DER DEMOKRATISCHE RECHTS- UND SOZIALSTAAT UND SEIN NEUES POLITISCHES FUNDAMENT - Hans-Böckler-Stiftung
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DOSSIER Nr. 11/12, November 2021 DER DEMOKRATISCHE RECHTS- UND SOZIALSTAAT UND SEIN NEUES POLITISCHES FUNDAMENT Die „Tiefe Transformation“ verändert die Kulturen von Arbeit und Leben. Seit zwanzig Jahren suchen Wählerinnen und Wähler nach Möglichkeiten den Prozess zu gestalten. Hilmar Höhn AUF DER SUCHE NACH GEWANDERTEN deutung, kulturelle Identitäten, verbindende und trennende Werte gewannen an Bedeutung. WÄHLERSCHAFTEN Im Interview formuliert der Wahlforscher Robert Vehrkamp die Hoffnung, das Parteiensystem kön- Seit der Bundestagswahl 2005 gleicht kein Bun- ne sich mit der Wahl 2021 stabilisiert haben. Tho- destag mehr dem anderen. Zwar kamen drei von mas Höhn, 1. Bevollmächtigter der IG Metall in vier Koalitionen durch ein Bündnis aus SPD, CDU Schweinfurt, spricht über „wachsende Unzufrie- und CSU zusammen, aber das waren aus der Not, denheit“ in der Bevölkerung. Er sagt im Gespräch: nicht aus Überzeugung oder aufgrund großer in- „Mein Eindruck ist, dass deren Unzufriedenheit haltlicher Schnittmengen, geborene Allianzen. Mal auf ein subjektiv wachsendes Gefühl der Ohn- verschwand die FDP aus dem Parlament, mal wa- macht, der Machtlosigkeit beruht.“ Und ein Ge- ren 15 Prozent der Stimmen im Bundestag nicht werkschafter aus Volkach begründet, warum er repräsentiert, mal kam der Linken die Oppositions- sich bei den Freien Wählern engagiert. führerschaft zu, dann erschien die AfD auf der Im zweiten Kapitel geht das Dossier den Moti- Bildfläche. ven der Wählerinnen und Wähler nach, die der Dieses Dossier zeichnet im ersten Teil die Ent- AfD ihre Stimme geben. Sozioökonomische An- wicklung aus der Perspektive der Wählerinnen sätze erklären den Erfolg nur unzureichend. Es und Wähler nach. Was hat sie bewogen, „ihre“ geht auch um das Überleben rechtsextremer Ein- Partei zu wechseln, ins wahlabstinente Lager ab- stellungen über Generationen hinweg. Wie das zugleiten oder von dort zurückzukommen? Es ist funktioniert, beschreibt im Gespräch für dieses eine Geschichte von bitteren Enttäuschungen, Dossier die Sozialpsychologin Angela Moré. Und von Entfremdungen, von Vertrauensvorschüssen eine Gruppe von Wirtschaftshistorikern um Davi- und großer Skepsis. de Cantoni hat eine Entdeckung gemacht, welche Parteibindungen lockerten sich, die soziale die Kontinuität rechter Einstellungen geradezu Lage von Wählerinnen und Wählern verlor an Be- sichtbar werden lässt.
INHALT Kapitel 2 39 Auf der Suche nach gewanderten Der Erfolg der AfD oder: Wählerschaften 1 Vom Weiterleben rechtsextremistischer Einstellungen in einem Kapitel 1 demokratischen Land 39 Die zerbrechlich gewordene Demokratie 3 Wählerinnen und Wähler in Zeiten Das latent vorhandene Potenzial der „Tiefer Transformation“ 3 Rechtsextremismus 39 Das Elektorat ist in Umbruchstimmung 4 Die Hälfte der Deutschen stimmt der Die neue Kraft der Wechselwählerinnen These zu, dass Deutschland wieder die Macht und Wechselwähler 5 und Geltung haben soll die ihm zusteht 42 Die Jugend: grün oder liberal 6 Corona-Proteste legen verbreitete Der Exodus der Wählerinnen und Wähler Verschwörungsmentalität offen 42 aus der Union 8 Für ihre Wählerinnen und Wähler ist die Aussterbende Wählerschaften – AfD keine Protestpartei 43 eine Herausforderung für die Parteien 9 Markus Schlimbach: Die AfD in Die Milieus der Parteien sind in Auflösung 10 Ostdeutschland: „Es gibt hier Robert Vehrkamp; „CDU, CSU und SPD keine Brandmauer“ 44 sind keine Volksparteien mehr“ 12 Dokumentation Die Vorstellung eines demokratischen und „Die feiern hier den 20. April!“ 47 sozialen Rechtsstaates ist lebendig 17 Die Deutschen arbeiteten intensiv an Realismus oder Resignation? 19 der „Negation der konkreten Schuld“ 54 „Die neue Zerbrechlichkeit der Demokratie“ 20 1933-2017-2021: Politische Landkarten Die Demokratisierung der Demokratie der Kontinuität 55 gerät ins Stocken 20 AfD: Korrelationen zwischen Die Bedeutung von Kindheit und Jugend Wahlergebnissen 1933 und 2021 für Wahlentscheidungen 21 teilweise noch stärker als noch 2017 56 Die Mitte hat ein stabiles Angela Moré: „Schuldverstrickungen ökonomisches Fundament 22 wirken bis in die dritte oder vierte Bedeutung der Elternhäuser in der Generation nach“ 57 politischen Sozialisation nimmt ab 24 Die zerrissene Wählerschaft 26 Kapitel 3 63 Zusammenhalt in einem gespaltenen Land 28 Fazit: Auf die Mehrheit kommt es an: Was ist das Elektorat? – In den Parlamenten und in der eine Begriffsklärung 29 Gesellschaft 63 Dokumentation „Die Menschen wollen Die Deutschen in Wechselstimmung 64 einfach, dass sie merken, dass sie spüren, Die Mehrheit will eine demokratisch und die tun was für mich“ 31 sozial geordnete Republik 64 Dokumentation„Die Leute machen Was wird aus dem rechten Rand der das zähneknirschend mit“ 34 Gesellschaft? 65 Die Deutschen sind sich einig: In Deutschland Auf die politische Bildung kommt es an 65 geht es nicht gerecht zu 36 Die Parteien richten sich auf ein Bibliographie 67 verändertes Elektorat ein 36 Autor 70 Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 2
Kapitel 1 UNSERE ZERBRECHLICH GEWORDENE DEMOKRATIE Innerhalb von zwei Jahrzehnten haben sich die Wählerinnen und Wähler in Deutschland neu orientiert. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bevorzugten sie starke Volksparteien, die mit großem Übergewicht gegenüber ihren Koalitionspartnern die Richtung von Politik vorgaben. Danach verschoben sie die Gewichte im politischen System. Wählerinnen und Wähler wanderten enttäuscht ins Milieu derer, die gar nicht mehr zur Wahl gingen, sie lie- ßen Parteien wie die FDP implodieren und statteten aus dem Nichts gestartete Projekte wie die Piraten oder die AfD mit einem Vertrauensvorschuss aus. Sie erzwangen so „Große Koalitionen“. Doch gemessen an ihrem Anteil an der gesamten Wählerschaft vertraten SPD und Union zeitweise nur noch eine Minderheit. Bei der Bundestagswahl 2021 nun sorgte der aktive Teil der Wahlbevölkerung, indem er seine Stimmen fast gleichmäßig über sechs Parteien verteilte, dafür, dass kein politisches Lager mehr eine Mehrheit hat. Warum hat sich das so entwickelt? Ist das der Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins von Wech- selwählerinnen und Wechselwählern? Oder haben diejenigen recht, die von einer zerbrech- lich gewordenen Demokratie sprechen? Eine Spurensuche. Wählerinnen und Wähler in Zeiten Gerätschaften für den Ackerbau herstellen, aber „Tiefer Transformation“ auch neue Waffentechniken entwickeln, um ihre Auseinandersetzungen zu führen. Die Auswirkungen technologischer Umbrüche sind Anders zu wirtschaften, Kriege auf eine neue nie allein auf die Sphäre der Ökonomie beschränkt. Art und Weise zu führen, erforderte auch jeweils Im Laufe der Geschichte der Menschheit zeigt sich, neue Formen der Organisation von Gesellschaft, dass insbesondere der Wechsel der Energiebasis etwa die Bildung von Stadtgesellschaften, aus die- gesellschaftliche Erneuerungsprozesse auslöste. sen entwickelten sich Städtebündnisse, später Mit der Nutzung des Feuers als Energiequelle, der Staaten. Einer dieser aus Städten hervorgegange- Gewinnung von Saatgut und der Domestizierung nen Staaten, Rom, wurde zum ersten Imperium auf von Wildtieren konnte unsere Spezies sesshaft europäischem Boden. werden und Dörfer und Städte gründen. Sie konn- Der Historiker Yuval Harari hat die Entwicklung ten nun Erze aufschließen, damit leistungsfähigere vom „unauffälligen Tier“ zum modernen Men- Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 3
schen eindrucksvoll beschrieben. In „Eine kurze Hinter allen Entscheidungen, die Menschen un- Geschichte der Menschheit“ schreibt er: „Die Wis- serer Zeit treffen, steht letzten Endes die Frage, senschaften und die industrielle Revolution haben worin dieser vielschichtige Prozess der „Tiefen uns übermenschliche Kräfte und nahezu grenzen- Transformation“ mündet. lose Energie verliehen. Die Gesellschaftsordnung Inmitten eines solchen Umbruchs von dieser wurde von innen nach außen gekehrt, genau wie Qualität sind Muster oder rational auf Anhieb er- die Politik, der Alltag und die menschliche Psy- klärbare Zusammenhänge schwer zu erkennen, che.“ weil so vieles gleichzeitig in Bewegung ist – die Harari ist davon überzeugt, dass der Mensch Maßstäbe eingeschlossen, die wir am Geschehen sich mit der nächsten Welle wissenschaftlicher anlegen, um es als gut oder schlecht, nützlich oder und technologischer Erkenntnisse aus den Berei- verwerflich einzuschätzen. chen der Gentechnik, des Quanten-Computing und der künstlichen Intelligenz selbst überwinden wer- de. Es sei denn, die Menschheit bestimme die Das Elektorat ist in Umbruchstimmung Richtung der Entwicklung. Die entscheidende Fra- ge, so der Historiker, „sei nicht: ‚Was dürfen wir Vor diesem Hintergrund sind die Veränderungen in nicht?‘, sondern: Was wollen wir werden?“ (Harari, den Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler 2013). bei Landtags- oder Bundestagswahlen zu betrach- Auch wenn dies auf den ersten Blick hochge- ten. Am Beispiel der SPD wird dies gut deutlich: griffen erscheint: Dieses Dossier beschäftigt sich Vor zwei Jahrzehnten ist die SPD noch eine klar mit genau dieser Frage am Beginn einer neuen führende Regierungspartei. Die Wählerinnen und technischen Revolution. Es ist der Versuch, die er- Wähler hoben sie 1998 mit fast 41 Prozent der ab- heblichen Veränderungen in der politischen Kultur gegebenen Stimmen in Regierungsverantwortung, der vergangenen zwei Jahrzehnte – von der noch die Parteien der Union schafften es nur noch – vom politisch sortierten Gesellschaft des späteren In- heutigen Standpunkt müsste man sagen noch – dustriezeitalters hin zu einer Ordnung in der Ära auf 35,1 Prozent. der Digitalisierung – zu deuten. Und zu beschrei- Die Grünen folgten mit einem Stimmenanteil ben, wie diese tiefgreifenden Veränderungen bei von 6,7 Prozent in den Bundestag. Die Voten von den Wählerinnen und Wählern einen Suchprozess SPD und Grünen reichten für eine Mehrheit im ausgelöst haben. Sie stellen sich die Frage, wer Deutschen Bundestag. oder mit wem sie diesen auf vielen Ebenen statt- Vier Jahre nach dem großen Wahlsieg von 1998 findenden Wandel gestalten können. beginnt der langsame Niedergang der SPD. Nur Schließlich haben sich in den zurückliegenden noch 38,5 Prozent derjenigen, die zur Wahl gegan- beiden Jahrzehnten nicht nur Umbrüche in der gen sind, wählten die Volkspartei SPD. Die Partei- Produktion von industriellen Gütern, Dienstleistun- en der Union liegen mit der SPD gleich auf, können gen und Handwerk angebahnt, die zuletzt im Zuge also noch einmal Anteile hinzugewinnen. Weil aber des Versuchs, die Corona-Pandemie abzuwehren, die Grünen einen Prozentpunkt mehr erreichen als beschleunigt wurden. Auch das Zusammenleben der damals noch scheinbar natürliche Koalitions- der Menschen, das Entstehen, Bestehen und Ver- partner der Union, FDP, kann die rot-grüne Koaliti- gehen von Freundschaften, Familienbeziehungen on noch einmal fortgesetzt werden. Es ist die vor- und der Alltag von Millionen hat sich grundlegend letzte Wahl, welche nach dem Muster linkes Lager verändert. Er wird sich weiter verändern. Um es an gegen rechtes Lager entschieden wird. einem Beispiel zu erklären: Bekanntschaften wer- 2005 folgen vorgezogene Neuwahlen. Die SPD den mithilfe von Algorithmen wie „Tinder“ oder holt nach einem Absturz bei vielen Landtagswah- „Parship“ geschlossen, bisweilen entstehen dar- len in den letzten Wochen vor dem Wahltag kräftig aus Freundschaften, Partnerschaften und diese auf. Zusammen liegen CDU und CSU vorne und er- werden häufig auch digital – per Mail, WhatsApp reichen 35,2 Prozent der Stimmen – einen Prozent- oder Telegramm wieder gelöst. punkt vor der SPD. Für eine Koalition mit der FDP Vor nur 20 Jahren war die Welt noch eine kom- oder den Grünen reicht es für die Parteien der Uni- plett andere. Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat- on jedoch nicht. So kommt es zur Bildung der ers- te man keine Vorstellung, wie Beziehungen nur ten von drei Großen Koalitionen seit Beginn des zwei Jahrzehnte später entstehen und wieder zer- Jahrhunderts. fallen können. Heute ist die Situation nicht anders: Bei der Bundestagswahl 2009 dann der Absturz Weil so viele Entwicklungen disruptiv und nicht li- der SPD: Mit 23 Prozent der Zweitstimmen rutscht near verlaufen, liegt schon die nächste Zukunft im sie deutlich unter das Niveau, das die SPD 40 Jah- Ungewissen. Oder ahnte jemand, wie störanfällig re zuvor dank einer programmatischen Erneuerung der Welthandel für eine beherrschbare Krankheit hinter sich gelassen hat. Die Union verliert weiter, wie die Corona-Pandemie ist? Und wer hätte noch landet bei 33,8 Prozent und kann diesmal aber eine vor zwei Jahren gedacht, dass sich Millionen Ar- Regierung rechts der Mitte mit der FDP bilden, de- beitsplätze ins Homeoffice verlagern lassen? nen 14,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 4
Zweitstimmen anvertrauen. Allerdings reicht es etwas mehr als die Hälfte der abgegebenen Stim- nur deshalb für diese Koalition, weil sechs Prozent men. Würden die Anteile von „Sonstigen“ und der Stimmen an „sonstige Parteien“ vergeben Nichtwählerinnen und -wählern mitgerechnet, wurden – was für Mehrheitsbildungen im Bundes- würde deutlich, dass hinter dem Koalitionsvertrag tag irrelevant ist. Linke und Grüne profitieren von nur eine Minderheit des Elektorats steht. dem Einbruch der SPD. Sie erreichen jeweils etwa 2021 schließlich landen CSU und CDU bei nur elf Prozent der Stimmen. Die Koalition aus Union noch 24,1 Prozent, die Wählerinnen und Wähler und FDP folgt zwar noch einmal dem Links-rechts- bringen mit 25,7 Prozent ihrer Stimmen die SPD Muster. Doch im Kontext der Bundestagswahlen auf Platz eins. Die Grünen sind plötzlich eine Partei, davor und danach muss sie bereits als Ausnahme- denen 15 Prozent derjenigen, die zur Wahl gehen, fall gesehen werden. ihre Stimme geben, 11,5 Prozent der Stimmen geht 2013 ist das Jahr der Überraschungen. Die FDP an die FDP und die inzwischen eindeutig rechtsex- scheitert knapp an der Fünfprozenthürde, Grüne treme AfD kann zehn Prozent der Wählerinnen und und Linke sind wieder einstellig, für CDU und CSU Wähler von sich überzeugen. entscheiden sich 41 Prozent der Wählerinnen und Während dieses Dossier geschrieben wird, ver- Wähler. Trotz des guten Abschneidens ist die Uni- handeln SPD, Grüne und FDP darüber, ob sie eine on auf die SPD angewiesen, um mit politischer gemeinsame Grundlage für Koalitionsverhandlun- Mehrheit im Parlament regieren zu können. gen finden. Ein Bündnis von Grünen, FDP und Uni- Vier Jahre später entscheiden die Wählerinnen on ist im Ansatz gescheitert. Mitgliedschaft und und Wähler wieder ganz anders: CDU und CSU Parteifunktionäre der Union verarbeiten in einem brechen 2017 auf 33 Prozent ein, die FDP kann schmerzhaften Prozess die Abreibung, welche ihr mehr als zehn Prozent der Wählerinnen und Wäh- die Wählerinnen und Wähler verpasst haben. ler von sich überzeugen, die Grünen bleiben ein- stellig, mit der AfD zieht eine rechtsextreme Partei in den Bundestag ein, die SPD verliert in der Wähl- Die neue Kraft der Wechselwählerinnen und ergunst, nur noch etwas mehr als 20 Prozent der Wechselwähler Wählerinnen und Wähler vertrauen der Volkspar- tei, die gerade noch 150-jähriges Bestehen gefeiert In absoluten Zahlen sind die Schwankungen noch hatte, ihre Zukunft an. Weil AfD und Linke als Koa- beeindruckender. 1998 machten noch 18,5 Millio- litionspartner ausfallen, und die Verhandlungen zu nen Frauen und Männer die SPD zur Regierungs- einem Bündnis neuer Art aus den beiden Parteien partei. 20 Jahre später statten knapp zwölf Millio- der Union, FDP und Grünen scheitern, kommt es nen Wählerinnen und Wähler die SPD mit einem zur Bildung der dritten Großen Koalition in nur Regierungsauftrag aus. zwölf Jahren. Eine Große Koalition ist das aller- 1998 wurden CDU und CSU mit 18,4 Millionen dings nicht mehr, denn zusammen vereinen sie nur Stimmen eine starke Oppositionspartei, 2021 man- Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 5
DIE JUGEND: GRÜN ODER LIBERAL Als 2019 die 18. Shell-Jugendstudie vorgestellt Dieser Trend ist noch zu allgemein, um zu verste- wurde, hatte die junge Generation die Erfahrung hen, was junge Menschen umtreibt. Denn 2019 von monatelangem Homeschooling und Stillstand stuften sich 16 Prozent der jungen Männer als der Jugendkultur noch vor sich. Vor zwei Jahren „rechts“ oder „eher rechts“ stehend ein. Von den attestierte das Team um den Jugendforscher Hur- jungen Frauen hingegen konnten nur zehn Prozent relmann der Jugend, dass sie „trotz der klar er- nationalkonservativen Parteien und Positionen et- kennbaren Unterschiede, die sich aus der Herkunft was abgewinnen. der Jugendlichen ergeben und die durch den wei- Die linke Seite auf der politischen Skala hinge- terhin ungleichen Bildungserfolg bestehen blei- gen wird stärker von jungen Frauen geprägt. 44 ben, keine unüberbrückbaren Polarisierungen oder Prozent der jungen Frauen sehen sich in diesem Spaltungen in den Einstellungen zu beobachten Bereich, aber nur 38 Prozent ihrer männlichen Al- sind. Sie teilten die Sorge um die „ökologische Zu- tersgenossen. kunft“, es gebe einen Trend „zu gegenseitigem Die junge Generation im Osten der Bundesre- Respekt und einer Achtsamkeit in der eigenen Le- publik ist deutlich polarisierter als im Westen. Zwi- bensführung, ein starker Sinn für soziale Gerech- schen Rügen und dem Erzgebirge liegt der Anteil tigkeit“ sowie einen „wachsenden Drang, sich für der sich als sehr rechts verstehenden Jugendli- diese Belange aktiv einzusetzen“. Lediglich zwi- chen mit zehn Prozent deutlich über dem Bundes- schen denjenigen, die die Studie als Kosmopoliten durchschnitt. Das gilt auch für die politische Linke, und als Nationalpopulisten einordneten, lasse sich zu der sich 45 Prozent der jungen Frauen und Män- „eine klar erkennbare Polarisierung feststellen“. ner zählen. Doch machten beide Gruppen „nur“ ein Fünftel Der Grad der Polarisierung unterscheidet sich der Jugendlichen aus (Albert et al., 2019). nicht nur nach Geschlechtern und Regionen, son- Über die Kennzeichnung kann man geteilter dern auch nach Stand im Beruf oder der Bildung. Meinung sein. Denn zwei Fünftel der Jugendli- Gut die Hälfte der jungen Studierenden, Gymnasi- chen sind immerhin fast die Hälfte dieser Genera- astinnen und Gymnasiasten versteht sich als links, tion. An zwei Teilauswertungen wird denn auch das rechte Spektrum ist in dem Bereich unterre- deutlich, wie gespalten die junge Generation als präsentiert. Teil der Wahlbevölkerung auf Politik blickt. Für die Wer dagegen früh in den Beruf geht, blickt an- Studie wurden die ausgewählten Jugendlichen ders auf die Welt: Jugendliche in Ausbildung und zwischen 15 und 25 Jahren gefragt, wo sie sich Beruf bezeichnen sich überdurchschnittlich hoch selbst auf einer von null (links) bis zehn (rechts) als Rechte (15 bzw. 17 Prozent), nur ein Drittel einstufen. Das Ergebnis bestätigt einen seit Be- sieht sich auf der linken Seite des Spektrums. ginn des Jahrhunderts anhaltenden Trend: Immer Trotz – vielleicht aber auch wegen – der Politi- mehr junge Frauen und Männer betrachten sich sierung fühlen sich viele Jugendliche laut als links oder eher links. Taten dies 2002 noch 32 Shell-Studie von Politikerinnen und Politikern igno- Prozent der Befragten, waren es in der 18. Shell- riert. Tendenz steigend: 2002 stimmten noch 66 studie 41 Prozent. Der Block derer, die sich in der Prozent der Befragten der These „Ich glaube nicht, Mitte des politischen Spektrums sahen, änderte dass sich Politiker darum kümmern, was Leute wie sich wenig, er liegt stabil bei knapp 30 Prozent. ich denken“, zu. 2019 war der gemessene Wert auf Rückläufig waren die Zustimmungswerte im 71 Prozent angestiegen, die Politikverdrossenheit, rechten Spektrum. 2002 sahen sich noch 17 Pro- schreiben Ulrich Schneekloth und Matthias Albert zent der Befragten hier vertreten, 2021 waren da- in einer Teilauswertung der Jugendstudie 2019, von noch 13 Prozent übrig. Auch der Anteil derje- verharre „auch weiterhin auf hohem Niveau“. Wo- nigen, die eher keine Bindung zu einem politi- bei das Maß an Politikverdruss zwischen West schen Lager entwickelt hatten, war nur leicht und Ost nicht auffällig ist (50 Prozent West/53 Pro- rückläufig, die 2019 gemessenen 19 Prozent sind zent Ost). Die Trennungslinie des jugendlichen nur drei Punkte unter dem 2002 gemessenen Elektorates verlief entlang des Bildungsstandes: Wert. Auffällig ist: Während der Anteil der Ju- Nur 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf gendlichen, die sich als sehr links stehend be- Gymnasien folgten dieser Sichtweise, dagegen schrieben in dem Zeitraum von acht auf 14 Pro- war 71 Prozent der Jugendlichen auf anderen zent angewachsen ist, verharrte dieser am äu- Schulen dieser Überzeugung. Jugendliche in Aus- ßersten rechten Rand stabil bei vier bildung zählte die Studie zu fast 80 Prozent zu den Prozentpunkten. Politikverdrossenen, 75 Prozent der jungen Er- Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 6
werbstätigen sah sich 2019 ohne Beistand im par- wähler bei der Bundestagswahl: Die FDP hat zwar teipolitischen System der Bundesrepublik bei den Jungwählerinnen und -wählern mit 21 Pro- Deutschland (Schneekloth/Albert, 2019). zent und bei Erstwählerinnen und Erstwähler so- Es gibt keine vergleichbar tief reichende Studie gar mit einem Anteil von 23 Prozent überraschend über die Lage der Jugend und damit der Erst- und stark abgeschnitten, doch als stärkste „Partei“ Jungwähler aus dem Jahr zwei der Pandemie. Ei- ging aus dieser Gruppe am Wahltag die der Nicht- nige Hinweise enthält die europäisch angelegte wählerinnen und Nichtwähler hervor. 960.000 von TUI-Jugendstudie. Unter den befragten Jugendli- ihnen gingen gar nicht wählen, 460.000 gaben chen aus Deutschland gaben 46 Prozent an, ihre ihre Stimme den Grünen, 400.000 der FDP, „Lebenssituation“ habe „sich durch die Pandemie 310.000 Wählerinnen und Wähler, die zum ersten verschlechtert“. Aber es sind auch 41 Prozent der Mal ihre Stimme abgaben, votierten für die SPD. Jugendlichen der Meinung, ihre Lage sei gleich- Klare Wahlverlierer bei den Jungen: Union geblieben, für acht Prozent der jungen Deutschen (210.000 Stimmen), Linke (150.000 Stimmen) und hat sich ihre Lebenssituation sogar gebessert. AfD (110.000 Stimmen) (Tagesschau, 2021). Entsprechend gespalten blicken die jungen Deut- Die Abbildung 1 zeigt die Stimmanteile der 18- schen auf die Frage, wie sehr sie sich durch die bis 24-Jährigen: Politik gegen die Pandemie in ihren Grundrechten eingeschränkt fühlten. 50 Prozent sind dieser An- sicht, 45 Prozent dagegen nicht. Abb. 1 So wählten die 18- bis 24-Jährigen: Die TUI-Studie schließt die Ergebnisse von zwei Befragungswellen ein. Im September 2020 waren nur fünf Prozent der jungen Deutschen der Mei- Grüne 23% nung, die von der Politik getroffenen Entscheidun- FDP 21% gen gegen die Pandemie seien unzureichend, im April 2021 waren dies 27 Prozent. Entsprechend SPD 15% schrumpfte die Zahl derer, welche den Katalog Union 10% von Einschränkungen und Auflagen als angemes- sen bezeichneten, von 52 auf 30 Prozent. Waren Linke 8% im Herbst 2020 19 Prozent der Meinung, die Politik AfD 7% handele übertrieben, war dieser Wert im Frühjahr des Bundestagswahljahres auf nur 23 Prozent an- Quelle: tagesschau, 2021 gestiegen. Die Enttäuschung eines Teils der jun- gen Generation resultiert also nicht aus der Ein- schätzung, die Auflagen und Einschränkungen Warum entschieden sich so viele junge Wähle- von Grundrechten seien zu stark, sondern zu milde rinnen und Wähler für die FDP? Bei der Bundes- ausgefallen. tagswahl 2017 war der Anteil der Jungen, die der Im Vorfeld der Bundestagswahlen zeichnete FDP zum Wiedereinzug in den Bundestag helfen sich ein Wahlerfolg der Parteien ab, die den Klima- wollten, weitaus geringer. Damals stimmten zwölf schutz voranstellen. Der These, Politik gegen den Prozent für die FDP und platzierten sie damit auf Klimawandel habe Vorrang vor Wirtschaftswachs- Rang vier hinter den Unionsparteien (24 Prozent), tum, stimmten laut TUI-Jugendstudie 47 Prozent SPD (19 Prozent) und Grünen (13 Prozent) (Tages- zu, 32 Prozent zeigten sich unentschieden, nur 13 schau, 2017). Jugendforscher Hurrelmann erklärt Prozent lehnten die These ab. Anders als in der das starke Abschneiden der FDP bei jungen Wäh- Shell-Studie sortierten sich nur 32 Prozent der jun- lerinnen und Wählern so: „Die FDP hat die The- gen Menschen als links ein, 46 Prozent sahen sich men Grundrechte, Freiheit und die Rückgewin- in der Mitte und nur acht Prozent definierten sich nung der Kontrolle nach Corona besetzt, verbun- als rechts im politischen Spektrum. Für mehr Um- den mit ihrem wirtschaftsfreundlichen Kurs.“ Das, verteilung, eine klassische linke Position, hinge- so der überraschte Forscher weiter, sei zwar keine gen sprachen sich fast die Hälfte der Befragten Spaltung im Elektorat. Aber doch zumindest eine aus, 29 sahen das dafür und dawider und waren „Polarisierung“ (Hurrelmann, 2021). unentschieden, nur zwölf Prozent teilten diese An- sicht nicht (TUI-Stiftung, 2021). Und so wählten die Erstwählerinnen und Erst- Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 7
tei PDS auf zu existieren und verschmolz mit der vornehmlich westdeutsch geprägten Wahlalterna- tive Deutschland (WASG) zur Partei Die Linke, die von West- und Ostdeutschen getragen wird. 2013 wird die Alternative für Deutschland (AfD) als euro- pakritische, konservativ-liberale Partei gegründet und verpasst nur knapp den Einzug in den 18. Deutschen Bundestag. Fast vergessen ist, dass die 2006 gegründete Piratenpartei, in den Jahren 2011 und 2012 den Einzug in das Abgeordnetenhaus von Berlin sowie die Landtage des Saarlandes, von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen schaffte, ehe sie implodierte und bald schon wie- der in der politischen Bedeutungslosigkeit ver- schwand. Eine andere Implosion ereignete sich im Lager rechts der Mitte, als Millionen Wählerinnen und Wähler 2013 der FDP das Vertrauen entzogen, sie aus dem Bundestag fernhielten und sie dazu zwan- gen, sich neu zu erfinden. Ihre Wiederauferste- hung bei den Wahlen zum 19. und 20. Deutschen Bundestag mit – für die FDP – starken Resultaten deutet darauf hin, dass Wählerinnen und Wähler Missmanagement hart abstrafen und Stärke, selbst wenn sie nur an einer einzelnen Person wie Christi- an Lindner sichtbar wird, honorieren. Für den Niedergang der SPD und ihren Wieder- aufstieg gibt es hinreichend diskutierte Gründe. Der Abstieg der Partei aus der Liga der Volkspartei- en ist eine Folge der von Gerhard Schröder durch- gesetzten Agenda 2010, welche die Leistungsfä- higkeit der Sozialsysteme nachhaltig schwächte und der Anhebung des Rentenalters, das von dem Sozialdemokraten Franz Müntefering in den Jahren datierten nur rund elf Millionen Menschen die bei- nach 2005 als Sozialminister maßgeblich vorange- den Parteien. trieben wurde. Auch Missmanagement der Partei Für die Grünen stimmten 1998 5,6 Millionen und die Auswahl der Spitzenkandidaten sind unbe- Frauen und Männer, 23 Jahre später fast sieben strittene Ursachen des Absturzes. Gutes Manage- Millionen. Die FDP steigerte die Zahl ihrer Wähle- ment der Partei und die Wahl eines von einer Mehr- rinnen und Wähler in der gleichen Zeitspanne von heit der Wählerinnen und Wähler geachteten Kanz- 5,6 auf sieben Millionen. Die Linke wurde 1998 von lerkandidaten brachte die SPD 2021 in die erste 2,5 Millionen Menschen vor allem aus Ostdeutsch- Position. land gewählt, 2021 erreichte sie nur noch das Ver- trauen von knapp 2,3 Millionen West- und Ostdeut- schen. Die AfD, 2013 überhaupt das erste Mal zu Der Exodus der Wählerinnen und Wähler aus einer Bundestagswahl angetreten, versammelt der Union 2021 4,8 Millionen Wählerinnen und Wähler hinter sich, davon überdurchschnittlich viele aus dem Os- Die Union scheiterte 2021 wie vor ihr 2005 und ten Deutschlands. (Bundeswahlleiter, 2021). 2009 die SPD an einer Politik der paradoxen Inter- Schon diese Saldenbetrachtung macht deutlich, vention. Den Unionsparteien, traditionell skeptisch wie sehr das Elektorat der Bundesrepublik gegenüber dem Thema Einwanderung, wurde die Deutschland in nur zwei Jahrzehnten heftig in Be- Öffnung der Grenzen für Hunderttausende Flücht- wegung geraten ist. Das wird nicht nur an den linge von einem großen Teil ihrer Kernwählerinnen Wahlergebnissen der Parteien deutlich. Auch die und -wähler übel genommen. Der vom Parteiestab- Wahlbeteiligung schwankt erheblich zwischen 82 lishment 2021 als Nachfolger von Angela Merkel Prozent im Jahre 1998, 70,8 Prozent 2009 und wie- auf den Schild gehobene Armin Laschet hingegen der 76,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2021 gab keine überzeugende Figur ab, das Programm, (Statista, 2021). mit dem die Union zu den Wahlen zum Die Parteienlandschaft selbst ist in heftiger Be- 20. Deutschen Bundestag angetreten war, war in- wegung. 2005 hörte die ostdeutsche Regionalpar- haltsleer und entfaltete keine Kraft nach links oder Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 8
AUSSTERBENDE WÄHLERSCHAFTEN – EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE PARTEIEN Mit dem Tod befasst sich der moderne Mensch Strich schmolz dies nach Rechnung von Infratest ungern, wir haben ihn mit einem Tabu belegt. dimap das Elektorat 2021 gegenüber 2017 um rund Auch in der Wahlforschung taucht er kaum auf, 3,7 Millionen Menschen zusammen. schließlich wählen ja nur die Lebenden. Bereits 2017 haben die Unionsparteien gegen- Das stimmt nicht ganz. Wer per Briefwahl oft über 2013 rund 1,3 Millionen ihrer Wählerinnen Wochen vor dem eigentlichen Wahltag seine und Wähler verloren, weil sie inzwischen gestor- Stimme abgibt, kann am Tag der Entscheidung ben waren. Die SPD verlor im gleichen Zeitraum selbst schon nicht mehr am Leben sein. Bei rund 760.000 Stimmen, weil diese Frauen und Männer 40 Prozent der Stimmabgaben auf diesem Weg nicht mehr am Leben waren. Insgesamt schrumpf- könnten einige Fälle zusammenkommen. Erhoben te das Elektorat wegen Todesfällen 2017 im Ver- werden sie aber nicht. Der Bundeswahlleiter teilt gleich zu 2013 um gut 3,5 Millionen. mit, dass die Stimmen dennoch gezählt würden – Die Verluste wurden durch die Neuwählerinnen bei einer geheimen Wahl könnten die entspre- und -wähler nicht ausgeglichen. Dem Schwund chenden Unterlagen auch gar nicht identifiziert von 3,5 Millionen Wählerinnen und Wählern zwi- werden. schen 2013 und 2017 durch Tod standen nur knapp Die Sache mit dem Tod ist allerdings für Partei- drei Millionen Neuwählerinnen und Neuwähler ge- en interessant. Denn: Von Wahl zu Wahl sterben genüber. Während zwischen 2017 und 2021 3,7 ihnen Wählerinnen und Wähler weg. In einer al- Millionen Erwachsene als Sterbefälle aus den Wäh- ternden Gesellschaft ein Phänomen, mit dem man lerregistern gestrichen wurden, kamen knapp 2,9 sich beschäftigen muss. Millionen neue Wähler und Wählerinnen hinzu. Die Parteien der Union etwa verloren bei der Besonders SPD, CDU und CSU muss das Ergeb- Bundestagswahl 2021 gegenüber 2017 zwar nis interessieren. Denn die starken Ergebnisse er- knapp zwei Millionen Stimmen an die SPD, aber zielten die drei Parteien bei den Wählerinnen und 1,1 Millionen ihrer Wählerinnen und Wähler von Wählern über 60 Jahre. Ohne die Stimmen der vor 2017 sind inzwischen verstorben. Auch die SPD 1960 Geborenen wäre weder die SPD als Siegerin traf diese Entwicklung. Ihr gingen 2021 gegen- aus den Wahlen hervorgegangen, noch die Uni- über 2017 690.000 Frauen und Männer verloren, onspartien in die Nähe ihres schwächsten Ergeb- weil sie inzwischen gestorben waren. Unterm nisses in ihrer Geschichte gekommen. Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 9
nach rechts und auch nicht in der Mitte des politi- und die Motive sowie die Bedeutung derjenigen, schen Spektrums. Im Gegenteil: Schon zu Beginn die von Wahl zu Wahl bereit sind, sich für eine an- des Wahlkampfs herrschte in Deutschland Wech- deren Partei zu entscheiden. selstimmung, wie der Demokratieforscher Robert Rückblickend schreibt der Berliner Politikwis- Vehrkamp im Interview für dieses Dossier zeigt. senschaftler Bernhard Weßels in dem Auswer- Und er wurde immer stärker, je näher der Wahltag tungsband zu den Bundestagswahlen 2009: „Bis in rückte. die 1960er Jahre waren Parteien in der Lage, dau- Am 26. September 2021 wanderten die Wähle- erhaft Allianzen zu bestimmten sozialen Gruppen rinnen und Wähler weg von der Union wie bei ei- im Elektorat aufzubauen“. Er bezeichnet die enge nem Exodus. Knapp zwei Millionen Menschen, die Bindung als „freezing“. Am Beispiel der SPD zeigt noch 2017 eine der Parteien der Union gewählt Weßels, einer der Mitherausgeber der Langfristun- hatten, wandten sich der SPD zu, mehr als 400.000 tersuchung, wie bei den Wahlen 2009 Gewerk- gaben ihre Stimme der AfD, 1,3 Millionen setzten schaftsmitglieder der SPD den Rücken kehrten: auf die FDP, über eine Million liehen den Grünen „Der für die SPD typische Befund, dass gewerk- ihre Stimme, mehr als eine Million flüchtete sich in schaftlich organisierte Arbeitnehmer in stark über- die Rolle als Nichtwähler und -wählerinnen, mehr proportionalem Maß dieser Partei die Stimme ge- als eine halbe Million zog die Wahl von Kleinpartei- ben, ist 2009 ausgefallen“ (Weßels, 2011). en vor, selbst 90.000 ehemalige Unionswählerin- Aber nicht nur die Abkehr von Gewerkschafte- nen und -wähler stimmten 2021 für die Linke. Und rinnen und Gewerkschaftern war für den Einbruch mehr als eine Million derjenigen, die 2017 noch für der SPD verantwortlich. Nicht einmal die Hälfte de- die Union gestimmt hatte, waren inzwischen ver- rer, die noch 2005 den Sozialdemokraten ihre Stim- storben (Tagesschau, 2021). me gaben, taten dies auch 2009, dokumentieren die Politikwissenschaftlerin Tatjana Rudi und ihr Fachkollege Markus Steinbrecher in dem gleichen Die Milieus der Parteien sind in Auflösung Studienband. Die übrigen, immerhin 54 Prozent der Wählerinnen und Wähler von 2005 „sind in alle Allein Entscheidungen am Wertekompass der eige- Richtungen abgewandert“ (Rudi/Steinbrecher, nen Wählerschaft vorbei und schlechtes politisches 2011). Management erklären nur unzureichend, warum CDU und CSU hingegen konnten 2009 noch da- sich das politische System der Bundesrepublik rauf bauen, dass ihre Bindung in jene Teile der Be- Deutschland nach 50 Jahren ihres Bestehens so völkerung stark war, die sich mit einer der christli- gravierend veränderte. Beginnend mit der Bundes- chen Kirchen, besonders der katholischen Kirche tagswahl 2013 etwa positionierte sich die SPD wie- eng verbunden fühlten. „Als immer noch stabile der mehr und mehr mit traditionellen Programmin- und starke Determinanten der Wahl der Unions- halten, für welche ihre Spitzenkandidaten mit mehr parteien lassen sich konfessionell-religiöse Fakto- oder weniger Verve auch eintraten. Die Einführung ren ausmachen.“ Aber auch hier diagnostiziert Po- eines Systems gesetzlich garantierter Mindestlöh- litikwissenschaftler Weßels einen Bedeutungsver- ne mit einer klaren Lohnuntergrenze war eine Ab- lust. „Sozialer Wandel, Individualisierungs- und kehr von der Politik der unbeliebten Agenda 2010, Säkularisierungsprozesse“ setzten sich fort. „Sozi- genauso wie die vorübergehende Rückkehr zu ei- ale Gruppen mit relativ stabilen Bindungen an poli- nem Renteneintrittsalter von 63 Jahren. Die Wähle- tische Parteien, wie z. B. katholische Kirchgänger rinnen und Wähler honorierten die Offerten jedoch oder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, wer- nicht und schickten die Sozialdemokratie immer den weiter schrumpfen.“ Was die Abkehr der tiefer in den Keller. Kirchgänger angeht, sind mutmaßlich die Skanda- Um Trends und Ursachen der Veränderungen in le von sexuellem Missbrauch von Priestern vor- der Wahlbevölkerung systematisch zu untersu- nehmlich an Jugendlichen verantwortlich. chen, wurde von der Deutschen Gesellschaft für Weil die institutionellen Bindungen zwischen Wahlforschung mit Unterstützung der Deutschen Wählerinnen und Wählern abgenommen haben, Forschungsgemeinschaft die German Longitudinal hat ein anderer, ursprünglich schwächerer Faktor Election Study, kurz GLES, ins Leben gerufen. Die an Bedeutung für Wahlentscheidungen gewonnen: langfristig angelegte Forschungsreihe verfolgt das die emotionale und kulturelle Bindung an eine der Ziel, die Veränderungen im Wahlverhalten der Be- Parteien. „Die Identifikation einer Person mit einer völkerung zu untersuchen. Die Forscherinnen und politischen Partei bedeutet nicht, dass sie diese Forscher untersuchen, das „Verhalten von Wäh- auch stets wählt“, schreibt Wahlforscher Rüdiger lern, dessen Instabilität ein bislang unbekanntes Schmitt-Beck über das Phänomen 2009. Es gehe, Ausmaß erreicht hat“ (GLES, o. J.). so Schmitt-Beck, um eine „Art psychologische Dieses Dossier hebt im folgenden Abschnitt auf Parteimitgliedschaft“. Diese Form einer durchaus drei Faktoren der facettenreichen Studie ab: Die „tief in der Persönlichkeit verankerten, gefühlsmäßi- Bedeutung sozialer Gruppen, die emotionale Bin- gen Bindung“ nehme in Deutschland zwar ab, „ihre dung von Wählerinnen und Wählern an Parteien Prägekraft [..] für Wahlentscheidungen“ sei aber Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 10
immer noch erheblich, insbesondere bei CDU und CSU. Wie brüchig die Bindung selbst bei den An- hängerinnen und Anhängern der Union allerdings schon 2009 war, zeigte sich in den Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler kurz vor der Wahl: „Unter den Unionsanhängern gab es schon früh- zeitig eine erhebliche, sich gegen Ende des Wahl- kampfes noch steigernde Bereitschaft, für die –von der Parteiführung als Koalitionspartner favorisierte –FDP zu votieren. Etliche SPD-Anhänger entschie- den sich hingegen im letzten Moment trotz des Fehlens klarer Koalitionsaussagen für die Grünen“ (Schmitt-Beck, 2011). Die Bundestagswahl 2013 unterschied sich im Ergebnis vollkommen von der vorangegangenen Wahl. In ihrer Einleitung zu dem entsprechenden GLES-Berichtsband formulieren dessen Herausge- ber Rüdiger Schmitt-Beck, Hans Rattinger, Sigrid Roßteutscher, Bernhard Weßels und Christof Wolf, dass sich die „Zersplitterung des deutschen Partei- stärker als 2009“, schreibt Bernhard Weßels in sei- ensystems teilweise fortgesetzt hat“ (Weßels et al. ner Auswertung der erhobenen Daten aus dem (1), 2014). Mit Folgen für die Zusammensetzung Umfeld der Bundestagswahl von 2013. Doch der des 18. Deutschen Bundestages. Ihm gehörten nur Wissenschaftler warnte vor einer Rückkehr zur Fo- noch vier Fraktionen an: Union, SPD, Grüne und kussierung auf die Kernklientel. Der Anteil katholi- Linke. 2013 hätte zwar eine Koalition von Sozialde- scher Kirchgängerinnen und Kirchgänger sowie mokraten, Linken und Grünen eine hauchdünne gewerkschaftlich Organisierter schrumpfe weiter. Mehrheit gehabt. Am Ende entschied sich die SPD „Der sozialstrukturell und demographisch induzier- jedoch für eine Wiederauflage der Großen Koaliti- te politische Wandel nötigt den Parteien große An- on. Allerdings entsprach die Stärke der Fraktionen passungsleistungen ab“ (Weßels, 2014). nicht dem Ergebnis der Bundestagswahl: Denn ein Auch die Parteibindungen, also die „psychologi- „nie zuvor erreichter Anteil von Wählerstimmen“, sche Parteimitgliedschaft“ erodiere weiter, notier- nämlich 15,8 Prozent der abgegebenen Stimmen, ten der Wahlforscher Rüdiger Schmitt-Beck und spielten bei der Verteilung der Mandate im Parla- die Wahlforscherin Anne Schäfer in ihrem Teil des ment keine Rolle. FDP und AfD scheiterten knapp GLES-Bandes zur Bundestagswahl 2013. Sie sei an der Fünfprozenthürde, auch die Stimmen für die nicht nur zurückgegangen, sondern in der „Stärke Piratenpartei und anderen Kleinparteien wurden der verbliebenen Bindungen [..] im Schnitt schwä- nicht gerechnet (Schmitt-Beck/Schäfer, 2014). cher als früher“. Im Übergang der Generationen Der Wissenschaftler Jan Eric Blumenstiel und nehme die Bindung auch ab. „Wähler jüngerer Ge- seine Fachkollegin Elena Wiegand untersuchten nerationen“ und besser ausgebildete Menschen das Verhalten der Wechselwählerinnen und -wäh- wiesen seltener eine Parteibindung auf, ebenso ler2013 genauer. Sie stellten bei der Auswertung Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss. der GLES-Daten fest: „Noch nie war die Summe Trotz der Bindungserosion: nur 29 Prozent der der Gewinne und Verluste aller Parteien bei einer für die Langzeitstudie Befragten antworteten 2013, Bundestagswahl so groß wie 2013.“ Tatsächlich sie hätten keinerlei Parteibindung, 30 Prozent hin- wechselten in den drei Wahlen von 2005, 2009 gegen fühlten sich CDU und CSU verbunden, 22 und 2013 rund 53 Prozent der Befragten „mindes- Prozent identifizierten sich mit der SPD, 7,7 Prozent tens einmal ihre Wahlentscheidung“. Bei der Wahl mit der Linken und 7,8 Prozent mit den Grünen – 2013 taten dies sogar 30 Prozent der Wählerinnen gegenüber der Wahl 2009 hatte sich an diesen und Wähler in den drei Monaten vor dem Wahltag Werten wenig geändert. Heftig geschrumpft war (Blumenstiel/Wiegand, 2014). allerdings die Identifikation mit der FDP. Die Zahl Bei der Wahlentscheidung spielten 2009 die ihrer anteilig ohnehin wenigen Getreuen „verrin- Stellung im Erwerbsleben und die konfessionelle gerte sich um mehr als die Hälfte auf nur noch 1,7 Bindung noch einmal eine stärkere Rolle. Nicht nur Prozent“. Von den fast fünf Prozent der Wählerin- kehrten etliche Gewerkschaftsmitglieder von der nen und Wähler, die 2013 der AfD ihre Stimme ga- Linken zur SPD zurück. Die Wählerinnen und Wäh- ben, identifizierten sich lediglich ein verschwin- ler belebten noch einmal die Konfliktlinien der Ver- dend geringer Teil mit der gerade erst gegründeten gangenheit: „Zwar fielen einige der sozialstruktu- „Anti-Euro-Partei“. rellen Effekte auf das Wahlverhalten bei der Bun- Die Verbundenheit mit den Parteien spiegelte destagswahl 2013 nicht so stark aus wie noch in sich im Wahlergebnis wider. Das starke Abschnei- den 1970er und 1980er Jahren, aber doch etwas den der Unionsparteien führt das Wissenschafts- Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 11
„CDU, CSU UND SPD SIND KEINE VOLKSPARTEIEN MEHR“ Eigentlich ist Robert Vehrkamp Wirtschaftswissenschaftler und promovierte über die Theorie fle- xibler Wechselkurse. Beruflich befasst er sich mit einem ganz anderen flexiblen System: der wechselhaft gewordenen Wählerschaft. Im Interview für dieses Dossier sagt der Wahlforscher er „gehe davon aus, dass mit dieser Wahl die Veränderungen im Parteiensystem der Bundesre- publik zu einem ersten gewissen Abschluss gekommen sind“. Die Wählerinnen und Wähler hät- ten dies bewusst herbeigeführt. Denn eine so starke Wechselstimmung wie 2021 habe es noch nie in der Bundesrepublik gegeben. Hilmar Höhn: Herr Vehrkamp, sie haben im schutz getan wird, weil sie endlich wollten, Rahmen ihrer Beobachtung der Bundestags- dass die soziale Schieflage im Land korri- wahlen im August 2021 in der Bevölkerung giert wird. Anderen ging es um Zuwande- eine außergewöhnlich ausgeprägte Wech- rung und Flüchtlingspolitik. Wie haben sich selstimmung beobachtet. Wie hat sich diese diese Komponenten zum Wahltag hin entwi- in Richtung des Wahltages verändert? ckelt? Robert Vehrkamp: Sie ist weiter angestiegen Vehrkamp: Das Bild ist in sich gleich geblieben. bis auf den neuen historischen Rekordwert von Zwei Drittel der Bevölkerung wollten nicht, dass es 66 Prozent. Das ist seit 1990, als der Wert zum einfach so weiter geht – aus den von Ihnen ge- ersten Mal erhoben wurde, der höchste jemals nannten Gründen. In der Hauptsache ging es dabei gemessene Wert für die politische Wechsel- um Klima, Bildung, Digitalisierung, Wohnungsbau, stimmung, sogar höher als 1998! Schon zu Be- aber auch um Flüchtlings- und Integrationspolitik. ginn des Wahlkampfes lag sie mit 56 Prozent Die Pandemie hat, glaube ich, sehr viele Defizite in sehr hoch, flachte dann ein bisschen ab und hat unserer Gesellschaft ganz brutal offengelegt. Die dann zum Wahltag hin wieder deutlich zuge- Signatur dieses Wahlkampfs ist deshalb auch we- legt. niger eine ideologisch motivierte Wechselstim- mung gewesen. Die Bürgerinnen und Bürger ha- Dossier: Sie lag damit höher als 1998. Aber ben ihre Wahlentscheidung aufgrund ganz konkre- sie setzte sich im August 2021 anders zu- ter Defizite in sehr vielen unterschiedlichen sammen. Die einen wollten einen Wechsel, Politikbereichen getroffen. Das hat sich dann zu weil sie wollten, dass mehr für den Klima- der beschriebenen Wechselstimmung verdichtet. Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 12
Dossier: Das Ergebnis ist uneindeutig. Die Grü- wie der Notar des gewünschten Wechsels, und hat nen erreichten nicht ihren weitesten Wähler- sich dafür als erfahrener Politikmanager und Garant kreis von 25 Prozent, die SPD, die ebenfalls für für Solidität und Professionalität angeboten. Das viele dieser Themen angetreten ist, hat zwar zu- fanden viele attraktiv. Als Versicherung dafür, dass gelegt, aber zusammen fanden SPD und Grüne der Wechsel zwar nicht blockiert, aber professio- keine Mehrheit – nicht einmal mit der Linken, nell und sozial ausgewogen gemanagt wird. So in die das Thema Wohnungsbau getrieben hat. etwa. Bei der Volksabstimmung über die Enteignung großer privater Wohnungsgesellschaften Dossier: Dass junge Menschen stark auf die stimmten 56 Prozent der Berlinerinnen und Ber- Grünen setzen, hat hierzulande ja schon fast liner für dieses Ziel. Aber die Linke, die als ein- Tradition. Aber die FDP? Wie hat Christian Lind- zige Partei versprach, dies umzusetzen, hat bei ner es geschafft, die Partei so attraktiv zu ma- den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Prozent- chen? punkte abgeben müssen. Vehrkamp: Für das moderne, hippe Image steht in Vehrkamp: Es ist ein hochkomplexes Wahlergeb- der FDP nicht nur Christian Lindner. Inzwischen hat nis, und wir stehen erst am Anfang der Interpretati- sich auch in der zweiten Reihe der Partei eine neue on. Mit vorschnellen Schlussfolgerungen bin ich Generation versammelt, die das Lebensgefühl ei- noch sehr zurückhaltend. Aber man wird die Ergeb- nes großen Teils der Jugend widerspiegelt. Und sie nisse nicht alleine durch die Brille der alten Lager- haben einen extrem modernen Wahlkampf ge- konstellation analysieren können. Wer das Wahler- macht. Die Besonderheit bei den jungen FDP-Wäh- gebnis vom 26. September verstehen will, muss ei- lerinnen und -wählern ist, dass sie der FDP beide nen neuen Ansatz wählen. Die FDP beispielsweise Stimmen gaben. Für die ist die FDP nicht Teil eines hat zwar inhaltlich einen eher schwarz-gelben politischen Lagers, sondern steht für sich. Das Wahlkampf geführt, wie früher, hat aber dennoch macht das Ergebnis für die FDP so wertvoll, viel- ein sehr eigenständiges, jedenfalls nicht nur von leicht sogar noch wertvoller als die von der Union der Union geliehenes Wahlergebnis, erzielt. CDU/ geliehenen knapp 15 Prozent im Jahr 2009. CSU und SPD waren zwar sehr unterschiedlich er- folgreich, haben aber nun beide ihren Status als Dossier: Wenn wir, wie Sie sagen, das Zeitalter Volksparteien eingebüßt, weil die Zugewinne der der Lagerwahlkämpfe verlassen haben, welche SPD nicht als „Rückweg zur alten Volkspartei SPD“ politische Kultur entwickelt sich gerade? Für fehlinterpretiert werden sollten. welche Zäsur steht die Bundestagswahl 2021? Dossier: Am deutlichsten hat sich die Wechselstimmung in dem tiefen Ein- bruch von CDU und CSU niederge- „ICH GEHE DAVON AUS, DASS schlagen. MIT DIESER WAHL DIE Vehrkamp: Ja, und wir sehen schon jetzt sehr deutlich, dass die Parteien der Union VERÄNDERUNGEN IM die Wechselstimmung am wenigsten be- dient haben, weder die Kampagne noch PARTEIENSYSTEM ZU EINEM das Programm zielten darauf ab, Wähle- rinnen und Wähler über die konservative GEWISSEN ABSCHLUSS Kernklientel hinaus zu erreichen. Die poli- tische Mitte ging der Union weiter von der GEKOMMEN SIND. “ Stange, und den Kontakt in die sozial be- nachteiligten Milieus hat sie inzwischen sehr weit- Vehrkamp: Ich gehe davon aus, dass mit dieser gehend verloren, genauso wie zu den besonders Wahl die Veränderungen im Parteiensystem der modernisierungsfreundlichen Milieus. Eigentlich Bundesrepublik zu einem ersten gewissen Ab- wollten viele der Merkel-Wählerinnen und -wähler, schluss gekommen sind. Die Wählerinnen und die noch 2017 die Unionsparteien gewählt haben, Wähler haben sich für ein multipolares Parteiensys- zu den Grünen. Aber vor allem die Patzer und die tem entschieden, und das alte von zwei Volkspar- jenseits der klassischen Grünen-Milieus eher gerin- teien dominierte System bis auf Weiteres abge- ge Akzeptanz der grünen Spitzenkandidatin, ge- wählt. Und die Parteien sollten und werden – wenn paart mit der sehr starken Kampagne von Olaf Sc- sie das (an-)erkennen – das auch zur Grundlage ih- holz, haben viele von denen dann doch Olaf Scholz rer künftigen Strategien machen. CDU, CSU und und die SPD wählen lassen. Der stand zwar deut- SPD sind keine Volksparteien mehr, schon weil es lich weniger für den Wechsel, aber seine Erfahrung das durch gesellschaftliche Großgruppen und -or- und Unaufgeregtheit kam gut an. Er wirkte eher ganisationen und die Kirchen geordnete Feld dafür Dossier Dossier Nr. Nr. 11/12, 11/12, 11.2021 11.2021 · Seite 13
„ORGANISATION DEFINIEREN KEINE POLITISCHEN MEHRHEITEN MEHR. “ nicht mehr gibt, in dem es starke institutionelle Bin- Vehrkamp: Zum einen ist das beschriebene rechts- dungen vieler Menschen an eine der beiden Volks- populistische und zumindest latent rechtsextreme parteien gab. Dahin gibt es derzeit keinen Weg zu- Potenzial in Ostdeutschland größer, aber es erklärt rück mehr, diese Zeit ist einfach vorbei. Das bedeu- nicht die 20 bis 25 Prozent der Wählerinnen und tet nicht, dass es auch in Zukunft Parteien geben Wähler, die der AfD dort ihre Stimme geben. könnte, die bei einer Wahl mehr als 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler an sich binden könnten. Dossier: Was macht Sie da so sicher? In Mecklenburg-Vorpommern ist das der SPD ja auch gerade gelungen, aber nicht als Volkspartei, Vehrkamp: Ich will das Ergebnis der AfD in Ost- sondern durch die Fokussierung der Kampagne auf deutschland nicht schönreden. Es setzt sich aber eine erfolgreiche und beliebte Ministerpräsidentin. eben doch erkennbar anders zusammen als ihr Er- Frau Schwesig hatte auf vielen ihrer Plakate noch gebnis im Westen. Da sind natürlich auch die nicht einmal das Emblem ihrer Partei mit abge- Rechtsextremisten, die die Partei wählen. Wir ha- druckt. Und der Fehler der Union war aus meiner ben aber in Ostdeutschland noch immer eine etwas Sicht, dass sie zu sehr am überkommenen Selbst- anders geprägte politische Kultur. Die negativen bild als Volkspartei festgehalten hat, dass die Ge- Parteiidentitäten gegenüber der AfD sind dort sellschaft noch beschreibbar ist durch eine christ- schwächer ausgeprägt. In Westdeutschland wür- lich-soziale Arbeitnehmerschaft, durch Unterneh- den 70 bis 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler mer, die Kirchen, die Junge und die Frauen Union. auf gar keinen Fall die AfD wählen, unter gar keinen Es gibt diese Organisationen noch. Aber sie defi- Umständen. Das ist ein Ergebnis des demokrati- nieren keine politisch relevanten Milieus mehr, stel- schen Antifaschismus, der sich in den Jahrzehnten len keine ausreichenden Wählerbindungen mehr nach dem Krieg in Westdeutschland verbreitet und her, bilden ganz einfach die neue Vielfalt der Gesell- tiefe Wurzeln geschlagen hat. In der DDR war der schaft nicht mehr ab. Antifaschismus ein Teil der bei vielen verhassten Staatsideologie. Die Hemmschwelle, die AfD schon Dossier: Lassen Sie uns über die Wahlergebnis- aus prinzipieller Ablehnung gegen rechts und se der AfD sprechen. Ein Blick auf die Wahlkar- Rechtsextremismus nicht zu wählen, ist im Osten te zeigt ein blaues Band von Sachsen bis nach deshalb zwar auch vorhanden, aber weniger stark Thüringen, in dem die Rechtsextremen als Sie- ausgeprägt. Deswegen kann die AfD das stärkere ger aus der Wahl hervorgegangen sind. Bun- Protestpotenzial gegen etablierte Parteien auch desweit haben etwa mehr als zehn Prozent der über längere Zeit an sich binden. Das kommt näm- Wählerinnen und Wähler dieser Partei ihre lich hinzu: In Ostdeutschland ist es den Parteien der Stimme gegeben. Ist es der AfD gelungen, sich alten Bonner Republik nicht gelungen, ähnlich enge im parlamentarischen System der Bundesrepu- Parteibindungen oder -identifikationen aufzubauen, blik mit dem Wiedereinzug in den Bundestag wie es ihnen in den Nachkriegsjahrzehnten in West- festzusetzen? deutschland gelungen ist. Vehrkamp: Vorläufig ja. Aber das Wahlergebnis ist Dossier: Das heißt, in Westdeutschland ist die gespalten. In Westdeutschland ist die AfD mit Blick AfD an eine gläserne Decke gestoßen, durch auf ihre Wählerinnen und Wählern eine sehr klar die sie nicht durchkommen wird. Und im Os- rechtspopulistische, latent sogar rechtsextrem po- ten? sitionierte Partei. Zwei Drittel ihrer Stimmen, eher sogar mehr, rekrutiert sich dort aus dem manifest Vehrkamp: Da gibt es die gläserne Decke für die oder latent rechtsextremen Milieu, das es immer AfD auch, aber sie hängt deutlich höher. So lassen gab, das aber zum ersten Mal nun auch über länge- sich aus meiner Sicht die um zehn oder 15 Prozent- re Zeit eine Partei an sich binden kann. punkte höheren Wahlergebnisse der AfD in Ost- deutschland ganz gut erklären. Dennoch scheint Dossier: Und wie erklären Sie die wesentlich mir die Partei auch hier ihren Höhepunkt erreicht zu höheren Stimmenanteile in Ostdeutschland? haben Dossier Nr. 11/12, 11.2021 · Seite 14
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