- den Lebensaltern im Alten Testament, in: Theologische Beiträge (S. 127 – 142). 42/2011. gen deinen Weg, vertraue auf ihn, er wird han- Zwickel, W. (2011): Alt werden in Israel, in: Welt und Um- deln“ (V. 4f.). • welt der Bibel (S. 76f.). 3/2011.
78 Biblisch-spirituelle Impulse Livia Neureiter (z.B. Abraham und Sara oder Rut und Noomi) Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge und wird auch in Bezug auf Frauen explizit ge- Ein neugeborenes Kind und nannt, wobei die Altersangaben meist wohl als zwei alte Menschen symbolische Zahlen aufzufassen sind. In der Weisheitsliteratur, die gebildete und sozial hö- über die Erfüllung persönlicher, religiöser und her gestellte Personen im Blick hat, wird die be- politischer Hoffnung in L k 2, 25-38 sondere Würde alter Menschen herausgestrichen. Prominent plaziert finden wir mit Simeon Sie gelten als LehrerInnen, denen Respekt, Ach- und Hanna, mit Zacharias und Elisabeth im Lu- tung und Gehorsam gebühren (z.B. Sir 6,34; 8,6; kasevangelium, aber auch mit den Großeltern 8,8f; 25,4-6; Spr 20,29; Ijob 32,6-10). Weiters wird Jesu, Joachim und Anna gemäß dem außerka- im ersten Testament an jungen und alten Men- nonischen Jakobusevangelium, bedeutende Pro- schen das Kommen der Heilszeit deutlich, z.B. in tagonistinnen und Protagonisten, deren (hohes) Joel 3,1-5 zitiert in Apg 2,17-21. In der eschato- Alter in den Schriften betont wird. Mit dem fort- logischen Vision in Sach 8,4-5 werden sogar alte geschrittenen Lebensalter der genannten Gestal- Frauen explizit erwähnt, „an ihrer Situation wird ten werden Sehnsüchte und Hoffnung nach einer die Herrlichkeit des kommenden Heils besonders 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 Veränderung auch nach einer Umkehr der gegen- deutlich“ (Janssen 1998, 57). wärtigen (Lebens)Umstände, nach dem Anbre- In der nachbiblischen jüdischen Literatur chen einer neuen Wirklichkeit, die Rettung und finden sich ähnlich wie in ersttestamentlichen Heil verheißt, untrennbar verbunden. Schriften, Aufforderungen alte Menschen zu eh- ren und die Eltern im Alter zu versorgen. Alter Sozialgeschichtlicher Hintergrund wird mit Weisheit verbunden. Ab 60 Jahren wird Das Lebensalter von Männern und Frauen in von einer Zugehörigkeit zu den Ältesten gespro- der Antike ist schwierig zu eruieren. Meist wird chen. Ein hohes Alter wird als besonderer Segen von einer durchschnittlichen Lebenserwartung gedeutet, auch wenn auf die Beschwernisse des zwischen 20-30 Jahren ausgegangen. Bei der Aus- Alters rekurriert wird. Forschungen von Berna- wertung antiker Grabsteine, die Belege für die dette Brooten haben Frauen als „Mütter der Sy- städtische und wohlhabende Oberschicht liefern, nagogen“ und als Älteste belegt (Janssen 1998, hat sich eine 10,8 % Quote für Frauen, die 60 Jahre 41). Der Gedanke eines friedlichen Miteinanders alt wurden, gezeigt. Die Angaben auf den Grab- der verschiedenen Generationen und der Wert- steinen belegen den Tod der ältesten Frau mit schätzung des Alters wird auch in Lk 1–2 aufge- 96 Jahren (Janssen 1998, 29). 60 Jahre galt in der nommen. Er wird zur Voraussetzung und zum Antike als Grenze zum GreisInnenalter (Janssen Zeichen für das Kommen des Reiches Gottes und 1998, 31). Die sozialgeschichtliche Situation vor die kommende Heilszeit. allem alter armer Menschen, sofern sie nicht fa- miliär versorgt wurden, war durchaus schwierig. Simeon und Hanna – zwei ungewöhnliche Alte? Die antike Literatur liefert Belege dafür, dass Al- Im Zusammenhang mit dem Reinigungsop- ter zwar mit Hochschätzung, Zuwachs an „Würde, fer Mariens nach der Geburt ihres Sohnes – da- Einsicht und Weisheit“(Janssen 1998, 45), aber her der Tempelbesuch in Lk 2,22-39 – werden der auch mit körperlichem und geistigem Verfall und geistbegabte alte Mann Simeon und die Prophe- Defiziten verbunden und mit Spott und Verhöh- tin Hanna genannt. Zu Beginn der Szene wird nung belegt wurde. der alte Mann Simeon, dem offenbart worden ist, dass er den Messias sehen werde (Lk 2,22- Erstes Testament und nachbiblische Literatur 35), vorgestellt. Vom Geist geleitet trifft er auf Das Thema Alter findet sich im AT in Be- die Eltern mit dem Kind, nimmt es auf seinen zug auf bedeutende Persönlichkeiten und Paare Arm und lobt Gott dafür, dass er „das Heil“ noch
Biblisch-spirituelle Impulse 79 schauen dürfe. Nach Simeon wird von der Pro- alte Männer und Frauen in der kanonischen und phetin Hanna erzählt (Lk 2,36-38). Der Erzähl- außerkanonischen Tradition sowie Belegen aus abschnitt schließt mit dem Hinweis darauf, dass dem antiken Umfeld, speziell bei Philo von Ale- die Familie Jesu, nachdem alles, was nach dem xandria (Philo von Alexandria, Über das betrach- Gesetz vorgesehen war, durchgeführt war, nach tende Leben oder Schutzflehenden vgl. Janssen Nazaret zurückkehrte (Lk 2,39). 1998, 42), finden sich besonders in der Gruppe Hanna wird als Prophetin vorgestellt, die zu der TherapeutInnen explizit ältere Männer und denjenigen spricht, „die auf die Befreiung Jeru- Frauen. Sie sind geachtete Mitglieder der Gemein- salems warten“. Hanna ist eine Parallelgestalt zu schaft. Durch die Bedeutung der ältesten Män- Simeon mit eigener Botschaft. Zu Simeon sind ner und Frauen, der Presbyteroi, in den jüdischen außer seinem Alter keine biographischen An- und jungen christlichen Gemeinden ergibt sich gaben überliefert. Zu Hanna dagegen werden ein Bild, das die Anwesenheit und Bedeutsam- Prophetinnentitel, Herkunft, sozialer Status (Wit- keit Menschen jeder Altersphase im antiken Ju- wenstand), hohes Alter (84 Jahre) und ihre gott- dentum und Christentum vor Augen führt und geweihte Lebensweise genannt. Simeon spricht zu die Erfüllung der persönlichen, religiösen und den Eltern im kleinen Rahmen. Hanna dagegen politischen Hoffnungen und Sehnsüchte beson- spricht zu einer größeren Menge. Simeon spricht ders auch der lebensreifen Menschen auf Erfül- darüber, was die Ankunft des Messias für ihn, lung hin offen hält. Hanna und Simeon sind daher für Israel, die Völker und Maria zu bedeuten hat. keine ungewöhnlichen „Ausnahme-Alten“, son- Hanna geht nicht auf ihr persönliches Schicksal dern vor dem Hintergrund der ersttestamentli- ein, sondern ist in die Reihe derer einzuordnen, chen Tradition Belege für das Anbrechen einer 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 die die Befreiung Jerusalems erwarten. Simeon neuen Wirklichkeit. • hat im kleinen Kreis direkten Kontakt zum Kind. Von Hanna ist kein weiterer Kontakt zu Eltern Drin Livia Neureiter lehrt Neues Testament an der oder Kind genannt. Die deutlichste Gemeinsam- KPH Graz und ist AHS -Lehrerin für Religion und keit der beiden ist ihre Verwurzelung im antiken Geschichte. Judentum – ihr warten auf den Messias und das Reich Gottes. Durch Verbindung von Hanna und Literatur: Simeon als weise, Gott verbundene, geistbegna- Eisen, U. (1996): Amtsträgerinnen im frühen Christentum. dete alte Menschen und dem Neugeboren soll Epigraphische und Literarische Studien, Göttingen: Van- ausgedrückt werden, dass eine neue Zeit anbricht. denhoeck & Ruprecht. Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Es gehe „die Erwartungszeit in die messianische Janssen, C. (1998): Elisabeth und Hanna – zwei widerstän- Zeit … “ (Schürmann zitiert nach Janssen 1998, dige alte Frauen in neustamentlicher Zeit. Eine sozialge- schichtliche Untersuchung, Mainz: Grünewald. 167) über. Die namentlich genannte Prophetin ist Janssen, C./Lamb, R. (2007): Das Evangelium nach Lukas. dabei in der Tradition derer einzureihen, die die Die Erniedrigten werden erhöht. In: L. Schottroff/M.Th. Erlösung/Befreiung Jerusalems durchaus auch Wacker (Hrsg.): Kompendium Feministische Bibelausle- real-politisch verstehen. Die Sehnsucht und Hoff- gung. Sonderausgabe (S. 513–526) Gütersloh: Gütersloher. nung zielt auf eine Befreiung von ungerechten Jensen, A. (2002): Frauen im frühen Christentum. Un- ter Mitarbeit von Livia Neureiter, Bern u.a.: Peter Lang. Herrschern des jüdischen Volkes und der römi- Jensen, A. (2003): Gottes selbstbewusste Töchter. Frauen- schen Besatzermacht (Janssen 1998, 193). emanzipation im frühen Christentum (2. Aufl.). Münster/ Mit dem geisterfüllten Simeon und der Pro- Hamburg/London: LitVerlag. phetin Hanna werden uns alternde Menschen als Jensen, A. (2006): Reiche Witwen – arme Jungfrauen? Geld und weibliche Diakonie in der Antike. In: Sigrist, angesehene RepräsentantInnen der Gemeinde, Ch. (Hrsg): Diakonie und Ökonomie. Orientierungen im als aktive, theologisch und politisch Sprechende Europa des Wandels (S. 85–106) Zürich: Theologischer geschildert. Mit dem Blick auf explizit genannte Verlag Zürich.
80 Reinhardt Schwarzenberger Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Die Pieta – eine noch junge Frau und ihr alter Sohn? Heute ist in unserer Pfarrkirche die Ehejubi- läumsmesse. Der Organist lässt die Orgel brau- sen, der Kirchenchor singt feierliche Lieder, eine Schar Ministranten umschwirrt den sichtlich gut gelaunten Herrn Pfarrer und seinen Adlatus. Es ist eine würdevolle, feierliche Stimmung. Gekom- men ist eine große Anzahl an Ehepaaren. Von Foto: Bettina Spari, Hitzendorf durchaus noch jugendlich bis schon sehr betagt. Der Herr Pfarrer hat für die Lesung und seine ein Paar zu erkennen glaubt als Mutter und Sohn. Predigt einen Abschnitt aus dem Hohen Lied der Ich weiß wohl, dass die Darstellung Mariens als Liebe gewählt. In bereden Worten spannt er den ewig Jungbleibende gewollt und üblich ist. Trotz- 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 Bogen von der jungen Liebe bis zur Liebe über dem drängt sich mir die Frage auf, warum wird den Tod hinaus. Wir, Maria und ich, sitzen, als Maria nicht als altersentsprechende Mutter dar- auch schon vergoldetes Ehepaar, so, dass wir die gestellt? Warum darf sie nicht in ihrer Trauer als Pieta direkt vor Augen haben. Es ist ein Werk des reife Frau bemerkt werden. In der damaligen Zeit Grazer Kirchenbildhauers Hans Gschiel (1821 – hat sie schon längst die allgemeine Lebenserwar- 1908) aus dem Jahre 1866 im historistischen Stil. tung überschritten? Heute werden in der Wer- Maria beweint ihren toten Sohn. Die große Tra- bung die stets jung bleibenden Alten präsent, die gik, wenn Kinder vor den Eltern sterben. Kaum in eine lange Teilnahme an der Konsumgesellschaft Worte zu fassen. Im Vergleich mit den anwesen- garantieren sollen. Ist es nur die Aversion gegen den Paaren und der Pieta wird mir, je länger ich das stete Werbegeriesel oder denke ich einfach nun schaue, umso klarer: die Darstellung der Mut- falsch und einbahnig? Da bleibt mir wohl eine ter Maria ist so jugendlich schön, sodass man eher Frage offen. • Johann Pock terschiedlich – zwischen einem zurückgezogenen Leben, das ganz Gott geweiht ist – und einem to- Die Heilsmittel des Christen talen Einsatz aller Kräfte im Dienste der anderen tums. Beichte und Kranken ist viel Spielraum. Zu den zentralen „Heilsmit- teln“, die die Kirche anzubieten hat, gehören die salbung – und die Sorge umd Sakramente. Seelsorge aus Sicht der Sakramente das Heil des Menschen ist dann nicht nur Sorge um das ewige Seelenheil, Im Zentrum des christlichen Glaubens geht sondern genauso Sorge um das leibliche Wohl der es um das „Heil“ – um das Heilsein der Men- Menschen. Ich möchte im Folgenden einige ak- schen und der Seelen. Dass dieses Heil jedoch tuelle Zugänge zu zwei Sakramenten aufzeigen, auch mit konkreter Heilung an Leib und Seele die sich spezifisch um das Heilwerden bemühen zu tun hat, wurde und wird häufig übersehen. – das Sakrament der Versöhnung (Beichte) und Die Wege zu diesem Heilwerden sind sehr un- die Krankensalbung.
Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern 81 1. Das Sakrament der Versöhnung – zum Heil- nach Möglichkeiten des Umgangs mit der per- werden des ganzen Menschen sönlich erfahrenen Schuld. 5 Angebote zur Lebensbewältigung, gerade in Buße und Versöhnung wird verstärkt als Pro- schwierigen Situationen, zu bieten, das gehört zess, als Weg verstanden, und weniger als einmali- zum innersten Kern von Religionen. Habermas ger Akt, wo man sich beim Priester die Absolution gesteht zu, dass gerade religiöse Weltbilder „hin- holt. Dabei nimmt man auch die Erkenntnisse reichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten aus therapeutischen Prozessen ernst. 6 Dennoch und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesell- gibt es auch weiterhin ein Bedürfnis nach der Zu- schaftliche Pathologien, für das Misslingen indi- sage der Sündenvergebung. Und hier liegt auch vidueller Lebensentwürfe und die Deformation ein großer Schatz der Kirche: Denn die Zusage entstellter Lebenszusammenhänge“ bewahrten. 1 „Deine Schuld ist dir vergeben!“ kann kein Thera- Nun stimmt es ja, dass die Sorge um das „ver- peut machen. Auch christlich kann nur von Gott fehlte Leben“ zu den Kernpunkten christlicher her Vergebung zugesprochen werden – als Gnade, Seelsorge im Verlauf der Jahrhunderte gehört hat die auch noch das umfasst, wo wir menschlich – so sehr, dass Seelsorge und Beichtsorge beinahe nicht vergeben können. 7 Hier wird das Heil ge- deckungsgleich verstanden wurden. öffnet auf das, das unser menschliches Vermö- Herbert Haslinger versteht Sakramente als gen übersteigt. „befreiende Deutung von Lebenswirklichkeit“ 2; 2. Die Krankensalbung – Stärkung in der und er entfaltet (ausgehend von Karl Rahner) ei- nen mystagogischen Zugang zu den Sakramenten Krankheit und Hoffnungsanker im Sterben mit den pastoralen Handlungsprinzipien Wert- Die Versöhnung in Form einer Beichte ist 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 schätzung, Echtheit, Empathie, Alltäglichkeit, Be- nach katholischem Verständnis vor allem an ei- freiung und universale Solidarität. 3 Im Sakrament nem Punkt des Lebens unumgänglich: in Verbin- begegnen sich dabei göttliche und menschliche dung mit der Krankensalbung, und hier vor allem Wirklichkeit. in Todesnähe. Hier begegnen sich die beiden Sa- Gerade dieser anthropologische Ansatz öff- kramente, die unmittelbar mit dem auch physi- net das Verständnis von Buße und Versöhnung schen und psychischen Heilwerden des Menschen weit über die Einzelbeichte hinaus. Und nur in zu tun haben. Schon in den neutestamentlichen diesem anthropologisch geweiteten Verständnis Gemeinden und bei Jesus selbst gehören beide kann das Bußsakrament auch zu einem Heilssa- Heilungen zentral dazu – oft verbunden mit kör- krament in diesem Leben werden. Zurecht meint perlichen Berührungen. Auch die Krankensal- Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Jakobs: „Das Sakrament der Buße und Versöh- bung bedarf eines behutsamen Umgangs: „Das nung kann dann sein reiches Potenzial wieder Sakrament der Krankensalbung setzt an die Stelle entfalten, wenn der Anschluss an echte Schuld geschwätziger Vertröstung die Geste der Behut- und an biografische Herausforderungen gelingt. samkeit. Die Basissymbolik seiner ,materia‘ – die Es geht darum, überzeugende sprachliche Mög- Salbung von Stirn und Händen – nimmt wohltu- lichkeiten zu finden: das ‚eine Wort‘, das ‚meine end darauf Rücksicht, daß es Menschen schwer Seele gesund‘ macht, wie wir vor der Kommunion fällt, am Krankenbett die richtigen Worte zu fin- beten. Es geht darum, bedeutungsvolle Zeichen den. Sie fordert und fördert etwas anderes: Un- und Symbole zu finden. Dieses Unternehmen aufdringlichkeit und Feinfühligkeit“ 8. Ottmar kann nur dann gelingen, wenn der Mensch in Fuchs bezeichnet es als „Sakrament in der Not“ 9 seinen positiven Ressourcen wahrgenommen und – und plädiert dafür, auch den Aspekt der „Letz- die biblische Zusage im Ritual erlebbar wird.“ 4 ten Ölung“ nicht ganz zu vergessen. Denn ne- Denn die Menschen sind nicht dem viel zitier- ben dem wichtigen therapeutischen (und zumeist ten „Unschuldswahn“ verfallen, sondern suchen „diesseitigen“) Verständnisses der Krankensal-
82 Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern bung als eine Stärkung der Hoffnung und der ziskus sieht zu Recht die Gefahr, dass die Men- Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Heilungskräfte – denn es geht eben um mehr, schen heute in ihrer spirituellen Suche den Durst auch um das „Heil der unbedingten Gnade Got- „ohne Leib und ohne Einsatz für den anderen“ tes dem sündigen Menschen gegenüber und über stillen. Die Kirche hat daher dieser spirituellen den Tod hinaus“ 10. Gerade in der Phase des Ster- Suche leibhaft, konkret, im Einsatz aller Kräfte bens kann dies ein Hoffnungsanker sein, der über zu begegnen – und nicht in einer „spiritualisti- die Schwelle des Todes helfen kann. schen“ Weltabkehr oder Weltverleugnung. Viel- Vor allem an der Krankensalbung wird das mehr hat die kirchliche Seelsorge so zu agieren, sichtbar, was für alle Sakramente gilt: „den Ein- dass sie die Menschen „heilt, sie befreit, sie mit bruch des Heils in das Unheil“ 11 – und gerade in Leben und Frieden erfüllt und die sie zugleich dieser immer wieder unheilen und auch unheili- zum solidarischen Miteinander und zur missi- gen Welt gibt es die Möglichkeit, Gott zu begeg- onarischen Fruchtbarkeit ruft“ (so in seiner En- nen – denn es gibt nichts, das aus der (liebenden) zyklika Evangelii Gaudium 89). Die Heilssorge Beziehung mit Gott herausfällt. gehört wesentlich zum Christsein dazu – und sie Gerade angesichts von Krankheiten und Situ- wird (nicht zuletzt durch Neuorientierungen der beiden Sakramente Beichte und Krankensalbung) 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 ationen, die nicht heilbar sind, ist es umso not- wendiger, das „Unmögliche“ zu feiern – dass aktuell verstärkt verbunden mit einer ganzheitli- Krankheit und Tod nicht das letzte Wort ha- chen Sicht auf den Menschen. Hier könnten die ben; dass es eine religiöse Hoffnung gibt – einen unterschiedlichen Disziplinen, die sich um das „grundlosen“ Gott. Die sakramentalen Feiern und Heil-Werden des Menschen sorgen, vermehrt ins die Pastoral der Kirche können hier auch „jenseits Gespräch kommen. • menschlicher Antwortversuche und Lösungsstra- tegien in letztlich unbewältigbaren Situationen Fußnoten: von Scheitern, Verzweiflung und Tod“ 12 gerade 1 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, 115. mit ihren Ritualen einen Horizont eröffnen für 2 Herbert Haslinger, Sakramente – befreiende Deutung von das Heil, das jenseits des Unheils liegt. Lebenswirklichkeit, in: Ders. (Hg.), Handbuch Praktische Theologie Band 2: Durchführungen, Mainz 2000, 164-184. 3. Seelsorge – nicht nur Seelenheil, 3 Vgl. Haslinger, Sakramente, 172f. sondern auch Leibsorge 13 4 Monika Jakobs, Heilende Zumutung: Buße und Versöh- nung, in: Katechetische Blätter 37 (2012,2), 9-22, hier: 22. In der Sakramentenpastoral der Kirche geht es 5 Müller, Wunibald, Schuld und Vergebung. Befreit leben, zumeist um die äußerlichen Formen der Feier und Freiburg 2010, 70f. 6 Vgl. z.B. Stauss, Konrad, Die heilende Kraft der Verge- um die Feier selbst. Selten kommen jedoch die bung. Die sieben Phasen spirituell-therapeutischer Verge- anthropologischen Gegebenheiten zur Sprache, bungs- und Versöhnungsarbeit, München 2010. die meines Erachtens aber zentral zur Seelsorge 7 Vgl. dazu sehr schön: Ottmar Fuchs, Sakramente – im- dazugehören. So bringt jüngst Papst Franziskus mer gratis, nie umsonst, Würzburg 2015, besonders 99- 124 zu „Beichte und Sühne“. die Bedeutung der Leiblichkeit und des ganz- 8 Hans-Joachim Höhn, spüren. Die ästhetische Kraft der heitlichen Heil-Werdens immer wieder ins Ge- Sakramente, Würzburg 2002, 100. spräch, wie z.B. in seiner Enzyklika Laudato Si: 9 Vgl. Ottmar Fuchs, Sakramente – immer gratis, nie um- sonst, Würzburg 2015, bes. 157-179. „Wir entfliehen nicht der Welt, noch verleugnen 10 Ebd., 157. wir die Natur, wenn wir Gott begegnen möch- 11 Ebd., 174. ten.“ (LS 235) Gottesbegegnung und Heilwer- 12 Ebd., 177. den geschieht hier nicht primär durch Askese, 13 Vgl. dazu Johann Pock, Leibsorge als Seelsorge. Das durch das Ablegen alles Materiellen, durch Ver- Seelsorgeverständnis von Papst Franziskus, in: Barmher- zigkeit und zärtliche Liebe. Das theologische Programm leugnung des Körperlichen – sondern gerade im von Papst Franziskus, hg. v. Kurt Appel / Jakob Helmut Physischen, in der leibhaften Schöpfung. Fran- Deibl, Freiburg: Herder 2016, 231-246.
Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern 83 Karl Furrer als spätes Erwachsenenalter oder Reife bezeich- net. Die Entwicklungsaufgabe dieser letzten Le- Erikson – Der letzte Lebens bensphase besteht darin, Ichintegrität sowie ein zyklus: Versöhnung Minimum an Verzweiflung zu entwickeln.4 „Ich- integrität nun bedeutet, dass man mit seinem Le- Der Nuklearphysiker Hans Widmer nennt ben ins Reine kommt und damit auch mit dem wichtige Lebensphasen: „Der Mensch muss... auf- Ende des eigenen Lebens zurechtkommt. Wenn wachsen, werden, sich einfügen, lieben, Abschied man in der Lage ist, zurückzuschauen und den nehmen.“ 1 Abschied nehmen als Lebensaufgabe Lauf der Dinge zu akzeptieren, die Entscheidun- heisst zurückblicken auf das eigene Leben: Was gen, die man getroffen hat, das eigene Leben, so ist gelungen, wie habe ich Krisen überstanden, wie man es gelebt hat, wenn man erkennt, dass was bereue ich, was hat meinem Leben Sinn ver- alles notwendig und gut, so braucht man den Tod liehen? Ein schönes Beispiel eines geglückten Le- nicht zu fürchten.“ 4 Wie tragisch es ist, wenn die bensabschlusses fand sich in einer Todesanzeige: Versöhnung mit dem eigenen Leben nicht ge- „Als der Kreis immer enger geworden, die alten lingt, sondern Verzweiflung überhand nimmt, Freundinnen immer weniger, und als die Kräfte zeigt eine Begebenheit, die der Theologe Ulrich schwanden mehr und mehr – da sagtest Du: Jetzt Knellwolf beschreibt: „Bei einem sehr starken Be- ist es gut.“ Die letzte Lebensphase positiv gestal- rufskollegen hätte ich darauf gewettet, dass er ein- ten bedeutet, seine Taten annehmen um sich mit mal getrost und unangefochten sterben würde. seinem Leben, wie es auch immer verlaufen ist, zu In seinen letzten Lebenswochen im Pflegeheim versöhnen. Es geht darum, zu seinem Leben „Ja“ besuchte ich ihn jeden Tag. Er sass verschüch- 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 sagen zu können. In einem Interview zu ihrem tert in einer Ecke des Zimmers, mit einem fast Buch „Spurensuche“ äussert sich die Schriftstel- wahnsinnigen Blick, und vernichtete sein gan- lerin Klara Obermüller: „Ich habe gelernt, Unzu- zes Lebenswerk mit den Worten: ‚Es ist alles ein länglichkeiten als Teil des Lebens zu akzeptieren. grosser Beschiss.’“ 5 Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass ich trotz Pfarreien und Seelsorger können mithelfen, allen Irrungen und Wirrungen zu mir und mei- dass ältere Menschen zu ihrem Leben „Ja“ sagen. nem Leben Ja sagen darf. Ich bin mit mir einiger- Altersnachmittage mit frohen Runden, Vorträge, massen im Reinen, auch wenn ich im Nachhinein Einkehrtage oder ein Ausflug führen sie zusam- sicher gewisse Dinge anders machen würde“. 2 men und fördern das gemeinsame Gespräch. Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge In der Philosophie hat sich eine Ethik ent- Denn „ältere Menschen sind keine Inseln. Die wickelt, die untersucht, „wie man auf eine gute, Entwicklung der Intelligenz, die geistige Fitness glücklich-gelungene Weise altert.“ Es handelt sich hängt mit dem kognitiven Input und den Anre- dabei um eine Lebenskunst: „Gemeint ist nicht gungen der Umwelt zusammen“ 6. Dabei sollen sie jene Fähigkeit raffinierter Egoisten, aus jeder Si- sich in der Pfarrei und bei den Anlässen willkom- tuation Vorteile für sich herauszuschlagen, son- men fühlen. Als Seelsorger habe ich erfahren, wie dern die Fähigkeit und Bereitschaft, sein eigenes bedeutsam Besuche im Spital oder zuhause sind. Wohl im Rahmen von Gerechtigkeit und Fair- Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und zuzuhö- ness zu suchen.“ 3 ren, wenn ältere Menschen aus ihrem Leben er- Erik Erikson vertritt, dass wir uns durch eine zählen. Bei einem Besuch im Altersheim wirkte festgelegte Entwicklung unserer Persönlichkeit eine 99 jährige Frau sehr traurig; sie erzählte, alle in acht Stadien entwickeln, wobei jede Stufe be- ihre Kinder seien gestorben und sie stehe nun al- stimmte Entwicklungsaufgaben psychosozialer leine da. Der Frau zuhören, sich in ihre Situation Natur umfasst. Die achte Stufe oder Phase wird einfühlen, ihre Hand halten, ein Gebet sprechen
84 Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern leise „Danke, danke, danke“ und verschied. Doch Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge wie können wir Menschen begegnen, die im Bett liegen und nicht mehr ansprechbar sind? Eine et- was seltsame Situation ergab sich bei einer krebs- kranken Frau kurz vor ihrem Tod. Ihr Mann hat mich zu ihr gerufen. Sie war dem Bett ihres Man- nes zugewandt. Ich fragte ihn um Erlaubnis, mich in sein Ehebett zu legen. „Mach, was meiner Frau hilft.“ So lag ich nun der Frau zugewandt im Ehe- bett und hielt ihre Hände. „Musst Du nicht noch beten“, warf der Mann ein und brachte ein kleines Büchlein mit den Psalm-Gebeten. Da lag ich nun, betete Psalmen und hielt tröstend ihre Hände, bis sie das Leben liess. © RE-CREATION Archiv – Foto: F. Feiner Ein Satz der Dichters Adelbert Stifter hat mich 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 stets als Seelsorger begleitet und ist inzwischen kann hilfreich sein. Schön ist, wenn bei Besuchen für meine eigene Ichintegration wegweisend ge- erfahren wird, dass die Person ihre Ichintegration worden: „Und Gott fügt die Dinge und es wird abgeschlossen und ihr Leben angenommen hat, gut sein.“ 7 • wie das Beispiel eines ehemaligen Automechani- kers zeigt. Beim Gespräch war er stets offen und Karl Furrer ist Religionspädagoge, Erwachsenen- erzählte manche Episode aus seinem Leben. Beim bildner und Seelsorger letzten Besuch wünschte er, mit mir ein Glas Wein zu trinken, wohl aus Dankbarkeit. Es war eine der Fußnoten: eindrücklichsten Begegnungen mit einer Person, 1 Hans Widmer, Neue Zürcher Zeitung, 15.9.2018 die auf den Tod gefasst ist. Die Woche darauf las 2 Klara Obermüller, Als Adoptivkind war ich orientie- ich die Todesanzeige von ihm. rungslos, Internet Der Glaube an Gottes Barmherzigkeit, an 3 Otfried Höffe, Neue Zürcher Zeitung, 24.8.2018 seine Bereitschaft den Menschen mit seinen Wir- 4 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Buchclub Ex Libris, Zürich rungen anzunehmen kann zum tragenden Funda- 5 George Boeree, Persönlichkeitstheorien – Erik Erikson; ment für die Versöhnung mit dem eigenen Leben Internet im Alter werden. Dies habe ich recht drastisch 6 Ulrich Knellwolf, Neue Zürcher Zeitung, 14.8.2018 beim Besuch einer Frau im Spital erlebt. Sie zwei- 7 Hans-Werner Wahl, NZZ am Sonntag, 13.3.2018 felte an der Existenz Gottes in ihrem Leben. Bei mehreren Besuchen gelangten wir zu einem ver- trauensvollen Gespräch. Einige Wochen später wurde ich zu ihr nach Hause gerufen. Sie lag in ihrem Bett und rang mit dem Sterben. Sie fragte mich: „Und was kommt jetzt“? Ich habe ihr die beiden Gleichnisse aus dem Lukasevangelium vom verlorenen Schäfchen und der Münze er- zählt und ihr gesagt, dass sie mit dem Verloren- gegangenen gemeint sei und Gott auf der Suche nach ihr ist und sie willkommen heisst. Sie sagte
Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern 85 Doris Tropper einbringen. Erinnerungsarbeit lebt stark vom ge- genseitigen Geben und Nehmen. Wer das ver- Biografiearbeit mit alten standen hat, weiß wie bereichernd biografisches Menschen Erinnern sein kann. Das gelingt aber nur dann, wenn wir ohne große Erwartungshaltungen uns „Wenn nichts mehr bleibt, als nur auf ihre/seine Geschichte einlassen, offen sind für neue, oft unerwartete Prozesse und uns mit dem die Erinnerung“ auseinandersetzen, was der alten Frau oder dem Das mühsame Hervorkramen von Erinnerun- alten Mann gerade in den Sinn kommt. Alles Er- gen um jeden Preis ist heute in Mode gekom- innerte erhebt niemals den Anspruch auf Wahr- men. In Pflege und therapeutischer Begleitung, heit und Wirklichkeit, weil es nun einmal nicht bei Krankheit, Krise und in schwierigen Lebens- die einzige, echte, authentische Erinnerung gibt. phasen wird die „Biografiearbeit für alle Le- Somit öffnet diese Tatsache das Tor zu einer sehr benslagen“ fast schon zur Modedroge und zum weiten Spielwiese verschiedenster Möglichkei- Allheilmittel hochstilisiert. Es wurden ausgeklü- ten und Methoden, um Erinnerungen zu pflegen gelte Techniken und Methoden entwickelt, um und zu bewahren, sie zu sortieren und in einem den Vergesslichen wieder auf die Sprünge zu hel- ganz neuen Licht zu betrachten. Der berühmte fen, damit jedes noch so kleine Detail aus dem inhaltliche „rote Faden“ zieht sich dabei über Erinnerungsleben ausgegraben und bearbeitet Alltagserlebnisse hin zu lebensgeschichtlichen wird. Mit Ablehnung hingegen begegnen wir dem Erinnerungen, wobei die Jahreszeiten eine ange- messene Symbolik zur Reflexion des Lebensver- Vergessen, dem auf allen Ebenen unerbittlich der 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 laufes bieten und auch als Metaphern für das Auf Kampf angesagt wird. Zu Unrecht, denn auch und Ab des Daseins stehen. Die nonverbale Kom- das bewusste „Vergessenkönnen“, das Loslassen munikation als „Sprache der Berührung“ und die und Verabschieden von Lebensereignissen, die Stimulation durch Gegenstände haben in der bio- einen unangenehmen Beigeschmack in sich tra- grafieorientieren Begleitung alter Menschen ih- gen, erweisen sich an manchen Lebensstationen ren Platz und gewinnen mit zunehmendem Alter als richtig, hilfreich und auch heilsam. Dies gilt der KlientInnen immer stärker an Bedeutung. vor allem für die Biografiearbeit mit älteren und Biografiearbeit lebt in erster Linie vom Aus- sehr alten Menschen. tausch und von der Kommunikation, aber auch Es braucht viel Einfühlungsvermögen und vom Zuhören. Manchmal braucht es einen „Tür- Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Verständnis, um zulassen zu können, dass es auch öffner“, eine inhaltliche Anregung, damit die Er- überlebensnotwendig sein kann, in bestimmten innerungen belebt werden können. Krisen und Lebensübergängen etwas zu ver- gessen, um neu und unbelastet durchstarten zu Beispiele dafür: können. Das schließt jedoch nicht die wichtige • Namen, Vornamen und Namenstage. Dahinter Auseinandersetzung mit allen Schatten der Ver- stecken oft Geschichten über Paten und Fami- gangenheit zur richtigen Zeit aus. Rückschau, Be- lienmitglieder. sinnung und Aufarbeitung können niemals von • Die Heimat – wo jemand geboren wurde. Fra- außen verordnet werden, sondern nur vom alten gen nach Ursprungsfamilie, Geschwister und Menschen selbst bestimmt werden. die Kinderzeit. Auch darf der Blick zurück kein verklärter sein, sondern vielmehr eine tragfähige Brücke • Häuser und Wohnsituationen, die eine prägende in die Zukunft. Die ältere Generation kann da- Erinnerung hinterließen. bei ihre Erfahrungen als Potential und Ressource • Wo und wie wurde die Schulzeit erlebt?
86 Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern • Wie war die Jugend und wer war die erste große Großmutters Bluse, Knöpfe aus Silberdraht und Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Liebe im Leben? Perlmutt, mit Seide, Samt und Brokat überzo- • Gibt es Erinnerungen an den allerersten gene, aber auch raue Holz- und schmucke Trach- Arbeitsplatz? tenknöpfe. Die bunten Kostbarkeiten haben die • Was wurde früher zu Hause gekocht und Kleidungsstücke überlebt, die sie einst schmück- gegessen? ten und in vielen Fällen auch ihre Besitzer. Ein • Welche Schwierigkeiten galt es zu meistern? Erinnerungskoffer hingegen kann alle möglichen Alltagsgegenstände beinhalten, die stimulierend • Gab es besonders glückliche, vielleicht aber wirken und zum Erzählen einladen: Bürsten mit auch sehr schwierige, belastende Zeiten? unterschiedlichem Borstenmaterial, Kochlöf- • Gab es einen Lieblingsort oder einen Lieblings- fel, Töpfe, Teller und Tassen aus Blech, Tücher platz im Leben? Wo war dieser und wie sah er in verschiedenen Qualitäten und Stoffen, Klei- aus? derschürzen, Kopftücher, Glocken, Werkzeuge, Unterstützend zu allen Fragen eignen sich Bil- Steine, Rinden, Zapfen und vieles mehr. Alle Ma- der aus Kalendern oder Bildbänden, Fotos aus terialien und Gegenstände aus dem Umfeld des 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 Fotoalben, Ansichtskarten, Geschichten und alten Menschen oder aus der Natur werden dann Zeichnungen aus Büchern, aber auch Lieder, Ge- dichte und Gebete. Alte Tanzmusik, die Schlager als aktive Komponente der Biografiearbeit und von gestern und Hörbilder auf CDs verführen zu als Angebot zum differenzierten Greifen und als Erinnerungsreisen in die eigene Vergangenheit. Anregung zum Berührtwerden durch die Welt Alte Menschen biografisch zu begleiten, heißt eingesetzt. auch, sich auf ihre Lebensgeschichte voller Neu- Nicht zu vergessen sind alle wohltuenden, gierde und Unvoreingenommenheit einzulassen. angenehmen Düfte, die Erinnerungsspuren be- Eine gute Möglichkeit, um einen neuen, anderen leben und Bilder aus der Vergangenheit hervor- Zugang zu bekommen, ist es, sich die Geschichte zaubern: Orange, Lavendel, Zimt, Lindenblüten, ihrer/seiner Hände erzählen zu lassen und zwar Gewürznelken, das erste Parfum, Apfelkompott, durch Worte, Wahrnehmungen und auch Berüh- Zwetschkenfleck ... In der Schatzkiste des Le- rungen. Respekt vor Lebensraumgrenzen und vor bens haben unendlich viele Erinnerungen Platz. dem Rhythmus der/des anderen sind dabei un- Es genügt schon, wenn durch einen Impuls nur abdingbare Voraussetzungen. Berührungen be- eine einzige Erinnerungsspur den Weg aus dem deuten oftmals auch die Begegnung mit der Welt; Dunkel ins Licht der gegenwärtigen Betrach- sie wirken tröstend, anregend, beruhigend, geben tung findet. • Halt und machen Körpergrenzen spürbar. Das ist für sehr alte Menschen von Wichtigkeit, die durch altersbedingte Einbußen oder Krankhei- Doris Tropper, Trainerin, Journalistin, Buchauto ten ein großes Defizit in der Wahrnehmung ih- rin, ist Mitbegründerin der Hospizbewegung in rer Lebensumwelt haben. Österreich. Besonders gut lassen sich Erinnerungsspuren Literatur: durch Gegenstände beleben: Tropper, D. (2014): Die Schätze des Lebens. Das Hand- Die gute alte Knopfschachtel hatte früher ih- buch der bewussten Erinnerung. München: mvgverlag ren Platz im oberen Fach des Wäschekastens und Tropper, D. (2016): Das Spiel mit der Identität. Biografie- war ein kleines Museum der persönlichen Erin- arbeit am Beispiel faszinierender Persönlichkeiten. Mün- nerungen. Darin fanden sich weiße Perlen von chen: Komplettmedia
Zum Thema – Dynamisch (kreativ und genussvoll) altern 87 Anita Ulz fahrungen werden ernst genommen und stehen gelassen. Dann, wenn Menschen Schritte wei- Seelsorge und Spiritualität im tergehen möchten, können wir ermutigen, die Krankenhaus und ihr Beitrag erlebten Verletzungen zu erinnern und durch- zuarbeiten. Anerkennen und betrauern gilt als zu einem „dynamischeren“ Voraussetzung zum Finden neuer Hoffnungen. gelingendem Altern. Sich auf Gott verlassen Sich einlassen, zulassen Seelsorge als „Heilsdienst“ der Kirche gilt nicht exklusiv für Krankenhäuser, darf aber dort „Ihr Blick ist auf den Tisch ihres Lehnstuhls im Besonderem gelebt werden, denn in der Brü- gerichtet, an dem sie mit gebeugten Körper sitzt, chigkeit der menschlichen Existenz, im plötzli- während sie unverständliche Worte vor sich hin chen, unfreiwilligem Auftreten einer Krankheit, stammelt. Die Krankenschwester versucht wäh- gilt das Angebot des Lebens, sich fragend mit den rendessen, sie mit Brei zu füttern. Dann legt sie Tiefenschichten der Seele und damit auch mit ihren Kopf in ihre Hände und erstarrt im Blick. dem „Seelengrund“, der göttlichen Existenz ausei- Ich besuche fünf Patientinnen in ihrem Zimmer nanderzusetzen. In der plötzlichen Not, kann sich und komme zuletzt an ihren Rollstuhl. Immer der Mensch „verlassen“ fühlen. In diese Verlas- noch hat sie ihr Haupt gesenkt auf den Tisch ru- senheit, dürfen wir SeelsorgerInnen, (sofern uns hend. Als ich sie namentlich anspreche und ihr PatientInnen dazu einladen) eintreten, bewusst meine Hand reiche, sieht sie mich mit großen Au- und getragen, indem wir uns auf die zweifache gen an. Dann erzählt sie mir in deutlich klaren Bedeutung dieses Wortes „verlassen“ einlassen, 23. Jahrgang | Nr. 90 - Oktober 2018 Worten ihre Lebensbilanz und verabschiedet sich nämlich, uns sichtlich als Werkzeuge Gottes zu mit Worten, die mir zu Herzen gehen: „Danke, begreifen und uns auf diese uns begleitende Wirk- dass sie mich nicht übersehen haben.“ lichkeit zu verlassen. Vielleicht können wir nur Seelsorge ist im Sinne Jesu vom „sich einlas- so ein Stück des Weges mit den Leidenden mitge- sen“ auf die Begegnung mit dem konkreten Men- hen, weil es durch uns als Person 1„hindurchklin- schen geprägt. Dies impliziert den Anspruch, den gen“ darf. Freilich sind wir dabei immer zwischen anderen als den Anderen (Levinas) wahrzuneh- Anspruch und Wirklichkeit im Fragment unse- men, ernst zu nehmen, sich möglicher Urteile res Seins herausgefordert, horchend der Autori- bewusst zu werden und diese loszulassen. Wir tät 2 Gottes Raum zu geben. SeelsorgerInnen kommen mit leeren Händen. Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Wir kommen ans Krankenbett, gleichsam als Ein- Heil werden von innen, geborgen im ladung, dass die Menschen nicht mit uns gehen Unaussprechlichem (müssen), sondern dass wir als von Jesus moti- Eingebettet in verschiedenen Formen der Ge- vierte Menschen, in der Wahrung ihrer Freiheit, sprächsführung, der Begleitung und Beratung, die zuerst mit ihnen gehen. Wir setzen uns horchend über ihren unmittelbaren Anlass und Zweck hin- (nicht wissend) zu den Leidenden und Verzwei- ausgeht, kann der betroffene Mensch von innen felten und treten begleitend in ein Gespräch ein. her, die aufbauende, befreiende und tröstende Lebensbilanz, Biographie, manchmal nie zuvor Heilszusage Gottes erschließen, indem wir unse- ausgesprochene Verwundungen können hier zum ren Gesprächspartnern Perspektiven und Hand- Ausdruck kommen. So wie es Erich Fried for- lungsräume aufzeigen, die sie noch gar nicht muliert „sein Unglück ausatmen können“, Raum entdeckt haben. Immer wieder fragen mich Pati- geben, dem bisher Unausgesprochenen, aber enten, ob mich die Begegnung mit dem Leid nicht dennoch dem Belasteten: Schmerz ausdrücken, zu sehr „herunterziehen“ bzw. traurig machen ans Licht bringen wider das Verdrängen. Die Er- würde. Für mich selbst erlebe ich ein beständi-
Sie können auch lesen