Der Asiatische Elefant in Kassel - Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen

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Der Asiatische Elefant in Kassel - Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen
PHILIPPIA           15/3         S. 241-262              14 Abb.              Kassel 2012

Rolf Siemon

Der Asiatische Elefant in Kassel
Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung
des Zwischenkieferknochens beim Menschen

Abstract                                             disziplinen, darunter die Paläontologie und die
In the 18th century the amount of scientific         Wissenschaft vom Menschen (Anthropologie
descriptions and research on living and fos-         und Ethnologie). Insbesondere anatomische
sil, regional and exotic plants, animals and         Untersuchungen lieferten wichtige Erkennt-
humans was increasing rapidly. New findings          nisbausteine, darunter auch die am Kasseler
were discussed against the background of the         ­Elefanten. Der Zwischenkieferknochen, der im
generally accepted genesis in the Bible. These        18. Jahrhundert als Unterscheidungsmerkmal
discussions were hold between specialists as          zwischen Mensch und Tier galt, verlor letzt-
Camper, Blumenbach und Soemmerring and                endlich seine Bedeutung und wurde zu einem
non-specialists as Merck and Goethe. They             weiteren Verbindungsglied zwischen beiden.
were actors of the evolving disciplines like
palae­ontology and human sciences (anthro-
pology and ethnology). Especially anatomical         Einleitung
studies provided important advances in know­         „Sonderbar, wie gütig die Vorsehung mir Ge-
ledge. Within this setting also the studies on the   legenheit zur Erweiterung meiner Kenntnisse
Kassel elephant had its place. The intermaxil-       verschafft. […] Kaum war das Kamel secirt, so
lare bone, at that time used to divide humans        crepirte der Elephant; leider war die Hitze so
from animals, lost its importance and became         groß, daß die Weichtheile nicht benutzt werden
a combing feature.                                   konnten. Der Landgraf ließ Hülfsleute, Hebe-
                                                     bäume etc. aus dem Arsenal zur Zergliederung
                                                     bewilligen. Aber es heißt etwas, einen Körper
Zusammenfassung                                      von 80 Centnern regieren […]. Das Skelet soll
Im 18. Jahrhundert kam es zu einer sprung-           hoffentlich gut gerathen und das Theater zie-
haften Zunahme wissenschaftlicher Beschrei-          ren. Leider war die Fäulniß durch die Wärme
bungen und Forschungen an lebenden und               so entsetzlich, daß das Gehirn ausfloß und so
fossilen, einheimischen und exotischen Pflan-        heiß war, daß es rauchte. Der Leib und Magen
zen, Tieren und Menschen. Die neuen Erkennt-         zersprang nach den eingeschnittenen Integu-
nisse wurden vor dem Hintergrund der bisher          menten mit furchtbarem Getöse. […] Bin ich
gültigen, überwiegend biblisch fundierten Ent-       nicht in Erlangung von Kenntnissen überglück-
stehungstheorie diskutiert. Fachwissenschaft-        lich?“ (Dumont 1996: 291f).
ler wie Camper, Blumenbach und Soemmer-
ring standen mit gelehrten Laien wie Merck           Dies schrieb Samuel Thomas Soemmerring
und Goethe im engen Austausch. Sie waren             (1755-1830) an eine unbekannte Person,
Akteure der im Entstehen begriffenen Fach-           vielleicht seinen Vater Johann Thomas Soem-
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Abb. 1: Der junge Kasseler Elefant. Radierung von Johann Heinrich Tischbein d. J., 1790.

merring (1701-1781) in Thorn an der Weichsel                   bis ins 19. Jahrhundert hinein eine so große
(Toruń), vermutlich in der zweiten Augusthälfte                Bedeutung zu? Warum hat Soemmerring in
1780 (Wenzel 1988a: 78). In Kassel erfolgte                    Kassel einen Elefanten seziert und warum gab
also die Sektion eines Asiatischen Elefanten.                  es überhaupt im 18. Jahrhundert ein derartig
Dieser Elefant (Abb. 1), dessen Skelett bis                    exotisches Tier in der landgräflichen Residenz-
heute erhalten blieb, müsste nach seinem Prä-                  stadt? Diesen Fragen soll in der vorliegenden
parator, dem Naturforscher und berühmtesten                    Arbeit nachgegangen werden.
deutschen Anatom seiner Zeit, eigentlich als
„Soemmerring-Elefant“ bekannt sein. Soem-
merring hatte damit vermutlich als erster Natur-               Elefanten in Kassels Menagerien
forscher ein Ganzkörperpräparat eines Groß-                    Das später als Goethe-Elefant berühmt gewor-
säugers erstellt. Das Elefantenskelett wurde                   dene Großsäugetier lebte in Kassel in einer
allerdings als Goethe-Elefant berühmt, auf-                    landgräflichen Menagerie, vergleichbar einem
grund der osteologischen Studien des Dichters                  heutigen zoologischen Garten, der aber nicht
und Naturforschers Johann Wolfgang Goethe                      jedermann zugänglich war (Lehmann 2009:
(1749-1832) am Elefantenschädel.                               661). Belegt ist, dass bereits Landgraf Philipp
                                                               (1504-1567) 1538 ein Löwenpaar erwarb, das
Aus welchen Gründen untersuchte Goethe das                     vermutlich am Landgrafenschloss an der Fulda
Skelett des Kasseler Elefanten? Was ist ein                    gehalten wurde. Auch Landgraf Wilhelm IV.
Zwischenkieferknochen und warum kam ihm                        (1532-1592), der Begründer des Tierparks
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Sababurg, hielt exotische Tiere, darunter
Rentiere, Kamele und Affen. Unter Landgraf
Moritz (1572-1632) soll sich eine Menagerie am
ehemaligen Schlossgraben befunden haben.
Landgraf Karl (1654-1730) war der Begrün-
der der ersten größeren Menagerie in Kassel,
wobei er an die Familientraditionen anknüpfte.
Sein Interesse an Naturkunde und Naturfor-
schung war umfassend. Dazu zählten auch
lebende Tiere, und so entstand auf dem Areal
des heutigen Parkplatzes zwischen Auedamm
und Orangerieschloss ein umfangreicher Tier-
park mit exotischen Tieren. Er diente sicherlich
auch der Repräsentation, und zeitweise lebten
dort bereits Elefanten. Die Menagerie bestand
bis zum Tode Landgraf Karls 1730 und wurde
dann aus Kostengründen aufgelöst (zu den
exotischen Tieren seiner Menagerie siehe
auch Lehmann 2009, 2010).

1764 beschloss Landgraf Friedrich II. (1720-
1785), Landgraf Karls Enkel, eine Menagerie
unterhalb des Weinberges (vor dem Frank-
furter Tor) einzurichten. Die barocke Gestalt      Abb. 2: Samuel Thomas Soemmerring mit dem Zivilver-
des maximilianischen Gartens blieb dabei im        dienstorden der bayerischen Krone, ausgezeichnet am
Wesentlichen bestehen. Nur einige kleinere         11. Mai 1808. Ölgemälde von Wendelin Moosbrugger,
                                                   München um 1813. Privatbesitz. Foto: Harry Haase.
Bauten wurden für die neue Nutzung herge-
richtet – hier lebte auch der Asiatische Elefant
(Lehmann 2009: 85).
                                                   gleitet. Auf dem Weg von London nach Berlin
                                                   hielt er am 3. Dezember 1778 in der Kasse-
Forster und Soemmerring – Professoren              ler Societé des Antiquités, der Altertumsge-
am Collegium Carolinum                             sellschaft, einen Vortrag. „Damit hatte Forster
Besonders hervorzuheben ist das von Land-          einen unbeabsichtigten Erfolg: Schon am
graf Karl 1709 gegründete und im Ottoneum          Tag darauf bot ihm Minister Hans Martin von
angesiedelte Collegium Illustre Carolinum, das     Schlieffen eine Professur am Kasseler Colle­
von Landgraf Friedrich II. reformiert wurde und    gium Carolinum an“ (Uhlig 2010: 232).
durch seine Förderung eine Glanzzeit erlebte.
Eingerichtet anstelle einer Akademie der Wis-      Als in Kassel, zu dieser Zeit ein bedeutendes
senschaften, nahm es eine Zwischenstellung         medizinisches Ausbildungszentrum in den
zwischen Ritterakademie und Universität ein.       deutschen Fürstenstaaten, eine Anatomiepro-
(Mey 2010: 179). Am Collegium waren zeit­          fessur frei wurde, gab der Naturkundeprofessor
weise gleichzeitig bis zu 17 Professoren der       Forster seinem Freund Soemmerring (Abb. 2)
vier Fakultäten tätig und somit mehr als an den    Ratschläge für dessen Bewerbung. Dieser hat-
Landesuniversitäten.                               te 1778 in Göttingen sein Medizinstudium über-
Zu den angesehenen Gelehrten, die für Kas-         aus erfolgreich abgeschlossen und mit seiner
sel gewonnen werden konnten, zählte Georg          Dissertation über die Hirnnerven für Aufsehen
Forster (1754-1794). Gemeinsam mit seinem          unter den Fachwissenschaftlern gesorgt. Nach
Vater Reinhold Forster (1729-1798) hatte er        einer Bildungsreise durch Nordwestdeutsch-
als Naturforscher Kapitän James Cook (1728-        land, die Niederlande und Großbritannien, wo
1779) auf dessen zweiter Weltumsegelung be-        er in London die Familie Forster kennengelernt
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hatte, befand er sich nun auf der Suche nach       merring 1778 den berühmten Anatom, Arzt und
einer ersten Anstellung. Am 23 Mai 1779 er-        Naturforscher Camper auf dessen Landsitz
nannte Landgraf Friedrich II. Soemmerring          nahe Groningen besucht hatte, verband beide
zum ordentlichen Professor der Anatomie, und       ein enger wissenschaftlich-freundschaftlicher
am 14. August 1779 wurde in der Kasseler           Kontakt.
Unterneustadt, unter der Teilnahme von Soem-       Die Versorgung eines Elefanten in Kassel war
merring, dessen Arbeits- und Wohnstätte, das       sehr aufwändig und kostete damals im Jahr
modernste Anatomische Theater, eingeweiht          schätzungsweise 500 Goldtaler; eine bürger­
(Siemon 2001: 32f) – das erste Anatomische         liche Familie musste in derselben Zeit von
Institut in Deutschland hatte seine Geburts-       etwa 150 Talern leben. Der Kasseler Elefant,
stunde.                                            ein Liebling des Publikums, diente zeitweise
                                                   als Arbeitstier, wurde aber auch bei Opernauf-
In Kassel nutzte Soemmerring die vielfältigen      führungen in der Oberen Königsstraße einge-
Möglichkeiten der Forschung auf den verschie-      setzt. Als er von einem Auftritt im Opernhaus
densten Gebieten der Medizin, der verglei-         im August 1780 heimgeführt wurde, rutschte er
chenden Anthropologie und nicht zuletzt der        am steilen Auehang zur Fulda ab. Was für den
Naturkunde. Als es nach dem Tod des Land-          Elefanten tödlich endete, wurde für Soemmer-
grafen 1785 zur allmählichen Auflösung des         ring zu einem Glücksfall.
Collegiums kam, hatte das wissenschaftliche
Renommee des Multitalents Soemmerring              Nun bot sich ihm die einmalige Gelegenheit
(Siemon 2012) bereits eine solche Strahlkraft      einer bisher seltenen Elefantensektion. Zu
erreicht, dass er an die katholische Universität   denen, die Soemmerring beim Transport, der
in Mainz berufen wurde, die ihren glanzvollen
Aufstieg auch Soemmerring verdankte (Du-
mont 2005).

Soemmerrings Elefantensektion
In Kassel erhielt Soemmerring aus der land-
gräflichen Menagerie zahlreiche verendete
exotische Tiere zur Präparation. Seit Septem-
ber 1773 befand sich dort auch der junge, ver-
mutlich zwei Jahre alte Asiatische Elefant, der
auf Ceylon (Sri Lanka) eingefangen worden
war. Über die Niederlande und Bremen, stets in
Begleitung eines Tierhalters, gelangte er nach
Kassel und wurde hier in einem Elefantenhaus
untergebracht. Simon Louis du Ry (1726-
1799) berichtete, dass der Elefant bei seiner
Ankunft nicht viel größer als ein Esel und sehr
zahm gewesen sei. Wahrscheinlich war er ein
Geschenk von Prinz Wilhelm V. von Oranien
(1748-1806) an Landgraf Friedrich II. (Wenzel
1988a: 75f). Dieser unterhielt in der Nähe von
Den Haag eine gut ausgestattete Menagerie,
in der bereits ab 1769 ein Asiatischer Elefant
lebte. Nach dem Tod des Elefanten im Januar
1774 sezierte ihn der niederländische Anatom
                                                   Abb. 3: Die 1943 verbrannte Dermoplastik des Goethe-
Pieter Camper (1722-1789) (Lehmann 2009:
                                                   Elefanten beim Transport vom Naturkundemuseum zum
92). Dies war die erste, wirklich wissenschaft-    Landgrafenmuseum in Kassel am 26. September 1938.
lich zu nennende Elefantensektion. Seit Soem-      Kasseler Neueste Nachrichten vom 27.9.1938.
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Sektion und anschließender Präparation hal-
fen, gehörte Carl Schildbach (1730-1817), Tier-
präparator und Aufseher in der Menagerie des
Landgrafen (Feuchter-Schawelka 2012).
Die Haut des Elefanten wurde von Schildbach
mit Holzstückchen ausgefüllt (Abb. 3), das Ske-
lett von Soemmerring präpariert und ab 1780
im Museum Fridericianum ausgestellt. An sei-
nen Freund Kriegsrat Johann Heinrich Merck
(1741-1791) in Darmstadt berichtete er voll
Stolz über sein Elefantenpräparat und rühmte
die Deutlichkeit der Knochennähte am Schä-
del, die bei dem entsprechenden Exemplar im
Besitz von Blumenbach in Göttingen so nicht
zu sehen seien.
Mehrfach wurde in der Literatur behauptet,
Soemmerrings Präparation sei nicht qualitätvoll
gewesen. Doch hat das Präparat zu seiner Zeit,
wie sich belegen lässt, anders ausgesehen.           Abb. 4: Das von Soemmerring präparierte Skelett des
Soemmerrings Liste der Präparate des anato-          Goethe-Elefanten in der neugestalteten historischen
mischen Theaters führt bei den „Knochen von          Dauerausstellung im Naturkundemuseum Kassel.
                                                     Foto: Peter Mansfeld.
Thieren“ an erster Stelle an: „Ein vortreffliches
Elephanten-Scelet, von 9 Fuß Höhe, durch
seine natürliche Bänder zusammenhangend“             er doch im Laufe seines Lebens Probleme
(Wenzel 1988a: 80). Das heute durch Metall­          der verschiedensten Fachgebiete: Geologie,
stützen aufrecht gehaltene Knochengerüst             Mineralogie, Zoologie, Botanik, Optik und
(Abb. 4) muss allerdings von Beginn an durch         Meteorologie (Wyder 1998: 11). Bereits in
Stützen stabilisiert worden sein, denn alleine       Leipzig, wo er auf Wunsch des Vaters 1765-
hätte es keine Standfestigkeit gehabt.               68 Jura studierte, erhielt er durch Gespräche
                                                     mit Kommilitonen der Medizin Kenntnisse von
                                                     den drei großen Vertretern der Naturwissen-
Der Naturforscher Goethe                             schaft: Carl von Linné (1707-1778), Georges
Goethe (Abb. 5) kämpfte in wissenschaftlichen        Louis Leclerc Comte de Buffon (1707-1788)
Kreisen stets gegen das Vorurteil, dass er die       und Albrecht von Haller (1708-1777), die mit
Natur vor allem als Dichter betrachten würde         ihren enzyklopädischen Werken sozusagen
und seine naturwissenschaftlichen Werke nur          die Summe des damaligen Wissens über die
Nebenprodukte seiner dichterischen Tätigkeit         Natur repräsentierten (Eck 2008, Feuerstein-
seien. So urteilte er rückblickend: „Seit länger     Herz 2009). Als Goethe 1770/71 in Straßburg
als einem halben Jahrhundert kennt man mich,         sein Studium der Jurisprudenz abschloss, hat-
im Vaterlande und auch wohl auswärts, als            te er auch Vorlesungen in Anatomie und Chi-
Dichter und läßt mich allenfalls für einen sol-      rurgie besucht. Ernsthafte naturwissenschaft-
chen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerk-        liche Forschungen startete er erst nach seiner
samkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen       Übersiedlung nach Weimar 1775 und datierte
physischen und ihren organischen Phäno-              deren Beginn selbst in das Jahr 1780, während
menen, emsig bemüht und ernstlich angestell-         seiner Lektüre von Buffons „Naturgeschichte“
te Betrachtungen stetig und leidenschaftlich         – „Die Frage nach der Entstehung und Entwick-
im stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein   lung der Erde und der Lebewesen […] und das
bekannt noch weniger mit Aufmerksamkeit be-          Studium der Fossilien, von dem Johann Hein-
dacht worden“ (Kuhn 1964: 337). Seine viel-          rich Merck anregend zu berichten wußte, ge-
seitige Forschung verstärkte zudem mit der           ben den Anreiz, das beim Menschen Gelernte
Zeit Goethes Ruf als Dilettanten, bearbeitete        auf die Tiere zu übertragen“ (Kuhn 1977: 475).
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Anatomische Untersuchungen unter
Anleitung von Loder in Jena – Besuche
in Göttingen und Kassel
Im Juli 1780 wurde der Jenaer Anatomiepro-
fessor Justus Christian Loder (1753-1832) von
seinem Landesherrn nach Weimar beordert,
um dort vor dem Herzog und dessen Frau,
Goethe, Johann Gottfried Herder (1744-1803)
und dem Arzt und späteren Jenaer Medizin-
professor Christoph Wilhelm Hufeland (1762-
1829) anatomische Demonstrationen anhand
von Kinderhirnen vorzunehmen.

Loder, Studienkommilitone von Soemmerring,
regte Goethe zu vertieften anatomischen Stu-
dien an. Als dessen Schüler betrieb Goethe
im Herbst und Winter 1781/82 Knochen- und
Muskellehre und sezierte auch selbst. Bereits
im Herbst 1780 war er durch Merck, der sich
intensiv mit Paläontologie beschäftigte, erst-
malig auf die Problematik des Zwischenkiefer-
knochens Os intermaxillare aufmerksam ge-
worden, inzwischen bei verschiedenen Tieren
nachgewiesen, sollte er dem Menschen aber
fehlen. Somit galt er als ein wichtiges Kriterium
bei der Trennung von Mensch und Tier, auch          Abb. 5: Goethe am Golf von Neapel, Ölgemälde von
in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht. Die-       Heinrich Christoph Kolbe, 1826. InvNr. GP 276, Kunst­
se, von der Kirche stark beeinflusste Lehrmei-      historisches Seminar, FSU Jena. Foto: Peter Scheere.
nung, wurde insbesondere von Camper vertre-
ten, für dessen Forschungen sich Goethe sehr
interessierte.                                      Interesse nahm er im Museum Fridericianum
                                                    auch das Elefantenskelett in Augenschein.
Im Herbst 1783, auf dem Rückweg von sei-
ner geologischen Harzreise, suchte Goethe in
Göttingen den Kontakt zu den dortigen Profes-       Goethe, Herder und der
soren, wobei insbesondere der Mediziner, Na-        Zwischenkieferknochen
turforscher und Anthropologe Johann Friedrich       In der Folgezeit stand Goethe insbesondere mit
Blumenbach (1752-1840) hervorzuheben ist.           dem Philosophen, Theologen und Schriftsteller
Dieser gilt als Begründer der modernen Natur-       Herder in intensivem Gedankenaustausch zu
forschung und war ebenfalls ein Studienfreund       naturgeschichtlichen Themen. Dieser schrieb
von Soemmerring, mit dem er zeitlebens in           an den ersten Büchern seiner „Ideen zur Philo-
engem Austausch stand. Anschließend reis­te         sophie der Geschichte der Menschheit“ (Kuhn
Goethe weiter nach Kassel. Als er am 14. Sep-       1977: 475f). Im vierten Buch behandelte Herder
tember 1779 erstmals Kassel aufgesucht hat-         die Beziehungen zwischen Orang-Utan und
te, standen der Austausch mit Forster sowie         Mensch, wodurch der Zwischenkieferknochen
Besuche des Museum Fridericianum und der            erst seine besondere Berühmtheit erlangte.
Menagerie im Vordergrund. Bei seinem zwei-          Sein Fehlen beim Menschen wertete Herder
ten Besuch vom 30. September bis 5. Oktober         unter Berufung unter anderem auf Camper
1783 suchte Goethe sofort Soemmerring in der        und Blumenbach als Unterscheidungsmerkmal
Anatomie auf und erhielt von ihm zahlreiche         zwischen beiden, neben der unterschiedlichen
wissenschaftliche Anregungen. Mit großem            Stellung des Hinterhauptbeins und der feh-
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lenden Sprache beim Orang-Utan. Zwischen
1780 und 1784 stieß Goethe während des
Literaturstudiums oft auf den Zwischenkiefer-
knochen, ohne dessen Existenz im Sinne sei-
ner späteren Idee von der „Konsequenz des
Typus“ auch im Menschenschädel zu fordern
oder selbigen gar wiederentdeckt zu haben.
Gleichwohl war ihm durch Herders „Ideen“ der
Gedanke von der „Einheit des Typus“ mehrfach
begegnet.
Als Goethe seine Arbeit über den Zwischen-
kieferknochen anfertigte, war es in der
Wissenschaft noch selbstverständlich, dass
die in einer Reihe angeordneten Naturdinge,
deren Erscheinungsform stufenweise vonein­        Abb. 6: Menschlicher Oberkiefer von unten. Der rechte und
                                                  linke Zwischenkieferbereich sind farblich hervorgehoben.
ander verschieden war, als eine Entwicklung       Zeichnung nach Feneis 1993.
vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren
betrachtet wurde. Dies hatte der schweitzer
Naturforscher Charles Bonnet (1720-1793) in       eines veränderten Denkens. Bisher war es üb-
seinen „Contemplations de la nature“ von 1764     lich gewesen, die Welt als biblische Schöpfung
dargestellt und knüpfte damit an die Tradi­tion   zu betrachten, die seit dem Schöpfungsakt un-
an, zum Lob des biblischen Schöpfers die          verändert ablief (Sachtleben 1994: 106). Mit
Vollkommenheit der Natur darzustellen (Kuhn       dem nun beginnenden dynamischen Denken
1977: 482f). Gerade Herders Studien zu den        wurden diese vorgegebenen Grenzen über-
„Ideen“ erschlossen Goethe ein Weltbild, das      wunden. Dabei stellte sich die Frage, ob der
auf eine differenzierte Stufenlehre gegründet     Mensch eine besondere göttliche Schöpfung
war (Kuhn 1977: 483).                             sei, oder ob er sich in den Bau anderer Wirbel-
                                                  tiere einfügte, soweit es seinen anatomisch er-
                                                  kennbaren Körper betraf (Sachtleben 1994:
Besitzt der Mensch einen                          107).
Zwischenkieferknochen?
Goethe fiel auf, dass sich die Gelehrten in       So war die Behauptung, dass der Mensch sich
Widersprüche zwischen Begriffsbestimmun­          von der Reihe der Wirbeltiere, speziell von den
gen und anatomischen Befunden verwickelten.       Affen, die ihm in der Stufenfolge am nächsten
So hatten einige Forscher bereits den             standen, durch das Fehlen des Zwischenkie-
Zwischenkieferknochen beim Menschen fest-         ferknochens unterscheide, bisher nicht ver-
gestellt, andere bezweifelten dies. Die For-      wunderlich (Kuhn 1977: 484). Wenn aber nun
schungen jener Zeit hatten aber auch damit zu     der Nachweis dieses Knochens beim Men-
kämpfen, dass Bücher selten und teuer waren,      schen gelang, bedeutete dies nicht eine Unter-
und so gab es manchmal lange Dispute über         brechung der Stufenfolge, sondern, dass der
zum Teil Offensichtliches (Malec 1999: 110).      Mensch mit Blick auf seine Schädelanatomie
Schon in der Antike hatten einzelne Forscher      eine eigene Stellung innerhalb der Reihe der
den menschlichen Zwischenkieferknochen be­        Wesen einnimmt und ihm keine Sonderstellung
schrieben. Doch brauchte es noch Jahrhun-         zukommt. Im Gegensatz zum Menschen, bei
derte, bis dies letztendlich im 19. Jahrhundert   dem nur auf der Innenseite des Gaumens und
als allgemeingültig anerkannt wurde.              im Nasenboden (mehr oder weniger verwach-
                                                  sene) Nähte des Zwischenkieferknochens zu
Die Frage nach dem Zwischenkieferknochen          erkennen sind, zeigt der tierische Schädel auf
beim Menschen (Abb. 6) erhielt ihre tiefere Be-   der Außenseite des Oberkiefers eine deut-
deutung durch den Beginn einer tiefgreifenden     liche Facial- oder Gesichtsnaht. Diese ist beim
Wandlung der Sicht auf die Natur, aufgrund        Menschen manchmal noch embryonal zu er-
Der Asiatische Elefant in Kassel - Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen
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                                                           bei Ameisenbär, Elefant und Delphin auch beim
                                                           Menschen fehlen. Haller, Camper und Blumen-
                                                           bach definierten den Zwischenkieferknochen
                                                           als Knochen, der die oberen Schneidezähne
                                                           enthalte, wobei Camper dem Ameisenbär sel-
                                                           bigen zugestand, während er dem Elefanten,
                                                           der Schneidezähne besitzen sollte, einen
                                                           Zwischenkieferknochen absprach. Für Goethe
                                                           war es unverständlich, warum der Mensch mit
                                                           seinen Schneidezähnen keinen Zwischenkie-
                                                           ferknochen besitzen sollte. Auch beim Wal-
                                                           ross (Abb. 7) gingen die Be­obachtungen der
                                                           Naturforscher ausein­ander, so dass Goethe
                                                           dieses in seine Unter­suchungen mit einbezog.
                                                           Je mehr Kupfer­tafeln verschiedener Tiere und
                                                           menschlicher Embryo­nen von verschiedenen
                                                           Forschern Goethe studierte, desto mehr Ver-
                                                           wirrung entstand. Noch 1824 berichtete er
                                                           rückblickend von den „Sinn verwirrenden Zu-
                                                           ständen“, in die er sich 1784 versetzt gefühlt
                                                           habe und aus denen eine Befreiung nur mög-
                                                           lich war, wenn er selbst Tier- und Menschen-
                                                           schädel in Jena vergleichen würde (Bräuning-
Abb. 7: Halbe obere Kinnlade, junges Walross, (Original-
                                                           Oktavio 1956: 19).
präparat Goethes). Sign.: OZP 21. Museum anatomicum
Jenense – Anatomische Sammlung der Medizinischen
Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.          Die Ausleihe des Kasseler
                                                           Elefantenschädels
                                                           So verglich Goethe ab dem 27. März bis in den
kennen (Wyder 1998: 183). Aus der unter-                   November 1784 hinein Tier- und Menschen­
schiedlich guten Sicht- und Nachweisbarkeit                schädel. Am 14. Mai 1784 schrieb er an
der einzelnen Nähte wurde oft gefolgert, dass              Soemmerring: „Für die mir kommunicirten
der Mensch keinen Zwischenkieferknochen                    Camperischen Zeichnungen [damals noch un-
besitze.                                                   veröffentlichte Tafeln, die unter anderem einen
                                                           Elefantenschädel mit ansitzenden Muskeln
Als Goethe am 27. März 1784 in Jena den                    zeigen] dancke ich auf das beste, und mögte
Zwischenkieferknochen am Menschenschädel                   Sie um eine neue Gefälligkeit ersuchen. Die
(wieder-)entdeckte, schrieb er noch in dersel-             Zoologie [vergleichende Anatomie] macht mir
ben Nacht an Herder: „... muß ich Dich auf das             manche angenehme Stunde und Sie könnten
eiligste mit einem Glücke bekannt machen, das              dieselben sehr vermehren, wenn Sie mir den
mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder              Schädel Ihres Elephanten Skelettes nur auf
Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche             vier Wochen borgen wollten […]. Könnte ich
Freude macht – das os intermaxillare am Men-               dabey den Schädel des Nilpferdes erhalten,
schen! Ich verglich mit Lodern Menschen- und               der, wenn ich nicht irre, im Museo liegt, so
Tierschädel, kam auf die Spur und siehe da ist             wäre mir es um desto angenehmer. Anfang
es“ (Kuhn 1977: 287). Diese Entdeckung war                 Juni gehe ich nach Eisenach, könnte ich diese
für Goethe so wichtig, da sie Herders Vorstel-             Köpfe dort antreffen, so brauchten sie nicht den
lungen über die Einheit der Natur bestätigte               Weeg hieher zu machen, sondern ich schickte
(Wyder, 1998: 182). Nach Blumenbach sollte                 sie Ihnen von Eisenach gleich wieder zurück“
der Zwischenkieferknochen, den alle Affen und              (Wenzel1988b: 35).
die meisten anderen Säugetiere hätten, außer
Der Asiatische Elefant in Kassel - Goethes anatomische Studien und die Bedeutung der Wiederentdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen
Der Asiatische Elefant in Kassel                                                                           249

                                                                Wilhelm Waitz (1766-1796) zeichnen ließ. Bis
                                                                1785 ist der Schädel immer wieder Thema im
                                                                Briefwechsel zwischen Goethe und Soemmer-
                                                                ring. Im Oktober 1784 befand er sich wieder in
                                                                Kassel – Soemmerring aber kurz darauf bereits
                                                                als Professor der Anatomie und Physiologie in
                                                                Mainz.

                                                                Die „Homologisierung“ des
                                                                Zwischenkiefers
                                                                Durch Herder war Goethe auch auf die Aus-
                                                                sage des Londoner Arztes und Anatomen
                                                                Edward Tyson (1650-1708) gestoßen, dass
                                                                nicht alle Affen das Os intermaxillare besitzen.
                                                                Goethe hingegen erkannte, dass die äußere
                                                                Sutur desselben, die Facialnaht, bei manchen
                                                                Affen kaum sichtbar ist. Erst nachdem er den
                                                                Schädel einer Meerkatze gegen das Licht ge-
                                                                halten hatte, trat sie hervor. Goethe, der sich
                                                                bis 1785 selbst noch als Laie auf seinem
                                                                Forschungsgebiet bezeichnete, begann erst
Abb. 8: Der Schädel des Goethe-Elefanten, hier ohne             nach seiner Entdeckung die Fachliteratur ge-
Unter­kiefer. Gut sichtbar ist der tödliche Schädelbruch, den   nauer zu studieren, welche er bisher nur aus
sich das Tier bei seinem Sturz am Auehang zuzog. Foto:
Peter Mansfeld.
                                                                Zitatstellen kannte. Gemeinsam mit Loder
                                                                untersuchte Goethe in Jena am 27. März
                                                                1784 Tier- und Menschenschädel, auch von
Soemmerring kam der Leihanfrage nach und                        menschlichen Embryonen, drehte sie von sich
bereits einen Monat später schrieb Goethe:                      ab und betrachtete sie von unten. Dabei sah
„Sie haben mir durch Uebersendung des Ele-                      er als Grenze des Zwischenkieferknochens
phanten Schädels ein groses Vergnügen ge-                       gegen die Gaumenfortsätze des Oberkiefers
macht. Er ist glücklich angelangt, und ich ver-                 eine quere Naht, die sich zwischen dem Eck-
wahre ihn in einem kleinen Cabinete, wo ich                     zahn und dem zweiten Schneidezahn verliert,
ihm heimlich die Augenblicke widme, die ich                     die Mensch und Tier gemeinsame Sutura
mir abbrechen kann, denn ich darf mir nicht                     incisiva. Systematisch betrieb Goethe dann bis
merken lassen, daß ein solches Ungeheuer                        zum Herbst 1784 Schädeluntersuchungen und
sich in’s Haus geschlichen hat [die Hauswirtin                  hielt sie in einer Übersicht fest. Während sei-
ließ er glauben, es sei Porzellan in der großen                 ner vergleichend-anatomischen Forschungen
Kiste, damit sie ihn nicht für verrückt hält]. Mein             kam er durch zahlreiche Einzelbeobachtungen
Wunsch wäre nur ihn mit nach Weimar nehmen                      dazu, den die Schneidezähne tragenden Ober-
zu können […]. Ich mögte ihn gar gerne mit                      kieferabschnitt des Menschen, den Zwischen-
einem grosen Schädel, den wir besitzen, und                     kiefer der Säugetiere und die entsprechenden
mit anderen Thierschädeln vergleichen, be-                      Knochen der übrigen Wirbeltiere als morpho-
sonders da meine Hoffnung, die meisten Su-                      logisch gleichwertig anzusehen, sie somit zu
turen und Harmonien unverwachsen zu finden,                     homologisieren – die Homologisierung wurde
glücklich eingetroffen ist“ (Wenzel 1988b: 38).                 erst 60 Jahre später von dem britischen Ana-
Zwar hatte Soemmerring ihm nur den Ele-                         tom und Zoologen Richard Owen (1804-1892)
fantenschädel (Abb. 8) und nicht den eines                      in die Wissenschaft eingeführt. Goethe fand
Nilpferdes geschickt, erlaubte aber wohl die                    also eine grundsätzliche Übereinstimmung von
Überführung des Elefantenschädels nach                          Körperstrukturen aufgrund des gemeinsamen
Weimar, wo Goethe ihn von Johann Christian                      evolutionären Ursprungs.
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Er konnte nun im Einzelnen den oberen Teil       Goethe beschäftigte sich parallel auch mit
der Innennaht beim Menschen wiederent-           der Ethik des niederländischen Philosophen
decken, den Zwischenkiefer beim Walross          Baruch de Spinoza (1632-1677), der bemerkte,
nachweisen und ihn beim Ele­fanten in seiner     dass in der Natur nichts geschieht, was fehler-
Bedeutung zum Stoßzahn darstellen. Zudem         haft sei, denn die Natur sei überall die gleiche
war es ihm aufgrund seiner Beobachtungen         und überall ist ihre Macht und Wirkungskraft ein
möglich, dem Walross nun vier und dem            und dieselbe – die Gesetze und Regeln der Na-
Kamel zwei Schneide­zähne zuzuschreiben.         tur sind überall dieselben (Bräuning-Oktavio
Goethes bleibendes Verdienst auf dem Ge-         1956: 44). Das nannte Goethe die Harmonia
biet der vergleichenden Anatomie ist die Ent­    naturae im Sinne einer Harmonie aller Wesen
deckung der Zwischen­kiefer-Homologisierung      untereinander und als Harmonie jedes Einzel-
bei den Wirbeltieren, inklusive des Menschen     wesens mit seinesgleichen. Diesen Gedanken
(Kiesselbach 1982: 9).                           hatte bereits Buffon 1753 mit anderen Worten
                                                 formuliert. Wenn man z.B. Pferd und Mensch,
                                                 auf den ersten Blick voneinander verschie-
Prachthandschrift, Harmonia naturae und          den, vergleicht, findet sich im Skelettbau eine
Konsequenz des Typus                             seltsame, fast völlige Übereinstimmung der
Nach seiner (Wieder-)Entdeckung des Zwi-         Teile. Durch Veränderungen der Lage, Verlän-
schenkieferknochens arbeitete Goethe daran,      gerungen und Zusammenlegung bestimmter
sie den Fachwissenschaftern in einer Abhand-     Knochen lässt sich das Skelett des Menschen
lung mitzuteilen. Bedingt durch seine eigent-    in das des Pferdes verwandeln (Bräuning-
liche Arbeit und einige Reisen kam er nicht      Oktavio 1956: 44f).
so schnell voran, wie zunächst gedacht. Mitte
Dezember 1784 wurde eine Reinschrift mit         Am 11. November 1784 teilte Goethe Herder
lateinischer Übersetzung und Zeichnungen         seine „Entdeckung“ der Harmonia naturae mit
fertiggestellt. Goethe schickte sie an Merck,    (Grumach & Grumach 1966: 499, Kuhn 1977:
der sie über Soemmerring an Camper leiten        302). Er beabsichtigte nun, seine Abhandlung
sollte. Ein anderes Exemplar ging an Herzog      zur Stellungnahme an Soem­merring und Cam-
Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745-     per zu schicken, wobei er sie, in der falschen
1804) (Kuhn 1977: 476f).                         Annahme, Camper verstehe kein Deutsch, ins
Dies war der erste, später überarbeitete Teil    Lateinische übersetzen ließ. In der Einleitung
einer dreiteiligen Abhandlung, die Goethe erst   führte er aus: „Einige Versuche osteologischer
1819 vollendete und 1820 in seinen Morpho-       Zeichnungen sind hier in der Absicht zusam-
logischen Heften veröffentlichte. Ursprünglich   men geheftet worden, um Kennern und Freun-
hatte er geplant, diesen ersten Teil als einen   den vergleichender Zergliederungskunde eine
an Soemmerring gerichteten Brief abzufassen.     kleine Entdeckung vorzulegen die ich glaube
Aufgrund eines Disputs zwischen Soemmer-         gemacht zu haben. Bei Tierschädeln fällt es
ring und Loder unterließ er es allerdings, da    gar leicht in die Augen, daß die obere Kinn­
Loder durch diese Form eifersüchtig geworden     lade aus mehr als einem Paar Knochen beste-
wäre. Durch die Forschungsergebnisse ver-        het. Ihr vorderer Teil wird durch sehr sichtbare
schiedener Anatomen erhielt Goethe vielfältige   Nähte und Harmonien mit dem hinteren Teile
Anregungen, die ihn immer wieder zu Abände-      verbunden und macht ein Paar besondere
rungen seines Manuskriptes veranlassten. Erst    Knochen aus. Dieser vorderen Abteilung der
1831 wurden auf insgesamt fünf Kupfertafeln      oberen Kinnlade ist der Name Os intermaxil­
im 15. Band der Nova Acta Leopoldina auch die    lare gegeben worden. Die Alten kannten schon
zugehörigen Abbildungen publiziert, nachdem      diesen Knochen und neuerdings ist er beson-
bereits 1824 im 12. Band drei Tafeln mit Ab-     ders merkwürdig geworden, da man ihn als
bildungen des Zwischenkieferknochens beim        ein Unterscheidungszeichen zwischen dem
Elefanten (Abb. 9) erschienen waren (Bräun-      Affen und Menschen angegeben. Man hat ihn
ing-Oktavio 1954: 289f).                         jenem Geschlechte zugeschrieben, diesem
                                                 abgeleugnet, und wenn in natürlichen Dingen
Der Asiatische Elefant in Kassel                                                                                  251

Abb. 9: Der Schädel des Kasseler Elefanten in verschiedenen Ansichten. Kupferstiche von Johann Heinrich Lips 1797/98
(linke Seite) und Johann David Schubert 1823 (rechte Seite) für Goethes Publikation von 1824.

nicht der Augenschein überwiese, so würde ich                auf Publizität, weshalb er auch die besten
schüchtern sein aufzutreten und zu sagen, daß                Zeichnungen zunächst noch zurück hielt, um
sich diese Knochenabteilung gleichfalls bei                  sie später gesondert zu veröffentlichen (Kuhn
dem Menschen finde“ (Kuhn 1954:154).                         1977: 477). Goethe wollte erst die Meinungen
                                                             der angesehenen Fachgelehrten abwarten und
Seine Abhandlung, die so genannte Pracht-                    zudem war es ihm nicht möglich, neben sei-
handschrift, bezeichnete er im Titel als „Versuch            nen Staatsgeschäften die umfangreiche Fach-
aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der                 literatur vollständig zu bewältigen. Er hoffte auf
Zwischenknochen der obern Kinnlade dem                       Zustimmung und ein Angebot, seinen Aufsatz
Menschen mit den übrigen Tieren gemein sei“                  in die Fachliteratur einzurücken. Doch die für
ohne Nen­nung seines Namens als Verfasser.                   Camper hergestellte Prachthandschrift blieb
Er sah sie als ein Konzept an, ohne Anspruch                 lange unterwegs. Sie wurde trotz weitläufiger
252                                                                                       Rolf Siemon

                                                        renden deutschen Rezensionsorgan, davon
                                                        ab. Soem­merring, dort wichtigster Rezensent
                                                        medizinischer Literatur in der Nachfolge Hal-
                                                        lers, hatte dessen Feststellungen teilweise
                                                        verzerrt, falsch dargestellt und zu bloßen Ver-
                                                        mutungen werden lassen, weil sie der Lehrmei-
                                                        nung des von ihm sehr geschätzten Camper
                                                        widersprachen (Bräuning-Oktavio 1956: 59,
                                                        Enke 1995: 200ff). Durch die französische Ab-
                                                        handlung wurde Goethe allerdings angeregt,
                                                        im Mai/Juni 1786 erneut Schädel zu unter­
                                                        suchen und ließ sich dazu per Fernleihe auch
                                                        Bücher aus Göttingen kommen. Am 17. oder
                                                        18. Juli 1786 schloss er sein Manuskript ab
                                                        und versiegelte es. Zusammen mit dem zwei-
                                                        ten und dritten Teil der Abhandlung diente es
                                                        ihm dann 33 Jahre später als Druckvorlage für
                                                        seine Erstveröffentlichung.

                                                        Durch botanische Studien gelangte Goethe
                                                        1785/86 zur Lehre von der Konsequenz des
                                                        Typus. Hiermit ist die wesentliche Form ge-
Abb. 10: Johann Gottfried Herder, Ölgemälde von Anton   meint, die sich beständig erhält, auch wenn sie
Graff, 1785. Gleimhaus, Halberstadt.
                                                        variiert (Bräuning-Oktavio 1956: 65). „Dieses
                                                        alles würde ein völlig ausgearbeiteter Typus
Korrespondenzen darüber nur mit begrenztem              schon bestimmen und festsetzen: inwiefern ein
Verständnis aufgenommen (Kuhn 1977: 477).               jeder Teil notwendig und immer gegenwärtig
Im April 1786 erhielt Goethe Kenntnis von einer         sei, ob er sich manchmal nur durch eine wun-
im Monat zuvor publizierten Arbeit des franzö-          derbare Gestalt verberge durch eine Verwach-
sischen Anatom Félix Vicq d’Azyr (1748-1794)            sung der Suturen zufällig verstecke in vermin-
über Anatomie und Physiologie. Dieser hatte             derter Zahl erscheine sich bis auf eine kaum
den Zwischenkieferknochen beim Menschen                 zu erkennende Spur verliere […] so wird die
bereits 1780 eindeutig festgestellt. Goethe             größte Aufmerksamkeit derjenigen, welche be-
schrieb daraufhin am 12. Mai an seine enge              sonders den osteologischen Typus ausarbei-
Freundin Charlotte von Stein (1742-1827): „Es           ten, dahin gerichtet sein daß sie die Knochen­
ist Wort für Wort was mir der gute Geist schon          abteilungen auf das schärfste und genauste
lange sehen lassen und ich habe große Lust              auf­suchen, es mögen solche an einigen Tier­
mit Herrn Vicq d’Azyr mich zu liieren“ (Kuhn            arten in ihrem ausgewachsenen Zustande sich
1977: 334) und zuvor am 30. April an Herder             deutlich sehen lassen oder bei andren nur an
(Abb. 10): „Da Camper noch immer schweigt               jüngeren Tieren vielleicht gar nur an Embryo­
freut mich nur daß mir der Franzose mit lauter          nen zu erkennen sein. […] Die falschen oder
Stimme entgegen kommt“ (Kuhn 1977: 333).                schwankenden Ausdrücke, der Mensch habe
                                                        kein os intermaxillare, der Elefant habe kein
Zunächst dachte er daran, die Forschungs-               Tränenbein, der Affe habe auch kein Tränen-
ergebnisse von Vicq d’Azyr für seine Zwecke             bein, werden nicht mehr vorkommen. Man wird
und gegen Soemmerring zu verwenden. Die-                diese Teile sorgfältig aufsuchen und weil man
ser hatte sich gegenüber Goethes (Wieder-)              gewiß daß man sie finden müsse nicht eher ru-
Entdeckung inzwischen ablehnend geäußert.               hen bis man sie ausgefunden und ihre Gestalt
Allerdings hielt ihn eine Besprechung der Pu-           ihr Verhältnis gegen die übrigen Teile genau
blikation von Vicq d’Azyr vom April 1786 in             bezeichnet. Selbst, wenn man die Konsequenz
den Göttinger gelehrten Anzeigen, dem füh-              der Gestalt nur im allgemeinen ansieht, sollte
Der Asiatische Elefant in Kassel                                                                253

man schon ohne genauere Erfahrung schlie-          Mensch schickte, blieb dieser bei seiner ab-
ßen daß lebendige einander höchst ähnliche         lehnenden Haltung, die er auch seinem väter­
Geschöpfe aus einerlei Bildungs-principio her-     lichen Lehrmeister Camper mitteilte – dem
vorgebracht sein müßten“ (Kuhn 1964: 77ff).        Zwischenkieferknochen komme ein rein tieri­
                                                   scher Charakter zu.
                                                   In seiner 1791 erstmalig erschienenen
Die Reaktionen der Fachgelehrten                   „Knochen­lehre“ leugnete Soem­merring jede
                                                   Spur einer Spalte oder Naht desselben beim
Soemmerring                                        menschlichen Schädel und lehnte damit so-
Bei den Reaktionen der Fachgelehrten auf           gleich die seit Jahrhunderten zugestandene
Goethes Zwischenkiefer(wieder)entdeckung           Sutura incisiva ab. Zugleich bemerkte er aber in
beim Menschen ist zunächst Soemmerring             einer Fußnote: „Goethe’s sinnreicher Versuch
zu nennen, der Goethes Prachthandschrift           aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der
über Merck erhalten hatte. Als er sie Merck        Zwischenknochen der Oberkinnlade dem Men-
am 27. Januar 1785 zurück schickte, lehnte         schen mit den übrigen Thieren gemein sey, von
er in einem Begleitbrief Goethes Entdeckung        1785. mit sehr richtigen Abbildungen, verdiente
beim Menschen ab – Hinsichtlich der Ver-           öffentlich bekannt zu seyn“ (Hildebrand 1997:
wachsungen der beiden Suturen behauptete           190). Gerade diese Abbildungen belegten aber
Soemmerring, dass beide niemals vorhanden          die Existenz des Zwischenkieferknochens
gewesen seien: „Hier ist Goethe in manchem         beim Menschen.
Betracht sehr artiger Aufsatz. Die Hauptidee       In seinem Handexemplar notierte Soemmer-
hatte schon Blumenbach. Im § der sich an-          ring später: „daß sich schlechterdings nie ‚im
fängt ‚Es wird also kein Zweifel’ – sagt er, ‚da   normalen Bau des’ Menschen die geringste
die übrigen (Grenzen) verwachsen’, schade          Spur einer Spalte ‚oder Naht’ [finde und ...]
nur daß diese niemals da gewesen. Ich habe         dass bisweilen bey den sogenannten Hasen-
nun Kinnbacken von Embryonen von 3 Mona-           scharten dieses Stück vom Oberkiefer getrennt
then biß zum Adulto vor mir, und an keinem ist     erscheint, kann nicht dazu berechtigen, ein os
jemals eine Grenze vorwärts zu sehen gewe-         intermaxillare [...] im normalen Baue anzu-
sen. Und durch den Drang der Knochen gegen         nehmen“ und strich die Fußnote (Hildebrand
einander die Sache zu erklären? – Ja wenn die      1997: 475f).
Natur als ein Schreiner mit Keil und Hammer
arbeite!“ (Dumont 1997: 113). Dabei bezieht        Zwar lehnte Soemmerring Goethes (Wieder-)
sich Soemmerring allerdings nur auf die Facial-    Entdeckung ab, veröffentlichte dessen Unter-
naht, welche in seiner Schädelsammlung vom         suchungen aber als erster 1785 in der zweiten
dreimonatigen Embryo bis zum Erwachsenen           Auflage seiner Schrift „Über die körperliche
nicht erkennbar war. Deren Vorhandensein           Verschiedenheit des Negers vom Europäer“,
hatte Goethe allerdings auch gar nicht be-         die insbesondere auf seinen vergleichend-
hauptet. Mit keinem Wort geht Soemmerring          anatomischen und anthropologischen For-
auf Goethes Zeichnungen ein, auf denen dieser      schungen in Kassel basierte. Darin stellt er fest
die Abgrenzung des Zwischenkiefer­knochens         „…das alle vierfüßige Thiere, alle Affenarten
beim Menschen durch zwei Grenzen, die Sutura       mit eingeschlossen, als einen von allen üb-
incisiva und die Fissura intermaxillaris nasalis   rigen Gesichtsknochen durchaus getrennten
dargestellt hat. Weiterhin stellte Soemmerring     abgesonderten Knochen besitzen […] daher
fest, dass die Hauptidee bereits Blumenbach        auch dieser Zwischenknochen (os interma-
gehabt habe, was allerdings nicht ganz nach-       xillare) ein wahrer Thiercharacter scheinet“
vollziehbar ist. Blumenbach hatte den mensch-      (Oehler-Klein 1998: 196) und bemerkt in der
lichen Zwischenkieferknochen bei Embryonen         dazu­gehörigen Anmerkung: „Herr Geheime
nur als Spur desselben bezeichnet.                 Rath v. Goethe hat die Güte gehabt, mir sei-
                                                   nen schönen Aufsatz über diesen Knochen
Auch nachdem Goethe Soemmerring über               in der Handschrift mitzutheilen, den ich sehr
Merck Schädelknochen vom Walross und               deutlich nun auch bey dreyen Arten von Amei-
254                                                                                           Rolf Siemon

senbären […] so wie bey allen mir bekannten
Säugethieren, finde“ (Ohler-Klein 1998: 196).
Trotz seiner ablehnenden Haltung in der Frage
des menschlichen Zwischenkieferknochens
blieb Goethe Soemmerring aufgrund der zahl-
reichen Anregungen und des fruchtbaren Aus-
tausches immer zu Dank verpflichtet.

Camper
Dem Zwischenkieferknochen hatte Camper
(Abb. 11) eine Sonderstellung im Skelett zuge­
wie­sen, da dieser nach seiner Ansicht der ein-
zige Knochen sei, der beim Menschen fehle
und diesen somit von den Tieren unterscheide.
Goethes Manuskript erhielt er erst am 15. Sep-
tember 1785 und berichtete bereits am Folge-
tag an Merck, dass er es mit großer Neugierde
gelesen habe. Camper bewunderte die sauber
ausgeführten Zeichnungen und lobte den Auf-
bau der Abhandlung. Goethes These vom Zwi-          Abb. 11: Der Anatom, Arzt und Naturforscher Pieter
schenkieferknochen beim Menschen lehnte er          (Petrus) Camper. Aus Gottlieb & Berg 1942.
allerdings ab, während er Walross und Kamel
selbigen nun zugestand (Bräuning-Oktavio
1956: 70).                                          the aber nichts mit. Merck bat Camper Ende
Da Camper die lateinische Übersetzung an            1785, Goethes Manuskript als eine persön-
vielen Stellen unverständlich blieb, hatte er       liche Huldigung entgegen zu nehmen. Im Mai
sich an den deutschen Text gehalten. Bei an-        1786 wandte Camper sich direkt an Goethe
schließender Untersuchung verschiedener             und lud ihn mit seinem jungen talentierten
Tierschädel mochte Camper dem Menschen ei-          Zeichner Waitz zu sich nach Franeker ein. Erst
nen Zwischenkieferknochen nicht zuerkennen,         durch diesen Brief erfuhr Goethe, dass Cam-
auch nicht nach der Untersuchung mensch-            per schon acht Monate zuvor Merck sein Urteil
licher Embryonen, was er mit der fehlenden          mitgeteilt hatte. Goethe scheint Campers Ein-
Facialnaht begründete. Goethe erklärte den          ladung zugestimmt zu haben, befand sich aber
hohen Grad der Verwachsung des Zwischen-            zunächst in Karlsbad (Karlovy Vary) und dann
kieferknochens mit den Nachbarknochen mit           auf dem Weg nach Italien. Durch Campers Tod
dem engen Raum, der den keimenden Zähnen            am 7. April 1789 kam es nicht mehr zu einer
im menschlichen Kiefer im Vergleich mit einer       persönlichen Begegnung.
tierischen Schnauze nur zur Verfügung steht.
Daher sei die Facialnaht meistens nicht mehr        Nach Soemmerring hatte mit Camper nun
erkennbar. Goethes Hauptthese hatte Camper          die zweite Fachautorität Goethes Arbeit öf-
offenbar erschüttert, sie als Angriff auf die Ab-   fentlich in seinen Schriften genannt (am 11.
stammungslehre empfunden, denn er lehrte            Juni 1786 in Nieuwe Algemeene Vaderland-
seit über einem Jahrzehnt, dass der fehlende        sche Letter­oefeningen) und darauf verwiesen,
Zwischerkieferknochen beim Menschen das             dass Goethe ihm den Zwischenkieferknochen
Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch              beim Walross zuerst zeigte sowie dabei auch
und Tier, im besonderen zwischen Affe und           die schönen Zeichnungen der vortrefflichen
Mensch sei (Bräuning-Oktavio 1956: 71).             Abhandlung gelobt. Wenngleich er Goethes
                                                    Hauptthese ablehnte, zeigt die Art der Ausei-
Von Campers Ablehnung erfuhr Merck durch            nandersetzung, dass Camper die Abhandlung
zwei ausführliche Briefe, teilte davon Goe-         mit Achtung gelesen hatte. Dessen negatives
Der Asiatische Elefant in Kassel                                                                    255

Urteil nach der Ablehnung Soemmerrings be-
zog Goethe aber nun auf die gesamte renom-
mierte Fachwelt.

Loder
Der dritte, der nach Soemmerring und Camper
Goethes Abhandlung in seinen Publi­kationen
nannte, war Loder (Abb. 12) in seinem erstmals
1788 erschienenen „Anatomischen Handbuch“.
Nach seiner Meinung bildete der Zwischen­
kieferknochen kein Unterscheidungsmerkmal
zwischen Mensch und Tier und somit war Lo-
der der erste, der Goethes Wiederentdeckung
anerkannte: „Ueber die Bildung dieses Kno-
chen bey Menschen und Thieren hat H. Geh.
Rath von Göthe eine mit vielen lehrreichen
Zeichnungen begleitete Abhandlung, die aber
noch nicht gedruckt ist, geschrieben. Ich habe
das Vergnügen gehabt, ein Zeuge seiner
scharf­sinnigen Untersuchungen zu seyn, und
wünsche, daß dieses meisterhafte Product der
Nebenstunden eines solchen Liebhabers der
                                                  Abb. 12: Der Anatom und Arzt Justus Christian Loder,
Anatomie, dem Publicum nicht lang vorenthal-
                                                  Goethes Anatomielehrer in Jena. Aus Gottlieb & Berg
ten bleiben möge“ (Loder 1788: 89, Grumach        1942.
1977: 63). Erstaunlich ist in diesem Zusam-
menhang, dass Loder nicht schon frühere
Publi­kationen nutzte, um auf Goethe hinzu-       kieferknochen zuschrieb, aber erst nachdem
weisen (vgl. Bräuning-Oktavio 1956: 76ff). Er     Goethes Abhandlung gedruckt vorlag, äußerte
hatte mit Goethe vereinbart, dass dieser seine    sich auch Blumenbach öffentlich dazu. Für ihn
Arbeiten zur vergleichenden Anatomie 1798,        stand seit seiner Dissertation fest, dass der
im Anschluss an Loders „Anatomische Obser-        Mensch keinen Zwischenkieferknochen be-
vationen“, veröffentlicht, was aber unterblieb.   sitzt. Er nannte diesen bei Tieren „gleichsam
Nach einigen Jahrzehnten ohne Kontakt er-         eingekeilten“ Knochen 1776 „Os intermaxil­
hielt Goethe im September 1824 von Loder aus      lare“ (Fröber 1999: 71). In Blumenbachs „Ge-
Moskau den ersten Band seiner Goethe gewid-       schichte und Beschreibung der menschlichen
meten „Elementa anatomiae corporis humani“        Knochen“ erwähnte er 1786 weder Goethes
(1823) (Kuhn 1995: 679, 692). Er dankte ihm       noch Vicq d’Azyrs Untersuchungen. Letztere
mit einer Gegengabe seiner Morphologischen        lehnt er später scharf ab und bemängelt die
Hefte, in denen er wiederholt der lehrreichen     Qualität von dessen deutlichen, sachlich und
und schönen Tage mit Loder in Jena gedachte       technisch guten Abbildungen (Bräuning-
(Bräuning-Oktavio 1956: 78).                      Oktavio 1956: 81). Obwohl Blumenbach im Text
                                                  menschlichen Embryonen, jungen Kindern und
                                                  einigen Erwachsenen einen Zwischenkiefer-
Blumenbach                                        knochen quasi zugesteht, will er die als mond-
Bereits seit den ersten persönlichen Kon­         förmige Naht bezeichnete Sutura incisiva nur
takten 1783 in Weimar und Göttingen kannte        als schwache Spur des bei anderen Säugetie-
und schätzte Blumenbach (Abb. 13) Goethe.         ren vorhandenen Zwischenkieferknochens gel-
Durch Soemmerring und vermutlich auch             ten lassen. So berichtete Blumenbach bereits
Camper war Blumenbach darüber informiert,         am 24. März 1781 an Soemmerring, dass er an
dass Goethe dem Menschen den Zwischen-            einem Wasserkopf einen völlig abgesonderten
256                                                                                          Rolf Siemon

                                                          „Spalte“ oder „Ritze“ ab und die Sutura incisiva
                                                          in eine Fissura incisiva, um den Eindruck zu
                                                          vermeiden, es liege hier das Ergebnis einer
                                                          Verwachsung zweier Knochen vor (Bräuning-
                                                          Oktavio 1956: 81).
                                                          Auch in späteren Publikationen behielt Blu-
                                                          menbach seine Meinung bei, gesteht zwar
                                                          Wiederkäuern, Elefant, Rhinozeros und den
                                                          Zahnlosen (Ameisenbär, Wal) einen Zwischen-
                                                          kieferknochen zu, hält aber das Nichtvorhan-
                                                          densein desselben beim Men­schen für ein
                                                          Hauptunterscheidungsmerkmal von anderen
                                                          Säugetieren. Infolge der Publikation von Goe-
                                                          thes Abhandlung 1820 änderte Blumen­bach
                                                          allerdings letztendlich seine Ansicht. Nach
                                                          einem Besuch bei Goethe im Oktober 1820
Abb. 13: Der Anatom und Naturforscher Johann Friedrich    dankte er ihm brieflich am 6. Dezember für die
Blumenbach mit dem Schädel von Robert Bruce, König        Zeichnungen als Anlage zu dessen Abhand-
von Schottland, Radierung von Ludwig Emil Grimm, Kassel
1823. Aus Oesterley 1838.                                 lung in den Morphologischen Heften und stellte
                                                          fest: „Über den Zwischenknochen beim Men-
                                                          schen kann […] kein Dissensus weiter statt
kleinen Knochen festgestellt habe, ohne aus               haben“ (Bräuning-Oktavio 1956: 83, Kuhn
diesem Befund auf die Anlage des Zwischen-                1995: 409).
kieferknochens beim Menschen zu schließen:                Blumenbach hat 1824 seine briefliche Zustim-
„Selbst an den Schädeln ungeborner oder jun-              mung zu Goethes Wiederentdeckung dann
ger Kinder findet sich doch eine Spur quasi               auch in einer Anmerkung in der dritten Auflage
rudimentum des ossis intermaxilaris. Je unreifer          seines Handbuches der vergleichenden Ana-
die Embryonen, desto deutlicher. An einem                 tomie veröffentlicht: „In wie fern aber die durch
hydrocephalus sind’s zwei völlig abgesonderte             diese Fissur bezeichnete Alveolar – Portion
kleine Knochenkerne, und bei erwachsenen                  des menschlichen Oberkiefers allerdings für
jugendlichen Köpfen ist doch oft noch vorn am             ein Rudiment eines Intermaxillar-Knochens
Gaumen eine sutura spuria zu merken […].                  angesehen werden müsse, hat Göthe in seiner
Jacobus Silvius sagt gar […] vor alters hätten            berühmten Abhandlung gezeigt, die seit 1786
die Menschen alle ein os intermaxillare ge­               als Manuscript für seine Freunde mitgetheilt
habt, das sich nach der Hand durch débauches              war, und nun im Iten B. zur Morphologie mit rei-
[Ausschweifungen] und zunehmenden Luxus                   chen Zusätzen erschienen ist“ (Blumenbach
der Nachwelt verloren“ (Dumont 1996: 322).                1824: 24, Kuhn 1995: 714). Anmerkungen
Blumenbachs Beschreibung des Zwischen­                    in seinem Handexemplar lassen allerdings
kieferknochens wirkte zwiespältig.                        erkennen, dass Blumenbach dieses Einge-
Nach den Informationen von Soemmerring                    ständnis vor sich selbst abschwächte und er
im Juni 1784 und Camper zu den Zähnen                     zudem versuchte, durch seine Behandlung des
von Elefant und Rhinozeros weicht er bei der              Zwischenkieferknochens bei verschiedenen
Formulierung des Zwischenkieferknochens                   Tierarten in späteren Ausgaben seines Hand-
und dem Sitz der Eckzähne darin einer Be-                 buches die Thematik eher zu vernebeln als zu
griffsbestimmung aus. Trotzdem darf man Blu-              erhellen (Bräuning-Oktavio 1956: 84).
menbachs Knochenlehre von 1786 als einen
ganz vorsichtigen Schritt in Richtung auf Vicq
d’Azyrs und Goethes Auffassung betrachten                 Vicq d’Azyr
(Bräuning-Oktavio 1956: 80f). Unter dem                   Félix Vicq d’Azyr war Mitbegründer der Sociéte
Einfluss von Camper änderte er dann aber                  de Médicine (1776) sowie deren ständiger
die Bezeichnung „Naht“ später sogar noch in               Sekretär, Mitglied der Académie des Sciences
Der Asiatische Elefant in Kassel                                                                      257

in Paris und dort 1788 Nachfolger von Buffon      nommen. Den Arbeiten von Merck verdankte
und Leibarzt von Königin Marie-Antoinette         Goethe zahlreiche Anregungen und Förderung.
(1755-1793). Er hatte bereits vor und unabhän-    Im September 1782 hatte Merck in seinem so-
gig von Goethe den Zwischenkieferknochen          genannten „Ersten Knochenbrief“ seine Funde
am menschlichen Foetus wiederentdeckt, ihn        fossiler Elefanten- und Rhinozerosknochen
als „os maxillaire antérieur“ bezeichnet und      publiziert. Daraufhin schrieb ihm Soemmer-
seine Forschungsergebnisse 1780 publiziert        ring am 8. Oktober, dass der Mensch keinen
(Bräuning-Oktavio 1956: 86f). Goethe ent-         Zwischenkieferknochen besitze: „Ich wünschte
lieh sich aber erst am 16. Dezember 1820 die      daß Sie Blumenbach nachsähen, wegen des
Abhandlung aus der Weimarer Bibliothek, nach      Ossis intermaxilliaris so caeteris paribus der
einem Hinweis von Blumenbach (Bräuning-           einzige Knochen ist den alle Thiere vom Affen
Oktavio 1956: 99). Liegt sein späteres Ver-       an selbst der orang outang eingeschlossen ha-
schweigen der Abhandlung vielleicht darin be-     ben und der sich hingegen nie beym Menschen
gründet, dass er dann Vicq d’Azyr die Priorität   findet, wenn sie diesen Knochen abrechnen
der Entdeckung hätte zugestehen müssen, die       so fehlt Ihnen nichts um nicht allem vom Men-
tatsächlich aber nur eine Wiederentdeckung        schen auf die Thiere Transferieren zu können“
war, was wiederum Goethe nicht wusste? Vicq       (Dumont 1996:350).
d’Azyr erfuhr 1785/86 durch den persönlichen      Goethe hat öfters bei Merck Rat gesucht und
Kontakt mit Camper und dessen Sohn Adrien         erhalten, allerdings ohne ihn über seine For-
von Goethes Abhandlung, erwähnte sie aber         schungen am Zwischenkieferknochen zu infor-
ebenfalls nicht in seinen Schriften, vermutlich   mieren. Er hielt sie vor ihm geheim, vielleicht
auch deshalb nicht, weil seine Priorität vor      auch, damit beide beim Erwerb von fossilen
Goethe unbestreitbar war. „Als Goethe 1805/06     Schädeln nicht in Konkurrenz traten? Mercks
in seiner Allgemeinen Morphologie […] auf die     „Zweiter Knochenbrief“ (15. Mai 1784) berührte
Bemühungen verschiedener Männer eingehen          schon fast das Zwischenkieferknochen-Thema.
wollte, ‚deren als Beförderer der Morphologie
zu gedenken’ sei, nennt er außer Camper,
Blumen­bach, Sömmerring, Kielmeyer, Cuvier
und den neuesten Engländern auch Vicq
d’Azyr und schreibt: ‚Man kann annehmen,
daß alle diejenigen, welche in der compariert-
ten Anatomie gearbeitet haben, auf die Mor-
phologie losarbeiteten, sie mehr oder weniger
vorbereiteten und veranlaßten’. Doch die Allge-
meine Morphologie ist niemals erschienen, ob-
wohl ein Teil schon abgesetzt und gedruckt war.
Wir müssen uns also mit diesem allgemeinen
Urteil Goethes über Vicq d’Azyr bescheiden“
(Bräuning-Oktavio 1956: 101).

Der Zwischenkieferknochen und das Ende
der Freundschaft mit Merck
Mit dem Darmstädter Kriegsrat und naturwis-
senschaftlich insbesondere auf den Ge­bieten
Osteologie und Paläontologie forschenden
Johann Heinrich Merck (Abb. 14) war Goethe
seit Ende Dezember 1771 befreundet. Seit
1780 hatten naturwissenschaftliche Fragen,
                                                  Abb. 14: Kriegsrat Johann Heinrich Merck, Ölgemälde
zunächst im Bereich der Mineralogie, immer        von Johann Ludwig Strecker, 1770. Familienarchiv Merck,
mehr Raum im Briefwechsel der beiden einge-       Darmstadt.
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