Der Asiatische Elefant in Kassel - Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen
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PHILIPPIA 15/3 S. 241-262 14 Abb. Kassel 2012 Rolf Siemon Der Asiatische Elefant in Kassel Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen Abstract disziplinen, darunter die Paläontologie und die In the 18th century the amount of scientific Wissenschaft vom Menschen (Anthropologie descriptions and research on living and fos- und Ethnologie). Insbesondere anatomische sil, regional and exotic plants, animals and Untersuchungen lieferten wichtige Erkennt- humans was increasing rapidly. New findings nisbausteine, darunter auch die am Kasseler were discussed against the background of the Elefanten. Der Zwischenkieferknochen, der im generally accepted genesis in the Bible. These 18. Jahrhundert als Unterscheidungsmerkmal discussions were hold between specialists as zwischen Mensch und Tier galt, verlor letzt- Camper, Blumenbach und Soemmerring and endlich seine Bedeutung und wurde zu einem non-specialists as Merck and Goethe. They weiteren Verbindungsglied zwischen beiden. were actors of the evolving disciplines like palaeontology and human sciences (anthro- pology and ethnology). Especially anatomical Einleitung studies provided important advances in know „Sonderbar, wie gütig die Vorsehung mir Ge- ledge. Within this setting also the studies on the legenheit zur Erweiterung meiner Kenntnisse Kassel elephant had its place. The intermaxil- verschafft. […] Kaum war das Kamel secirt, so lare bone, at that time used to divide humans crepirte der Elephant; leider war die Hitze so from animals, lost its importance and became groß, daß die Weichtheile nicht benutzt werden a combing feature. konnten. Der Landgraf ließ Hülfsleute, Hebe- bäume etc. aus dem Arsenal zur Zergliederung bewilligen. Aber es heißt etwas, einen Körper Zusammenfassung von 80 Centnern regieren […]. Das Skelet soll Im 18. Jahrhundert kam es zu einer sprung- hoffentlich gut gerathen und das Theater zie- haften Zunahme wissenschaftlicher Beschrei- ren. Leider war die Fäulniß durch die Wärme bungen und Forschungen an lebenden und so entsetzlich, daß das Gehirn ausfloß und so fossilen, einheimischen und exotischen Pflan- heiß war, daß es rauchte. Der Leib und Magen zen, Tieren und Menschen. Die neuen Erkennt- zersprang nach den eingeschnittenen Integu- nisse wurden vor dem Hintergrund der bisher menten mit furchtbarem Getöse. […] Bin ich gültigen, überwiegend biblisch fundierten Ent- nicht in Erlangung von Kenntnissen überglück- stehungstheorie diskutiert. Fachwissenschaft- lich?“ (Dumont 1996: 291f). ler wie Camper, Blumenbach und Soemmer- ring standen mit gelehrten Laien wie Merck Dies schrieb Samuel Thomas Soemmerring und Goethe im engen Austausch. Sie waren (1755-1830) an eine unbekannte Person, Akteure der im Entstehen begriffenen Fach- vielleicht seinen Vater Johann Thomas Soem-
242 Rolf Siemon Abb. 1: Der junge Kasseler Elefant. Radierung von Johann Heinrich Tischbein d. J., 1790. merring (1701-1781) in Thorn an der Weichsel bis ins 19. Jahrhundert hinein eine so große (Toruń), vermutlich in der zweiten Augusthälfte Bedeutung zu? Warum hat Soemmerring in 1780 (Wenzel 1988a: 78). In Kassel erfolgte Kassel einen Elefanten seziert und warum gab also die Sektion eines Asiatischen Elefanten. es überhaupt im 18. Jahrhundert ein derartig Dieser Elefant (Abb. 1), dessen Skelett bis exotisches Tier in der landgräflichen Residenz- heute erhalten blieb, müsste nach seinem Prä- stadt? Diesen Fragen soll in der vorliegenden parator, dem Naturforscher und berühmtesten Arbeit nachgegangen werden. deutschen Anatom seiner Zeit, eigentlich als „Soemmerring-Elefant“ bekannt sein. Soem- merring hatte damit vermutlich als erster Natur- Elefanten in Kassels Menagerien forscher ein Ganzkörperpräparat eines Groß- Das später als Goethe-Elefant berühmt gewor- säugers erstellt. Das Elefantenskelett wurde dene Großsäugetier lebte in Kassel in einer allerdings als Goethe-Elefant berühmt, auf- landgräflichen Menagerie, vergleichbar einem grund der osteologischen Studien des Dichters heutigen zoologischen Garten, der aber nicht und Naturforschers Johann Wolfgang Goethe jedermann zugänglich war (Lehmann 2009: (1749-1832) am Elefantenschädel. 661). Belegt ist, dass bereits Landgraf Philipp (1504-1567) 1538 ein Löwenpaar erwarb, das Aus welchen Gründen untersuchte Goethe das vermutlich am Landgrafenschloss an der Fulda Skelett des Kasseler Elefanten? Was ist ein gehalten wurde. Auch Landgraf Wilhelm IV. Zwischenkieferknochen und warum kam ihm (1532-1592), der Begründer des Tierparks
Der Asiatische Elefant in Kassel 243 Sababurg, hielt exotische Tiere, darunter Rentiere, Kamele und Affen. Unter Landgraf Moritz (1572-1632) soll sich eine Menagerie am ehemaligen Schlossgraben befunden haben. Landgraf Karl (1654-1730) war der Begrün- der der ersten größeren Menagerie in Kassel, wobei er an die Familientraditionen anknüpfte. Sein Interesse an Naturkunde und Naturfor- schung war umfassend. Dazu zählten auch lebende Tiere, und so entstand auf dem Areal des heutigen Parkplatzes zwischen Auedamm und Orangerieschloss ein umfangreicher Tier- park mit exotischen Tieren. Er diente sicherlich auch der Repräsentation, und zeitweise lebten dort bereits Elefanten. Die Menagerie bestand bis zum Tode Landgraf Karls 1730 und wurde dann aus Kostengründen aufgelöst (zu den exotischen Tieren seiner Menagerie siehe auch Lehmann 2009, 2010). 1764 beschloss Landgraf Friedrich II. (1720- 1785), Landgraf Karls Enkel, eine Menagerie unterhalb des Weinberges (vor dem Frank- furter Tor) einzurichten. Die barocke Gestalt Abb. 2: Samuel Thomas Soemmerring mit dem Zivilver- des maximilianischen Gartens blieb dabei im dienstorden der bayerischen Krone, ausgezeichnet am Wesentlichen bestehen. Nur einige kleinere 11. Mai 1808. Ölgemälde von Wendelin Moosbrugger, München um 1813. Privatbesitz. Foto: Harry Haase. Bauten wurden für die neue Nutzung herge- richtet – hier lebte auch der Asiatische Elefant (Lehmann 2009: 85). gleitet. Auf dem Weg von London nach Berlin hielt er am 3. Dezember 1778 in der Kasse- Forster und Soemmerring – Professoren ler Societé des Antiquités, der Altertumsge- am Collegium Carolinum sellschaft, einen Vortrag. „Damit hatte Forster Besonders hervorzuheben ist das von Land- einen unbeabsichtigten Erfolg: Schon am graf Karl 1709 gegründete und im Ottoneum Tag darauf bot ihm Minister Hans Martin von angesiedelte Collegium Illustre Carolinum, das Schlieffen eine Professur am Kasseler Colle von Landgraf Friedrich II. reformiert wurde und gium Carolinum an“ (Uhlig 2010: 232). durch seine Förderung eine Glanzzeit erlebte. Eingerichtet anstelle einer Akademie der Wis- Als in Kassel, zu dieser Zeit ein bedeutendes senschaften, nahm es eine Zwischenstellung medizinisches Ausbildungszentrum in den zwischen Ritterakademie und Universität ein. deutschen Fürstenstaaten, eine Anatomiepro- (Mey 2010: 179). Am Collegium waren zeit fessur frei wurde, gab der Naturkundeprofessor weise gleichzeitig bis zu 17 Professoren der Forster seinem Freund Soemmerring (Abb. 2) vier Fakultäten tätig und somit mehr als an den Ratschläge für dessen Bewerbung. Dieser hat- Landesuniversitäten. te 1778 in Göttingen sein Medizinstudium über- Zu den angesehenen Gelehrten, die für Kas- aus erfolgreich abgeschlossen und mit seiner sel gewonnen werden konnten, zählte Georg Dissertation über die Hirnnerven für Aufsehen Forster (1754-1794). Gemeinsam mit seinem unter den Fachwissenschaftlern gesorgt. Nach Vater Reinhold Forster (1729-1798) hatte er einer Bildungsreise durch Nordwestdeutsch- als Naturforscher Kapitän James Cook (1728- land, die Niederlande und Großbritannien, wo 1779) auf dessen zweiter Weltumsegelung be- er in London die Familie Forster kennengelernt
244 Rolf Siemon hatte, befand er sich nun auf der Suche nach merring 1778 den berühmten Anatom, Arzt und einer ersten Anstellung. Am 23 Mai 1779 er- Naturforscher Camper auf dessen Landsitz nannte Landgraf Friedrich II. Soemmerring nahe Groningen besucht hatte, verband beide zum ordentlichen Professor der Anatomie, und ein enger wissenschaftlich-freundschaftlicher am 14. August 1779 wurde in der Kasseler Kontakt. Unterneustadt, unter der Teilnahme von Soem- Die Versorgung eines Elefanten in Kassel war merring, dessen Arbeits- und Wohnstätte, das sehr aufwändig und kostete damals im Jahr modernste Anatomische Theater, eingeweiht schätzungsweise 500 Goldtaler; eine bürger (Siemon 2001: 32f) – das erste Anatomische liche Familie musste in derselben Zeit von Institut in Deutschland hatte seine Geburts- etwa 150 Talern leben. Der Kasseler Elefant, stunde. ein Liebling des Publikums, diente zeitweise als Arbeitstier, wurde aber auch bei Opernauf- In Kassel nutzte Soemmerring die vielfältigen führungen in der Oberen Königsstraße einge- Möglichkeiten der Forschung auf den verschie- setzt. Als er von einem Auftritt im Opernhaus densten Gebieten der Medizin, der verglei- im August 1780 heimgeführt wurde, rutschte er chenden Anthropologie und nicht zuletzt der am steilen Auehang zur Fulda ab. Was für den Naturkunde. Als es nach dem Tod des Land- Elefanten tödlich endete, wurde für Soemmer- grafen 1785 zur allmählichen Auflösung des ring zu einem Glücksfall. Collegiums kam, hatte das wissenschaftliche Renommee des Multitalents Soemmerring Nun bot sich ihm die einmalige Gelegenheit (Siemon 2012) bereits eine solche Strahlkraft einer bisher seltenen Elefantensektion. Zu erreicht, dass er an die katholische Universität denen, die Soemmerring beim Transport, der in Mainz berufen wurde, die ihren glanzvollen Aufstieg auch Soemmerring verdankte (Du- mont 2005). Soemmerrings Elefantensektion In Kassel erhielt Soemmerring aus der land- gräflichen Menagerie zahlreiche verendete exotische Tiere zur Präparation. Seit Septem- ber 1773 befand sich dort auch der junge, ver- mutlich zwei Jahre alte Asiatische Elefant, der auf Ceylon (Sri Lanka) eingefangen worden war. Über die Niederlande und Bremen, stets in Begleitung eines Tierhalters, gelangte er nach Kassel und wurde hier in einem Elefantenhaus untergebracht. Simon Louis du Ry (1726- 1799) berichtete, dass der Elefant bei seiner Ankunft nicht viel größer als ein Esel und sehr zahm gewesen sei. Wahrscheinlich war er ein Geschenk von Prinz Wilhelm V. von Oranien (1748-1806) an Landgraf Friedrich II. (Wenzel 1988a: 75f). Dieser unterhielt in der Nähe von Den Haag eine gut ausgestattete Menagerie, in der bereits ab 1769 ein Asiatischer Elefant lebte. Nach dem Tod des Elefanten im Januar 1774 sezierte ihn der niederländische Anatom Abb. 3: Die 1943 verbrannte Dermoplastik des Goethe- Pieter Camper (1722-1789) (Lehmann 2009: Elefanten beim Transport vom Naturkundemuseum zum 92). Dies war die erste, wirklich wissenschaft- Landgrafenmuseum in Kassel am 26. September 1938. lich zu nennende Elefantensektion. Seit Soem- Kasseler Neueste Nachrichten vom 27.9.1938.
Der Asiatische Elefant in Kassel 245 Sektion und anschließender Präparation hal- fen, gehörte Carl Schildbach (1730-1817), Tier- präparator und Aufseher in der Menagerie des Landgrafen (Feuchter-Schawelka 2012). Die Haut des Elefanten wurde von Schildbach mit Holzstückchen ausgefüllt (Abb. 3), das Ske- lett von Soemmerring präpariert und ab 1780 im Museum Fridericianum ausgestellt. An sei- nen Freund Kriegsrat Johann Heinrich Merck (1741-1791) in Darmstadt berichtete er voll Stolz über sein Elefantenpräparat und rühmte die Deutlichkeit der Knochennähte am Schä- del, die bei dem entsprechenden Exemplar im Besitz von Blumenbach in Göttingen so nicht zu sehen seien. Mehrfach wurde in der Literatur behauptet, Soemmerrings Präparation sei nicht qualitätvoll gewesen. Doch hat das Präparat zu seiner Zeit, wie sich belegen lässt, anders ausgesehen. Abb. 4: Das von Soemmerring präparierte Skelett des Soemmerrings Liste der Präparate des anato- Goethe-Elefanten in der neugestalteten historischen mischen Theaters führt bei den „Knochen von Dauerausstellung im Naturkundemuseum Kassel. Foto: Peter Mansfeld. Thieren“ an erster Stelle an: „Ein vortreffliches Elephanten-Scelet, von 9 Fuß Höhe, durch seine natürliche Bänder zusammenhangend“ er doch im Laufe seines Lebens Probleme (Wenzel 1988a: 80). Das heute durch Metall der verschiedensten Fachgebiete: Geologie, stützen aufrecht gehaltene Knochengerüst Mineralogie, Zoologie, Botanik, Optik und (Abb. 4) muss allerdings von Beginn an durch Meteorologie (Wyder 1998: 11). Bereits in Stützen stabilisiert worden sein, denn alleine Leipzig, wo er auf Wunsch des Vaters 1765- hätte es keine Standfestigkeit gehabt. 68 Jura studierte, erhielt er durch Gespräche mit Kommilitonen der Medizin Kenntnisse von den drei großen Vertretern der Naturwissen- Der Naturforscher Goethe schaft: Carl von Linné (1707-1778), Georges Goethe (Abb. 5) kämpfte in wissenschaftlichen Louis Leclerc Comte de Buffon (1707-1788) Kreisen stets gegen das Vorurteil, dass er die und Albrecht von Haller (1708-1777), die mit Natur vor allem als Dichter betrachten würde ihren enzyklopädischen Werken sozusagen und seine naturwissenschaftlichen Werke nur die Summe des damaligen Wissens über die Nebenprodukte seiner dichterischen Tätigkeit Natur repräsentierten (Eck 2008, Feuerstein- seien. So urteilte er rückblickend: „Seit länger Herz 2009). Als Goethe 1770/71 in Straßburg als einem halben Jahrhundert kennt man mich, sein Studium der Jurisprudenz abschloss, hat- im Vaterlande und auch wohl auswärts, als te er auch Vorlesungen in Anatomie und Chi- Dichter und läßt mich allenfalls für einen sol- rurgie besucht. Ernsthafte naturwissenschaft- chen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerk- liche Forschungen startete er erst nach seiner samkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen Übersiedlung nach Weimar 1775 und datierte physischen und ihren organischen Phäno- deren Beginn selbst in das Jahr 1780, während menen, emsig bemüht und ernstlich angestell- seiner Lektüre von Buffons „Naturgeschichte“ te Betrachtungen stetig und leidenschaftlich – „Die Frage nach der Entstehung und Entwick- im stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein lung der Erde und der Lebewesen […] und das bekannt noch weniger mit Aufmerksamkeit be- Studium der Fossilien, von dem Johann Hein- dacht worden“ (Kuhn 1964: 337). Seine viel- rich Merck anregend zu berichten wußte, ge- seitige Forschung verstärkte zudem mit der ben den Anreiz, das beim Menschen Gelernte Zeit Goethes Ruf als Dilettanten, bearbeitete auf die Tiere zu übertragen“ (Kuhn 1977: 475).
246 Rolf Siemon Anatomische Untersuchungen unter Anleitung von Loder in Jena – Besuche in Göttingen und Kassel Im Juli 1780 wurde der Jenaer Anatomiepro- fessor Justus Christian Loder (1753-1832) von seinem Landesherrn nach Weimar beordert, um dort vor dem Herzog und dessen Frau, Goethe, Johann Gottfried Herder (1744-1803) und dem Arzt und späteren Jenaer Medizin- professor Christoph Wilhelm Hufeland (1762- 1829) anatomische Demonstrationen anhand von Kinderhirnen vorzunehmen. Loder, Studienkommilitone von Soemmerring, regte Goethe zu vertieften anatomischen Stu- dien an. Als dessen Schüler betrieb Goethe im Herbst und Winter 1781/82 Knochen- und Muskellehre und sezierte auch selbst. Bereits im Herbst 1780 war er durch Merck, der sich intensiv mit Paläontologie beschäftigte, erst- malig auf die Problematik des Zwischenkiefer- knochens Os intermaxillare aufmerksam ge- worden, inzwischen bei verschiedenen Tieren nachgewiesen, sollte er dem Menschen aber fehlen. Somit galt er als ein wichtiges Kriterium bei der Trennung von Mensch und Tier, auch Abb. 5: Goethe am Golf von Neapel, Ölgemälde von in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht. Die- Heinrich Christoph Kolbe, 1826. InvNr. GP 276, Kunst se, von der Kirche stark beeinflusste Lehrmei- historisches Seminar, FSU Jena. Foto: Peter Scheere. nung, wurde insbesondere von Camper vertre- ten, für dessen Forschungen sich Goethe sehr interessierte. Interesse nahm er im Museum Fridericianum auch das Elefantenskelett in Augenschein. Im Herbst 1783, auf dem Rückweg von sei- ner geologischen Harzreise, suchte Goethe in Göttingen den Kontakt zu den dortigen Profes- Goethe, Herder und der soren, wobei insbesondere der Mediziner, Na- Zwischenkieferknochen turforscher und Anthropologe Johann Friedrich In der Folgezeit stand Goethe insbesondere mit Blumenbach (1752-1840) hervorzuheben ist. dem Philosophen, Theologen und Schriftsteller Dieser gilt als Begründer der modernen Natur- Herder in intensivem Gedankenaustausch zu forschung und war ebenfalls ein Studienfreund naturgeschichtlichen Themen. Dieser schrieb von Soemmerring, mit dem er zeitlebens in an den ersten Büchern seiner „Ideen zur Philo- engem Austausch stand. Anschließend reiste sophie der Geschichte der Menschheit“ (Kuhn Goethe weiter nach Kassel. Als er am 14. Sep- 1977: 475f). Im vierten Buch behandelte Herder tember 1779 erstmals Kassel aufgesucht hat- die Beziehungen zwischen Orang-Utan und te, standen der Austausch mit Forster sowie Mensch, wodurch der Zwischenkieferknochen Besuche des Museum Fridericianum und der erst seine besondere Berühmtheit erlangte. Menagerie im Vordergrund. Bei seinem zwei- Sein Fehlen beim Menschen wertete Herder ten Besuch vom 30. September bis 5. Oktober unter Berufung unter anderem auf Camper 1783 suchte Goethe sofort Soemmerring in der und Blumenbach als Unterscheidungsmerkmal Anatomie auf und erhielt von ihm zahlreiche zwischen beiden, neben der unterschiedlichen wissenschaftliche Anregungen. Mit großem Stellung des Hinterhauptbeins und der feh-
Der Asiatische Elefant in Kassel 247 lenden Sprache beim Orang-Utan. Zwischen 1780 und 1784 stieß Goethe während des Literaturstudiums oft auf den Zwischenkiefer- knochen, ohne dessen Existenz im Sinne sei- ner späteren Idee von der „Konsequenz des Typus“ auch im Menschenschädel zu fordern oder selbigen gar wiederentdeckt zu haben. Gleichwohl war ihm durch Herders „Ideen“ der Gedanke von der „Einheit des Typus“ mehrfach begegnet. Als Goethe seine Arbeit über den Zwischen- kieferknochen anfertigte, war es in der Wissenschaft noch selbstverständlich, dass die in einer Reihe angeordneten Naturdinge, deren Erscheinungsform stufenweise vonein Abb. 6: Menschlicher Oberkiefer von unten. Der rechte und linke Zwischenkieferbereich sind farblich hervorgehoben. ander verschieden war, als eine Entwicklung Zeichnung nach Feneis 1993. vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren betrachtet wurde. Dies hatte der schweitzer Naturforscher Charles Bonnet (1720-1793) in eines veränderten Denkens. Bisher war es üb- seinen „Contemplations de la nature“ von 1764 lich gewesen, die Welt als biblische Schöpfung dargestellt und knüpfte damit an die Tradition zu betrachten, die seit dem Schöpfungsakt un- an, zum Lob des biblischen Schöpfers die verändert ablief (Sachtleben 1994: 106). Mit Vollkommenheit der Natur darzustellen (Kuhn dem nun beginnenden dynamischen Denken 1977: 482f). Gerade Herders Studien zu den wurden diese vorgegebenen Grenzen über- „Ideen“ erschlossen Goethe ein Weltbild, das wunden. Dabei stellte sich die Frage, ob der auf eine differenzierte Stufenlehre gegründet Mensch eine besondere göttliche Schöpfung war (Kuhn 1977: 483). sei, oder ob er sich in den Bau anderer Wirbel- tiere einfügte, soweit es seinen anatomisch er- kennbaren Körper betraf (Sachtleben 1994: Besitzt der Mensch einen 107). Zwischenkieferknochen? Goethe fiel auf, dass sich die Gelehrten in So war die Behauptung, dass der Mensch sich Widersprüche zwischen Begriffsbestimmun von der Reihe der Wirbeltiere, speziell von den gen und anatomischen Befunden verwickelten. Affen, die ihm in der Stufenfolge am nächsten So hatten einige Forscher bereits den standen, durch das Fehlen des Zwischenkie- Zwischenkieferknochen beim Menschen fest- ferknochens unterscheide, bisher nicht ver- gestellt, andere bezweifelten dies. Die For- wunderlich (Kuhn 1977: 484). Wenn aber nun schungen jener Zeit hatten aber auch damit zu der Nachweis dieses Knochens beim Men- kämpfen, dass Bücher selten und teuer waren, schen gelang, bedeutete dies nicht eine Unter- und so gab es manchmal lange Dispute über brechung der Stufenfolge, sondern, dass der zum Teil Offensichtliches (Malec 1999: 110). Mensch mit Blick auf seine Schädelanatomie Schon in der Antike hatten einzelne Forscher eine eigene Stellung innerhalb der Reihe der den menschlichen Zwischenkieferknochen be Wesen einnimmt und ihm keine Sonderstellung schrieben. Doch brauchte es noch Jahrhun- zukommt. Im Gegensatz zum Menschen, bei derte, bis dies letztendlich im 19. Jahrhundert dem nur auf der Innenseite des Gaumens und als allgemeingültig anerkannt wurde. im Nasenboden (mehr oder weniger verwach- sene) Nähte des Zwischenkieferknochens zu Die Frage nach dem Zwischenkieferknochen erkennen sind, zeigt der tierische Schädel auf beim Menschen (Abb. 6) erhielt ihre tiefere Be- der Außenseite des Oberkiefers eine deut- deutung durch den Beginn einer tiefgreifenden liche Facial- oder Gesichtsnaht. Diese ist beim Wandlung der Sicht auf die Natur, aufgrund Menschen manchmal noch embryonal zu er-
248 Rolf Siemon bei Ameisenbär, Elefant und Delphin auch beim Menschen fehlen. Haller, Camper und Blumen- bach definierten den Zwischenkieferknochen als Knochen, der die oberen Schneidezähne enthalte, wobei Camper dem Ameisenbär sel- bigen zugestand, während er dem Elefanten, der Schneidezähne besitzen sollte, einen Zwischenkieferknochen absprach. Für Goethe war es unverständlich, warum der Mensch mit seinen Schneidezähnen keinen Zwischenkie- ferknochen besitzen sollte. Auch beim Wal- ross (Abb. 7) gingen die Beobachtungen der Naturforscher auseinander, so dass Goethe dieses in seine Untersuchungen mit einbezog. Je mehr Kupfertafeln verschiedener Tiere und menschlicher Embryonen von verschiedenen Forschern Goethe studierte, desto mehr Ver- wirrung entstand. Noch 1824 berichtete er rückblickend von den „Sinn verwirrenden Zu- ständen“, in die er sich 1784 versetzt gefühlt habe und aus denen eine Befreiung nur mög- lich war, wenn er selbst Tier- und Menschen- schädel in Jena vergleichen würde (Bräuning- Abb. 7: Halbe obere Kinnlade, junges Walross, (Original- Oktavio 1956: 19). präparat Goethes). Sign.: OZP 21. Museum anatomicum Jenense – Anatomische Sammlung der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Ausleihe des Kasseler Elefantenschädels So verglich Goethe ab dem 27. März bis in den kennen (Wyder 1998: 183). Aus der unter- November 1784 hinein Tier- und Menschen schiedlich guten Sicht- und Nachweisbarkeit schädel. Am 14. Mai 1784 schrieb er an der einzelnen Nähte wurde oft gefolgert, dass Soemmerring: „Für die mir kommunicirten der Mensch keinen Zwischenkieferknochen Camperischen Zeichnungen [damals noch un- besitze. veröffentlichte Tafeln, die unter anderem einen Elefantenschädel mit ansitzenden Muskeln Als Goethe am 27. März 1784 in Jena den zeigen] dancke ich auf das beste, und mögte Zwischenkieferknochen am Menschenschädel Sie um eine neue Gefälligkeit ersuchen. Die (wieder-)entdeckte, schrieb er noch in dersel- Zoologie [vergleichende Anatomie] macht mir ben Nacht an Herder: „... muß ich Dich auf das manche angenehme Stunde und Sie könnten eiligste mit einem Glücke bekannt machen, das dieselben sehr vermehren, wenn Sie mir den mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder Schädel Ihres Elephanten Skelettes nur auf Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche vier Wochen borgen wollten […]. Könnte ich Freude macht – das os intermaxillare am Men- dabey den Schädel des Nilpferdes erhalten, schen! Ich verglich mit Lodern Menschen- und der, wenn ich nicht irre, im Museo liegt, so Tierschädel, kam auf die Spur und siehe da ist wäre mir es um desto angenehmer. Anfang es“ (Kuhn 1977: 287). Diese Entdeckung war Juni gehe ich nach Eisenach, könnte ich diese für Goethe so wichtig, da sie Herders Vorstel- Köpfe dort antreffen, so brauchten sie nicht den lungen über die Einheit der Natur bestätigte Weeg hieher zu machen, sondern ich schickte (Wyder, 1998: 182). Nach Blumenbach sollte sie Ihnen von Eisenach gleich wieder zurück“ der Zwischenkieferknochen, den alle Affen und (Wenzel1988b: 35). die meisten anderen Säugetiere hätten, außer
Der Asiatische Elefant in Kassel 249 Wilhelm Waitz (1766-1796) zeichnen ließ. Bis 1785 ist der Schädel immer wieder Thema im Briefwechsel zwischen Goethe und Soemmer- ring. Im Oktober 1784 befand er sich wieder in Kassel – Soemmerring aber kurz darauf bereits als Professor der Anatomie und Physiologie in Mainz. Die „Homologisierung“ des Zwischenkiefers Durch Herder war Goethe auch auf die Aus- sage des Londoner Arztes und Anatomen Edward Tyson (1650-1708) gestoßen, dass nicht alle Affen das Os intermaxillare besitzen. Goethe hingegen erkannte, dass die äußere Sutur desselben, die Facialnaht, bei manchen Affen kaum sichtbar ist. Erst nachdem er den Schädel einer Meerkatze gegen das Licht ge- halten hatte, trat sie hervor. Goethe, der sich bis 1785 selbst noch als Laie auf seinem Forschungsgebiet bezeichnete, begann erst Abb. 8: Der Schädel des Goethe-Elefanten, hier ohne nach seiner Entdeckung die Fachliteratur ge- Unterkiefer. Gut sichtbar ist der tödliche Schädelbruch, den nauer zu studieren, welche er bisher nur aus sich das Tier bei seinem Sturz am Auehang zuzog. Foto: Peter Mansfeld. Zitatstellen kannte. Gemeinsam mit Loder untersuchte Goethe in Jena am 27. März 1784 Tier- und Menschenschädel, auch von Soemmerring kam der Leihanfrage nach und menschlichen Embryonen, drehte sie von sich bereits einen Monat später schrieb Goethe: ab und betrachtete sie von unten. Dabei sah „Sie haben mir durch Uebersendung des Ele- er als Grenze des Zwischenkieferknochens phanten Schädels ein groses Vergnügen ge- gegen die Gaumenfortsätze des Oberkiefers macht. Er ist glücklich angelangt, und ich ver- eine quere Naht, die sich zwischen dem Eck- wahre ihn in einem kleinen Cabinete, wo ich zahn und dem zweiten Schneidezahn verliert, ihm heimlich die Augenblicke widme, die ich die Mensch und Tier gemeinsame Sutura mir abbrechen kann, denn ich darf mir nicht incisiva. Systematisch betrieb Goethe dann bis merken lassen, daß ein solches Ungeheuer zum Herbst 1784 Schädeluntersuchungen und sich in’s Haus geschlichen hat [die Hauswirtin hielt sie in einer Übersicht fest. Während sei- ließ er glauben, es sei Porzellan in der großen ner vergleichend-anatomischen Forschungen Kiste, damit sie ihn nicht für verrückt hält]. Mein kam er durch zahlreiche Einzelbeobachtungen Wunsch wäre nur ihn mit nach Weimar nehmen dazu, den die Schneidezähne tragenden Ober- zu können […]. Ich mögte ihn gar gerne mit kieferabschnitt des Menschen, den Zwischen- einem grosen Schädel, den wir besitzen, und kiefer der Säugetiere und die entsprechenden mit anderen Thierschädeln vergleichen, be- Knochen der übrigen Wirbeltiere als morpho- sonders da meine Hoffnung, die meisten Su- logisch gleichwertig anzusehen, sie somit zu turen und Harmonien unverwachsen zu finden, homologisieren – die Homologisierung wurde glücklich eingetroffen ist“ (Wenzel 1988b: 38). erst 60 Jahre später von dem britischen Ana- Zwar hatte Soemmerring ihm nur den Ele- tom und Zoologen Richard Owen (1804-1892) fantenschädel (Abb. 8) und nicht den eines in die Wissenschaft eingeführt. Goethe fand Nilpferdes geschickt, erlaubte aber wohl die also eine grundsätzliche Übereinstimmung von Überführung des Elefantenschädels nach Körperstrukturen aufgrund des gemeinsamen Weimar, wo Goethe ihn von Johann Christian evolutionären Ursprungs.
250 Rolf Siemon Er konnte nun im Einzelnen den oberen Teil Goethe beschäftigte sich parallel auch mit der Innennaht beim Menschen wiederent- der Ethik des niederländischen Philosophen decken, den Zwischenkiefer beim Walross Baruch de Spinoza (1632-1677), der bemerkte, nachweisen und ihn beim Elefanten in seiner dass in der Natur nichts geschieht, was fehler- Bedeutung zum Stoßzahn darstellen. Zudem haft sei, denn die Natur sei überall die gleiche war es ihm aufgrund seiner Beobachtungen und überall ist ihre Macht und Wirkungskraft ein möglich, dem Walross nun vier und dem und dieselbe – die Gesetze und Regeln der Na- Kamel zwei Schneidezähne zuzuschreiben. tur sind überall dieselben (Bräuning-Oktavio Goethes bleibendes Verdienst auf dem Ge- 1956: 44). Das nannte Goethe die Harmonia biet der vergleichenden Anatomie ist die Ent naturae im Sinne einer Harmonie aller Wesen deckung der Zwischenkiefer-Homologisierung untereinander und als Harmonie jedes Einzel- bei den Wirbeltieren, inklusive des Menschen wesens mit seinesgleichen. Diesen Gedanken (Kiesselbach 1982: 9). hatte bereits Buffon 1753 mit anderen Worten formuliert. Wenn man z.B. Pferd und Mensch, auf den ersten Blick voneinander verschie- Prachthandschrift, Harmonia naturae und den, vergleicht, findet sich im Skelettbau eine Konsequenz des Typus seltsame, fast völlige Übereinstimmung der Nach seiner (Wieder-)Entdeckung des Zwi- Teile. Durch Veränderungen der Lage, Verlän- schenkieferknochens arbeitete Goethe daran, gerungen und Zusammenlegung bestimmter sie den Fachwissenschaftern in einer Abhand- Knochen lässt sich das Skelett des Menschen lung mitzuteilen. Bedingt durch seine eigent- in das des Pferdes verwandeln (Bräuning- liche Arbeit und einige Reisen kam er nicht Oktavio 1956: 44f). so schnell voran, wie zunächst gedacht. Mitte Dezember 1784 wurde eine Reinschrift mit Am 11. November 1784 teilte Goethe Herder lateinischer Übersetzung und Zeichnungen seine „Entdeckung“ der Harmonia naturae mit fertiggestellt. Goethe schickte sie an Merck, (Grumach & Grumach 1966: 499, Kuhn 1977: der sie über Soemmerring an Camper leiten 302). Er beabsichtigte nun, seine Abhandlung sollte. Ein anderes Exemplar ging an Herzog zur Stellungnahme an Soemmerring und Cam- Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745- per zu schicken, wobei er sie, in der falschen 1804) (Kuhn 1977: 476f). Annahme, Camper verstehe kein Deutsch, ins Dies war der erste, später überarbeitete Teil Lateinische übersetzen ließ. In der Einleitung einer dreiteiligen Abhandlung, die Goethe erst führte er aus: „Einige Versuche osteologischer 1819 vollendete und 1820 in seinen Morpho- Zeichnungen sind hier in der Absicht zusam- logischen Heften veröffentlichte. Ursprünglich men geheftet worden, um Kennern und Freun- hatte er geplant, diesen ersten Teil als einen den vergleichender Zergliederungskunde eine an Soemmerring gerichteten Brief abzufassen. kleine Entdeckung vorzulegen die ich glaube Aufgrund eines Disputs zwischen Soemmer- gemacht zu haben. Bei Tierschädeln fällt es ring und Loder unterließ er es allerdings, da gar leicht in die Augen, daß die obere Kinn Loder durch diese Form eifersüchtig geworden lade aus mehr als einem Paar Knochen beste- wäre. Durch die Forschungsergebnisse ver- het. Ihr vorderer Teil wird durch sehr sichtbare schiedener Anatomen erhielt Goethe vielfältige Nähte und Harmonien mit dem hinteren Teile Anregungen, die ihn immer wieder zu Abände- verbunden und macht ein Paar besondere rungen seines Manuskriptes veranlassten. Erst Knochen aus. Dieser vorderen Abteilung der 1831 wurden auf insgesamt fünf Kupfertafeln oberen Kinnlade ist der Name Os intermaxil im 15. Band der Nova Acta Leopoldina auch die lare gegeben worden. Die Alten kannten schon zugehörigen Abbildungen publiziert, nachdem diesen Knochen und neuerdings ist er beson- bereits 1824 im 12. Band drei Tafeln mit Ab- ders merkwürdig geworden, da man ihn als bildungen des Zwischenkieferknochens beim ein Unterscheidungszeichen zwischen dem Elefanten (Abb. 9) erschienen waren (Bräun- Affen und Menschen angegeben. Man hat ihn ing-Oktavio 1954: 289f). jenem Geschlechte zugeschrieben, diesem abgeleugnet, und wenn in natürlichen Dingen
Der Asiatische Elefant in Kassel 251 Abb. 9: Der Schädel des Kasseler Elefanten in verschiedenen Ansichten. Kupferstiche von Johann Heinrich Lips 1797/98 (linke Seite) und Johann David Schubert 1823 (rechte Seite) für Goethes Publikation von 1824. nicht der Augenschein überwiese, so würde ich auf Publizität, weshalb er auch die besten schüchtern sein aufzutreten und zu sagen, daß Zeichnungen zunächst noch zurück hielt, um sich diese Knochenabteilung gleichfalls bei sie später gesondert zu veröffentlichen (Kuhn dem Menschen finde“ (Kuhn 1954:154). 1977: 477). Goethe wollte erst die Meinungen der angesehenen Fachgelehrten abwarten und Seine Abhandlung, die so genannte Pracht- zudem war es ihm nicht möglich, neben sei- handschrift, bezeichnete er im Titel als „Versuch nen Staatsgeschäften die umfangreiche Fach- aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der literatur vollständig zu bewältigen. Er hoffte auf Zwischenknochen der obern Kinnlade dem Zustimmung und ein Angebot, seinen Aufsatz Menschen mit den übrigen Tieren gemein sei“ in die Fachliteratur einzurücken. Doch die für ohne Nennung seines Namens als Verfasser. Camper hergestellte Prachthandschrift blieb Er sah sie als ein Konzept an, ohne Anspruch lange unterwegs. Sie wurde trotz weitläufiger
252 Rolf Siemon renden deutschen Rezensionsorgan, davon ab. Soemmerring, dort wichtigster Rezensent medizinischer Literatur in der Nachfolge Hal- lers, hatte dessen Feststellungen teilweise verzerrt, falsch dargestellt und zu bloßen Ver- mutungen werden lassen, weil sie der Lehrmei- nung des von ihm sehr geschätzten Camper widersprachen (Bräuning-Oktavio 1956: 59, Enke 1995: 200ff). Durch die französische Ab- handlung wurde Goethe allerdings angeregt, im Mai/Juni 1786 erneut Schädel zu unter suchen und ließ sich dazu per Fernleihe auch Bücher aus Göttingen kommen. Am 17. oder 18. Juli 1786 schloss er sein Manuskript ab und versiegelte es. Zusammen mit dem zwei- ten und dritten Teil der Abhandlung diente es ihm dann 33 Jahre später als Druckvorlage für seine Erstveröffentlichung. Durch botanische Studien gelangte Goethe 1785/86 zur Lehre von der Konsequenz des Typus. Hiermit ist die wesentliche Form ge- Abb. 10: Johann Gottfried Herder, Ölgemälde von Anton meint, die sich beständig erhält, auch wenn sie Graff, 1785. Gleimhaus, Halberstadt. variiert (Bräuning-Oktavio 1956: 65). „Dieses alles würde ein völlig ausgearbeiteter Typus Korrespondenzen darüber nur mit begrenztem schon bestimmen und festsetzen: inwiefern ein Verständnis aufgenommen (Kuhn 1977: 477). jeder Teil notwendig und immer gegenwärtig Im April 1786 erhielt Goethe Kenntnis von einer sei, ob er sich manchmal nur durch eine wun- im Monat zuvor publizierten Arbeit des franzö- derbare Gestalt verberge durch eine Verwach- sischen Anatom Félix Vicq d’Azyr (1748-1794) sung der Suturen zufällig verstecke in vermin- über Anatomie und Physiologie. Dieser hatte derter Zahl erscheine sich bis auf eine kaum den Zwischenkieferknochen beim Menschen zu erkennende Spur verliere […] so wird die bereits 1780 eindeutig festgestellt. Goethe größte Aufmerksamkeit derjenigen, welche be- schrieb daraufhin am 12. Mai an seine enge sonders den osteologischen Typus ausarbei- Freundin Charlotte von Stein (1742-1827): „Es ten, dahin gerichtet sein daß sie die Knochen ist Wort für Wort was mir der gute Geist schon abteilungen auf das schärfste und genauste lange sehen lassen und ich habe große Lust aufsuchen, es mögen solche an einigen Tier mit Herrn Vicq d’Azyr mich zu liieren“ (Kuhn arten in ihrem ausgewachsenen Zustande sich 1977: 334) und zuvor am 30. April an Herder deutlich sehen lassen oder bei andren nur an (Abb. 10): „Da Camper noch immer schweigt jüngeren Tieren vielleicht gar nur an Embryo freut mich nur daß mir der Franzose mit lauter nen zu erkennen sein. […] Die falschen oder Stimme entgegen kommt“ (Kuhn 1977: 333). schwankenden Ausdrücke, der Mensch habe kein os intermaxillare, der Elefant habe kein Zunächst dachte er daran, die Forschungs- Tränenbein, der Affe habe auch kein Tränen- ergebnisse von Vicq d’Azyr für seine Zwecke bein, werden nicht mehr vorkommen. Man wird und gegen Soemmerring zu verwenden. Die- diese Teile sorgfältig aufsuchen und weil man ser hatte sich gegenüber Goethes (Wieder-) gewiß daß man sie finden müsse nicht eher ru- Entdeckung inzwischen ablehnend geäußert. hen bis man sie ausgefunden und ihre Gestalt Allerdings hielt ihn eine Besprechung der Pu- ihr Verhältnis gegen die übrigen Teile genau blikation von Vicq d’Azyr vom April 1786 in bezeichnet. Selbst, wenn man die Konsequenz den Göttinger gelehrten Anzeigen, dem füh- der Gestalt nur im allgemeinen ansieht, sollte
Der Asiatische Elefant in Kassel 253 man schon ohne genauere Erfahrung schlie- Mensch schickte, blieb dieser bei seiner ab- ßen daß lebendige einander höchst ähnliche lehnenden Haltung, die er auch seinem väter Geschöpfe aus einerlei Bildungs-principio her- lichen Lehrmeister Camper mitteilte – dem vorgebracht sein müßten“ (Kuhn 1964: 77ff). Zwischenkieferknochen komme ein rein tieri scher Charakter zu. In seiner 1791 erstmalig erschienenen Die Reaktionen der Fachgelehrten „Knochenlehre“ leugnete Soemmerring jede Spur einer Spalte oder Naht desselben beim Soemmerring menschlichen Schädel und lehnte damit so- Bei den Reaktionen der Fachgelehrten auf gleich die seit Jahrhunderten zugestandene Goethes Zwischenkiefer(wieder)entdeckung Sutura incisiva ab. Zugleich bemerkte er aber in beim Menschen ist zunächst Soemmerring einer Fußnote: „Goethe’s sinnreicher Versuch zu nennen, der Goethes Prachthandschrift aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der über Merck erhalten hatte. Als er sie Merck Zwischenknochen der Oberkinnlade dem Men- am 27. Januar 1785 zurück schickte, lehnte schen mit den übrigen Thieren gemein sey, von er in einem Begleitbrief Goethes Entdeckung 1785. mit sehr richtigen Abbildungen, verdiente beim Menschen ab – Hinsichtlich der Ver- öffentlich bekannt zu seyn“ (Hildebrand 1997: wachsungen der beiden Suturen behauptete 190). Gerade diese Abbildungen belegten aber Soemmerring, dass beide niemals vorhanden die Existenz des Zwischenkieferknochens gewesen seien: „Hier ist Goethe in manchem beim Menschen. Betracht sehr artiger Aufsatz. Die Hauptidee In seinem Handexemplar notierte Soemmer- hatte schon Blumenbach. Im § der sich an- ring später: „daß sich schlechterdings nie ‚im fängt ‚Es wird also kein Zweifel’ – sagt er, ‚da normalen Bau des’ Menschen die geringste die übrigen (Grenzen) verwachsen’, schade Spur einer Spalte ‚oder Naht’ [finde und ...] nur daß diese niemals da gewesen. Ich habe dass bisweilen bey den sogenannten Hasen- nun Kinnbacken von Embryonen von 3 Mona- scharten dieses Stück vom Oberkiefer getrennt then biß zum Adulto vor mir, und an keinem ist erscheint, kann nicht dazu berechtigen, ein os jemals eine Grenze vorwärts zu sehen gewe- intermaxillare [...] im normalen Baue anzu- sen. Und durch den Drang der Knochen gegen nehmen“ und strich die Fußnote (Hildebrand einander die Sache zu erklären? – Ja wenn die 1997: 475f). Natur als ein Schreiner mit Keil und Hammer arbeite!“ (Dumont 1997: 113). Dabei bezieht Zwar lehnte Soemmerring Goethes (Wieder-) sich Soemmerring allerdings nur auf die Facial- Entdeckung ab, veröffentlichte dessen Unter- naht, welche in seiner Schädelsammlung vom suchungen aber als erster 1785 in der zweiten dreimonatigen Embryo bis zum Erwachsenen Auflage seiner Schrift „Über die körperliche nicht erkennbar war. Deren Vorhandensein Verschiedenheit des Negers vom Europäer“, hatte Goethe allerdings auch gar nicht be- die insbesondere auf seinen vergleichend- hauptet. Mit keinem Wort geht Soemmerring anatomischen und anthropologischen For- auf Goethes Zeichnungen ein, auf denen dieser schungen in Kassel basierte. Darin stellt er fest die Abgrenzung des Zwischenkieferknochens „…das alle vierfüßige Thiere, alle Affenarten beim Menschen durch zwei Grenzen, die Sutura mit eingeschlossen, als einen von allen üb- incisiva und die Fissura intermaxillaris nasalis rigen Gesichtsknochen durchaus getrennten dargestellt hat. Weiterhin stellte Soemmerring abgesonderten Knochen besitzen […] daher fest, dass die Hauptidee bereits Blumenbach auch dieser Zwischenknochen (os interma- gehabt habe, was allerdings nicht ganz nach- xillare) ein wahrer Thiercharacter scheinet“ vollziehbar ist. Blumenbach hatte den mensch- (Oehler-Klein 1998: 196) und bemerkt in der lichen Zwischenkieferknochen bei Embryonen dazugehörigen Anmerkung: „Herr Geheime nur als Spur desselben bezeichnet. Rath v. Goethe hat die Güte gehabt, mir sei- nen schönen Aufsatz über diesen Knochen Auch nachdem Goethe Soemmerring über in der Handschrift mitzutheilen, den ich sehr Merck Schädelknochen vom Walross und deutlich nun auch bey dreyen Arten von Amei-
254 Rolf Siemon senbären […] so wie bey allen mir bekannten Säugethieren, finde“ (Ohler-Klein 1998: 196). Trotz seiner ablehnenden Haltung in der Frage des menschlichen Zwischenkieferknochens blieb Goethe Soemmerring aufgrund der zahl- reichen Anregungen und des fruchtbaren Aus- tausches immer zu Dank verpflichtet. Camper Dem Zwischenkieferknochen hatte Camper (Abb. 11) eine Sonderstellung im Skelett zuge wiesen, da dieser nach seiner Ansicht der ein- zige Knochen sei, der beim Menschen fehle und diesen somit von den Tieren unterscheide. Goethes Manuskript erhielt er erst am 15. Sep- tember 1785 und berichtete bereits am Folge- tag an Merck, dass er es mit großer Neugierde gelesen habe. Camper bewunderte die sauber ausgeführten Zeichnungen und lobte den Auf- bau der Abhandlung. Goethes These vom Zwi- Abb. 11: Der Anatom, Arzt und Naturforscher Pieter schenkieferknochen beim Menschen lehnte er (Petrus) Camper. Aus Gottlieb & Berg 1942. allerdings ab, während er Walross und Kamel selbigen nun zugestand (Bräuning-Oktavio 1956: 70). the aber nichts mit. Merck bat Camper Ende Da Camper die lateinische Übersetzung an 1785, Goethes Manuskript als eine persön- vielen Stellen unverständlich blieb, hatte er liche Huldigung entgegen zu nehmen. Im Mai sich an den deutschen Text gehalten. Bei an- 1786 wandte Camper sich direkt an Goethe schließender Untersuchung verschiedener und lud ihn mit seinem jungen talentierten Tierschädel mochte Camper dem Menschen ei- Zeichner Waitz zu sich nach Franeker ein. Erst nen Zwischenkieferknochen nicht zuerkennen, durch diesen Brief erfuhr Goethe, dass Cam- auch nicht nach der Untersuchung mensch- per schon acht Monate zuvor Merck sein Urteil licher Embryonen, was er mit der fehlenden mitgeteilt hatte. Goethe scheint Campers Ein- Facialnaht begründete. Goethe erklärte den ladung zugestimmt zu haben, befand sich aber hohen Grad der Verwachsung des Zwischen- zunächst in Karlsbad (Karlovy Vary) und dann kieferknochens mit den Nachbarknochen mit auf dem Weg nach Italien. Durch Campers Tod dem engen Raum, der den keimenden Zähnen am 7. April 1789 kam es nicht mehr zu einer im menschlichen Kiefer im Vergleich mit einer persönlichen Begegnung. tierischen Schnauze nur zur Verfügung steht. Daher sei die Facialnaht meistens nicht mehr Nach Soemmerring hatte mit Camper nun erkennbar. Goethes Hauptthese hatte Camper die zweite Fachautorität Goethes Arbeit öf- offenbar erschüttert, sie als Angriff auf die Ab- fentlich in seinen Schriften genannt (am 11. stammungslehre empfunden, denn er lehrte Juni 1786 in Nieuwe Algemeene Vaderland- seit über einem Jahrzehnt, dass der fehlende sche Letteroefeningen) und darauf verwiesen, Zwischerkieferknochen beim Menschen das dass Goethe ihm den Zwischenkieferknochen Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch beim Walross zuerst zeigte sowie dabei auch und Tier, im besonderen zwischen Affe und die schönen Zeichnungen der vortrefflichen Mensch sei (Bräuning-Oktavio 1956: 71). Abhandlung gelobt. Wenngleich er Goethes Hauptthese ablehnte, zeigt die Art der Ausei- Von Campers Ablehnung erfuhr Merck durch nandersetzung, dass Camper die Abhandlung zwei ausführliche Briefe, teilte davon Goe- mit Achtung gelesen hatte. Dessen negatives
Der Asiatische Elefant in Kassel 255 Urteil nach der Ablehnung Soemmerrings be- zog Goethe aber nun auf die gesamte renom- mierte Fachwelt. Loder Der dritte, der nach Soemmerring und Camper Goethes Abhandlung in seinen Publikationen nannte, war Loder (Abb. 12) in seinem erstmals 1788 erschienenen „Anatomischen Handbuch“. Nach seiner Meinung bildete der Zwischen kieferknochen kein Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier und somit war Lo- der der erste, der Goethes Wiederentdeckung anerkannte: „Ueber die Bildung dieses Kno- chen bey Menschen und Thieren hat H. Geh. Rath von Göthe eine mit vielen lehrreichen Zeichnungen begleitete Abhandlung, die aber noch nicht gedruckt ist, geschrieben. Ich habe das Vergnügen gehabt, ein Zeuge seiner scharfsinnigen Untersuchungen zu seyn, und wünsche, daß dieses meisterhafte Product der Nebenstunden eines solchen Liebhabers der Abb. 12: Der Anatom und Arzt Justus Christian Loder, Anatomie, dem Publicum nicht lang vorenthal- Goethes Anatomielehrer in Jena. Aus Gottlieb & Berg ten bleiben möge“ (Loder 1788: 89, Grumach 1942. 1977: 63). Erstaunlich ist in diesem Zusam- menhang, dass Loder nicht schon frühere Publikationen nutzte, um auf Goethe hinzu- kieferknochen zuschrieb, aber erst nachdem weisen (vgl. Bräuning-Oktavio 1956: 76ff). Er Goethes Abhandlung gedruckt vorlag, äußerte hatte mit Goethe vereinbart, dass dieser seine sich auch Blumenbach öffentlich dazu. Für ihn Arbeiten zur vergleichenden Anatomie 1798, stand seit seiner Dissertation fest, dass der im Anschluss an Loders „Anatomische Obser- Mensch keinen Zwischenkieferknochen be- vationen“, veröffentlicht, was aber unterblieb. sitzt. Er nannte diesen bei Tieren „gleichsam Nach einigen Jahrzehnten ohne Kontakt er- eingekeilten“ Knochen 1776 „Os intermaxil hielt Goethe im September 1824 von Loder aus lare“ (Fröber 1999: 71). In Blumenbachs „Ge- Moskau den ersten Band seiner Goethe gewid- schichte und Beschreibung der menschlichen meten „Elementa anatomiae corporis humani“ Knochen“ erwähnte er 1786 weder Goethes (1823) (Kuhn 1995: 679, 692). Er dankte ihm noch Vicq d’Azyrs Untersuchungen. Letztere mit einer Gegengabe seiner Morphologischen lehnt er später scharf ab und bemängelt die Hefte, in denen er wiederholt der lehrreichen Qualität von dessen deutlichen, sachlich und und schönen Tage mit Loder in Jena gedachte technisch guten Abbildungen (Bräuning- (Bräuning-Oktavio 1956: 78). Oktavio 1956: 81). Obwohl Blumenbach im Text menschlichen Embryonen, jungen Kindern und einigen Erwachsenen einen Zwischenkiefer- Blumenbach knochen quasi zugesteht, will er die als mond- Bereits seit den ersten persönlichen Kon förmige Naht bezeichnete Sutura incisiva nur takten 1783 in Weimar und Göttingen kannte als schwache Spur des bei anderen Säugetie- und schätzte Blumenbach (Abb. 13) Goethe. ren vorhandenen Zwischenkieferknochens gel- Durch Soemmerring und vermutlich auch ten lassen. So berichtete Blumenbach bereits Camper war Blumenbach darüber informiert, am 24. März 1781 an Soemmerring, dass er an dass Goethe dem Menschen den Zwischen- einem Wasserkopf einen völlig abgesonderten
256 Rolf Siemon „Spalte“ oder „Ritze“ ab und die Sutura incisiva in eine Fissura incisiva, um den Eindruck zu vermeiden, es liege hier das Ergebnis einer Verwachsung zweier Knochen vor (Bräuning- Oktavio 1956: 81). Auch in späteren Publikationen behielt Blu- menbach seine Meinung bei, gesteht zwar Wiederkäuern, Elefant, Rhinozeros und den Zahnlosen (Ameisenbär, Wal) einen Zwischen- kieferknochen zu, hält aber das Nichtvorhan- densein desselben beim Menschen für ein Hauptunterscheidungsmerkmal von anderen Säugetieren. Infolge der Publikation von Goe- thes Abhandlung 1820 änderte Blumenbach allerdings letztendlich seine Ansicht. Nach einem Besuch bei Goethe im Oktober 1820 Abb. 13: Der Anatom und Naturforscher Johann Friedrich dankte er ihm brieflich am 6. Dezember für die Blumenbach mit dem Schädel von Robert Bruce, König Zeichnungen als Anlage zu dessen Abhand- von Schottland, Radierung von Ludwig Emil Grimm, Kassel 1823. Aus Oesterley 1838. lung in den Morphologischen Heften und stellte fest: „Über den Zwischenknochen beim Men- schen kann […] kein Dissensus weiter statt kleinen Knochen festgestellt habe, ohne aus haben“ (Bräuning-Oktavio 1956: 83, Kuhn diesem Befund auf die Anlage des Zwischen- 1995: 409). kieferknochens beim Menschen zu schließen: Blumenbach hat 1824 seine briefliche Zustim- „Selbst an den Schädeln ungeborner oder jun- mung zu Goethes Wiederentdeckung dann ger Kinder findet sich doch eine Spur quasi auch in einer Anmerkung in der dritten Auflage rudimentum des ossis intermaxilaris. Je unreifer seines Handbuches der vergleichenden Ana- die Embryonen, desto deutlicher. An einem tomie veröffentlicht: „In wie fern aber die durch hydrocephalus sind’s zwei völlig abgesonderte diese Fissur bezeichnete Alveolar – Portion kleine Knochenkerne, und bei erwachsenen des menschlichen Oberkiefers allerdings für jugendlichen Köpfen ist doch oft noch vorn am ein Rudiment eines Intermaxillar-Knochens Gaumen eine sutura spuria zu merken […]. angesehen werden müsse, hat Göthe in seiner Jacobus Silvius sagt gar […] vor alters hätten berühmten Abhandlung gezeigt, die seit 1786 die Menschen alle ein os intermaxillare ge als Manuscript für seine Freunde mitgetheilt habt, das sich nach der Hand durch débauches war, und nun im Iten B. zur Morphologie mit rei- [Ausschweifungen] und zunehmenden Luxus chen Zusätzen erschienen ist“ (Blumenbach der Nachwelt verloren“ (Dumont 1996: 322). 1824: 24, Kuhn 1995: 714). Anmerkungen Blumenbachs Beschreibung des Zwischen in seinem Handexemplar lassen allerdings kieferknochens wirkte zwiespältig. erkennen, dass Blumenbach dieses Einge- Nach den Informationen von Soemmerring ständnis vor sich selbst abschwächte und er im Juni 1784 und Camper zu den Zähnen zudem versuchte, durch seine Behandlung des von Elefant und Rhinozeros weicht er bei der Zwischenkieferknochens bei verschiedenen Formulierung des Zwischenkieferknochens Tierarten in späteren Ausgaben seines Hand- und dem Sitz der Eckzähne darin einer Be- buches die Thematik eher zu vernebeln als zu griffsbestimmung aus. Trotzdem darf man Blu- erhellen (Bräuning-Oktavio 1956: 84). menbachs Knochenlehre von 1786 als einen ganz vorsichtigen Schritt in Richtung auf Vicq d’Azyrs und Goethes Auffassung betrachten Vicq d’Azyr (Bräuning-Oktavio 1956: 80f). Unter dem Félix Vicq d’Azyr war Mitbegründer der Sociéte Einfluss von Camper änderte er dann aber de Médicine (1776) sowie deren ständiger die Bezeichnung „Naht“ später sogar noch in Sekretär, Mitglied der Académie des Sciences
Der Asiatische Elefant in Kassel 257 in Paris und dort 1788 Nachfolger von Buffon nommen. Den Arbeiten von Merck verdankte und Leibarzt von Königin Marie-Antoinette Goethe zahlreiche Anregungen und Förderung. (1755-1793). Er hatte bereits vor und unabhän- Im September 1782 hatte Merck in seinem so- gig von Goethe den Zwischenkieferknochen genannten „Ersten Knochenbrief“ seine Funde am menschlichen Foetus wiederentdeckt, ihn fossiler Elefanten- und Rhinozerosknochen als „os maxillaire antérieur“ bezeichnet und publiziert. Daraufhin schrieb ihm Soemmer- seine Forschungsergebnisse 1780 publiziert ring am 8. Oktober, dass der Mensch keinen (Bräuning-Oktavio 1956: 86f). Goethe ent- Zwischenkieferknochen besitze: „Ich wünschte lieh sich aber erst am 16. Dezember 1820 die daß Sie Blumenbach nachsähen, wegen des Abhandlung aus der Weimarer Bibliothek, nach Ossis intermaxilliaris so caeteris paribus der einem Hinweis von Blumenbach (Bräuning- einzige Knochen ist den alle Thiere vom Affen Oktavio 1956: 99). Liegt sein späteres Ver- an selbst der orang outang eingeschlossen ha- schweigen der Abhandlung vielleicht darin be- ben und der sich hingegen nie beym Menschen gründet, dass er dann Vicq d’Azyr die Priorität findet, wenn sie diesen Knochen abrechnen der Entdeckung hätte zugestehen müssen, die so fehlt Ihnen nichts um nicht allem vom Men- tatsächlich aber nur eine Wiederentdeckung schen auf die Thiere Transferieren zu können“ war, was wiederum Goethe nicht wusste? Vicq (Dumont 1996:350). d’Azyr erfuhr 1785/86 durch den persönlichen Goethe hat öfters bei Merck Rat gesucht und Kontakt mit Camper und dessen Sohn Adrien erhalten, allerdings ohne ihn über seine For- von Goethes Abhandlung, erwähnte sie aber schungen am Zwischenkieferknochen zu infor- ebenfalls nicht in seinen Schriften, vermutlich mieren. Er hielt sie vor ihm geheim, vielleicht auch deshalb nicht, weil seine Priorität vor auch, damit beide beim Erwerb von fossilen Goethe unbestreitbar war. „Als Goethe 1805/06 Schädeln nicht in Konkurrenz traten? Mercks in seiner Allgemeinen Morphologie […] auf die „Zweiter Knochenbrief“ (15. Mai 1784) berührte Bemühungen verschiedener Männer eingehen schon fast das Zwischenkieferknochen-Thema. wollte, ‚deren als Beförderer der Morphologie zu gedenken’ sei, nennt er außer Camper, Blumenbach, Sömmerring, Kielmeyer, Cuvier und den neuesten Engländern auch Vicq d’Azyr und schreibt: ‚Man kann annehmen, daß alle diejenigen, welche in der compariert- ten Anatomie gearbeitet haben, auf die Mor- phologie losarbeiteten, sie mehr oder weniger vorbereiteten und veranlaßten’. Doch die Allge- meine Morphologie ist niemals erschienen, ob- wohl ein Teil schon abgesetzt und gedruckt war. Wir müssen uns also mit diesem allgemeinen Urteil Goethes über Vicq d’Azyr bescheiden“ (Bräuning-Oktavio 1956: 101). Der Zwischenkieferknochen und das Ende der Freundschaft mit Merck Mit dem Darmstädter Kriegsrat und naturwis- senschaftlich insbesondere auf den Gebieten Osteologie und Paläontologie forschenden Johann Heinrich Merck (Abb. 14) war Goethe seit Ende Dezember 1771 befreundet. Seit 1780 hatten naturwissenschaftliche Fragen, Abb. 14: Kriegsrat Johann Heinrich Merck, Ölgemälde zunächst im Bereich der Mineralogie, immer von Johann Ludwig Strecker, 1770. Familienarchiv Merck, mehr Raum im Briefwechsel der beiden einge- Darmstadt.
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