Der Handlungsspielraum des Staates in der Krise und seine Grenzen

 
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Der Handlungsspielraum des Staates in
     der Krise und seine Grenzen

                       Diplomarbeit

     zur Erlangung des akademischen Grades eines Mag. iur.
            an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät
          der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

            eingereicht bei Univ.-Prof. Dr. Arno Kahl
                        von Fabian Saxl

                  Inzing, im November 2020
Inhaltsverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung ....................................................................................................... II
Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................................... III
1.    Einleitung .......................................................................................................................... 1
             Krisenbegriff .............................................................................................................. 2
             Untersuchungsgegenstand .......................................................................................... 5
2.    Bestehende Handlungsinstrumente ................................................................................ 7
             Der hoheitliche Eingriff in die Privatwirtschaft ......................................................... 7
      2.1.1.         Versorgungssicherung ........................................................................................ 8
      2.1.2.         Lebensmittelbewirtschaftung ........................................................................... 16
      2.1.3.         Energielenkung................................................................................................. 20
      2.1.4.         Preisrecht .......................................................................................................... 24
      2.1.5.         Fälle von Anlassgesetzgebung ......................................................................... 30
             Instrumente der indirekten Wirtschaftslenkung ....................................................... 36
             Zwischenfazit ........................................................................................................... 37
3.    Grenzen des Handlungsspielraums .............................................................................. 39
             Grenzen des nationalen Verfassungsrechts .............................................................. 39
      3.1.1.         Grundrechte ...................................................................................................... 39
      3.1.2.         Rechtsstaatliche Anforderungen ...................................................................... 50
             Grenzen des Unionsrechts ........................................................................................ 57
      3.2.1.         Grundfreiheiten ................................................................................................ 57
      3.2.2.         Wettbewerbsrecht ............................................................................................. 61
      3.2.3.         Grenzen der Fiskalpolitik ................................................................................. 71
4.    Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ................................................................ 74
5.    Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 77
6.    Judikaturverzeichnis ...................................................................................................... 82

In dieser Arbeit wurde versucht, geschlechtersensibel zu formulieren. Wenn davon im Interesse
der Lesbarkeit Abstand genommen wurde, bitte ich, den jeweiligen Ausdruck wohlwollend zu
ergänzen.

                                                                   -I-
Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die vorlie-
gende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfs-
mittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den angegebenen Quellen ent-
nommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht.

Die vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form noch nicht als Magister-
/Master-/Diplomarbeit/Dissertation eingereicht.

                 Datum                                          Unterschrift

                                            - II -
Abkürzungsverzeichnis
aA            anderer Ansicht
AB            Ausschussbericht
ABl           Amtsblatt der Eu
AöR           Archiv des öffentlichen Rechts (dt Zeitschrift)
APuZ          Aus Politik und Zeitgeschichte
arg           argumentum, argumento
BG            Bundesgesetz
BGBl          Bundesgesetzblatt
BlgNR         Beilage(n) zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates
BMDW          Bundesminister für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort
BMG           Bundesministeriengesetz 1986 BGBl 1986/76 idF BGBl I 2020/8
BMK           Bundesminister für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und
              Technologie
BMLRT         Bundesminister für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus
BMSGPK        Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
BMWFJ         Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend
BMWFW         Bundesminister für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft
BPräs         Bundespräsident
BReg          Bundesregierung
Bsp           Beispiel, Beispiele
BVB           Bezirksverwaltungsbehörde
COVID-19      Coronavirus Disease 2019
COVID-19-LV COVID-19-Lockerungsverordnung BGBl II 2020/197
COVID-19-MG COVID-19-Maßnahmengesetz BGBl I 2020/12
COVID-19-MV COVID-19-Maßnahmenverordnung BGBl II 2020/197 idF BGBl II 2020/407
CuRe          COVID-19 und Recht (rdb.at)
dIfSG         (deutsches) Infektionsschutzgesetz dBGBl 2000/I, 1045
dt            deutsche, -r
DÖV           Die öffentliche Verwaltung (dt Zeitschrift)
EK            Europäische Kommission

                                         - III -
EnLG    Energielenkungsgesetz
        (wenn nicht weiter angegeben: EnLG 2012 BGBl I 2013/41)
EpiG    Epidemiegesetz 1950 BGBl 1950/186
Erk     Erkenntnis
ErlRV   Erläuterungen zur Regierungsvorlage
etc     et cetera
EZB     Europäische Zentralbank
G       Gesetz
ggü     gegenüber
GP      Gesetzgebungsperiode
grds    grundsätzlich
hA      herrschende Auffassung
HS      Halbsatz
idF     in der Fassung
idR     in der Regel
iE      im Ergebnis
insb    insbesondere
iSv     im Sinne von
iW      im Wesentlichen
iZm     im Zusammenhang mit
Kap     Kapitel
krit    kritisch
LH      Landeshauptmann, Landeshauptfrau, Landeshauptleute
LMBG    Lebensmittelbewirtschaftungsgesetz
        (wenn nicht weiter angegeben: LMBG 1997 BGBl 1996/789 idF BGBl I 2016/113)
maW     mit anderen Worten
max     maximal
mE      meines Erachtens
ME      Ministerialentwurf
MS      Mitgliedsstaat
mwN     mit weiterem Nachweis, mit weiteren Nachweisen
Nov     Novelle
NR      Nationalrat

                                  - IV -
NVwZ      Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
oa        oben angeführt
ÖJK       Österreichische Juristenkommission
ÖJZ       Österreichische Juristenzeitung
ÖZW       Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
PrAG      Preisauszeichnungsgesetz BGBl 1992/146
PreisG    Preisgesetz
          (wenn nicht weiter angegeben: PreisG 1992 BGBl 1992/145 idF BGBl I 2012/50)
RdU-UT    Recht der Umwelt – Umwelt & Technik
Rsp       Rechtsprechung
RV        Regierungsvorlage
Rz        Randzahl, Randzahlen
SN        Stellungnahme
StGBl     Staatsgesetzblatt
StV       Staatsvertrag
tw        teilweise
ua        unter anderem
ungGG     ungarisches Grundgesetz
uU        unter Umständen
V         (nationale) Verordnung
va        vor allem
VfGH      Verfassungsgerichtshof
VfSlg     Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs
vgl       vergleiche
VO        (europäische) Verordnung
VerssG    Versorgungssicherungsgesetz
          (wenn nicht weiter angegeben: VerssG 1992 BGBl 1992/380 idF BGBl I 2016/94)
VwGH      Verwaltungsgerichtshof
VwSlg     Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs
WiPolBl   Wirtschaftspolitische Blätter
WiRO      Wirtschaft und Recht in Osteuropa
WKO       Wirtschaftskammer Österreich
ZTR       Zeitschrift für Energie- und Technikrecht

                                     -V-
1.        Einleitung
Es wäre wohl überraschend, ohne aktuellen Bezug zu einer „Krise“ ein derartiges Thema für
eine Diplomarbeit zu wählen. Tatsächlich besteht ein solcher auch. Zur Zeit, in der ich diese
Arbeit verfasse, befindet sich die ganze Welt in einer größeren (noch anhaltenden) Gesund-
heitskrise, die mittlerweile auch Hand in Hand mit einer schweren Wirtschaftskrise geht. 1

Eine Krisensituation bringt naturgemäß zahlreiche Diskussionen mit sich. Diese schwanken
häufig zwischen den Extremen, wie etwa man habe „alles richtig gemacht“ 2 oder es sei iW alles
„nur Panikmache“ 3 und übertrieben. Wenngleich es nicht Aufgabe einer rechtswissenschaftli-
chen Diplomarbeit ist, einzelne historische Vorgänge der Vollziehung als „gut“ oder „schlecht“
zu qualifizieren, lässt sich diese emotional geführte Debatte dennoch bereits eingangs etwas
entschärfen: Es ist wohl denkunmöglich, im Leben alles „richtig“ zu machen. Noch weniger ist
dies unter dem Druck einer Krisensituation zu bewerkstelligen.

Die Frage, ob man „alles richtig gemacht“ habe, wirft dennoch spannende rechtswissenschaft-
liche Vorfragen auf: Was darf ein Staat in einer Krise? Wo befinden sich die roten Linien, die
nicht überquert werden dürfen? Besteht in der Krise mehr Spielraum als sonst? Und wenn ja:
Wie ist diese (vermeintliche) „Flexibilität“ einzuordnen?

Diese Vorfragen stehen unter der Prämisse, dass es keinen Gesetzgeber und keine Vollziehung
gibt, die frei von Fehlern ist. Ansonsten wäre eine nähere Betrachtung des staatlichen Hand-
lungsspielraums in der Krise wohl sinnlos. Gäbe es einen „perfekten“ Gesetzgeber, müsste jede
Krise frei von Anlassgesetzgebung sein. Auch könnte ein „makelloser“ Gesetzgeber zu Ende
gedacht wohl nur „perfekte“ und damit lückenlose Gesetze erlassen. Ein Verweis auf solche
würde dann wohl zur Beantwortung der oa Fragestellungen ausreichen. Oder um es maW zu
sagen: Könnte man „alles richtig“ machen, hätten Juristen einen sehr langweiligen Job.

1
    Gopinath, The Great Lockdown: Worst Economic Downturn Since the Great Depression,
https://blogs.imf.org/2020/04/14/the-great-lockdown-worst-economic-downturn-since-the-great-depression/
(Stand 14. 4. 2020).
2
   Escher, Trump lässt Corona-Regeln auslaufen und sagt: "Wir haben alles richtig gemacht",
https://www.derstandard.at/story/2000117207774 (Stand 30. 4. 2020); krone.at, Landesrat kontert Kritik: „Alles
richtig gemacht“, https://www.krone.at/2118319 (Stand 17. 3. 2020).
3
    Peternel, Das Coronavirus, eine Erfindung? Wie in der Krise mit Ängsten gespielt wird,
https://kurier.at/politik/ausland/das-coronavirus-eine-erfindung-wie-in-der-krise-mit-aengsten-gespielt-
wird/400786211 (Stand 19. 3. 2020).

                                                    -1-
Krisenbegriff

Dem Politikwissenschaftler Dyson ist beizupflichten, wenn er das Wort „Krise“ als eines der
„am stärksten überstrapazierten Wörter überhaupt“ qualifiziert. 4 Auch wenn meine Generation
zum Glück keinen Krieg mehr unmittelbar miterleben musste, hat es in dieser Zeit an „Krisen“
keineswegs gemangelt.

Allein in den letzten Jahren sind einige „Krisen“ noch in guter Erinnerung: Die derzeitige
COVID-19-Krise samt Wirtschaftskrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Staatsschulden- und Eu-
rokrise, Finanzkrise, (eine weitere) Wirtschaftskrise etc. 5 Weiters befinden sich gelegentlich
Fußballmannschaften in sportlichen Krisen, Konzerne in Unternehmenskrisen oder Nationen in
Staatskrisen. 6 Nicht zu vergessen sind auch Rohstoff-, Gesundheits-, Koalitions-, Ehe- oder
Sinnkrisen. Die häufige Verwendung erfordert es, den Begriff näher zu ergründen.

Der erste Blick fällt dabei auf den eigentlichen Wortsinn. In der ursprünglich griechischen Be-
deutung verstand man unter „krisis“ etwa „Meinung“ oder „Beurteilung“. Erst später wandelte
sich die Bedeutung iSv „Entscheidung“ bzw „Zuspitzung“ hin zu nach heutigem Verständnis
charakteristischen Merkmalen. 7 Der Duden beschreibt eine Krise als „schwierige Lage, Situa-
tion, Zeit (Höhe-/Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung); Schwierigkeit, kritische Situ-
ation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins“. 8 Für eine Abgrenzung ist dies zu vage.

Wie handhaben dies andere wissenschaftliche Disziplinen? Die politikwissenschaftlichen Lit
beschreibt eine Krise etwa als ungeplante, ungewöhnliche, unerwartete, unkalkulierbare und
unerprobte Lage, die besondere Anforderungen an die Handelnden stellt. 9 Darüber hinaus seien
Krisen dadurch gekennzeichnet, dass grundlegende Normen und Regeln des Zusammenlebens
unter Druck geraten oder sogar gefährdet seien. 10 Damit werden mE bereits wesentliche Ele-
mente einer Krise angesprochen.

4
  Dyson, Krise? Welche Krise? Wessen Krise? APuZ 2010/43, 19; vgl auch Finke/Krämer, Das europäische
Beihilfenrecht – Krise und Recht oder Krise des Rechts? in Jaeger/Haslinger (Hrsg), Beihilferecht (2013) 339
(341); dieses Urteil deckt sich auch mit meinem subjektiven Empfinden.
5
    Vgl auch Wiederin, Zwei Fragen des Notverordnungsrechts des Bundespräsidenten, in FS Holzinger (2017) 785.
6
  Vgl ua Neumann, Staatskrise im Libanon, https://www.deutschlandfunkkultur.de/weltzeit.978.de.html (Stand
17. 8. 2020); Strecha, Finanzielle und sportliche Krise: Austrias Sprint ins Ungewisse, https://kurier.at/sport/
fussball/finanzielle-und-sportliche-krise-austrias-sprint-ins-ungewisse/400966019 (Stand 9. 7. 2020).
7
    Finke/Krämer in Jaeger/Haslinger 339 (341).
8
    Dudenredaktion, "Krise, die", https://www.duden.de/node/84566/revision/84602 (abgefragt am 17. 8. 2020).
9
  Jäger, Strategische Führung in Krisen, in Jäger/Daun/Freudenberg (Hrsg), Politisches Krisenmanagement I
(2016) 3.
10
     Jäger in Jäger/Daun/Freudenberg I, 3 (8).

                                                      -2-
Ebenso ist eine Auseinandersetzung mit der rechtswissenschaftlichen Lit geboten. Bereits jetzt
kann erwähnt werden, dass ein allgemein anerkannter juristischer Krisenbegriff nicht existiert.
Zunächst gibt es nicht wenige Stimmen, die von einer näheren Definition absehen und damit
wohl davon ausgehen, dass klar sei, was eine Krise ist. 11

Nach einem anderen Teil der Lit gehe es beim Krisenrecht primär um „hard facts“ und damit
um Machtbefugnisse, weswegen sich die Rechtswissenschaft häufig auf den Begriff des
„Staatsnotstandes“ fokussiere. 12 Ein solcher sei eine hochgradig gefährliche Situation, welche
eine rasche Anordnung und Durchführung bestimmter Maßnahmen erforderlich mache, ohne
dass dies im „ordentlichen“ Rechtssetzungsverfahren (iSv „gewöhnlichen“ Organkompeten-
zen, Verfahrensweisen und inhaltlichen Determinanten) in der gebotenen Eile möglich sei. 13
Daher sei der Krisenfall eine Gefahr für den Staat, der bestimmte Maßnahmen dringend erfor-
derlich mache und für den reguläre staatliche Abläufe unzulänglich seien. 14 Ob letzteres Krite-
rium konstitutiv für eine Krise ist, ist nach jüngeren Krisenerfahrungen mE zweifelhaft. Die
früheren COVID-19-Gesetze brachen sicherlich als weitreichende Sammelgesetze, die den ge-
samten Gesetzgebungsprozess tw in unter 48 Std durchlaufen haben, 15 mit zahlreichen parla-
mentarischen Usancen. Solange aber alle formellen Anforderungen eines „gewöhnlichen“ Ge-
setzgebungsverfahrens 16 eingehalten werden können, kann mE von einer Unzulänglichkeit re-
gulärer staatlicher Abläufe keinesfalls eine Rede sein.

Darauf zT aufbauend soll nach aA der Begriff Staatsnotstand alle Krisensituationen umfassen,
in die die Republik geraten kann, von der aber nicht bloß einzelne, sondern viele oder alle Bür-
ger betroffen sind. Somit ist Staatsnotstandsrecht Verfassungs- und Verwaltungsrecht, das die
Bewältigung solcher Krisen zum Ziel hat. Dies soll bereits für die den kollektiven Notfall in
der Normallage gelten. 17 Viele bestehende Verfassungen nehmen demnach insb auf 4 Szenarien
Bezug: Krieg, Aufstand und Aufruhr, Katastrophen und Versorgungskrisen. 18

11
   So iE auch Hesse, Anmerkungen zur Krisenfestigkeit der österreichischen Bundesverfassung, in ÖJK (Hrsg),
Krise der liberalen Demokratie? (2019) 141 (142), der sich letztlich auf Bsp für Krisen fokussiert.
 Reindl-Krauskopf/Schulev-Steindl, Reaktionsfähigkeit des österreichischen Rechts im Krisenfall, in ÖJK (Hrsg),
12

Krise der liberalen Demokratie? (2019) 229 (231).
13
     Koja, Der Staatsnotstand als Rechtsbegriff (1979) 18 mwN.
14
     Reindl-Krauskopf/Schulev-Steindl in ÖJK 229 (233).
15
     Fucik/Lehofer, 2. COVID-19-Gesetz - Gesetzgebung im Schnelldurchlauf, ÖJZ, 289.
16
     Zu dessen Ablauf vgl etwa Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht11 (2016) Rz 424 ff.
17
  Wiederin, Das Recht des Staatsnotstandes in Österreich, in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg), Freiheit versus
Sicherheit (2017) 115.
18
     Wiederin in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf 115 (122 ff).

                                                       -3-
Nach wiederum aA besteht zwischen Krisen und Nicht-Krisen kein kategorischer Unterschied.
Krisen seien lediglich durch Entscheidungsnotwendigkeit, Zeitdruck und eine gewisse Dyna-
mik geprägt. 19 Letzteres ist dahingehend zu verstehen, dass das Zusammenspiel zwischen ers-
teren Elementen es fast verunmögliche, die Konsequenzen eigener Handlungen abzuschätzen. 20

Im Zuge der COVID-19-Krise befasste sich auch die dt Lit vermehrt mit Fragen von Krise und
Ausnahmezustand. Leitmeier hat sich dabei mit mehreren Autoren befasst, welche sich an einer
begrifflichen Einordnung versucht haben. Für Carl Schmitt etwa war der „Ausnahmezustand“
ein „extremer Notfall, der von Rechtsnormen frei, nicht subsumierbar und nicht erfasst“ ist.
Dies treffe nach Leitmeier gerade aktuell nicht zu, da eine Pandemie sehr wohl (abstrakt) vor-
hersehbar gewesen sei. Auch die dt Reaktion mit Rechtsverordnungen und Allgemeinverfügun-
gen schließe den Ausnahmezustand begrifflich aus, wiewohl die Eingriffsintensität zeige, dass
die „außergewöhnliche Lage“ bereits sehr weitgehend in die Verfassung integriert sei. 21 Für
Kersten meint der Ausnahmezustand die Suspendierung von verfassungsrechtlichen Regelun-
gen im Krisenfall. 22 Jedoch darf nicht übersehen werden, dass es durchaus Stimmen gibt, die
hinsichtlich des stark erweiterten § 5 dIfSG Ansätze einer Notstandsgesetzgebung erkennen. 23

Die bisherigen Argumente verdeutlichen, dass die Frage, ob ein „Ausnahmezustand“ oder ein
„Notstand“ 24 vorliegt, nicht allgemeingültig beantwortet werden kann. Nicht die Situation, son-
dern die Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung bestimmt, ob ein solcher Zustand vorliegt
oder nicht. Anders ließe sich wohl kaum erklären, dass man in Österreich in derselben Situation
(COVID-19) auf „gewöhnliche“ Instrumente der Rechtssetzung zurückgegriffen hat, während
etwa in Ungarn der Ausnahmezustand in Gestalt der Gefahrenlage nach Art 53 f ungGG ver-
hängt wurde. 25 In der Allgemeinen Staatslehre wird unter einem Staatsnotstand eine existenti-
elle Krise verstanden, für deren Bewältigung Rechtsakte erforderlich sind, die den Rahmen der
„Regulärverfassung“ überschreiten. 26 Dass der Staatsnotstand eine „existentielle“ Krise sei, un-
termauert implizit, dass „Notstand“ und „Krise“ begrifflich nicht kongruent sind.

19
     Finke/Krämer in Jaeger/Haslinger 339 (343).
20
     Finke/Krämer in Jaeger/Haslinger 339 (342).
21
     Leitmeier, Corona und „Ultra-vires“: Recht an der Grenze, DÖV, 645 (646).
22
     Dies hat aber wie erwähnt nicht stattgefunden, vgl Kersten, Covid-19 - Kein Ausnahmezustand! ZRP 2020, 65.
23
     Vgl ua Mayen, Der verordnete Ausnahmezustand, NVwZ 2020, 828 (829) mwN.
24
     Zum Begriff vgl Wiederin in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf 115 (116 ff).
25
  Küpper, Ungarn: Auszüge aus der Corona-Virus Gesetzgebung, WiRO 2020, 149; die häufig von politischen
Beobachtern geäußerte Kritik, dass dies in Ungarn allein an der Person des Ministerpräsidenten liege, greift mE
hier - angesichts der komfortablen Zweidrittelmehrheit seiner Regierungspartei - hier zu kurz.
26
     Gamper, Staat und Verfassung. Einführung in die Allgemeine Staatslehre4 (2018) 66.

                                                       -4-
Daher erscheint mir der Begriff der „Krise“ für die gegenständliche Arbeit zweckmäßig.
Ebenso ist es angesichts des breiten Spektrums der „größeren“ Krisen in jüngerer Vergangen-
heit wohl angemessen, auch einen eher weiteren Krisenbegriff zu wählen. Daher schließe ich
mich im Rahmen dieser Arbeit der Definition an, dass eine Krise eine Situation darstellt, die
durch die Elemente Entscheidungsnotwendigkeit, Zeitdruck und Dynamik geprägt ist.

             Untersuchungsgegenstand

Um den Rahmen dieser Diplomarbeit nicht zu sprengen, muss dieser Krisenbegriff weiter ein-
gegrenzt werden. In vielen Arten von Krisen, wie zB in den sportlichen von Fußballbundesli-
gisten, wird ein staatlicher Handlungsspielraum von vornherein nicht existieren.

Aber auch das andere Ende der Skala, der (österreichische) Notstand, muss hier ausgeklammert
werden. Insgesamt schenkt die österreichische Bundesverfassung dem Staatsnotstand wenig
Aufmerksamkeit. 27 Die Verhängung eines Ausnahmezustandes ist im B-VG überhaupt nicht
vorgesehen. 28 Wiederin hat darüber hinaus betont, dass auch ein extrakonstitutionelles Not-
standsrecht in unserer Rechtsordnung keinen Platz hat. 29 Auch sonst finden sich nur wenige
Regelungen in der Bundesverfassung, wie etwa auf Bundesebene das Notverordnungsrecht des
BPräs 30, die Sitzverlegung oberster Organe oder Assistenzeinsätze des Bundesheers. 31 Gerade
das Notverordnungsrecht des BPräs nach Art 18 Abs 3 bis 5 B-VG kennt so hohe Anforderun-
gen, 32 dass es wenig verwunderlich ist, dass diese Regelung in der Geschichte der Republik
bislang ohne Anwendungsfall 33 ist. 34 Die COVID-19-Krise hat zudem aufgezeigt, dass es

27
   Das Wort "Staatsnotstand" kommt im B-VG gar nicht vor, so Wiederin in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf 115
(115) am Beginn seiner Untersuchung, zum Ergebnis vgl FN 31; Fister, Die Notstandsverfassung vor neuen
Herausforderungen – Gebietskörperschaften im wirtschaftlichen Notstand, in FS Korinek (2010) 239 (240).
28
     Grabenwarter/Frank, B-VG (2020) Art 149 Rz 3.
29
  So wörtlich: "In einem Verfassungstaat bleibt kein Platz für eine Staatsraison, von der die Verfassung nichts
weiß", vgl Wiederin in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf 115 (118 f).
30
     Zum Gegenstand dieses Notverordnungsrechts vgl Wiederin in FS Holzinger 785 (787 ff).
31
  Reindl-Krauskopf/Schulev-Steindl in ÖJK 229 (240); vgl aber auch Wiederin in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf
115 (145), wonach weitere - zunächst unscheinbare - Bestimmungen im B-VG bestehen, wodurch die
Bundesverfassung in Sachen Notstand besser sei als ihr Ruf.
32
     Krit Fister in FS Korinek 239 (244)
33
     Grabenwarter/Frank, B-VG (2020) Art 18 Rz 19.
34
   AA ist hier Wiederin in Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf 115 (140 ff). Dieser hat zunächst Recht, dass von der
fehlenden Anwendung nicht auf mangelnde Praktikabilität geschlossen werden kann. Jedoch betrachtet er iE die
Reaktionsmöglichkeiten auf Organversagen (ein Teilaspekt seiner Untersuchung) nur aus dem Blickwinkel der -
vereinfacht gesprochen - "Unwilligkeit" einzelner Organe. Übersehen werden dabei mE aber insb die
"logistischen" Herausforderungen, die in einem schweren Krisenfall (zB einer Naturkatastrophe) auftreten. Das
Notverordnungsrecht erfordert nach Art 18 Abs 3 B-VG die Mitwirkung von BPräs, BReg (derzeit 15 Mitglieder
iSd Art 69 Abs 1 B-VG) sowie dem ständigen Unterausschuss des NR (derzeit 13 Mitglieder). Auch wenn die

                                                      -5-
möglich ist, mittels Absprachen zwischen den Fraktionen die Zahl der anwesenden Abgeord-
neten derart zu reduzieren, dass auch in einem Infektionsfalle mit den restlichen Abgeordneten
noch ein handlungsfähiger NR tagen hätte können. 35 Dies funktioniert freilich nur, wenn die
involvierten Personen durchaus kooperationswillig sind. 36

Am Ende lassen sich immer noch (zu) viele denkbare Konstellationen für Krisenfälle unter den
bisher definierten Gegenstand subsumieren. Krisen haben häufig verschiedene Ursachen. Daher
stehen hier nur jene Arten von Krisen im Fokus, welche als Gemeinsamkeit in der Wirtschaft
deutlich spürbar waren. Aus Gründen der Vereinfachung wird dabei die Entwicklung an den
Aktienmärkten als Indikator für die Intensität von Krisen herangezogen.

Abbildung 1: Der ATX in den vergangenen 20 Jahren. 37

Die markierten Abschnitte zeigen markante Einbrüche des österreichischen Leitindex, welche
im Zusammenhang mit der Finanzkrise, der Staatsschulden-/Eurokrise sowie der COVID-19-
Krise stehen. Allen diesen Krisen ist gemeinsam, dass sie eine staatliche Reaktion erforderten.
Dementsprechend bieten sie sich für eine Untersuchung des staatlichen Handlungsspielraums
an. Gleichwohl möchte ich nochmals unterstreichen, dass es nachstehend keinesfalls nur um
rein ökonomische Aspekte des Krisenrechts gehen wird, sondern auch andere Aspekte der je-
weiligen Krisen herangezogen werden, um den staatlichen Handlungsspielraum zu beurteilen.

beiden Kollegialorgane keine Vollzähligkeit für eine Enscheidungsfindung benötigen (vgl Art 69 Abs 3 letzter
Satz B-VG bei persönlicher Anwesenheit; § 35 Abs 4 iVm § 41 Abs 1 NR-GOG), muss mE dennoch zumindest
die bloße Möglichkeit bestehen, als Mitglied des Kollegialorgans von der Sitzung Kennntnis zu erlangen und daran
teilzunehmen. Allein das Einstimmigkeitserfordernis der BReg (Art 69 Abs 3 Satz 1 B-VG) impliziert, dass es
nicht ausreicht, einfach 8 Mitglieder in Wien "aufzusammeln" und eine Abstimmung herbeizuführen. Auch der in
Art 69 Abs 3 Satz 2 B-VG als Möglichkeit vorgesehene Umlaufbeschluss wird ein Miminum an Infrastruktur
voraussetzen. Gerade darauf sollte man sich im Krisenfall nicht verlassen.
35
   Berlitz/Glintzer/Moser, Das Parlament im Krisenmodus, https://www.addendum.org/coronavirus/parlament-im-
krisenmodus/ (Stand 1. 4. 2020); mit den verbleibenden 87 Abgeordneten wird das Präsenzquorum für
Verfassungsgesetze bzw einfache Gesetze mit Verfassungsbestimmungen (Art 44 Abs 1 B-VG) sowie
Beharrungsbeschlüsse (Art 42 Abs 4 B-VG) zwar vefehlt. Diese Hürde ließe sich wohl (pragmatisch betrachtet)
mit einer Zweckentfremdung der Art 56 Abs 2 bis 4 B-VG (Stichtwort: "Mandat auf Zeit") idR überwinden.
36
     Das B-VG selbst baut auf einer solchen Kooperationsnotwendigkeit häufig auf, vgl Hesse in ÖJK 141 (142 ff).
37
     https://www.wienerborse.at/interactive-chart/?ID_NOTATION=92866 (abgefragt am 30. 8. 2020).

                                                        -6-
2.          Bestehende Handlungsinstrumente
Einem Staat steht es als Ausprägung der Staatsgewalt 38 selbstredend frei, neue Gesetze zu er-
lassen, um auf Krisen zu reagieren. In einem Staat wie Österreich, in dem ein im Rechtsver-
gleich strenges verfassungsrechtliches Legalitätsprinzip (Art 18 Abs 1 B-VG) gilt, 39 macht es
natürlich keinen Sinn, sich mit hypothetischen Gesetzen zur Ergründung des staatlichen Hand-
lungsspielraums in der Krise auseinanderzusetzen. Daher stehen am Beginn allgemeine len-
kungsrechtliche Instrumente im Vordergrund. Anlassgesetze werden nur dann in die Betrach-
tung miteinbezogen, wenn sie tatsächlich in Geltung gesetzt wurden. In diesem Kapitel wird
zudem ein Blick auf weitere Instrumente geworfen, die der Staat im Krisenfall ergreifen kann.

Welche Schranken für das jeweilige Instrument gelten können, wird – falls im jeweiligen Zu-
sammenhang eine Nennung unbedingt notwendig ist – in diesem Kapitel bloß begrifflich ange-
sprochen. Da viele Instrumente hinsichtlich ihres Eingriffs in dieselbe Richtung gehen, macht
es mE Sinn, die Schranken im Detail erst im Anschluss gesammelt zu betrachten (vgl Kap 3).

            Der hoheitliche Eingriff in die Privatwirtschaft

Ein Staat kann sich zur Erfüllung seiner Aufgaben einerseits hoheitlicher Handlungsformen
(Handlung mit imperium), andererseits auch als Träger von Privatrechten nichthoheitlicher
Handlungsformen bedienen. 40

Gerade die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass die Palette an hoheitlichen Instrumenten weiter
reicht als der Begriff der direkten Wirtschaftslenkung (vgl Kap 2.1.1 bis 2.1.3). Die Wirtschafts-
lenkung an sich ist nach der derzeit hA die staatliche Einflussnahme auf unternehmerisches
Handeln iSv einer Einwirkung auf den Wirtschaftsprozess zur Erreichung wirtschaftspolitischer
Zielsetzungen. 41 Insgesamt beruht der Wirtschaftsablauf auf der Durchführung zahlreicher ein-
zelwirtschaftlicher Pläne, sog „Planelemente“ und „Plandaten“. Erstere (zB Preis, Produktions-
art, -menge, …) werden von den Wirtschaftsteilnehmern autonom bestimmt, während Planda-
ten (Löhne und Gehälter, Zinsen, Steuersätze, Subventionen) nicht Gegenstand, sondern Be-
dingung dieser Planung sind. Soweit Wirtschaftslenkung an diesen Plandaten ansetzt, handelt
es sich um indirekte Wirtschaftslenkung, da die Entscheidung über Planelemente bei den

38
     Gamper, Staat und Verfassung4 49.
39
     Kahl/Weber, Allgemeines Verwaltungsrecht6 (2017) Rz 146.
40
     Kahl/Weber, Allgemeines Verwaltungsrecht6 Rz 376 f.
41
  Kahl, Regulierung, Lenkung, Gewährleistung - Die neuen Kerngebiete des öffentlichen Wirtschaftsrechts? ÖZW
2015, 16 (17).

                                                     -7-
Wirtschaftsteilnehmern verbleibt. 42 MaW: Direkte Wirtschaftslenkung bestimmt und verändert
die einzelwirtschaftlichen Planelemente unmittelbar. Die direkte Wirtschaftslenkung setzt den
staatlichen Plan anstelle der unternehmerischen Entscheidung. 43 Soweit der Staat direkte Wirt-
schaftslenkung betreibt, bedient er sich (zwangsläufig) hoheitlicher Handlungsformen. 44

Erneut ist es die COVID-19-Krise, die sich begrifflich nicht mehr anstandslos unter die beste-
hende Terminologie, in diesem Fall unter den Begriff der direkten Wirtschaftslenkung, 45 sub-
sumieren lässt. Dass eine staatliche Anordnung, Geschäfte zu schließen (vgl Kap 2.1.5.2), staat-
liche Entscheidungen an die Stelle von unternehmerischen stellt, kann wohl außer Streit gestellt
werden. Nur waren es in diesem Fall gerade keine wirtschaftspolitischen (sondern gesundheits-
politische) Hintergründe, die den Staat zu diesem Eingriff veranlasst haben.

2.1.1.       Versorgungssicherung

Maßnahmen der direkten Wirtschaftslenkung hatten in der 2. Republik angesichts der prekären
Versorgungslage ihren Höhepunkt 46 in der Nachkriegszeit. 47 Durch den wirtschaftlichen Auf-
schwung konnten die direkten Lenkungsmaßnahmen langsam abgebaut werden. Zu Beginn der
90er-Jahre wurden die gesetzlichen Grundlagen für direkte Lenkungsinstrumente zuletzt modi-
fiziert. Übrig blieb hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, 48 die Krisenbewirtschaftung. 49

Rechtsgrundlage für die (allgemeine) Versorgungssicherung ist heute das VerssG
(BGBl 1992/380 idF BGBl I 2016/94), welches dem Staat eine Bewirtschaftungskompetenz
sichern soll. Zweck ist einerseits die Verhinderung/Bekämpfung von Versorgungstörungen, an-
derseits die Erfüllung völker- und unionsrechtlicher (zB nach Art 122 AEUV 50)

42
  Wenger, Zur rechtlichen Problematik wirtschaftslenkender Maßnahmen, WiPolBl 1978/2, 97 (98 f);
Wenger/Raschauer, Recht der Wirtschaftslenkung, in Wenger (Hrsg), Grundriss des österreichischen
Wirtschaftsrechts II (1990) 147.
43
     Müller/N. Wimmer, Wirtschaftsrecht. International - europäisch - national3 (2018) Rz 25.
44
  Schulev-Steindl, Wirtschaftslenkung und Verfassung. Gesetzgebungskompetenz und grundrechtliche Schranken
direkter Wirtschaftslenkung (1996) 16; Wenger, WiPolBl 1978/2, 97 (103).
45
   Vgl dazu auch Funk, Das System des österreichischen Wirtschaftslenkungsrechts, in Korinek/Rill (Hrsg),
Grundfragen des Wirtschaftslenkungsrechts (1982) 53 (58 f), wonach ein weiter gefasster Begriff der
Wirtschaftslenkung letztlich verworfen wurde, da er für eine sinnvolle Abgrenzung ungeeignet war.
46
  Quantitiativ stand dieser jedoch in keinem Verhältnis zur "unübersehbaren Menge" an LenkungsV während des
ersten Weltkriegs, vgl Wenger, Organisationsgrundlagen und Instrumentarium der direkten Wirtschafslenkung in
Österreich, in Korinek/Rill (Hrsg), Grundfragen des Wirtschaftslenkungsrechts (1982) 3 (8) mwN.
47
     N. Wimmer/Arnold, Wirtschaftsverwaltungsrecht in Österreich. Stand und Entwicklung (1987) 42.
48
  Im Bereich der Landwirtschaft etwa die - heute unionsrechtlich determinierte - Einrichtung der Maktordnung,
vgl N. Wimmer/Arnold, Wirtschaftsverwaltungsrecht in Österreich 44 ff.
49
     Müller/N. Wimmer, Wirtschaftsrecht3 Rz 72 f.
50
     ErlRV 366 BlgNR 19. GP 55.

                                                        -8-
Verpflichtungen. 51 Historisch geht das VerssG 1992 iW auf das VerssG 1980 sowie das
SchrottlenkungsG zurück. 52 Ersteres basiert wiederrum auf dem RohstofflenkungsG 1951. 53

Das VerssG 1992 blieb bis dato ohne Anwendung. Dennoch stellt sich gerade im Zusammen-
hang mit der COVID-19-Krise die Frage nach einem potenziellen Anwendungsbereich.

Dabei bietet sich zunächst ein Blick über den Atlantik an. Als die erste Welle den Bundesstaat
New York hart getroffen hat, hat der US-Präsident Ende März 2020 auf den „Defence Produc-
tion Act“ aus dem Jahr 1950 zurückgegriffen. Dabei wurde der Automobilhersteller General
Motors iE zur Produktion von Beatmungsgeräten verpflichtet. 54 Gegenbeispiel kann hier durch-
aus Österreich sein. Zu Beginn der Maskenpflicht in Supermärkten wurde mit den betreffenden
Handelsunternehmen eine (kostenlose) Bereitstellung von Masken durch diese „vereinbart“. 55

2.1.1.1. Kompetenzrechtliche Grundlagen

Wirtschaftslenkung ist keine dem Bund schlechthin zugewiesene Materie. 56 Eine umfassende
Lenkungsbefugnis kennt das B-VG nur in Art 10 Abs 1 Z 15 leg cit. Demnach kommt dem
Bund die Kompetenz in Gesetzgebung und Vollziehung für im Zusammenhang mit einem Krieg
zur Sicherung der einheitlichen Führung der Wirtschaft notwendig erscheinende Maßnahmen
zu. In der entsprechenden Kompetenzbestimmung wird präzisiert, dass dies insbesondere auch
die Versorgung der Bevölkerung mit Bedarfsgegenständen betreffe. 57 Historisches Vorbild da-
für waren offenkundig das Kriegswirtschaftliche ErmächtigungsG (RGBl 1917/307)58
bzw - noch weiter zurückliegend - das Verordnungsrecht der Regierung für den Notstandsfall
nach        § 14     Grundgesetz          über    die    Rechtsvertretung         (RGBl      1867/141). 59     Die

51
  Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht II4 (2019) 1773
(1783).
52
     ErlRV 487 BlgNR 18. GP 9.
53
  Vgl dazu ua Bernárd, Versorgungsicherung, in Korinek/Rill (Hrsg), Grundfragen des Wirtschaftslenkungsrechts
(1982) 113 (114); ErlRV 315 BlgNR 15.GP 7.
54
   Presidential Memorandum on Order Under the Defense Production Act Regarding General Motors Company,
https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/memorandum-order-defense-production-act-regarding-general-
motors-company (abgefragt am 31. 8. 2020).
55
     orf.at, Offene Fragen bei Maskenpflicht in Handel, https://orf.at/stories/3159939/ (Stand 30. 3. 2020).
56
     Bernárd in Korinek/Rill 113 (114).
57
     Grabenwarter/Frank, B-VG (2020) Art 10 Rz 3.
58
     Schulev-Steindl, Wirtschaftslenkung und Verfassung 87 f.
59
     Wenger in Korinek/Rill 3 (8).

                                                         -9-
Bedarfskompetenz 60 des Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG war in der frühen Nachkriegszeit eine Kom-
petenz, auf die der Bund seine direkten Wirtschaftslenkungsgesetze tatsächlich gestützt hat. 61

In zeitlicher Nähe zum Abschluss des StV von Wien hat der Bundesverfassungsgesetzgeber
begonnen, derartige Wirtschaftsgesetze mit Kompetenzdeckungsklauseln 62 auszustatten. 63 In
den ErlRV zur RohstofflenkungsG-Nov 1956 wird explizit dargelegt, dass nach Inkrafttreten
des StV eine weitere Heranziehung dieses Kompetenztatbestandes als „sehr bedenklich“ erach-
tet werden müsse. Diese Ansicht wurde iW auf die damalige Rsp gestützt.64 1952 hatte sich der
VfGH im Zusammenhang mit dem Lastenverteilungsgesetz (Energielenkung) ua mit der Aus-
legung des Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG auseinanderzusetzen. Zunächst hat er festgestellt, zur ma-
teriellen Prüfung berechtigt zu sein, ob eine Kriegsmaßnahme zu dieser Zeit noch sachlich ge-
rechtfertigt ist und daher die Sonderkompetenz von der Bundesgesetzgebung noch zu Recht in
Anspruch genommen werden dürfe. Zunächst möge zwar der Bundesgesetzgeber beurteilen
können, ob eine Maßnahme auf diese Kompetenzbestimmung gestützt werden könne. Dies än-
dere aber nichts an der nachträglichen Kontrollbefugnis des VfGH. Unter Verweis auf frühere
Erk 65 könne der Bund Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG noch so lange in Anspruch nehmen, als Öster-
reich die Lasten einer Besatzung zu tragen habe. Schließlich sei Österreich dadurch nicht bloß
im zeitlichen, sondern auch ursächlichen Gefolge des zweiten Weltkrieges in der freien Entfal-
tung eines Wirtschaftslebens nach eigener Willensbildung behindert. 66 Diese Voraussetzung
des Kompetenztatbestandes ist bekanntlich mit Inkrafttreten des StV von Wien weggefallen. 67
Der VfGH hat bereits 1965 festgestellt, dass die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des
Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG zwar am 27. Juli 1955 weggefallen sei, dies aber nur zur Folge habe,

60
     Schulev-Steindl, Wirtschaftslenkung und Verfassung 89 f mwN.
61
     ErlRV 688 BlgNR 7. GP.
62
    Vgl zum typischen Inhalt Neudorfer, Kompetenzdeckungsklauseln außerhalb des B-VG, in
Schmid/Tiefenthaler/Wallnöfer/Wimmer (Hrsg), Auf dem Weg zum hypermodernen Rechtsstaat? (2011) 111
(113 f).
63
     Vgl ua 2. PreisregelungsG-Nov 1955 BGBl 1955/271; RohstofflenkungsG-Nov 1956 BGBl 1955/278.
64
     ErlRV 688 BlgNR 7. GP; vgl auch Wenger, WiPolBl 1978/2, 97 (117 f).
65
     VfGH G 2/49 VfSlg 1882; B 228/50; G 4/50.
66
     VfGH G 6/51 VfSlg 2264.
67
     Wenger/Raschauer in Wenger II, 147 (150).

                                                     - 10 -
dass der Bundesgesetzgeber aufgrund dieses Kompetenzbestandes zukünftig 68 keine Gesetze
mehr erlassen könne. 69 Große Probleme schafft in der Folge die Novellierung. 70

Eine endgültige Klärung über die kompetenzrechtliche Situation brachte schließlich ein Antrag
der BReg auf Kompetenzfeststellung nach Art 138 Abs 2 B-VG, mit welchem sich der VfGH
im Jahr 1968 auseinandergesetzt hatte. Der Bund plante dabei, ein Milchwirtschaftsgesetz zu
erlassen, welches mehrere Instrumente der direkten Wirtschaftslenkung kannte. Dabei betont
der VfGH, dass aufgrund der zahlreichen Kompetenzdeckungsklauseln der Bundesverfassungs-
gesetzgeber selbst davon ausgehen würde, dass die Bedingung des Krieges seit 01.01.1956
nicht mehr gegeben ist. Damit bekräftige der Verfassungsgesetzgeber, dass die wirtschaftlichen
Folgen beider Weltkriege überwunden seien. Daher komme derzeit die Anwendung von
Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG nicht in Betracht. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass es zu keiner
Derogation der Kompetenzbestimmung gekommen ist. Vielmehr könne diese im Kriesgsfall
wiederaufleben. Außerdem könne der Bund etwaige Handlungen uU auch auf andere Kompe-
tenzgrundlagen stützen. So fallen bspw unter den Kompetenztatbestand „Ernährungswesen ein-
schließlich der Nahrungsmittelkontrolle“ auch Maßnahmen, die unmittelbar der Sicherstellung
der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln dienen (näher dazu vgl Kap 2.1.2.1). 71

Dies ist nicht der einzige Fall, in dem Lenkungsmaßnahmen auf andere Kompetenzbestimmun-
gen gestützt werden können. Direkte Lenkungsmaßnahmen auf den Gebieten des Außenhandels
bzw des Geld- 72 und Kreditwesens finden ihre verfassungsrechtliche Deckung in den Kompe-
tenztatbeständen der Art 10 Abs 1 Z 2 und 5 B-VG. Ein tauglicher Kompetenztatbestand ist seit
der B-VG-Nov BGBl 1988/685 auch Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG (Abfallwirtschaft). Solange
dadurch kein Konflikt zu Art 4 B-VG (einheitliches Währungs-, Wirtschafts-, Zollgebiet) auf-
tritt, 73 könnten auch die Länder im Rahmen ihrer Kompetenzen direkte Lenkungsmaßnahmen
ergreifen. 74 Dass den Ländern nach Wegfall der Voraussetzungen des Kriegsfolgentatbestandes

68
  Angesichts von Fällen dynamischer Verweisungen in Wirtschaftslenkungsgesetzen ist dies durchaus krit zu
hinterfragen, vgl Brande, Verfassungs- und Rechtsüberleitung, in FS Wenger (1983) 181 (224 f).
69
     VfGH B 138/64 VfSlg 4939.
70
     Bernárd in Korinek/Rill 113 (114 mwN).
71
     VfGH K II 1/68 VfSlg 5748.
72
     Etwa die Devisenbewirtschaftung, vgl Brande in FS Wenger 181 (226 ff) mwN.
73
     Art 4 B-VG ist schließlich nicht mit völliger Rechtseinheit gleichzusetzen, vgl VfGH B 39/29 VfSlg 1281.
74
   Vgl ua Wenger/Raschauer in Wenger II, 147 (150); eher ablehnend ist hier Rill, Grundfragen des
österreichischen Preisrechts II, ÖZW 1975, 65 (71); differenzierter, aber auch krit ist Korinek, Grenzen der
Wirtschaftslenkung im B-VG, in Korinek/Rill (Hrsg), Grundfragen des Wirtschaftslenkungsrechts (1982) 83 (94).

                                                       - 11 -
keine umfassende Wirtschaftslenkungskompetenz zukomme, 75 unterstreicht, dass Wirtschafts-
lenkung eine Querschnittsmaterie ist. 76 Überdies ist davon auszugehen, dass nicht einmal Ge-
setze „auf Vorrat“ für einen Kriegsfall auf Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG gestützt werden könnten. 77

Bei den Kompetenzdeckungsklauseln ist auffallend, dass diese auf dem Gebiet der Versor-
gungssicherheit stets nur befristet erlassen wurden. 78 Auch die auf Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG
gestützten Lenkungsgesetze waren (mittels einfachgesetzlicher Sunset Clause) stets befristet. 79
Der tatsächliche Grund dafür lässt sich heute kaum noch eruieren. 80

Eine Kompetenzdeckungsklausel ist somit in regelmäßigen Abständen mit erhöhten Quoren
nach Art 44 Abs 1 und 2 B-VG von National- und Bundesrat zu beschließen. Darüber hinaus
erfasst die Kompetenzdeckungsklausel des Art 1 VerssG hinsichtlich der Gesetzgebungskom-
petenz nur die Erlassung und Aufhebung entsprechender Vorschriften, nicht aber deren Ände-
rung. 81 Dass die Kompetenzverteilung im B-VG keine hinreichende Grundlage für eine gesamt-
staatliche Wirtschaftslenkung in Friedenszeiten kennt, ist durchaus konsequent, 82 kann in ei-
nem länger anhaltenden Krisenfall im (politischen) Streit aber zu einer schwierigen Hürde wer-
den.

2.1.1.2. Ziele und Voraussetzungen für Lenkungsmaßnahmen

§ 1 VerssG kennt zwei Tatbestände, die zur Ergreifung von Lenkungsmaßnahmen berechtigen.
Nach § 1 Abs 1 leg cit kann der BMWFW (heute: der BMDW 83) für in der Anlage des VerssG
angeführte Waren(gruppen) im Falle einer unmittelbar drohenden Störung der Versorgung oder

75
     Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1775).
76
     Funk in Korinek/Rill 53 (67).
77
  Vgl Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1775) mwN; aA Bernárd in
Korinek/Rill 113 (115).
78
  Vgl Art 1 RohstofflenkungsG-Nov 1956; Art 1 RohstofflenkungsG-Nov 1957 BGBl 1956/257; Art 1 VerssG
1980 BGBl 1980/282; Art 1 VerssG 1992; Art 1 VerssG-Nov 2016 BGBl I 2016/94.
79
     Vgl § 12 Abs 2 RohstofflenkungsG 1949 BGBl 1949/185; § 12 Abs 1 RohstofflenkungsG 1951 BGBl 1951/106.
80
  Nach den ErlRV 314 BlgNR 6. GP 3 war eine Verlängerung des RohstofflenkungsG 1951 mit Rohstoffknappheit
infolge des Koreakonflikts begründet; die ErlRV 688 BlgNR 7. GP nannten die allgemeine wirtschaftliche Lage
im Jahr 1955; im Jahr 1992 standen ua „terminliche Gründe“ einer dauerhaften Verankerung in Art 10 B-VG
entgegen; seither wird stets argumentiert (vgl ua ErlRV 346 BlgNR 20. GP), dass das VerssG angesichts
potenzieller unionsrechtlicher Verplfichtungen notwendig sei, andererseits Krisen auch unerwartet und rasch
eintreten; N. Wimmer/Arnold, Wirtschaftsverwaltungsrecht in Österreich 49 sahen darin parteipolitische Gründe.
81
   Eine statische Kompetenzdeckungsklausel, vgl Neudorfer in Schmid/Tiefenthaler/Wallnöfer/Wimmer 111 (123);
der Gesetzgeber dürfte aber davon ausgehen, dass Änderungen, die die Bedeutung der einzelnen Bestimmungen
unangetatstet lassen, keiner Verfassungsbestimmung bedürfen, vgl etwa das Sicherheitsbehörden-
Neustruktirierungs-Gesetz BGBl I 2012/50, welches das VerssG ohne Verfassungsbestimmung geändert hat.
82
     Neudorfer in Schmid/Tiefenthaler/Wallnöfer/Wimmer 111 (115).
83
     Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1786).

                                                      - 12 -
zur Behebung einer bereits eingetretenen Störung unbedingt erforderliche Lenkungsmaßnah-
men anordnen. § 1 Abs 1 Z 1 und 2 VerssG kennen hier jedoch Einschränkungen. Einerseits
dürfen diese Störungen keine saisonalen Verknappungen darstellen (Z 1). 84 Andererseits dürfen
marktkonforme Maßnahmen 85 nicht, nicht rechtzeitig oder nur mit unverhältnismäßigem Auf-
wand zum Ziel führen (Z 2). Diese Einschränkungen bestehen iW bereits seit der Rohstofflen-
kungsG-Nov 1978 BGBl 1978/274. 86 Dies ist ein Ausdruck der zu wahrenden Verhältnismä-
ßigkeit und Subsidiarität der Lenkungsmaßnahmen. 87 Lenkungsmaßnahmen nach § 1 Abs 1
VerssG haben nach § 2 leg cit das Ziel, die ungestörte Erzeugung und Verteilung von Waren
aufrechtzuerhalten bzw wiederherzustellen. 88 § 1 Abs 1 letzter HS ordnet zudem die Subsidia-
rität gegenüber Lenkungsmaßnahmen nach anderen Bundesgesetzen an. 89

Nach § 1 Abs 2 VerssG können Lenkungsmaßnahmen auch ergriffen werden, soweit dies zur
Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen aufgrund von Beschlüssen von Organen internati-
onaler Organisationen erforderlich ist. 90

2.1.1.3. Lenkungsmaßnahmen

§ 2 VerssG nennt die möglichen Lenkungsmaßnahmen. Diese sind nach Z 1 Ge- und Verbote
sowie die Anordnung von Bewilligungspflichten hinsichtlich Produktion, Transport, Lagerung,
Verteilung, Abgabe, Bezug, Verbringung, Ein-/Ausfuhr sowie der Verwendung von Waren.
Z 2 ermöglicht Anweisungen an Verfügungsberechtigte von Transport-, Lager- und Vertei-
lungseinrichtungen für gelenkte Waren, § 2 Z 3 leg cit die Statuierung von Meldepflichten. 91

Zur Überprüfung dieser Meldepflichten regelt § 9 VerssG weitgehende Zutritts- und Informa-
tionsrechte. Zur präventiven Versorgungssicherung ist der BMDW nach § 8 leg cit befugt, Da-
ten über störungsanfällige Waren zu erheben und dahingehend auch Auskünfte einzuholen.

84
  Dies wird im Bereich des VerssG kaum der Fall sein, da es primär Lebensmittel (LMBG) oder Brennstoffe (uU
EnLG) sind, die saisonal bedingt vorübergehend knapp werden, vgl Bernárd in Korinek/Rill 113 (124).
85
  Darunter sind nach den ErlRV 1962 BlgNR 24.GP 5 zum EnLG 2012 solche Maßnahmen zu verstehen sind, die
den Markt lediglich unterstützen und dirigieren, den Marktmechanismus aber nicht beeinträchtigen.
86
     ErlRV 315 BlgNR 15. GP 8.
87
     Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1784).
88
   Diese Ziele haben durchaus auch eine solidarische Komponente, vgl Kahl, Selbstverantwortung versus
Solidarität im Wirtschaftsverwaltungsrecht, in WiR – Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg),
Selbstverantwortung versus Solidarität im Wirtschaftsrecht (2014) 20 (39 ff).
89
  Diese Formulierung ist deutlich präziser als die Vorgängerregelung, die anstatt von "Lenkungsmaßnahmen" nur
von "Lenkungen" sprach. Dies warf Fragen nach der Reichweite auf, vgl Bernárd in Korinek/Rill 113 (123).
90
     Erfasst sind damit auch unionsrechtliche Maßnahmen, vgl etwa ErlRV 1261 BlgNR 25. GP.
91
     Dies ist wohl umfassender als die frühere Rechtslage, vgl Kolb, Wirtschafts-Verwaltungsrecht (1977) 76.

                                                       - 13 -
Waren, für die Lenkungsmaßnahmen nach § 2 Z 1 und 2 leg cit bestehen, können nach § 7
VerssG zudem – mit Ausnahmen und stets gegen Entschädigung – beschlagnahmt werden. 92

Verstöße gegen die Bestimmungen des VerssG erklärt § 18 Abs 1 leg cit zur Verwaltungsüber-
tretung. § 18 Abs 4 VerssG ermöglicht – unter den Grenzen der Verhältnismäßigkeit – den
Verfall von Waren und Einrichtungen, die den Gegenstand einer nach § 18 Abs 1 leg cit straf-
baren und vorsätzlich begangenen Handlung bilden, sofern sie dem Täter oder einem Beteilig-
ten gehören. § 11 Abs 1 VerssG kennt als zivilrechtliche Sanktion die Nichtigkeit von Rechts-
geschäften, die entgegen aufrechter Lenkungsmaßnahmen abgeschlossen wurden. Die Nichtig-
keit umfasst nach § 11 Abs 2 leg cit auch vor Inkrafttreten der LenkungsV abgeschlossene
Rechtsgeschäfte, soweit sie noch nicht erfüllt wurden. 93

2.1.1.4. Behörden und Verfahren

Lenkungsbehörde ist der BMDW (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 VerssG). § 4 Abs 1 leg cit ermöglicht
unter bestimmten Voraussetzungen eine Delegation 94 (arg: „an seiner Stelle“) der damit ver-
bundenen Befugnisse an die LH. 95 Durch die Organisationsdeckungsklausel des Art 1 VerssG
gedeckt, ermöglichten die §§ 4 Abs 3, 5 leg cit die Beauftragung gesetzlicher Interessensver-
tretungen bzw bestimmter juristischer Personen mit dem Vollzug von Lenkungsmaßnahmen. 96

Art 55 Abs 5 B-VG sieht vor, dass für Verordnungen des BM über Maßnahmen der Wirtschafts-
lenkung – außer bei Gefahr in Verzug sowie bei Aufhebung der V – die Zustimmung des Haupt-
ausschusses des NR mit erhöhten Präsenz- (1/2) und Konsensquorum (2/3) vorzusehen ist.97
Dies wurde in § 1 Abs 4 und 5 VerssG umgesetzt. Auch wenn dies nicht expressis verbis im
VerssG genannt ist, wird auch eine solche Verordnung des LH dieser Zustimmung bedürfen. 98

Zur Begutachtung von Verordnungen sowie tw zur Beratung und Empfehlung sind ein Bundes-
bzw. pro Bundesland ein Landes-Versorgungssicherungsausschuss zu bilden (§ 14 Abs 1
VerssG), welche sich iW aus Vertretern von Bund, Ländern und Sozialpartnern (§ 14 Abs 2,
§ 16 Abs 1 VerssG) zusammensetzen. Die jeweiligen Ausschüsse sind vor der

92
   Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1785 f); zum selben Ergebnis führt auch
eine ebenso mögliche Ablieferungspflicht, vgl Bernárd in Korinek/Rill 113 (145).
93
     Zur ähnlichen früheren Rechtslage vgl Bernárd in Korinek/Rill 113 (149).
94
     Kahl/Weber, Allgemeines Verwaltungsrecht6 Rz 345.
95
  Vgl auchBernárd in Korinek/Rill 113 (150), wonach der LH über kein Verordnungsrecht verfüge, solange keine
ausdrückliche Beauftragung durch den zuständigen BM erfolgt sei.
96
     Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1783 ff).
97
     Grabenwarter/Frank, B-VG (2020) Art 55 Rz 4.
98
     Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1788).

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Erlassung/Aufhebung von Verordnungen zu hören, 99 bei Gefahr in Verzug nachträglich
(§ 4 Abs 2 leg cit) zu befassen. Durch Verletzung der Anhörungsregeln wird die LenkungsV
gesetzwidrig. 100

V sind je nach Behörde im BGBl bzw LGBl, alternativ im „Amtsblatt zur Wiener Zeitung“
kundzumachen. Alternativ sind subsidiär auch weiterhin 101 alle anderen geeigneten technischen
Möglichkeiten zur Kundmachung oder Weitergabe von Informationen (§ 6 leg cit) möglich.

2.1.1.5. Anwendungsfälle

Wie erwähnt, blieb das VerssG 1992 bisher ohne Anwendung. 102 Dies kann einerseits daran
liegen, dass in der jüngeren Geschichte bislang mit eingriffsärmeren Maßnahmen das Auslan-
gen gefunden werden konnte. Anderseits ist es natürlich auf den ersten Blick ebenso denkbar,
dass seit Ende der frühen Nachkriegszeit die Hürden, auf derartige Instrumente zurückzugrei-
fen, zB durch ein geändertes Grundrechtsverständnis, 103 höher geworden sind. Mangels histo-
rischer Anwendungsbeispiele wird nachstehend versucht darzulegen, ob in einem der eingangs
genannten Bsp eine Anwendung des VerssG denkbar gewesen wäre.

Dabei ist eine Betrachtung des weitreichenderen Beispiels, mit dem GM dazu verpflichtet
wurde, Beatmungsgeräte herzustellen, gewiss interessanter: Zunächst ist in einem ersten Schritt
festzustellen, ob Beatmungsgeräte überhaupt vom Anwendungsbereich des VerssG umfasst
sind. Beatmungsgeräte werden in der Kombinierten Nomenklatur 104 unter dem KN-Code 9019
20 00 geführt. Durch die Zuordnung zu Kap 90 der Kombinierten Nomenklatur ergibt sich aus
§ 1 Abs 1 iVm Z 1 der Anlage des VerssG eine Qualifikation als Ware iSd VerssG. Bei im
Zuge einer Pandemie heillos überfüllten Spitälern 105 kann eine bereits eingetretene Störung
bzw zumindest eine drohende Störung der Versorgung mit Beatmungsgeräten iSd § 1 Abs 1
VerssG wohl außer Streit gestellt werden. Eine saisonale Verknappungserscheinung (§ 1 Abs
1 Z 1 leg cit), die Lenkungsmaßnahmen ausschließen würde, ist zu verneinen. Angesichts der
hohen Dynamik der Entwicklung in den Spitälern, erscheint es auch fraglich, ob diese

99
  Eine Bindung des zuständigen BM an eine solche Entscheidung muss verfassungsgesetzlich vorgesehen sein,
vgl explizit zur Wirtschaftslenkung VfGH G 7/52 VfSlg 2323.
100
      Bernárd in Korinek/Rill 113 (141).
101
      Zu nicht-digitalen Beispielen vgl Bernárd in Korinek/Rill 113 (144).
102
      Das vorangegangene SchrottlenkungsG wurde hingegen durchaus angewandt, vgl Kap 3.1.1.1.
103
      Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht11 Rz 693.
104
      VO (EWG) 2658/87 ABl L1987/256, 1 idF VO (EU) 2019/1776 ABl L 2019/280, 1.
105
    Rottmann, Nun kommen die Patienten schon sehr schwer erkrankt an, alle haben die gleichen Symptome,
https://www.welt.de/vermischtes/article206782355 (Stand 25. 3. 2020).

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Störungen durch marktkonforme Maßnahmen rechtzeitig und nicht nur mit unverhältnismäßi-
gen Mitteln abgewendet oder behoben (§ 1 Abs 1 Z 2 VerssG) hätten werden können. Daher
ergibt ein vorläufiges Ergebnis, dass Lenkungsmaßnahmen in diesem Fall wohl grds zulässig
sind. Die Verpflichtung, Beatmungsgeräte zu produzieren, lässt sich als Gebot hinsichtlich der
Produktion als Lenkungsmaßnahme unter § 2 Z 1 leg cit subsumieren. Diese ist in einer derar-
tigen Situation gewiss auch eine erforderliche Lenkungsmaßnahme iSd § 1 Abs 1 VerssG.

Fraglich erscheint, ob das VerssG geeignet ist, nur ein bestimmtes Unternehmen zur Produktion
zu verpflichten. Dies ist zu verneinen. Das VerssG kennt lediglich das Instrument der V, die
einen generellen Akt darstellt. 106 Der Unterschied zwischen einem generellen und einem indi-
viduellen Verwaltungsakt liegt aber gerade in der Person des Normadressaten. 107 Der Gesetz-
geber hätte zudem das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem verletzt, wenn er für indivi-
duell adressierte verwaltungsbehördliche Akte die Form der V vorsehen würde. 108 Zudem er-
scheint es fraglich, ob eine V, die den Adressatenkreis nur auf ein einziges von potenziell meh-
reren und darüber hinaus ein nicht fachkundiges Unternehmen einschränkt, den Anforderungen
des Art 7 B-VG genügt. Zusammenfassend ist das VerssG in einem Vergleichsfall mE anwend-
bar, eine derartige Einschränkung des Adressatenkreises allerdings nicht möglich.

2.1.2.       Lebensmittelbewirtschaftung

Zweck der Lebensmittelbewirtschaftung ist die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung und
sonstiger Bedarfsträger (zB der militärischen Landesverteidigung) mit Grundnahrungsmitteln
in Krisenfällen. 109

Rechtsquelle ist dafür in Österreich das LMBG (BGBl 1996/789 idF BGBl I 2016/113). Dieses
geht historisch auf das LMBG 1952 zurück, welches jedoch bis zum Jahr 1997 so oft novelliert
wurde, dass keine einzige Bestimmung der Stammfassung mehr in Geltung steht. 110 Bewirt-
schaftungsmaßnahmen betreffend Lebensmittel wurden in den Nachkriegsjahren durch V ge-
setzt 111 und basierten allesamt auf einem eigenen Ermächtigungsgesetz 112 von 1945.

106
      Kahl/Weber, Allgemeines Verwaltungsrecht6 Rz 393.
107
      VwGH 1064/67 VwSlg 7242 A/1967.
108
      VfGH G 41/03 ua VfSlg 17.018.
109
      Müller, Versorgungssicherungsrecht, in Holoubek/Potacs4 II, 1773 (1801); ErlRV 1263 BlgNR 25. GP 1.
110
      ErlRV 324 BlgNR 20. GP 9.
  Vgl ua die Verordnung des Staatsamtes für Land- und Forstwirtschaft über die Erfassung, Aufbringung und
111

Ablieferung von Getreide, Hülsenfrüchten und Kartoffeln StGBl 1945/108 idF StGBl 1945/193.
  G über das Verordnungsrecht des Staatsamtes für Volksernährung, betreffend die Bewirtschaftung von Lebens-
112

mitteln StGBl 1945/63 idF BGBl 1947/26.

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