Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities

Die Seite wird erstellt Antonia Weigel
 
WEITER LESEN
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
Ausgabe 11 | 2020

                           Präjudiz
             Basler Gericht setzt ein Zeichen in der
                  Behindertenhilfe. – Seite 38

                                                       Fachzeitschrift Curaviva
                                                       Verband Heime & Institutionen Schweiz

                                                       Integrierte Versorgung
                                                       Wie die Zusammenarbeit gelingt

2015211_Curaviva_11-2020_01_Front_3968007.indd 1                                               29.10.20 17:51
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
«Integrierte Modelle müssen
          noch besser die Menschen mit all
          ihren Bedürfnissen in den Blick
          nehmen.»

              Elisabeth Seifert
              Chefredaktorin

          Liebe Leserin,
          lieber Leser
          Wahrscheinlich haben auch Sie, um einen Prämienrabatt zu              brauche es ­neben einem Kulturwandel auch die entsprechen-
          erhalten, ein alternatives Versicherungsmodell gewählt. Ein           den finanziellen Anreize und die Entwicklung einer digitalen
          Modell womöglich, in dem der Hausarzt respektive die Haus-            Infrastruktur mit Plattformen, auf die alle Involvierten Zugriff
          ärztin oder eine Gruppenpraxis die erste Anlaufstelle für ge-         haben.
          sundheitliche Fragen ist. Vielleicht aber wenden Sie sich auch        Diese Herausforderungen akzentuieren sich mit Blick auf die
          zuerst an eine Apotheke oder an ein telemedizinisches Ange-           wichtigste Patientengruppe: betagte, fragile Frauen und Män-
          bot. Wenn ja, gehören Sie damit zum überwiegenden Teil der            ner. Neben dem rein Medizinisch-Pflegerischen kommen bei
          Bevölkerung in der Schweiz.                                           ihnen soziale, psychische oder finanzielle Themen dazu. Die
          Diese Modelle bildeten den Start der sogenannt integrierten           noch stark auf den Gesundheitsbereich fokussierten Modelle
          Versorgung im Jahr 1996, im Zuge der damaligen Revision               müssen künftig besser die Menschen mit all ihren Bedürfnis-
          des KVG. «Integriert» deshalb, weil die erste Anlaufstelle eine       sen in den Blick nehmen. Die integrierte Versorgung wird sich
          Gatekeeping-Funktion übernimmt, was die Koordination mit              immer mehr in Richtung sozialräumlich ausgerichteter Kon-
          den Spezialistinnen und Spezialisten oder nachgelagerten              zepte entwickeln: Dabei geht es darum, gemeinsam mit den
          Einrichtungen wie mit der Spitex oder dem Spital einschliesst.        Betroffenen und rund um sie herum ein auf ihre individuellen
          Neben dem Ausdruck «integrierte» Versorgung haben sich in             Bedürfnisse zugeschnittenes Hilfesystem zu entwickeln.
          den vergangenen Jahren auch «koordinierte» oder «vernetzte»           Neben professionellen Akteurinnen und Akteuren aus den
          Versorgung eingebürgert. Und längst sind aus den ersten An-           unterschiedlichsten Bereichen werden in solch umfassend
          fängen der integrierten, ambulanten Grundversorgung zahl-             verstandenen Modellen auch Freiwillige und Nachbarschaf-
          reiche Modelle integrierter Versorgung entstanden, die neben          ten mit einbezogen. Ein derartiges ganzheitlich integriertes
          dem ambulanten auch den stationären oder teilstationären              Modell ist etwa das in der Gemeinde Reichenburg SZ entstan-
          Bereich abdecken und eine Reihe unterschiedlicher Leistungs-          dene grosse Netzwerk mit dem Namen «Richäburg füränand»
          erbringer einschliessen. Gemäss einem Bericht des Schweize-           (Seite 19). Eine Vielzahl von Leistungserbringenden vereint
          rischen Gesundheitsobservatorium aus dem Jahr 2017 gibt es            auch die vor mehr als zehn Jahren aus der Not heraus entstan-
          mittlerweile über 150 Initiativen in diesem Bereich.                  dene Gesundheitsregion Engiadina Bassa (Seite 16). Neben der
          Das können auf einzelne Zielgruppen und Krankheitsbilder              Zusammenarbeit der Leistungserbringer ergänzen private
          bezogene Modelle sein bis hin zu grossen Gesundheitsregio-            Ini­
                                                                                ­  t iativen das Angebot, die gerade auch der sozialen und
          nen oder -netzen. Die Anzahl der Initiativen darf nicht darü-         mentalen Gesundheit zugutekommen.           •
          ber hinwegtäuschen, dass es sich bei vielen dieser Initiativen
          um «Insellösungen» handelt, wie Ursula Koch im Interview
          mit der Fachzeitschrift feststellt (Seite 6). Sie ist die Präsiden-
          tin des Schweizer Forums für Integrierte Versorgung FMC.
          ­Unser Versorgungssystem sei immer noch stark auf singuläre
                                                                                Titelbild: Für eine erfolgreiche integrierte Versorgung braucht es eine
          Gesundheitsprobleme ausgerichtet, die ganzheitliche Sicht             verbindliche Zusammenarbeit der Leistungserbringenden.
          komme zu kurz, sagt Koch. Damit sich hier etwas ändert,                                                                     Foto: Adobe Stock

                                                                                                                              3       CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_02-03_Editorial_3968213.indd 3                                                                                              29.10.20 17:56
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
Ursula Koch                                          Matthias Radtke                                        Thomas Jaun

                                                     6                                                19                                                    30
              Inhaltsverzeichnis

          Integrierte Versorgung                                                                      Kinder & Jugendliche
          «Hinter vielen Initiativen stehen engagierte Einzelpersonen» 6                             Zehn Jahre Höhere Fachschule                                       30
          Ursula Koch vom Forum für Integrierte Versorgung über Gesundheits-                          Der Pädagoge Thomas Jaun ist Leiter der Höheren Fachschule für
          zentren und Gesundheitsregionen: Damit die Zusammenarbeit noch                              Kindererziehung von Curaviva. Er ist überzeugt, dass die Schule die
          besser funktioniert, brauche es einen Kulturwandel und Anreize.                             Professionalität der ausserfamiliären Kinderbetreuung gesteigert hat.

          Vorbild Waadt                                                                      11      Zivildienst in der Schulstube                                                         33
          Im Kanton Waadt ist gesetzlich geregelt, was für die integrierte                            Junge Männer assistieren den Lehrpersonen und stellen
          Gesundheitsversorgung gilt. Ein Modell auch für Deutschschweizer                            Fragen an die Schule.
          Kantone? Nur bedingt.
                                                                                                      Soziale Arbeit und Corona in Taiwan                               36
          Gesundheitsversorgung im Unterengadin                           16                         Covid-19 ist eine globale Pandemie und hat weltweit Folgen für die
          Der Not gehorchend hat man vor über zehn Jahren die Gesundheits-                            Soziale Arbeit. Wie geht man wo damit um? Zum Beispiel in Taiwan.
          versorgung im Unterengadin in eine Organisation gepackt. Heute gilt
          das Center da sandà als gesundheitspolitischer Leuchtturm.                                  Behinderung
                                                                                                      Wegweisendes Gerichtsurteil                                                           38
          Netzwerk im Kanton Schwyz                                          19                      Wer einen behinderungsbedingten Unter­stützungsbedarf hat,
          In Reichenburg SZ ist in den letzten Jahren ein weitgefächertes Netz                        kann auch im AHV-Alter Behindertenhilfe beantragen Das Urteil
          für integrierte Versorgung entstanden. «Richäburg füränand» bietet                          des Verwaltungsgerichts Basel-Stadt dürfte Konsequenzen haben.
          eine ganzheitliche Gesundheitsversorgung ­f ür alle an.
                                                                                                      Alter
          Kosten und Finanzierung des betreuten Wohnens                                      23
                                                                                                      Pflegetarife unter der Lupe                                           41
          Für Menschen mit eher tiefem Unter­stützungsbedarf ist betreutes
                                                                                                      Eine Tätigkeits­analyse schafft Klarheit über zu tiefe Pflegetarife und
          Wohnen günstiger als ein Pflegeheim. Damit dieses Wohnen für alle
                                                                                                      Quersubventionierungen durch Betreuung und Hotellerie. Eine
          bezahlbar ist, müssen die Ergänzungsleistungen angepasst werden.
                                                                                                      Grundlage für die Diskussion mit den Finanzierern.

          Palliative Care als Teil der Gesundheitsversorgung            26
                                                                                                      Freiwillige in Pflegeheimen                                                           44
          Der Bundesrat will die Betreuung und Behandlung von Menschen am
                                                                                                      In der Interprofessioneller Zusammenarbeit (IPZ) im Pflegewesen
          Lebensende verbessern und allen zugänglich machen. Akteure der
                                                                                                      spielen Freiwillige eine wichtige Rolle. Doch sie müssen in diese
          Palliative Care fordern nun konkrete Schritte.
                                                                                                      Zusammenarbeit richtig und sinnvoll integriert werden.

                                                                                                      Journal
                                                                                                      Buchtipp                                                                              48
                                                                                                      Carte Blanche                                                                         49
                                                                                                      Kurznachrichten                                                                       49
                                                                                                      Stelleninserate                                                                13, 47
                                                   FSC Zertifikat

              Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Urs Tremp (ut); Claudia Weiss (cw); Anne-Marie Nicole (amn) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber:
              CURAVIVA – Verband Heime und Institutionen Schweiz, 91. Jahrgang • Adresse: Hauptsitz CURAVIVA Schweiz, Zieglerstrasse 53, 3000 Bern 14 • Briefadresse: Postfach,
              3000 Bern 14 • Telefon Hauptnummer: 031 385 33 33, Telefax: 031 385 33 34, E-Mail: info@curaviva.ch, Internet: www.fachzeitschrift.curaviva.ch • Geschäfts-/Stelleninserate:
              Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Laubisrütistrasse 44, 8712 Stäfa, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@fachmedien.ch • Stellenvermittlung: Telefon 031 385 33
              63, E-Mail: stellen@curaviva.ch, www.sozjobs.ch • Satz und Druck: AST & FISCHER AG, Digital Media and Print, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 031 963 11 11,
              Telefax: 031 963 11 10, Layout: Belinda Flury • Abonnemente: Natascha Schoch, Telefon: 041 419 01 60, Telefax: 041 419 01 62, E-Mail: n.schoch@curaviva.ch • Bestellung
                              von Einzelnummern: Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@curaviva.ch • Bezugspreise 2014: Jahres­abonnement Fr. 125.–, Einzelnummer Fr. 15.–, inkl. Porto und
                              MwSt.; Ausland, inkl. Porto: Jahresabonnement Fr. 150.–, Einzelnummer keine Lieferung • Erscheinungsweise: 10×, monatlich, Januar/Februar Winterausgabe,
              Publikation2018 Juli/August Sommerausgabe • Auflage (deutsch): Druckauflage 4000 Ex., WEMF/SW-Beglaubigung 2017: 2848 Ex. (Total verkaufte Auflage 2777 Ex., Total
                              Gratisauflage 71 Ex.), Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe.             ISSN 1663-6058
                 FOKUSSIERT
                 KOMPETENT
                 TRANSPARENT

                                                                                                                                                                5        CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_04-05_Inhalt_3968438.indd 5                                                                                                                                         29.10.20 17:57
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
Integrierte Versorgung

                         In den letzten 25 Jahren sind viele Modelle der integrierten Versorgung entstanden

                         «Es handelt sich oft um Insellösungen»

                                                                                           schliesst der Arzt einen Vertrag mit der Versicherung ab und
                         Im Jahr 1996 sind die ersten Ärztenetze gestartet.                übernimmt dadurch idealerweise auch die Verantwortung für
                         Heute gibt es grosse Versorgungsunternehmen,                      Qualität und Kosten. Die Versicherten bekommen durch die
                         Gesundheitszentren und Gesundheitsregionen,                       Wahl dieses Modells einen Versicherungsrabatt.
                         die eine Vielzahl von Leistungserbringenden mit-
                         einander vernetzen. Ursula Koch* vom Forum für                    Ein Drittel der Bevölkerung hat die Hausärztin oder den
                         Integrierte Versorgung kennt die Entwicklung.                     Hausarzt als erste Anlaufstelle – das scheint nicht sehr viel?
                                                                                           Tatsächlich haben bedeutend mehr, nämlich 75 Prozent der
                         Interview: Elisabeth Seifert
                                                                                           Bevölkerung, ein sogenannt alternatives Versicherungsmodell
                                                                                           gewählt. Darunter sind nicht nur Hausarztmodelle zu verste-
                         Vor rund 25 Jahren wurden als Folge des neuen KVG die             hen, sondern das können auch Listenmodelle sein, wo ein Ver-
                         ersten Ärztenetzwerke gegründet. Wie haben sich diese             sicherter einen Arzt auf einer Liste wählt, oder auch neue Mo-
                         etabliert?                                                                         delle, bei denen Apotheken, telemedizinische
                         Ursula Koch: Man kann hier von einer Erfolgs-                                      Stellen oder eine App als erste Anlaufstelle
                         geschichte sprechen. Mehr als 50 Prozent der          «Ärztenetzen ist             dienen. Das Gatekeeping, die erste Anlaufstel-
                         Ärztinnen und Ärzte, vor allem Hausärztin-            es gelungen, die             le, hat sich stark diversifiziert. Wichtig ist zu
                         nen und Hausärzte, haben sich in der Zwi-            ambulante Grund-              sagen, dass die Ärztenetzwerk-Pioniere wie
                         schenzeit einem Ärztenetzwerk angeschlos-              versorgung zu               etwa Medix, die 1996 gestartet sind, seit über
                         sen. Dabei hat rund ein Drittel der Schweizer          koordinieren.»              20 Jahren erfolgreich sind und sich gut etab-
                         Bevölkerung als erste Anlaufstelle eine Haus-                                      liert haben. Ursprünglich gab es solche Ärzte-
                         arztpraxis gewählt. Der Hausarzt übernimmt                                         netzwerke nur in der Deutschschweiz, mitt-
                         dabei eine Gatekeeping-Funktion und damit auch die Koordi-        lerweile sind sie auch in der Westschweiz und im Tessin
                         nation mit den Spezialisten und den nachgelagerten Einrich-       vertreten. Den Ärztenetzwerken ist es damit schweizweit ge-
                         tungen, etwa dem Spital oder der Spitex. Bei diesen Modellen      lungen, die ambulante Grundversorgung zu koordinieren.

                                                                                           Ist die Gesundheitsversorgung dadurch besser und kosten-
                         *Ursula Koch, 43, Dr., FSP Gesundheitspsychologie. Sie ist seit   günstiger geworden?
                         Juni 2020 Präsidentin des Schweizer Forums für Integrierte        Es gibt mittlerweile einige Studien, die Kosteneinsparungen
                         Versorgung FMC. Sie war unter anderem Abteilungsleiterin          von rund 15 Prozent belegen. Ob die ambulante Grundversor-
                         «Nicht übertragbare Krankheiten» beim Bundesamt für Gesund-       gung besser geworden ist, ist jedoch schwierig zu sagen. Und
                         heit und Geschäftsleitungsmitglied der Krebsliga Schweiz.         zwar deshalb, weil wir in der Schweiz kaum vergleichbare Da-
                         Aktuell leitet Ursula Koch ein sozialmedizinisches Zentrum mit    ten haben. Der erste nationale Bericht zur Qualität und Patien-
                         Angeboten für Kinder und Jugendliche in Zürich.                   tensicherheit kritisiert denn auch die mangelnde Qualitätstrans-
                                                                                           parenz. Wenn man sich jedoch an ähnlichen Strukturen in

                         CURAVIVA 11 | 20
                                             6
2015211_Curaviva_11-2020_06-10-Interview_Ursula-Koch_3968639.indd 6                                                                                         29.10.20 18:13
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
Holland und den USA orientiert, dann zeigt sich: Die Behand-            Sprechen Sie mit diesen Versorgungsunternehmen unter
          lungsqualität wird besser und es gibt auch weniger unnötige             anderem Medbase an?
          Leistungen. Holland ist sehr weit, was die koordinierte, haus-          Medbase kann tatsächlich als Versorgungsunternehmen be-
          ärztliche Grundversorgung betrifft.                                     zeichnet werden, das den ganzen ambulanten Bereich abdeckt.
                                                                                  Spannend ist dabei, dass sie von Prävention über Physiothera-
          Im Verlauf der letzten rund 25 Jahre hat sich die Vernetzung            pie und Grundversorgung bis hin zu ambulanten Operations-
          und Koordination auf weitere Leistungser-                                               zentren alles abdecken. Ein anderes Beispiel
          bringende ausgeweitet. Können Sie diese                                                 ist das privat geführte Swiss Medical Network,
          Entwicklung näher beschreiben?                              «Gesundheitsnetze           das den ganzen stationären Bereich umfasst
          Wie eine Studie des Forums für Integrierte                   beziehen oft auch          und zudem ambulante Praxen akquiriert hat.
          Versorgung zeigt, haben sich viele unter-                     Nachbarschafts-           Das Swiss Medical Network versucht auf diese
          schiedliche Modelle entwickelt. Wir sprechen                und Freiwilligenhilfe       Weise, einen grossen Teil der Versorgung ab-
          von schweizweit gut 150 Initiativen im Bereich                   mit ein.»              zudecken. Es entspricht zudem einem klaren
          der integrierten Versorgung. Zunächst haben                                             Trend, dass die Versorgungsbereiche immer
          sich Modelle vor allem innerhalb eines Versor-                                          stärker zusammenwachsen.
          gungsbereichs entwickelt, etwa der ambulanten oder der sta-
          tionären Grundversorgung. Im ambulanten Bereich haben wir               In vielen Regionen ist auch die Entstehung von Gesund-
          die Organisationen der vernetzten Grundversorgung, über die             heitszentren zu beobachten?
          wir soeben gesprochen haben. Bei Modellen im stationären                Ja, Gesundheitszentren haben sich unterdessen gut etabliert.
          Bereich geht es vor allem um die Verbesserung der Prozesse              Viele dieser Zentren sind aus Ärztenetzen entstanden, oder
          und Schnittstellen von Spitälern mit nachgelagerten Stellen,            Regionalspitäler wurden zu Gesundheitszentren umgebaut.
          der Rehabilitation oder der Langzeitpflege. Auch sind Koope-            Diese zeichnen sich dadurch aus, dass neben Hausärztinnen
          rationen mit niedergelassenen ambulanten Grundversorgern                und Hausärzten auch Spezialistinnen und Spezialisten und
          entstanden. Weiter ist die Bildung von sogenannten Versor-              weitere Leistungserbringer wie Psycho- oder Physiotherapeu-
          gungsunternehmen zu beobachten.                                         ten oder auch die Spitex im gleichen Haus arbeiten. Darüber             >>

            Ursula Koch, Präsidentin des Schweizer Forums für Integrierte Versorgung FMC: «Wir sprechen von schweizweit gut
            150 ­Initiativen im Bereich der integrierten Versorgung.»                                                                   Foto: esf

                                                                                                                          7      CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_06-10-Interview_Ursula-Koch_3968639.indd 7                                                                                 29.10.20 18:13
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
hinaus bestehen oft Kooperationen mit externen Institutio-          Wie schaut es in den Landesteilen aus?
Integrierte Versorgung

                         nen, etwa mit Pflegeheimen. Durch die räumliche Nähe ent-           Während sich in der Deutschschweiz, wie bereits erwähnt,
                         steht eine bessere Kooperation, dies insbesondere dann, wenn        schon früh Ärztenetzwerke entwickelt haben, sind in der West-
                         formalisierte Zusammenarbeitsvereinbarungen bestehen.               schweiz vor allem Programme für chronisch kranke Menschen
                                                                                             oder Gesundheitsnetze entstanden. Zum Beispiel das Réseau
                         Gesundheitszentren sind nicht zu verwechseln mit Gesund-            Santé Vaud: Der Kanton Waadt ist in vier Versorgungsregionen
                         heitsregionen?                                                      eingeteilt und für diese Regionen gibt es jeweils eine interak-
                         In Gesundheitsregionen oder Gesundheitsnetzen ist eine Viel-        tive Karte, auf der man genau sieht, wer, wo und was anbietet.
                         zahl von Leistungserbringenden miteinander verbunden. Die-          Zudem habe die Regionen Koordinationsbüros, die bei der Ori-
                         se Modelle beziehen oft neben klassischen Versorgungsleistun-       entierung behilflich sind. Wichtig sind dort auch die sogenann-
                         gen auch die Nachbarschafts- und Freiwilligenhilfe mit ein.         ten centres médico-sociaux, die auch die Spitex und weitere
                         Das Gesundheitszentrum kann hier einer der Akteure sein.            Fachpersonen integrieren und den Unterstützungsbedarf für
                         Gesundheitsregionen und -netze haben sich vor allem auf dem         die Langzeitpflege abklären. Gesundheitsnetze haben sich
                         Land entwickelt. Ziel ist es, die Bevölkerung einer ganzen Re-      praktisch in allen Westschweizer Kantonen etabliert. Sie funk-
                         gion zu versorgen. Die Zusammenarbeit der Leistungserbringer        tionieren aber überall wieder etwas anders.
                         und der Integrationsgrad der unterschiedlichen Versorgungs-
                         angebote ist je nach Region allerdings unterschiedlich verbind-     Ist in der Westschweiz die integrierte Versorgung verdichteter
                         lich und unterschiedlich umfassend. Den Gegenpol zu solchen         als in der Deutschschweiz?
                         Gesundheitsregionen bilden indikationsspezifische Modelle,          Der Kanton Waadt ist wie gesagt sehr weit. Der Kanton hat sich
                         die sich an bestimmte Zielgruppen richten.                          stark für eine ganzheitliche Versorgung eingesetzt und den
                                                                                             Aufbau integrierter Strukturen auch mit öffentlichen Geldern
                         Können Sie das näher erläutern?                                     unterstützt. So können Abklärungs-, Beratungs- und Koordi-
                         Es geht dabei um Chronic Care Modelle, die auf eine bestimm-        nationsleistungen oft nicht über das KVG abgerechnet werden,
                         te chronische Erkrankung, etwa COPD oder Diabetes, ausge-           wodurch zumindest finanziell der Anreiz fehlt, zusammenzu-
                         richtet sind, oder um zielgruppenspezifische Angebote, die sich     arbeiten. Generell in der Westschweiz leisten die Kantone im
                         an ältere oder multimorbid erkrankte Menschen richten. Die          Unterschied zur Deutschschweiz zumindest in der Aufbau­
                         Betroffenen brauchen nämlich nicht immer eine Vollversor-           phase solcher Netzwerke finanzielle Unterstützung.
                         gung, sondern oft nur spezifische Informationen, die Kontrol-
                         le des Verlaufs oder Unterstützung bei der Veränderung des          Welches sind weitere wichtige Erfolgsfaktoren für integrierte
                         Lebensstils.                                                        Versorgungsmodelle?
                                                                                             Vorausschicken möchte ich, dass es nicht die eine ideale Stan-
                         Wie gut ausgebaut ist heute die integrierte respektive              dardlösung gibt, sondern vielmehr auf die Strukturen und Ziel-
                         vernetzte Versorgung in der Schweiz?                                gruppen angepasste Lösungen. Bei all diesen Lösungen wichtig
                         Die integrierte Versorgung in der Schweiz ist sehr vielseitig und   erscheint mir zum einen die ganzheitliche Perspektive, die
                         hat sich auch regional sehr unterschiedlich entwickelt. Durch       auch das Lebensumfeld sowie soziale und psychische Aspekte
                         unser föderalistisches System hat jeder Kanton seine Versor-        mitberücksichtigt. Der Patient oder Klient muss im Mittelpunkt
                         gung individuell organisiert. Die Leistungserbringer sind ab-       stehen und in die Versorgung integriert werden.
                         hängig von den politischen und strukturellen
                         Rahmenbedingungen. Ganz zentral ist aber                                            Sie sprechen hier die Entwicklung personen-
                         auch das Engagement der jeweiligen Leis-                «Viele der gut              zentrierter Dienstleistungen an?
                         tungserbringer. Viele der gut 150 Initiativen          150 ­Initiativen             Der betroffene Mensch kennt sich und seine
                         sind vorangetrieben worden von einzelnen             sind von einzelnen             Symptome meistens am besten und muss in
                         engagierten Personen. Das ist zugleich das            Personen voran­               die Entwicklung von Behandlungsplänen
                         Problem: Es handelt sich oft um Insellösungen        getrieben worden.»             zwingend involviert werden. Das ist aber nur
                                                                                                             der eine Teil. In den Mittelpunkt rücken müs-
                         Welche Unterschiede lassen sich zwischen                                            sen auch die unterschiedlichen Bedürfnisse
                         städtischen und ländlichen Regionen erkennen?                       der Menschen. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die Sicherstellung
                         In den grossen städtischen Zentren haben wir eine sehr hohe         der Versorgung über den ganzen Patientenpfad hinweg. Dazu
                         Leistungsdichte. Das führt zu einem konkurrenzierenden Ne-          gehört ein gutes Schnittstellenmanagement, damit Versor-
                         beneineinander der Leistungserbringer. Neben den Ärztenetz-         gungsbrüche vermieden werden.
                         werken gibt es hier zum Beispiel die Universitätsspitäler mit
                         ihren eigenen Kooperationen oder auch Chronic-Care-Zentren.         Sie haben in unserem Gespräch bis jetzt immer wieder die
                         Auf dem Land ist das anders. Da haben wir eher wenige Grund-        Notwendigkeit von Zusammenarbeitsvereinbarungen
                         versorger. Um die Bevölkerung zu versorgen, wurden etwa im          angesprochen: ein zentraler Erfolgsfaktor?
                         Kanton Graubünden die Regionalspitäler zu Gesundheitszent-          Grundsätzlich zeichnen sich integrierte Versorgungsmodelle
                         ren umgewandelt. Und rundherum haben sich netzartig                 durch die strukturierte und verbindliche Zusammenarbeit ver-
                         ­Kooperationen mit verschiedenen Akteuren entwickelt. Die           schiedener Leistungserbringer und Professionen über den gan-
                         ­Gesundheitsregion Engadina Bassa ist ein gutes Beispiel hierfür.   zen Behandlungspfad aus. Damit das gelingen kann, braucht

                         CURAVIVA 11 | 20
                                            8
2015211_Curaviva_11-2020_06-10-Interview_Ursula-Koch_3968639.indd 8                                                                                       29.10.20 18:13
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
es im Minimum eine formalisierte Vereinbarung zwischen zwei             Wie funktioniert die Kooperation der Leistungserbringenden?
          Versorgungsbereichen respektive zwei Leistungserbringern,               Es gibt verschiedene Angebote, die sich spezifisch um die Be-
          die eine gemeinsame Verantwortung für Kosten und Qualität               dürfnisse von älteren Menschen kümmern. Im Kanton Zürich
          einer bestimmten Patientengruppe gewährleisten.                         gibt es etwa das von der Pro Senectute getragene Projekt Care-
                                                                                                  netplus. Im Rahmen einer umfangreichen Ab-
          Ein grosses Hindernis für eine solche                                                   klärung wird hier der individuelle gesundheit-
          gemeinsame Verantwortung ist dabei wahr-                      «Es gelingt besser,       liche und soziale Bedarf abgeklärt. Es geht
          scheinlich auch die sehr unterschiedliche                   koordinative Angebote       darum, einen Behandlungsplan gemeinsam
          Finanzierung der Leistungserbringenden?                      zu verankern, wenn         mit allen Beteiligten zu erstellen, mit den Be-
          Wir brauchen eine Neuverteilung der Finanz-                  die öffentliche Hand       troffenen, den Angehörigen und den Leis-
          mittel. Da stehen wir noch ganz am Anfang.                     dahintersteht.»          tungserbringenden. Ein anderes Beispiel, das
          Die Finanzmittel müssten rund um die integ-                                             auch den teilstationären und stationären Be-
          rierten Dienstleistungen gebündelt werden.                                              reich abdeckt, ist die Thurvita AG, die sich im
          Diese können etwa einzelne Krankheitsepisoden umfassen,                 Besitz der Gemeinde Wil und weiterer Gemeinden befindet. Ziel
          wobei alle interdisziplinären Leistungen, die in einer bestimm-         ist auch hier die Sicherstellung von Hilfe- und Serviceleistun-
          ten Behandlungsepisode erbracht werden, als Pauschale zu-               gen für Menschen bis ins hohe Alter.
          sammen abgerechnet werden. Praktisch am Anfang stehen wir
          auch bei der Entwicklung der digitalen Infrastruktur. Für ein           Sind Carenetplus und die Thurvita AG in ihren Regionen
          gutes Patientenmanagement über den ganzen Behandlungspfad               verankert?
          hinweg braucht es auch einen gut strukturierten, gemeinsamen            Ich kenne die Situation vor allem bei Carenetplus. Das Modell
          digitalen Zugriff aller involvierten Leistungserbringenden auf          ist von der Absicht her beispielhaft, hat aber Schwierigkeiten
          die verschiedenen Behandlungsdokumente.                                 zu bestehen. Es handelt sich um ein neues, externes Angebot,
                                                                                  das die verschiedenen Leistungserbringer erst kennen und
          Wie gut wird die integrierte Versorgung nach heutigem Stand             dann auch nützen müssen. Es gibt neben Carnetplus auch an-
          der wichtigsten Patientengruppe gerecht, nämlich den                    dere interessante Versuche. Solche Angebote müssen idealer-
          betagten Menschen?                                                      weise ein integraler Teil der Versorgungslandschaft werden.
          Das aktuell immer noch fragmentierte Versorgungssystem er-              Das aber ist vielfach noch nicht der Fall. Dort, wo wie bei der
          möglicht eine sehr gute spezialisierte Behandlung. Wir sind             Thurvita AG die öffentliche Hand dahintersteht, gelingt es
          gut ausgerichtet auf akutmedizinische, singuläre Gesundheits-           ­besser, koordinative Angebote in einer Region zu verankern.
          probleme. Das System kommt aber in Bedrängnis, wenn die
          Behandlungs- und Betreuungssituationen komplexer werden.                Wir stehen also bei der umfassenden, vernetzten Versorgung
          Dies ist etwa bei multimorbiden Patienten der Fall, wo mehre-           älterer und hochbetagter Menschen in der Schweiz noch am
          re Leistungserbringende parallel zusammenarbeiten müssen.               Anfang?
          Bei älteren Menschen kommen neben medizinisch-pflegeri-                 Wir sind in diesem Bereich nicht dort, wo wir sein sollten. Im-
          schen Leistungen oft noch psychische, soziale und finanzielle           mer besser funktioniert die Kooperation von Spitälern mit nach-
          Themen dazu. Dies erfordert die Zusammenarbeit mit weiteren             gelagerten Organisationen, der Reha oder der Langzeitpflege.
          Leistungserbringern und Kostenträgern. Die Komplexität und              Das greift aber häufig zu kurz. Die Leistungserbringenden ler-
          der Koordinationsbedarf nehmen nochmals zu.                             nen in ihren Ausbildungen einzelne Gesundheitsprobleme spe-
                                                                                  zialisiert zu behandeln. Und das machen sie in der Regel gut.       >>

                                                                                                                           9      CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_06-10-Interview_Ursula-Koch_3968639.indd 9                                                                             29.10.20 18:13
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
Aber alles, was mit Koordination zu tun hat und mit einer ganz-   ­soziales Miteinander im Quartier engagieren und Teilhabe
Integrierte Versorgung

                         heitlichen Sicht auf die Menschen, kommt bei dieser speziali-     ermöglichen.
                         sierten Sichtweise zu kurz. Spezialisierung ist sozusagen der
                         «Normalzustand» unseres Gesundheitssystems. Alles, was            Und jemand respektive eine Organisation muss all diese
                         darüber hinausgeht, braucht Aufwand und Energie. Um einen         Akteure koordinieren?
                         solchen Aufwand zu leisten, braucht es nicht nur einen Kultur-    Im Prinzip braucht es jemanden, der sich hauptverantwortlich
                         wandel, sondern auch finanzielle Anreize.                         fühlt und die Koordinationsaufgaben übernimmt. Das kann
                                                                                           eine externe Koordinationsstelle wie Carenetplus sein, es kann
                         Wie lassen sich neben den medizinischen und pflegerischen         sich dabei aber auch um eine Einrichtung der Langzeitpflege
                         auch all die anderen Aspekte mit einbeziehen?                     handeln. Und im betreuten Wohnen, das ja immer beliebter
                         Am Anfang braucht es eine umfassende Abklärung bezüglich          wird, gibt es womöglich eine Fachperson, die das ganze Care-
                         der medizinischen, pflegerischen und psycho-sozialen Aspek-       Management übernimmt.
                         te. Und eine solche Abklärung erfolgt am besten dort, wo eine
                         Person ins System hineinkommt. Dabei kann                                          Damit integrierte Versorgungsmodelle
                         es sich um ganz unterschiedliche Eintritts-                                        in flexiblen Wohnformen auch tatsächlich
                         pforten handeln. In einem zweiten Schritt           «Um einen solchen              möglich werden, braucht es aufseiten der
                         geht es dann darum, die Versorgungspläne           Aufwand zu leisten,             Anbieter und der älteren Menschen be­
                         zusammen mit den unterschiedlichen Leis-             braucht es einen              stimmte Finanzierungen?
                         tungserbringern und Betroffenen zu erstellen.       Kulturwechsel und              Hier gibt es eine Reihe von Problemen zu lösen.
                         Das kann entweder im Gesundheitssystem             finanzielle Anreize.»           Das Feld der Finanzierung ist im Bereich der
                         selbst durch die Integration weiterer Leis-                                        Langzeitpflege enorm komplex. Da sind einer-
                         tungserbringer wie Sozialarbeitende gesche-                                        seits die Versicherungen, die Kantone und
                         hen oder in Kooperation mit externen Fachstellen und Institu-     andererseits die Gemeinden und die Betroffenen für die Finan-
                         tionen. Entscheidend ist, dass die Zusammenarbeit verbindlich     zierung verantwortlich. Häufig kommen im Altersbereich dann
                         ist und sich die Leistungserbringer idealerweise alle für die     noch Ergänzungsleistungen oder vielleicht auch Sozialhilfe
                         Qualität verantwortlich fühlen. Solche umfassenden Ansätze        dazu. Die Fragmentierung zeigt sich dabei bereits auf der Ebe-
                         sind in der integrierten Psychiatrie, im Suchtbereich oder auch   ne der Bundesbehörden, mit dem Bundesamt für Gesundheit,
                         bei Krebsbetroffenen eher üblich.                                 das verantwortlich ist für den KVG-Bereich, und dem Bundes-
                                                                                           amt für Sozialversicherungen, das für die IV, die Sozialhilfe
                         Eine Zusammenarbeit ist zwingend nötig, weil betagte              und die Ergänzungsleistungen zuständig ist.
                         Menschen möglichst lange in den eigenen vier Wänden
                         bleiben wollen...                                                 Das Wohnen zu Hause oder in einem betreuten Setting
                         Viele Menschen möchten so lange wie möglich zu Hause oder         scheitert oft daran, dass viele ältere Menschen die nötigen
                         in einer betreuten Wohnform leben. Das ist die Zukunft. Und       betreuenden Dienstleistungen nicht bezahlen können …
                         da wird eben die Zusammenarbeit einer ganzen Reihe unter-         Beim betreuten Wohnen handelt es sich in der Tat vielfach um
                         schiedlicher Akteure relevant: Da ist zum einen die Spitex, die   private Angebote für Menschen, die sich das leisten können.
                         für pflegerische Leistungen zuständig ist, aber etwa auch die     Und auch das Wohnen im angestammten Zuhause wird für
                         Pro Senectute, die alltagspraktische Hilfe und Unterstützung      viele zu teuer, wenn sie auf umfangreichere betreuende und
                         in finanziellen Fragen anbietet. Zudem werden Akteure rele-       unterstützende Dienstleistungen und Alltagshilfe angewiesen
                         vant, die Nachbarschaftshilfe anbieten oder sich für ein          sind. Es braucht Finanzierungslösungen, damit mehr Men-
                                                                                           schen zuhause leben und unterstützende Betreuungsleistun-
                                                                                           gen in Anspruch nehmen können. Zurzeit gibt es ja politische
                                                                                           Bemühungen, die Ergänzungsleistungen entsprechend auszu-
                                                                                           gestalten. Das ist zwingend nötig, um integrierte Versorgungs-
                                                                                           modelle in flexiblen Wohnformen zu ermöglichen

                                                                                           Damit integrierte Versorgung ganz generell funktionieren
                                                                                           kann, muss gerade auch die Finanzierung der ambulanten und
                                                                                           stationären Gesundheitsversorgung vereinheitlicht werden?
                                                                                           Sie sprechen hier auf Efas an, die politische Vorlage zur ein-
                                                                                           heitlichen Finanzierung stationärer und ambulanter Leistun-
                                                                                           gen. Das ist sicher ein wichtiger Schritt. Zur Förderung der
                                                                                           integrierten Versorgung sind aber zudem Vergütungspauscha-
                                                                                           len für Koordinationsleistungen wichtig. Ich denke hier zum
                                                                                           einen an Pauschalen für den ambulanten Bereich, aber auch an
                                                                                           sektorenübergreifende Pauschalen, etwa für die Abgeltung von
                                                                                           Koordinationsleistungen in Gesundheitsnetzen und Gesund-
                                                                                           heitsregionen.   •

                         CURAVIVA 11 | 20
                                             10
2015211_Curaviva_11-2020_06-10-Interview_Ursula-Koch_3968639.indd 10                                                                                     29.10.20 18:13
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
Integrierte Versorgung
          Waadt: Vier Versorgungsregionen und ein Gesetz über Gesundheitsnetzwerke

          Was uns die Romandie vormacht,
          passt nicht automatisch für alle

                                                                               ­gesetzlichen Grundlage: 2008 trat nämlich in der Waadt das
          Versorgungsnetzwerke sind vorteilhaft. Könnten                       kantonale Gesetz über die Gesundheitsnetzwerke in Kraft, «Loi
          sich also Deutschschweizer Kantone den Kanton                        sur les réseaux de soins», das besagt, dass alle Spitäler, Pflege-
          Waadt zum Vorbild nehmen, der diese seit Jahren                      heime, Institutionen für Menschen mit Behinderung sowie
          mit einem kantonalen Gesetz regelt? Expertinnen                      Spitex-Organisationen obligatorisch zu diesem Netzwerk
          meinen: Dafür sind die regionalen Unterschiede                       ­gehören. Hausärztinnen, Physiotherapeuten, freischaffende
          zu gross und die Rolle der Gemeinden zu wichtig.                     ­Pflegende und andere Gesundheitsfachleute können sich den
                                                                               Netzwerken freiwillig anschliessen.
           Von Claudia Weiss

                                                                               Erwünscht, aber noch nicht gediehen
          Im Prinzip sind sich alle einig, dass Gesundheitsnetzwerke           Und es hat sich in den vergangenen zwölf Jahren gut etabliert.
          wünschenswert sind und dass sie nicht nur die ideale Versor-         Bis das in der Deutschschweiz so gut verankert sei, dauere es
          gungsform bieten, sondern auch volkswirtschaftlich klare Vor-        wohl noch eine Weile, vermutet Annette Grünig, Leiterin Inter-
          teile bringen. Während sich aber in der Deutschen Schweiz die        ne Dienste und Projektleiterin bei der Konferenz der kantona-
          Gemeinden, Städte und Regionen vor allem punktuell und oft           len Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren GDK, denn: «In
          dank grossem Einsatz vereinzelter engagierter Personen zu-           der Deutschschweiz existieren zahlreiche Initiativen von Leis-
          sammenschliessen, arbeitet die Westschweiz schon seit Jahren         tungserbringern, Gemeinden und Städten, ja sogar ganzen Re-
          vernetzt. Allen voran der Kanton Waadt, der                                           gionen – aber im Gegensatz zur Waadt meist
          weitum als einer der Pioniere in Sachen inte-                                         ohne gesetzlichen Rahmen und Fördermass-
          grierte Versorgung gilt.                                  «In der Deutsch-            nahmen der Kantone.» Deshalb hänge der Er-
          Ob diese Vorreiterposition mit der West-                 schweiz existieren           folg solcher Netzwerke oft von Einzelpersonen
          schweizer Pflegekultur zusammenhängt, die               zahlreiche Initiativen,       aus dem Gesundheitsbereich oder der Politik
          schon lange die ambulante Betreuung vor die               aber meist ohne             ab: «Es braucht Entscheidträger, die dem The-
          stationäre stellt, lässt sich nicht so eindeutig        Fördermassnahmen.»            ma offen gegenüberstehen und es als wichtig
          feststellen. Sicher ist, dass es sich im Kanton                                       einstufen.» Das könne man gut im Kanton
          Waadt um eine langjährige politische Haltung                                          Aargau beobachten, wo die integrierte Versor-
          handelt: Die ersten Arbeiten in diese Richtung begannen vor          gung unter anderem mit dem Projekt «Gesundes Freiamt» an
          20 Jahren. Damals wurden schon die ersten Versorgungsnetz-           Schwung gewonnen und wieder etwas verloren habe – je nach
          werke gegründet, die sich inzwischen zu integrierten Gesund-         Prioritäten der jeweiligen Gesundheitsdirektorin und nach den
          heitsnetzwerken weiterentwickelt haben.                              dafür vorgesehenen Ressourcen im Gesundheitsdepartement.
          Inzwischen gibt es vier regionale Netzwerke im Kanton, die je        Hinzu komme überall die Schwierigkeit, bei welcher Fachstel-
          zur Hälfte durch Beiträge ihrer Mitglieder und kantonale             le man die Vernetzung verorten wolle, da immer verschiedene
          ­Subvention finanziert werden. Und – das ist wohl der grösste        Bereiche betroffen seien. Die Trennung von Gesundheit und
          Unterschied zur Deutschschweiz – sie basieren auf einer              Sozialem – unter anderem in den Tarifstrukturen oder in der           >>

                                                                                                                      11         CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_11-13_Kanton-Waadt-GDK_3969239.indd 11                                                                                29.10.20 17:58
Integrierte Versorgung - Netzwerk Caring Communities
land ein neues Altersbetreuungs- und Pflege-
                                                                                               gesetz, das unter anderem auch eine Ausbil-
                                                                                               dungsverpflichtung sowie eine Pflicht der
                                                                                               Datenlieferung beinhaltet. «Dieses Gesetz
                                                                                               schafft die Grundlage für die bedarfsgerechte,
                                                                                               qualitativ gute und wirtschaftliche Pflege von
                                                                                               nicht spitalbedürftigen Personen aller Alters-
                                                                                               stufen sowie die Betreuung von betagten Per-
                                                                                               sonen», heisst es dort einleitend: «Es regelt
                                                                                               die Aufgaben von Kanton und Gemeinden so-
                                                                                               wie die Finanzierung der Leistungen.»
                                                                                               Dies allerdings nicht in Zahlen, sondern punk-
                                                                                               to Zuständigkeiten: Paragraf 30, «Angebot für
                                                                                               betreutes Wohnen», beispielsweise besagt,
                                                                                               dass «die Versorgungsregionen Angebote für
                                                                                               betreutes Wohnen fördern» und «die Gemein-
                                                                                               den und Versorgungsregionen in den Leis-
                                                                                               tungsvereinbarungen mit den Leistungser-
                                                                                               bringern die Finanzierung von Angeboten für
                                                                                               betreutes Wohnen regeln». Der Kanton förde-
                                                                                               re innovative Projekte zum betreuten Wohnen
                                                                                               und zum Aufbau einer integrierten Versor-
                                                                                               gung, Absatz 3 besagt dann: «Er richtet Beiträ-
                                                                                               ge an solche Projekte im Sinne einer befriste-
          Region Lavaux im Kanton Waadt: Sie gehört zur Gesundheits­region Lausanne,           ten Anschubfinanzierung aus.» Und Absatz 5:
          der grössten der vier Waadtländer Gesundheitsregionen.                Foto: Adobe    «Der Regierungsrat regelt die Einzelheiten.»

                                                                                               Wahrscheinlich einfacher in kleinen Kantonen
          Organisation der Verwaltung – erschwere die Vernetzung zu-          Eine solche Regelung könnte auch in anderen Kantonen helfen,
          sätzlich. «Ausserdem kann sich ein grosser Kanton mit den           die immer wieder auftauchende Finanzierungsfrage zumindest
          entsprechenden personellen Ressourcen eher mit dem Thema            für die Aufbauphase zu lösen. In Baselland, sagt ­Annette ­Grünig,
          auseinandersetzen als ein kleiner Kanton, bei denen das ge­         hätten möglicherweise die Grösse und Übersichtlichkeit gehol-
          samte Gesundheitsamt aus ein paar wenigen Personen besteht.»        fen, ein solches Gesetz einzuführen. In anderen Kantonen sieht
          Dennoch setzte sich die GDK letztes Jahr zu ihrem Hundert-          sie grössere Schwierigkeiten: Was beispielsweise für die Stadt
          Jahr-Jubiläum bewusst den Schwerpunkt «Integrierte Versor-          Zürich hilfreich sei – die mit dem «Gesundheitsnetz 2025 Stadt
          gung in den Kantonen» und veröffentlichte auch gleich einen         Zürich» bereits etliches am Aufgleisen ist –, passe für die länd-
          Leitfaden und Umsetzungsmassnahmen dazu (www.gdk-cds.ch­/           lichen Teile des Kantons wahrscheinlich weniger.
          de/gesundheitsversorgung/integrierte-versorgung): «Damit            Am Beispiel der Waadt lässt sich allerdings gut zeigen, dass
          sich Modelle der Integrierten Versorgung                                             allenfalls eine einheitliche Regelung, nicht
          weiterentwickeln und verbreiten können,
          ­                                                                                    aber ein einheitliches Versorgungsmodell für
          müssen die Rahmenbedingungen so verän-                     Die wichtigste            Romandie und Deutschschweiz, für Stadt und
          dert werden, dass eine integrierte, patienten-          Verbindungsstelle ist        Land und für kleine und grosse Kantone not-
          orientierte Versorgung begünstigt wird. Hier            das Bureau Régional          wendig ist: Auch die vier Gesundheitsregionen
          sind nicht zuletzt die Kantone gefordert»,                d’Information et           des Kantons Waadt ordnen sich zwar alle dem-
          heisst es auf der Homepage dazu.                           d’Orientation.            selben Pflegegesetz unter, sind aber nach den
                                                                                               jeweiligen lokalen Bedürfnissen gestaltet und
          Grosse regionale Unterschiede                                                        setzen auf unterschiedliche Schwerpunkte.
          Ob man also nicht einfach das Modell des Kantons Waadt für          Ausserdem wurden für jedes Netzwerk Angebote zu bestimm-
          andere Kantone übernehmen könnte? Annette Grünig bezwei-            ten Gesundheitsthemen entwickelt: Palliativ Care, Diabetes,
          felt, ob das funktionieren würde: «Es ist schwierig, integrierte    Geriatrische Abklärung, Memory-Klinik, Beratung für pflegen-
          Versorgung flächendeckend aufzubauen, dafür sind die regio-         de Angehörige und Alterspsychiatrie. Die wichtigste Verbin-
          nalen und kulturellen Unterschiede zu gross.» So etwas müsse        dungsstelle im Netzwerk ist die Koordinationsstelle, le Bureau
          vielmehr den regionalen Gegebenheiten angepasst entstehen,          Régional d’Information et d’Orientation: Dieses begleitet die
          beispielsweise wie das Gesundheitszentrum Unterengadin, das         Klientinnen und Klienten durch alle nötigen Schritte, «bis Sie
          sich aus den geografischen Gegebenheiten heraus entwickelt          jene Pflege- und Betreuungsangebote gefunden haben, die­
          habe (vergleiche dazu den Bericht Seite 16).                        ideal auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind».
          Übrigens hat auch in der Deutschschweiz bereits ein Kanton          Eine solche Anlaufstelle bei Gesundheitsfragen findet auch
          die integrierte Versorgung geregelt: Seit Januar 2018 hat Basel-    Claudia Hametner, Stellvertretende Direktorin beim Schweize-

          CURAVIVA 11 | 20
                               12
2015211_Curaviva_11-2020_11-13_Kanton-Waadt-GDK_3969239.indd 12                                                                               29.10.20 17:58
rischen Gemeindeverband, zentral: Gemeinden und Städte              die Praxis sei ein anspruchsvoller Prozess. Nicht überall brau-

                                                                                                                                                    Integrierte Versorgung
          könnten die koordinierte Gesundheitsversorgung zu einer             che es ein Gesundheitszentrum, findet sie: «Entscheidend sind
          regionalen Verbundaufgabe erklären und den Aufbau von
          ­                                                                   die Bereitschaft aller Beteiligten, etwas gemeinsam anzugehen,
          ­integrierten Versorgungsmodellen aktiv unterstützen, erklärt       eine gemeinsame Vision sowie Durchhaltewillen.» Der Leit­
          sie. Und: «Gemeinden können lokale beziehungsweise regiona-         faden «Erfolgsfaktoren für den Aufbau integrierter Versor-
          le Anlaufstellen initiieren, bei der Suche nach Räumlich­keiten     gungsmodelle» des Schweizerischen Gemeindeverbands» kann
          unterstützen und in Leistungsvereinbarungen die interpro­           hierzu eine Hilfestellung bieten.
          fessionelle Zusammenarbeit für verbindlich
          erklären.»                                                                          Gemeinde und Kanton im Zusammenspiel
                                                                  «Gemeinden können           Am Ende geht es gar nicht um die Frage «Ge-
          Regionale Verbundlösungen                                    Anlaufstellen          meinde oder Kanton», sondern um ein Zusam-
          Insgesamt scheinen ihr Verbundlösungen auf              initiieren und bei der      menspiel «Gemeinde und Kanton». Und hier
          lokaler beziehungsweise regionaler Ebene auf            Suche nach Räumen           lohnt sich vielleicht umgekehrt für den Kanton
          Dauer erfolgversprechender, «denn ein Rah-                  unterstützen.»          Waadt ein Blick in die Deutschschweiz. Im
          mengesetz bedeutet oft einen Eingriff in die                                        Bericht zur Kantonalen Gesundheitspolitik
                                                                                              ­
          Gemeindeautonomie». Die Erkenntnis, dass                                            2018–2022 steht nämlich explizit der Wille, die
          vermehrt regional oder gar überregional ausgetauscht und            Gemeinden mehr mit einzubeziehen: Inzwischen haben die
          geplant werden muss, gewinne bei den Gemeinden an Bedeu-            Verantwortlichen nämlich festgestellt, dass diese eine sehr
          tung, sagt sie. «Der Kanton kann hier eine koordinierende, un-      wichtige Rolle spielen, was den sozialen Zusammenhalt und
          terstützende Rolle einnehmen.» Etwas top-down zu verordnen          die Gesundheitsförderung anbelangt. Für die Zukunft wäre
          erachtet sie als den falschen Weg: «Das Versorgungsmodell           deshalb vielleicht ein Modell wünschenswert, das die positi-
          muss regional oder lokal abgestimmt und mitgetragen wer-            ven Punkte der beiden Konzepte aus der Romandie und der
          den.» Das Umsetzen von integrierten Versorgungsmodellen in          Deutschschweiz vereint.   •

                                                                                                                   13         CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_11-13_Kanton-Waadt-GDK_3969239.indd 13                                                                             29.10.20 17:58
Integrierte Versorgung

                         Das Center da sandà Engiadina Bassa ist beispielhaft für die integrierte Versorgung

                         Alles aus einer Hand

                                                                                            gerecht und erst noch ökonomisch lohnend. Wenn ­Hansmann
                         Kurze Wege, alles miteinander vernetzt und                         sagt, bei ihnen stehe «der Mensch im Zentrum», ist das mehr
                         professionell gemanagt. Das Gesundheitszentrum                     als eine Floskel. «Das ist auch möglich, weil das Unterengadin
                         Unterengadin wird seit mehr als zehn Jahren nach                   überschaubar ist, die Menschen sich kennen und man Teil einer
                         dem Prinzip der integrierten Versorgung geführt.                   Gemeinschaft ist.»
                         Das ist bedürfnisgerecht und lohnt sich erst noch
                         ökonomisch.                                                        Hoher Anteil an alten Menschen
                                                                                            Gegen 8000 Menschen leben zwischen Zernez und Samnaun –
                         Von Urs Tremp
                                                                                            etwa so viele wie in einer durchschnittlichen Mittelland­
                                                                                            gemeinde. Der Anteil alter Menschen ist hoch. Viele junge Un-
                         Das Unterengadin – oder Engiadina Bassa, wie es im einheimi-       terengadinerinnen und -engadiner wandern ab – ins Unterland,
                         schen Rätoromanisch heisst – ist ein bekanntes Stück Schweiz.      in die Deutschschweizer Zentren. Ohne Arbeitskräfte aus dem
                         Im Winter, im Frühjahr, im Sommer und im Herbst ist es eine        nahen Ausland, aus Österreich und dem Südtirol, hätte das
                         beliebte Ferien- und Erholungsgegend. Doch anders als im           Gesundheitswesen im Unterengadin Mühe, genügend Personal
                         Oberengadin, wo das Schweizerdeutsche inzwischen die vor-          zu rekrutieren.
                         herrschende Sprache ist, dominiert im Unterengadin (ausser         Sylvia Parth ist eine dieser ausländischen Kräfte. Sie arbeitet
                         im deutschsprachigen Samnaun) weiter das Vallader, das             schon 18 Jahre im Gesundheitszentrum in Scuol. Die Südtiro-
                         ­Unterengadiner Idiom des Rätoromanischen.                                           lerin ist Leiterin der Beratungsstelle und damit
                         Rebekka Hansmann beherrscht die Einheimi-                                            Case Managerin. Sie organisiert und koordi-
                         schensprache nicht und ist auch keine Hiesi-        Alle Fragen werden               niert die Gespräche, die geführt werden, bevor
                         ge. Sie ist erst vor einem halben Jahr nach          an einem Ort mit                man individuell auf die Bedürfnisse der Be-
                         Scuol gezogen – und mitten ins Unterenga­           den Betroffenen und              troffenen zugeschnittene Lösungen findet:
                         diner A
                               ­ lltagsleben geraten. Die gebürtige           den Angehörigen                 Wie hoch ist der Pflegebedarf? Ist ein Heim-
                         ­Aargauerin ist neu Direktorin Chüra – Pflege &           erörtert.                  eintritt angezeigt? Gibt es Unterstützungs-
                         Betreuung des Gesundheitszentrums Unter-                                             möglichkeiten für Zuhause? Gibt es Zwischen-
                         engadin – auf Rätoromanisch Center da sandà                                          lösungen, vorläufige Lösungen? Sylvia Parth
                         Engiadina Bassa.                                                   sagt: «All diese Fragen werden an einem Ort, nämlich bei uns
                         Im Aargau war sie im Spital und für die Spitex tätig gewesen –     im Gesundheitszentrum, besprochen, mit allen Beteiligten – bis
                         und hat dort das real existierende, fragmentierte Schweizer        wir die geeignete Lösung haben.»
                         Gesundheitswesen mit seinen Doppelspurigkeiten und unko-           Die Vorteile sind offensichtlich: Die Menschen werden nicht
                         ordinierten Patientenpfaden sowie dem damit verbundenen            herumgeschoben von einer Stelle zur nächsten und wieder
                         entsprechenden Mehraufwand und den Mehrkosten erlebt.              ­zurück, und sie haben die immer gleichen und vertrauten
                         Jetzt in Scuol redet sie sichtlich begeistert vom Modell der in-   ­A nsprechpartnerinnen. Rebekka Hansmann sagt: «Wir stellen
                         tegrierten Versorgung im Unterengadin: effizient, bedürfnis-       die Vernetzung und die Koordination her.»

                         CURAVIVA 11 | 20
                                            16
2015211_Curaviva_11-2020_16-18_Engadina-Bassa_3969881.indd 16                                                                                               29.10.20 17:59
Rebekka Hansmann (l.) und Sylvia Parth von Chüra – Pflege & Betreuung des Gesundheitszentrums Unterengadin: «Wir stellen
            den Menschen die Möglichkeiten vor, die wir anbieten können. Entscheiden tun aber schliesslich die Betroffenen.»             Fotos: ut.

          Das Gesundheitszentrum Unterengadin ist 2007 aus der Not                   Das ist das Ziel überhaupt der integrierten Gesundheitsversor-
          geboren worden. Weil Pflegeplätze fehlten und man bis zum                  gung im Unterengadin: Alle Gesundheitsdienstleistungen un-
          Jahr 2030 ein Manko von Dutzenden von Plätzen befürchtete,                 ter einem Dach, damit eine ganzheitliche und unkomplizierte
          bekam das Gesundheitszentrum Unterengadin – bestehend aus                  Versorgungskette auch in der Praxis und in unmittelbarer Nähe
          dem Ospidal Scuol, dem Mineralbad Bogn Engiadina Scuol und                 der Menschen funktioniert – von der Geburt bis zur palliativen
          der Chüra – den Auftrag, ein zukunftsträchtiges Modell aus­                Pflege. Das gibt den Menschen Sicherheit, und sie haben die        >>
          zuarbeiten. Daraus ist ein regionales Angebot mit dezentralen
          Pflegeplätzen für das ganze Unterengadin entstanden. Kern-
          stück des Modells: dezentrale Pflegegruppen. Vorteil: hohe
                                                   Flexibilität, die Menschen
                                                   können in ihrer Heimat woh-
             Das Gesundheits-                      nen bleiben, das Pflege- und
              zentrum Unter-                       Betreuungsangebot kann in-
             engadin ist 2007                      dividuell angepasst werden.
                aus der Not                        Sylvia Parth sagt: «Wir stellen
             geboren worden.                       den Menschen und ihren
                                                   A ngehörigen die Möglich­
                                                   ­
                                                   keiten vor, die wir anbieten
          können. Entscheiden tun aber schliesslich die Betroffenen.»
          Stellt sich ein Entscheid als nicht angemessen heraus, ist es
          wieder die Beratungsstelle des Gesundheitszentrums, die sich
          des Case Managements annimmt. Rebekka Hausmann sagt:
          «Unser Auftrag ist es, dass die Menschen hier im Tal in mög-
          lichst guter Lebensqualität, sicher und würdig alt sein und auch
          sterben können. Das ist unser oberstes Ziel.»

                                                                                                                          17        CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_16-18_Engadina-Bassa_3969881.indd 17                                                                                     29.10.20 17:59
anderes) können bis 30 Prozent Kosten ein­
                                                                                              gespart werden, ergab die Untersuchung.
                                                                                              «Im Unterland, fehlt oft der ökonomische
                                                                                              Druck, um ernsthaft über eine integrierte
                                                                                              Versorgung nachzudenken», sagt ­
                                                                                              ­                              Rebekka
                                                                                              Hansmann. Dazu kämen unterschiedliche
                                                                                              ­
                                                                                              Betriebskulturen, Organisationsformen und
                                                                                              Mentalitäten. «Hier im Unterengadin hat der
                                                                                              finanzielle Druck dazu geführt, dass die
                                                                                              ­L eistungserbringer zusammengerückt sind.
                                                                                              Dank innovativen Pionieren an den Schlüssel­
                                                                                              stellen, die sich bis heute für eine ganzheitli-
                                                                                              che Gesundheitsversorgung im Unterengadin
                                                                                              einsetzen, ist das Gesundheitszentrum Unter-
                                                                                              engadin entstanden.»

                                                                                              Keine Abgrenzungsprobleme
                                                                                              Tatsächlich scheinen im Unterengadin die
                                                                                              ­A kteure ohne Grenzkonflikte miteinander zu
                                                                                              kooperieren. Sie verstehen sich als integrati-
                                                                                              ver Teil des Center da sandà Engiadina Bassa:
                                                                                              das Spital, die Pflegeheime und Pflegegrup-
                                                                                              pen, die Spitex, das Therapie- und Wellness­
                                                                                              zentrum des Mineralbads. Und: «Unsere Zu-
                                                                                              sammenarbeit mit den Hausärzten ist sehr
                                                                                              gut. Das ist ganz entscheidend für eine integ-
                                                                                              rative Versorgung. Wir kennen sie, und sie
                                                                                              kennen uns. Wir treffen uns regelmässig für
                                                                                              einen Informationsaustausch», sagt Rebekka
                                                                                              Hansmann. Im Altersbereich haben sich zu-
                                                                                              dem private Initiativen entwickelt, die das
                                                                                              Angebot an Aktivitäten ergänzen, die letztlich
                                                                                              auch der physischen und mentalen Gesund-
                                                                                              heit zugutekommen. «Nachbarschaftshilfe
                                                                                              und Freiwilligenarbeit sind hier sehr ausge-
                                                                                              prägt», sagt Sylvia Parth.
                                                                                              Rebekka Hansmann gibt allerdings zu, dass
                                                                                              man im Unterengadin auch an Grenzen stösst.
                                                                                              «Grundsätzlich ist ganz viel möglich. Auch die
                                                                                              Versorgung für Menschen mit einer Demenz
          Blick ins Unterengadin (oberhalb von Ardez), Akutspital in Scuol: Sicherheit        ist gut abgedeckt.» Problematisch werde es,
          und Gewissheit, dass man Hilfe bekommt und nicht herumgeschoben wird.               wenn komplexe Gerontopsychiatrie gefragt
                                                                                              sei. «Da kommen wir an Grenzen. Wir versu-
                                                                                              chen zwar, auch in diese Fall Hilfe anzubieten
          Gewissheit, dass sie in ausserordentlichen Situationen kurze        und Lösungen zu finden. Aber es gibt Situationen, da müssen
          Wege haben und nicht von einer Stelle zur nächsten herum­           wir sagen: ‹Dafür sind unsere Einrichtungen nicht geeignet.›»
          geschoben werden.                                                                   Doch grundsätzlich funktioniere das Modell
          Jüngst wurde das Versorgungsmodell im Un-                                           sehr gut. Und was der damalige Vorsitzende
          terengadin wissenschaftlich begutachtet, und           Wissenschaftlich             der Geschäftsleitung des Gesundheitszent-
          das Modell wurde bestätigt. Eine Studie der            bestätigt: höhere            rums Unterengadin beim Start vor inzwischen
          KPMG, die der Kanton Graubünden in Auftrag            Kundenzufriedenheit           mehr als einem Dutzend Jahren sagte, hat sich
          gegeben hatte, ergab, dass aus einem integ-            und ökonomische              tatsächlich als das erwiesen, was er damals
          rierten Gesundheits- und Versorgungssystem                 Vorteile.                hoffnungsvoll formulierte : «Der Zusammen-
          eine höhere Kundenzufriedenheit resultiert.                                         schluss der verschiedenen Dienste ist ein
          Ebenso errechnete die Studie die ökonomi-                                           gros­ser und mutiger Schritt für die Region.»
          schen Vorteile des integrierten Versorgungsmodells. Dank            Heute ist klar: Der Mut, den man damals im Engadina Bassa
          ­Synergieeffekten (gemeinsame Administration, gemeinsame            hatte, hat sich mehr als gelohnt und ist heute wegweisend für
          Personalverwaltung, gemeinsame Infrastrukturnutzung und             die Gesundheitsversorgung in der Schweiz.    •

          CURAVIVA 11 | 20
                               18
2015211_Curaviva_11-2020_16-18_Engadina-Bassa_3969881.indd 18                                                                                 29.10.20 17:59
Integrierte Versorgung
          Reichenburg SZ bietet ein Netzwerk für generationenübergreifende Versorgung

          «Alle Anbieter sollten
          ihr Gärtlidenken überwinden»

                                                                                 vielfältiges Angebot an Dienstleistungen und Vereinigungen
          In Reichenburg SZ ist in den letzten Jahren ein                        vorhanden ist – Freiwillige, ein Seniorenrat, ein Familienforum,
          weitgefächertes Netz für integrierte Versorgung                        die Sozialfürsorge, die Spitex, Pro Senectute, das Jugendbüro
          entstanden. Initiator Matthias Radtke berät immer                      und Vereine, alle gut verwurzelt. Nur: «Jeder kämpfte für sich.»
          wieder Interessierte, und er sagt: «Die zentrale
          Koordinationsstelle sollte bei einem Anbieter wie                      Caring Communities und Buurtzoorg-Modell
          Spitex oder Alterszentrum angesiedelt werden.»                         Matthias Radtke, der seit Langem Ansätze wie das Wohn- und
                                                                                 Pflegemodell 2030 von Curaviva verfolgt und sich für das Prin-
           Von Claudia Weiss
                                                                                 zip von Caring Communities und das holländische Buurtzoorg-
                                                                                 Modell begeistert, fand, das müsse besser zusammenspielen.
          Manchmal braucht es im richtigen Moment die richtigen Leute            «Alte Menschen, Angehörige, Freiwillige, Experten, Behörden,
          am richtigen Ort. So wie in der Gemeinde Reichenburg SZ, in            Politik, aber auch Kinder und Jugendliche – alle Menschen sind
          der sich in den letzten Jahren ein grosses Netzwerk gebildet           involviert und machen mit. So sollte das aussehen.» Das heisst:
          hat, das Alt und Jung verbindet und unter dem Namen «Richä-            Benötigt jemand Unterstützung oder Betreuung, kommen zu-
          burg füränand» eine ganzheitliche integrierte Versorgung               erst die Familie und das Umfeld zum Einsatz, erst später stösst
          ­bietet. Nicht nur ambulante und stationäre Altersversorgung           die professionelle Pflege dazu, «alles selbstverständlich gut
          spielen dort eine Rolle, sondern künftig soll eine generationen-       koordiniert und vernetzt, ohne Konkurrenzierung».
          übergreifende gelebte Nachbarschaftshilfe die                                           Ausserdem stellte Radtke fest, dass das Alters-
          Versorgung in der Gemeinde unterstützend                                                zentrum immer mehr beratende und unter-
          sicherstellen. Protagonisten sind Matthias                    «Alle Menschen            stützende Tätigkeiten übernahm. Die Erklä-
          Radtke, ehemaliger Geschäftsleiter des Alters-                 sind involviert          rung dafür lieferte ihm unter anderem eine
          zentrums Zur Rose, und Emma Nick, langjäh-                    und machen mit.           Umfrage, die eine angehende Gerontologin des
          rige Mitarbeiterin in der Bewohneradminist-                     So sollte das           Alterszentrums just zu dieser Zeit für eine
          ration des Alterszentrums: beide stark vernetzt                  aussehen.»             ­Diplomarbeit durchführte: Sie wollte heraus-
          und ausserordentlich engagiert.                                                         finden, was ältere Menschen und Angehörige,
          Für Radtke, aufgewachsen in der ehemaligen                                              aber auch Experten brauchen, um sich im
          DDR, sind Caring Communities und Gesundheitszentren etwas              Dschungel von Informationen und Angeboten zurechtzufin-
          Normales: «Meine Grossmutter wohnte schon vor 30 Jahren in             den. Das Resultat ihrer Umfrage zeigte: «Die meisten sind
          einem Senioren-Wohnkomplex, zu dem unter anderem auch                  ­überfordert bei der Suche nach den passenden und erst noch
          ein Alterswohnheim mit Spitex gehörte und Spital, Hausärzte            finanzierbaren Unterstützungs- und Pflegeangeboten für sich
          und Einkaufsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe erreichbar             oder für Angehörige – sogar die Experten!» Für Matthias Radt-
          waren, also eine Art integriertes Versorgungszentrum.» Im              ke war klar: Da musste etwas in Gang gebracht werden. «Ge-
          Lauf seiner Tätigkeit im Alterszentrum Zur Rose stellte er             meinsam statt einsam» sollte die Devise für die Zukunft lauten,
          fest, dass auch in und rund um Reichenburg ein grosses und             und eine zentrale Anlauf- und Koordinationsstelle sollte die        >>

                                                                                                                       19        CURAVIVA 11 | 20

2015211_Curaviva_11-2020_19-22_Initiative-Reichenburg_3970417.indd 19                                                                          29.10.20 18:00
Sie können auch lesen