Der Staat und die Kirchen - Essen, was ihr esst Aus Seelsorge - forum - Pfarrblatt
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29. DEZEMBER BIS 11. JANUAR 1 2019 Der Staat und die Kirchen Neujahrsgespräch Regierungsrätin Jacqueline Fehr Essen, was ihr esst Aus Seelsorge Schwester Jermia Thomas hat ihre Heimat in Veronika Jehle sucht den Dialog Taiwan gefunden. mit Papst Franziskus.
EDITORIAL Alle Welt spricht heute von Kommunikation; alle wollen sich auf allen möglichen Ka- nälen Gehör verschaffen. Wenn offenbar alle etwas zu sagen oder zu zeigen haben, Was in den letzten Monaten geschehen ist, hatte dann ist ja die Frage berech- ich schon viel früher befürchtet: Papst tigt: Gibt es denn noch Men- Franziskus wurde vom Thron gestossen. schen, die wirklich zuhören, ehrlich, unvoreingenommen und einfühlsam? Tragisch daran ist, dass wir und die Medien ihn auf diesen Thron gehypt haben. Viel zu übersteigert waren die Hoffnun- Ein freiwilliger Mitarbeiter gen in diesen Papst, von dem erwartet wurde, dass er nun end- verabschiedete sich vor ein lich alles für diese Kirche richten würde. paar Tagen nach 25 Dienst- Plötzlich waren aus Gläubigen, die sich noch bei Papst Jahren von der Dargebotenen Benedikt XVI. als Kritiker des Papsttums hervortaten, glühende Papst- Hand. Er sagte mir sinnge- verehrer geworden. mäss: «Wenn bei einem Ge- spräch mit einem mir völlig Ich sehe es so: Wer Franziskus zum Quasi-Heiligen erklärt unbekannten Menschen in- und auf ein unantastbares Podest stellt, der hat nicht be- nerhalb kurzer Zeit das Herz griffen, was dieser Papst mit dem Papsttum und der Kirche zur Ruhe kommt, der Ver- vorhat. Er will sie aus der Sackgasse der Unantastbarkeit stand sich wieder sammelt holen, weil Unantastbarkeit jeden Dialog und jede Ent- oder die Erschöpfung Trost wicklung verhindert. erfährt, dann erlebe ich dies wie ein kleines Wunder. Sol- Ich schätze Papst Franziskus nach wie vor für viele Dinge, die che Erfahrungen berühren er getan und gesagt hat. Und ich bin immer noch überzeugt, mich. Und sie geben meiner dass sein Pontifikat unserer Kirchengeschichte eine entschei- Arbeit bei Tel 143 Bedeutung dende Wendung geben wird. Aber Papst Franziskus hat bei mir und Sinn.» Diese Worte ha- keinen Blankoschein. Ich erwarte von ihm keine Unfehlbarkeit. ben mich tief beeindruckt. Sie sind eine treffende Be- Manchmal sagt Franziskus in seiner Spontaneität Dinge, bei schreibung für das, was Mit- denen ich denke: Hättest du diese Aussage nicht etwas länger gefühl im Gegenüber bewir- in deinem Herzen bewegen können?! Und manchmal sagt er ken kann. auch Dinge, die ich schlicht und einfach für unüberlegt halte. Wie offen und berührbar be- Aber das ist gewissermassen der Deal mit Franziskus: Seine gegne ich meinen Mitmen- Spontaneität, Direktheit und Emotionalität schlägt in viele schen im Alltag, zu Hause, Richtungen aus. bei der Arbeit oder in der Freizeit? Denn der Grundsatz gilt überall: Der Mensch, dem zugehört wird, gehört dazu. Tony Styger Dargebotene Hand Zürich. Ende 2018 tritt er nach über 17 Jahren als Stellenleiter in den Ruhestand. redaktion@forum-pfarrblatt.ch forum 1 2019 2
INHALT 4 Foto: Christoph Wider GOTT UND DIE WELT In wohlwollender Distanz Seit Jacqueline Fehr als Regie- rungsrätin auch «Kirchenministe- rin» ist, hat sich das scheinbare Anhängsel in der Justizdirektion zu einem Thema mit Gewicht entwi- ckelt. Ein Gespräch mit einer Politikerin, die systemische Über- legungen liebt, weil sie lieber ver- steht als wertet. GLAUBEN HEUTE 25 FORUM IM FORUM Standpunkt Seelsorge trägt Sorge zur Sprache 8 « Gott nimmt un- sere Eigenschaften GOTT UND DIE WELT 26 AUS DEN PFARREIEN GLAUBEN HEUTE 9–24 25 und unsere Le- Essen, was ihr esst Kirchenjahr bensweise gleich Schwester Jermia Thoma hat offen- Christbaum bar einen starken Magen. Ihr «dia- einer zweiten Na- logisches Leben» mit den Men- GOTT UND DIE WELT 26–27 tur an und gleich- schen in Taiwan nährt sie aber Ordensfrauen und Abenteuer noch auf andere Art. zeitig ‹durchgött- Schwester Jermia Thoma licht› er fortan das Foto: Christoph Wider BOUTIQUE 28–29 Menschsein.» Glaube und Wissenschaft Die Heiligen Drei Könige Alexandra Dosch Diözesane Fortbildungsbe- auftragte, in ihrer Kolumne «Inkarnation» AGENDA 31 SCHLUSSTAKT 32 Wortbilder Überraschung ONLINE + … kein Häuflein Dreck! Astrid Lindgren hat ganze Genera- tionen mit ihren Geschichten ge- prägt. Eine Dankesrede. www.forum-pfarrblatt.ch forum 1 2019 3
GOTT UND DIE WELT In wohlwollender Distanz Seit Jacqueline Fehr als Regierungsrätin auch «Kirchenministerin» ist, hat sich das scheinbare Anhängsel in der Justizdirektion zu einem Thema mit Gewicht entwickelt. Ein Gespräch zwischen den Jahren mit einer Politikerin, die syste- mische Überlegungen liebt, weil sie lieber versteht als wertet. Frau Fehr, Sie haben von sich selbst einmal ge- Sie sprechen immer wieder von Augenmass. Wes- sagt, sie seien eine strenge Lehrerin gewesen. halb ist Ihnen dieses so wichtig? Sind Sie auch eine strenge Justizdirektorin? Für meine Direktion bedeutet Augenmass, dass Jacqueline Fehr: Es war für mich als Lehrerin wir uns nicht von jeder Provokation aus der Fas- immer wichtig, Verlässlichkeit zu garantieren sung bringen lassen. Dass wir mit Bedacht re- und dafür auch etwas auszuhalten. Ich wollte ei- agieren und das breite Instrumentarium, das nen Rahmen bieten, an dem man sich auch rei- uns zur Verfügung steht, geschickt nutzen. ben kann. Das ist nur möglich, wenn ich meine Das gilt beispielsweise für das Jugendstraf- eigene Position klar zu erkennen gebe. recht. Wir dürfen nicht einfach Symbolpolitik Für mich ist das noch heute sehr wichtig. Als machen, sondern müssen uns immer überlegen, Justizdirektorin vertrete ich den Rechtsstaat welche Massnahmen dazu führen, dass ein jun- und seine Institutionen. Dieser Rechtsstaat ist in ger Mensch tatsächlich den Weg in die Gesell- erster Linie zum Schutz der Schwachen da. Des- schaft findet. halb braucht es verbindliche Regeln, damit sich Da ich selbst nicht operativ arbeite, also bei- nicht einfach die Macht des Stärkeren durch- spielsweise keine jugendlichen Straftäter be- setzt. Das nehme ich heute genauso ernst wie gleite, bedeutet Augenmass in meiner Rolle als damals als Lehrerin. Justizdirektorin vor allem eine Haltung, die ich vorgeben und vorleben muss. Diese prägt die Art Die Kirchen haben auch besondere Anliegen und Weise, wie wir darüber in unserer Direktion diskutieren, nachdenken, handeln. und Interessen, aber sie kümmern sich ganz generell um den Menschen und das Zusammen- Augenmass und Bedacht – das klingt in Zeiten leben in der Gesellschaft. Sie vermitteln Werte von Social Media langsam und zurückhaltend. Ich mahne oft zur Geduld, weil ich der Überzeu- wie Rücksichtnahme, Fürsorge oder Toleranz. Ich gung bin, dass Entwicklungen nicht erzwungen sehe keinen anderen sozialen Akteur, der das in werden können. Man kann sie bloss ermögli- dieser Breite tut. chen oder mit gezielten Systemirritationen aus- Plenarversammlung Römisch-katholische Zentralkonferenz, lösen. Andererseits bin ich selbst oft auch unge- 30. November 2018 duldig, obwohl ich genau weiss, dass Ungeduld in den seltensten Fällen viel bringt. Ich spüre diese Spannung also an mir selbst und kämpfe Die wenigsten würden sich selber als streng damit. beschreiben. Auf den Umgang mit sozialen Medien über- Ich verstehe darunter Verlässlichkeit. Ich will tragen: Sie machen es noch wichtiger, dass ich einen Rahmen setzen, der Freiräume ermög- meine Dossiers beherrsche, dass ich die wichti- licht. Räume, in denen man sich verwirklichen gen politischen Fragestellungen kenne, dass ich kann, gerade weil man sich nicht ständig um einen Risikoblick für mögliche Entwicklungen den Rahmen zu kümmern braucht. habe. Ich muss also viel stärker als früher anti- Strenge, wie ich sie verstehe, bedeutet also zipieren können, weil ich nur dann schnell re- weder Machtversessenheit noch Machtmiss- agieren kann. brauch. Gerade als Regierungsmitglied muss ich Wenn wir rasch wichtige Informationen auf- mir dessen immer bewusst bleiben. Diese Macht bereiten, den Stand der Dinge erklären und un- ist mir anvertraut und an meine Funktion ge- ser weiteres Vorgehen skizzieren können, dann bunden. Deshalb bin ich verpflichtet, mein Ver- gewinnen wir Zeit. Dann sind wir nicht mehr ge- hältnis zur Macht sehr intensiv zu reflektieren trieben und können das Geschäft in der Hand und mir der Grenzen, die es einzuhalten gilt, behalten. sehr bewusst zu sein. forum 1 2019 4
Sie fordern aber auch Experimentierfelder in der Foto: Christoph Wider Politik. Das tönt dann wieder vorwärtsdrängend. Mit Experimenten können wir Erfahrungsräu- me schaffen, die uns dann neue Lösungen er- möglichen. Das Ausländerstimmrecht wäre für mich ein solcher Fall. Ich wäre sehr froh, wenn die kantonale Gesetzgebung es den Gemeinden ermöglichen würde, dieses einmal auszuprobie- ren. Dann würden wir mehr erfahren: Aktivie- ren sich dadurch das Dorf und die Dorfpolitik? – Führt es zu grundsätzlich anderen Entschei- den? – Wir könnten all das beobachten und wichtige Erfahrungen sammeln. Sie sind als Regierungsrätin auch für die Bezie- hungen zu den Kirchen verantwortlich. Gerade dieses Feld bearbeiten Sie sehr intensiv. Das hät- ten wohl die wenigsten von Ihnen erwartet. Tatsächlich kam die Orientierung «Staat und Religion im Kanton Zürich» für viele überra- schend. Selbst in der Regierung waren sich zu Beginn nicht alle sicher, ob es eine solche über- haupt braucht. Deshalb haben wir viel darüber diskutiert. Was sehr wichtig und wertvoll war. Irgendwann waren wir uns alle einig, dass es in unserer Gesellschaft Orientierungspunkte braucht. Weshalb? Wir befinden uns mitten in einem gesellschaft- lichen Experiment, das es so noch nie gegeben hat. Noch nie konnte man in seiner Lebensge- Jacqueline Fehr (55) staltung und Werthaltung so frei unter so vielen wuchs in Elgg und Win- Möglichkeiten wählen. Diese riesige individuel- terthur in einfachen Ver- le Freiheit ist aber auch eine Herausforderung. hältnissen auf. Sie hat Können wir damit umgehen? von 1998 bis 2015 für die SP im Nationalrat politi- In dieser Situation nehmen die Kirchen nach Und hier spielen die Kirchen – neben Vereinen siert und leitet seit 2015 wie vor eine wichtige Aufgabe wahr, gerade weil und Parteien – eine wesentliche Rolle, weil sie als Regierungsrätin die sie Orientierungshilfen anbieten, sei es zu ge- oft gerade dort präsent sind, wo die rasche und Direktion der Justiz und sellschaftlichen Grundwerten oder zu Sinn- und erfolgsorientierte Welt nicht mehr so genau des Inneren des Kantons Lebensfragen. Wir sind in der Regierung zur hinschaut. Zürich. Jacqueline Fehr wohnt in Winterthur und Überzeugung gekommen, dass die Kirchen in Die Kirchen tragen zudem zur Orientie- ist Mutter von zwei er- dieser Hinsicht für Menschen mit oder ohne rungsfähigkeit bei, weil sie die transzendentalen wachsenen Söhnen. Glauben wichtig sind, selbst wenn man sich von Fragen ansprechen, die Sinn- und Lebensfra- ihnen abgrenzt. Sie bieten einen Raum der Aus- gen. Sie schaffen einen Raum, in dem man sich einandersetzung mit zentralen Fragen der damit auseinandersetzen kann. Gegenwart. Sie selbst stehen keiner Kirche nah. Problem oder Auf der Website der Justizdirektion tauchen die Vorteil? Kirchen bei der Auflistung der Arbeitsbereiche Ich bin überzeugt, dass es ein Vorteil ist, dass ich nicht auf. Weshalb ist Ihnen dennoch gerade die- zu allen Kirchen in ähnlicher Distanz stehe. Ich ses Thema so wichtig? kann dadurch eine Systembetrachtung machen, Wir müssen vermeiden, dass sich Menschen in die nur beschränkt mit meiner Geschichte und unserer Gesellschaft abgehängt und an den meiner Identität zu tun hat. Mich fasziniert das Rand gedrängt fühlen. Es gehört zu den Urbe- Phänomen, ich sehe das Potenzial, aber ich hän- dürfnissen des Menschen, eine Rolle zu spielen, ge da nicht selbst mit drin. Ich kann deshalb aus jemand zu sein, wahrgenommen zu werden, Zu- persönlicher Überzeugung sagen: Die Kirchen gang zu Entfaltungsmöglichkeiten zu haben. sind selbst für Nichtgläubige ein wichtiges An- forum 1 2019 5
GOTT UND DIE WELT gebot, nur schon, weil sie den oben genannten hältnis zu ihrer eigenen Religiosität. Irgendwie Themen Raum geben. gehören sie zum Christentum, aber was das ge- nau bedeutet, ist weitgehend unklar. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen? Dadurch entsteht viel Raum für Behauptun- Die Seelsorge. Natürlich habe ich viel Verständ- gen und Idealisierungen ohne jeden histori- nis für Konfessionslose, wenn sie auch religiös schen Hintergrund. Dann ist das Christentum neutrale Angebote fordern. Aber gleichzeitig ist plötzlich das reine Bekenntnis zum ewigen Frie- es offensichtlich, dass ganz viele Menschen, die den und der Islam das reine Bekenntnis zum nicht einer Kirche angehören, in einem Krisen- ewigen Kampf. Die mangelhafte religiöse fall dennoch das Angebot der Kirchen suchen. Grundbildung ist also ein grosses Thema, weil Und in diesen Fällen schätze ich die Offen- diese Unkenntnis zu vielen Projektionen führt. heit der Kirchen sehr, eine Generosität, die es sonst in unserer Gesellschaft kaum mehr gibt, Genau hier setzt das Fach «Religion und Kultur» dass sie nämlich ihre Hilfe bedingungslos an- an. bieten. Das schätze ich gerade als distanzierte Ja, das ist eine Erfolgsgeschichte. Durch dieses Beobachterin besonders. Fach ist man sich nähergekommen, weil es um grundsätzliche Fragen des Lebens geht. Ich er- Der Einfluss von Religion wird überschätzt. fahre etwas von meinem Mitmenschen, das für ihn sinnstiftend ist. Damit entsteht in den Schu- Menschen sind komplex. – Wir machen es uns len auch ein Raum zum philosophischen Fragen zu einfach, wenn wir Menschen auf ihre und Nachdenken, was sonst eher zu kurz kommt. Religionszugehörigkeit reduzieren. Allerdings steht es um die Fortsetzung dieses «Integration durch Religion?» an der Paulus-Akademie, Dialogs an den Gymnasien und den Berufs- 18. September 2016 schulen nicht so gut. Dort werden diese Fragen wieder eher an den Rand gedrängt. Nur gerade mal 5,5 Prozent der Menschen in der Sie sprechen von der katholischen Kirche jeweils Schweiz sind Muslime. Dennoch scheint die Angst mit grosser Wertschätzung. Der Umgang der ka- vor dem Islam weit verbreitet. Wie erklären Sie tholischen Kirche mit den Frauen kann ihnen aber sich das? nicht gefallen. Ich bin überzeugt, dass hier die Distanz zur ei- Diese Verkrampfung verstehe ich überhaupt genen Religiosität und zur eigenen Religion nicht. Ich habe das Gefühl, dass sich die katho- eine entscheidende Rolle spielt. Die meisten lische Kirche hier selbst belügt. Man lässt zwar Menschen haben heute ein sehr diffuses Ver- Frauen fast alles im kirchlichen Umfeld ma- 7 Leitsätze zu Staat und Religion im Kanton Zürich Gesellschaft und Religion 5. Die Rechts- und Staatsordnung der Schweiz und Im ersten Teil «Gesellschaft und Religion» befassen des Kantons Zürich ist von der demokratisch- sich 3 Leitsätze mit der Bedeutung und Rolle der Re- liberalen Kultur geprägt. ligion innerhalb unserer pluralistischen Gesellschaft: 1. Religiöse Überzeugungen bilden eine wichtige Staat und Religionsgemeinschaften Grundlage des gesellschaftlichen Die Leitsätze 6 und 7 befassen sich konkreter mit Zusammenlebens. dem Verhältnis zwischen dem Staat und den Religi- 2. Die religiösen Gemeinschaften wahren onsgemeinschaften: den öffentlichen Frieden. 6. Das System der öffentlich-rechtlichen 3. Religiöse Symbole dürfen im öffentlichen Anerkennung hat sich bewährt und soll Raum sichtbar sein, soweit es die staatliche beibehalten werden. Rechtsordnung zulässt. 7. Zum Umgang mit verfassungsrechtlich nicht anerkannten Religionsgemeinschaften braucht Recht und Religion es klare Handlungsgrundlagen. Die Leitsätze 4 und 5 stellen das Verhältnis zwischen dem Staat als Inhaber des Gewaltmonopols und Ga- ranten der individuellen Freiheiten und den Religi- Die vollständige Orientierung des Regierungsrats ist onsgemeinschaften dar: auf der Website der Justizdirektion abrufbar: 4. Die staatliche Rechtsordnung stellt den www.ji.zh.ch/internet/justiz_inneres/de/themen/ verbindlichen, für alle Religionsgemeinschaften religionsgemeinschaften.html gleich geltenden Massstab dar. forum 1 2019 6
GOTT FORUM UND IMDIE FORUM WELT chen. Und man braucht sie ja auch dringend. schätze Räume sehr, die über die Gegenwart hi- Aber die formale Anerkennung, die Weihe, die nausweisen. verweigert man ihnen. Ebenso wenig verstehen kann ich das Verhältnis zur Homosexualität und Sie haben Transzendenz als einen Bereich ge- das Festhalten am Pflichtzölibat. Da werden nannt, in dem Kirchen zur Orientierung beitragen tief religiöse Menschen gezwungen, ein verlo- können. Welches sind Ihre eigenen Erfahrungen? genes Leben zu führen, die eigene Identität Bereits als junge Frau wurde mir nach einem aufzuspalten. Sportunfall bewusst, wie wichtig Trost und Be- gleitung sein können. Das hat mir damals ein Sie können also die sechs Frauen verstehen, die Pfarrer gegeben. Natürlich können das nicht kürzlich aus der katholischen Kirche ausgetreten nur religiöse Menschen bieten, aber Seelsorge- sind? rinnen und Seelsorger tun es eben, das muss Ich kann gut verstehen, dass sie einfach genug man auch mal festhalten. hatten. Aber ich habe auch grossen Respekt für all jene Frauen, die in der Kirche bleiben und Beantworten wir ein Kleidergebot mit einem die Entwicklung zur Öffnung vorantreiben. Seit langem schätze ich übrigens die refor- Verbot, bewegen wir uns in der Logik jener mierten wie katholischen Frauenverbände sehr. Gesellschaften, deren Werte wir ablehnen. Sie haben im politischen Kontext immer wieder Interview in «reformiert», 9. September 2016 konsequente religiös begründete Positionen er- arbeitet, beispielsweise wenn es um den gesetz- Auch meine Erkrankung an Brustkrebs hat lichen Rahmen in Abtreibungsfragen ging oder mich ganz generell demütiger werden lassen. um Homosexualität, also immer dann, wenn Ich bin zurückhaltender geworden mit Anwand- es das Leben unserer Söhne und Töchter be- lungen wie «Ich habe das Leben im Griff!» oder trifft. Da habe ich sie oft sogar als Taktgeberin- «Ich bestimme selbst!». nen für unsere gesellschaftliche Entwicklung Die grosse Zäsur in meinem Leben war aller- empfunden. dings, als ich Mutter wurde. Da habe ich reali- siert, wie verletzlich man sein kann. Wie wenig Bis Ostern soll der neue Bischof von Chur bekannt man in den eigenen Händen hat. Wie viel Glück sein. Was wünschen Sie sich als Regierungsrätin man braucht. Dass bei aller Anstrengung nie- von ihm? mand vor harten Schicksalsschlägen gefeit ist. Dass er die weltliche Struktur der katholischen Körperschaft als das akzeptiert, was sie ist: das Feiern Sie Weihnachten? einzige Gegenüber des Staates. Ich wünsche Sogar mit Christbaum. Den schmücke ich unge- mir, dass er der weltlichen Struktur Bedeutung fähr zwei Wochen vor Weihnachten zusammen zumisst und sie ernst nimmt. Dass er sie als Ver- mit meinen Söhnen. Dann essen wir am Weih- bindungsglied zur Gesellschaft wertschätzt. nachtsabend gemeinsam. Es gibt Geschenke, keine riesigen, mehr so Liebenswürdigkeiten. Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich gerne in Hin und wieder ist es mir gelungen, jemanden Kirchen aufhalten. Was fasziniert Sie an diesen einzuladen, der vielleicht gerade alleine war Bauten? oder auf der Durchreise. Ich habe aber gemerkt, Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich in dass meine Söhne das nicht so toll fanden. Für der Notre-Dame in Paris sass und mir bewusst sie gehört dieser Abend ganz stark der Familie. wurde, welche Geschichte dieser Raum erlebt hat. Er war Kirche, aber auch schon Spital und Gespräch: Thomas Binotto Schule, in ihm war es zeitweilig sehr laut, dann wieder sehr leise, er war Schutzraum für Men- schen, in ihm ist aber auch Blut geflossen. Das fasziniert mich: Was diese Steine alles erlebt ha- ben, wer hier alles mit seinen Hoffnungen, sei- nen Geschichten und seinen Gedanken ein und aus ging. Die gleiche Faszination kann ich übrigens auch in einer Moschee erleben. In der Umayya- Das intensive und vielfältige Gespräch mit Regie- den-Moschee in Damaskus beispielsweise. rungsrätin Jacqueline Fehr sprengt in seinem vollen Wenn man in diese eintritt, wird man von einem Umfang den Rahmen unseres Magazins. Sie können unglaublichen Zauber umschlossen. Plötzlich es aber auf unserer Website nachlesen: tritt man aus dem Trubel in die Ruhe ein. Ich www.forum-pfarrblatt.ch forum 1 2019 7
Bereits am Abend seiner Wahl hat Papst Franziskus klar signalisiert, dass er ein nahbarer Papst sein will. Zu dieser Nahbar- keit gehört, dass man ihn vertrauensvoll auch mit kritischen Gedanken ansprechen darf. einmal einer Ehebrecherin gegenüber- stand. Eine ähnlich schuldbeladene Si- Foto: Keystone tuation also. Jesus begnügte sich damit, die Frau anzusehen und ihr zu sagen: «Geh und tu das nicht noch einmal.» Hätte er ihr ins Gesicht gesagt: «Ehe- Standpunkt bruch ist schlimmer als Steuerbetrug» – hätte er sie dann ebenso tief im Her- Seelsorge trägt Sorge zen erreicht? Er hätte sie schlichtweg verletzt und damit innere Wunden, die zur Sprache seit langem da sind, neu aufgerissen oder vertieft. Ich finde, in der Nachfolge von Jesus Unsere neue Mit-Redaktorin Veronika schrocken über das, was Sie gesagt ha- müssten wir füreinander einstehen. Jehle hat Papst Franziskus in einem sehr ben und über die Wirkung Ihrer Worte. Verletzt wurden wir alle schon genug, persönlichen «Wort zum Sonntag» auf Ich distanziere mich klar von Ihren andere verletzt haben wir ebenfalls seine Äusserungen zu Abtreibung und Ho- Aussagen, sowohl zur Homosexualität alle. Wenn es schon praktisch und mit mosexualität angesprochen. Dabei stellt als auch zur Abtreibung. Taten so schwierig ist, wirklich solida- sie ihm und uns allen die Frage, mit wel- risch zu sein, dann lassen Sie es uns cher Sprache wir die Menschen erreichen Zur Abtreibung möchte ich Ihnen, doch zumindest bei den Worten versu- wollen: Papst Franziskus, heute gerne etwas chen, bei der Behutsamkeit und Diffe- sagen. Ich kenne Frauen, die abgetrie- renziertheit unserer Sprache. Unsere Lieber Papst Franziskus ben haben, und ich nehme an, dass Sie Sprache schafft Wirklichkeit. Und da ebenfalls Menschen kennen, die sich wir in der Kirche nun einmal viel kom- Ich gehe nicht davon aus, dass Sie die- zu diesem Schritt genötigt sahen. munizieren und sprechen, ist die Spra- se Sendung heute Abend sehen wer- Könnten Sie diesen Ihre Aussage ins che unser erstes Werkzeug. Wir können den. Dennoch möchte ich Sie gerne an- Gesicht sagen, wenn dieses Werkzeug verwenden, um zu sprechen und so mit den Zuschauerin- heilen und zu verbinden. nen und Zuschauern teilen, was ich Sie einer dieser Frauen unmittelbar ge- Ihnen sagen möchte. genüberstehen würden? Lieber Papst Franziskus, Sie bitten ja Letztendlich treffen Sie mit Ihren Wor- oft darum, dass wir füreinander beten. Ich habe in letzter Zeit einige Men- ten in erster Linie jene, die bereits ab- Das tue ich gern und freue mich auch, schen erlebt, die schockiert oder be- getrieben haben. Meiner Erfahrung wenn Sie es für uns hier tun. Lassen Sie schämt waren über Ihre jüngsten Aus- nach tragen jene Frauen, die abgetrie- uns aber auch füreinander sprechen sagen. Zum einen haben Sie Homose- ben haben, sowieso und naturgemäss und füreinander handeln. xualität als Modeerscheinung schwer an dieser Tatsache – ob sie nun bezeichnet. Zum anderen sagten Sie, darüber sprechen oder nicht. Ich höre Ich wünsche Ihnen einen schönen Abtreibung sei wie ein Auftragsmord. von einzelnen, die sich immer und im- Sonntag. In der Schweiz zum Beispiel sind sechs mer wieder neu, Zeit ihres Lebens, die- Veronika Jehle Frauen aus der katholischen Kirche ser Entscheidung stellen müssen. Die ausgetreten, die sich jeweils über Jahr- damit leben lernen müssen, dass ihr zehnte in Politik, Gesellschaft und Kir- Kind nicht lebt. Die, wenn sie Schuld che verdient gemacht haben. Die Frau- empfinden, damit ringen, mit Gott viel- Dieses «Wort zum Sonntag» wurde am en sagen, dass Ihre päpstliche Aussage leicht und mit einem Weg, sich selbst zu 8. Dezember 2018 ausgestrahlt. zur Abtreibung das Fass zum Überlau- vergeben und Vergebung geschenkt zu www.srf.ch/sendungen/wort-zum-sonntag/ fen gebracht habe. Ich selbst bin er- bekommen.Ich denke an Jesus, der ja lieber-papst-franziskus forum 1 2019 8
GLAUBEN HEUTE GLAUBEN HEUTE Stolpersteine ➜ Inkarnation Kirchenjahr Christbaum Illustration: Nadja Hoffmann 1527 wird erstmals in einer Akte der Herrscher von Mainz ein Weihnachts- baum, bei uns Christbaum, erwähnt. Als allgemein üblicher Brauch hat sich der Christbaum anscheinend zunächst im Elsass verbreitet. Und richtig populär wird der Brauch im 18. Jahrhundert, selbst Johann Wolfgang von Goethe berichtet da- von, und auch Friedrich Schiller scheint den Brauch geschätzt zu ha- Inkarnation ben. Er war aber bis weit ins 19. Jahr- hundert hinein ein kostspieliger Brauch, so dass sich nur reiche Menschen einen Christbaum leisten konnten. Eins mit seiner Schöpfung Der Christbaum knüpfte an die alte Symbolik des Baumes als Zei- «Sie ist eine eingefleischte Optimis- Im Gegensatz zu den Beispielen von chen des Lebens an. Der Christ- tin.» – «Er ist ein eingefleischter AKW- der Optimistin und dem AKW-Gegner Gegner.» – Hinter unserer Alltags- findet bei der Inkarnation Gottes etwas sprache versteckt sich weihnachtliche Wechselseitiges statt. Ein Gebet in der Theologie. weihnachtlichen Eucharistiefeier for- muliert dies: «Denn einen wunderba- Wenn wir Personen mit «eingefleischt» ren Tausch hast du vollzogen: Dein gött- beschreiben, drücken wir damit aus, liches Wort wurde ein sterblicher dass sie eine bestimmte Eigenschaft Mensch, und wir sterbliche Menschen Foto: Christoph Wider oder Lebensweise durch und durch ver- empfangen in Christus dein göttliches körpern. Man könnte sie auch als unver- Leben.» Gott nimmt unsere Eigen- besserliche Optimistin bezeichnen oder schaften und unsere Lebensweise ihn als unbekehrbaren AKW-Gegner. gleich einer zweiten Natur an und Auch Gewohnheiten können einge- gleichzeitig «durchgöttlicht» er fortan fleischt sein, wenn sie nicht mehr zu das Menschsein. baum, verziert mit Äpfeln, Nüssen ändern sind und gleichsam zur zweiten Und nicht nur das Menschsein. Ein- und allerlei Gebäck, wurde zum ei- Natur werden. Ob Eigenschaft, Lebens- fleischung bedeutet zunächst ja ein- gentlichen «Paradiesbaum», womit weise oder Gewohnheit – was einge- fach, dass eine Verbindung mit der Ma- natürlich die Vorstellung verknüpft fleischt ist, verbindet sich untrennbar terie stattfindet. Mit der Materie an sich, war, dass Jesus es war und sein wer- mit uns. nicht nur mit der menschlichen. Gott de, der die Menschheit zurück ins So ist es auch mit Gott. An Weih- geht in die Schöpfung als Ganzes ein. In Paradies führen werde. nachten feiern wir die In-karn-ation, Jesus erscheint der Mensch, durch den Die Bäume zudem mit Kerzen zu die Ein-fleisch-ung Gottes. In Jesus Gott verkörpert wird, der Mensch, der schmücken, liegt angesichts der im- Christus verbindet er sich untrennbar unüberbietbar Gottes Ebenbild ist. mer wiederkehrenden Lichtsymbo- mit uns Menschen. Das Zweite Vatika- Mit ihm bricht nicht nur das Reich lik in den Evangelien nahe: Jesus sei nische Konzil drückt es so aus: «Der Gottes an, sondern auch die Herrschaft «das Licht der Welt», steht da. Sohn Gottes hat sich in seiner Mensch- des ursprünglichen Menschen. Das be- Das Weihnachtslied «O Tannen- werdung gewissermassen mit jedem trifft die ganze Schöpfung. Denn Gott baum» ist bis heute die bekannteste Menschen vereinigt.» Mit jedem Men- ist ein eingefleischter Liebhaber nicht Ode an den Christbaum geblieben schen! Mit mir, was unglaublich und nur des Menschen, sondern aller seiner und weist darauf hin, dass dieser kaum zu fassen ist. Aber ebenso mit je- Geschöpfe. Brauch zunächst vor allem im dem anderen Menschen. Auch mit dem- deutschsprachigen Raum beliebt jenigen, der mir Mühe macht, an dem war. ich leide, den ich geringschätze, was ge- Alexandra Dosch bit nauso kaum zu fassen ist. Diözesane Fortbildungsbeauftragte forum 1 2019 25
GOTT IM ZÜRIPIET UND DIEDIHEI WELT d e n s l e ute or &aBenteuer Schwester Jermia Thoma 1944: Geburt in Bütschwil (SG) 1968: Profess im Kloster Ingenbohl (SZ) 1968 – 1973: Lehrerin in Rechthalten und Düdingen (FR) 1973 – 1975: Aufbau der Katechetischen Arbeitsstelle Bern 1975 – 1977: Vorbereitung für Missionseinsatz 1977: Ausreise nach Taiwan 1977 – 1979: Studium der chinesischen Sprache in Taipeh 1981 – 1996: Pfarreileiterin in Chihshang-Taitung Seit 1996: Pfarreileiterin in Chulu-Taitung Serie «Ordensleute und Abenteuer» Früher wie heute gibt es Menschen, die mit einem Auftrag in unbekannte Länder gehen. Sie lassen Vertrautes zurück, be- gegnen Fremdem und kehren verändert zurück. Diese drei Schritte sind auch Foto: Christoph Wider die Struktur von Mythen und Heldinnen- Schwester Jermia Thoma hat in legenden. In dieser Serie porträtieren Taiwan ihr Heimat gefunden. wir Frauen mit Abenteuergeist, die für einen Orden mit einer Mission unterwegs sind. Essen, was ihr esst möchte essen, was ihr esst», habe sie den Menschen gesagt. Seither hat Schwester Jermia Schwester Jermia Thoma hat offenbar einen starken Schlangenfleisch gegessen und fliegen- de Hunde, Affenfleisch und Wild- Magen. Ihr «dialogisches Leben» mit den Menschen schwein. Nur Feldmäuse, die hoffte sie in Taiwan nährt sie aber noch auf andere Art. nie essen zu müssen. Bis ihr dann doch jemand etwas davon anbot. Ein gegrill- Schwester Jermia macht sich auf den Weg die Sprache der Bunun, eines Urein- tes Hinterbein. «Es war unglaublich, in die Berge. Es muss um 1981 gewesen wohnerstamms in den Bergen, be- klein und fein wie Schinken», sagt sie sein, in diesen ersten Jahren ihres Le- herrscht sie ein wenig. «Den Fisch ha- und lacht herzlich. bens in Taiwan. Mit den Menschen in ben wir extra für dich gekauft», erhält einem Dorf in den Bergen wird sie zu sie zur Antwort. Sie darauf: «Das möch- 41 ihrer 74 Jahre lebt Jermia Thoma nun Abend essen. Es gibt Fisch. «Aber die- te ich nie wieder so haben.» bereits in Taiwan. «Dialogisch leben», sen Fisch», so fragt sie ihre Gastgeber, Von da an habe es sich wie ein Lauf- nennt sie ihre Art, sich auf die Men- «den könnt ihr nicht gefischt haben?» feuer verbreitet, von Dorf zu Dorf: Da schen, ihre Kultur und Mentalität ein- Chinesisch sprechen kann Schwes- sei eine Schwester, die so leben möchte, zulassen. «Dazu gehört, dass ich mich ter Jermia schon ziemlich gut und auch wie die Einheimischen leben. «Ich selbst zurücknehme. Ich höre zuerst zu, forum 1 2019 26
GOTT UND DIE WELT schaue hin und achte, wie die Men- Jermia dazu: «Ich finde es schön, wenn Glauben bis zu einer möglichen Tauf- schen denken», sagt sie. das Christliche weitergeht, wenn auch feier. Selbstverständlich lebt Jermia Deshalb verwendet sie das Wort anders.» Thoma aber weiterhin mit vielen zu- «Mission» nicht mehr gerne. «Ich muss sammen, die keine Christen sind oder nicht meinen, ich als alte Katholikin Dass das «Christliche an sich» weiter- werden wollen. müsse denen etwas bringen.» Taiwan geht, ist der Ingenbohler Schwester in der ist ein Land mit einer grossen religiösen Pfarreiarbeit ein Anliegen. Seit über 20 Jermia Thoma ist nur vorübergehend Vielfalt. Neben einer Mehrheit an Bud- Jahren leitet sie die Gemeinde in Chu- auf Heimaturlaub in Ingenbohl. Die vi- dhisten leben Taoisten neben Mormo- lu, im Süd-Osten Taiwans. Davor war tale Frau ist «dort drüben» zu Hause nen, Muslimen und Gläubigen der sie 15 Jahre Leiterin der Pfarrei in angekommen, wie sie sagt. «Ich habe Volksreligion. Nur etwa ein Prozent der Chihshang. eine grosse Familie», sagt sie ruhig und Bevölkerung sind Christinnen und Sonntagsgottesdienste mit Kommu- strahlt. In der Zwischenzeit wüssten Christen, diese sind aufgeteilt in über nionspendung und Predigt, Kranken- viele, dass sie am liebsten Wildschwein- 60 protestantische Kirchen und die ka- besuche, Bibelabende, ein wöchentli- fleisch esse. «Wenn sie es haben, dann tholische Kirche. ches Taizé-Gebet, die Ausbildung von kochen sie es für mich.» Die Toleranz der Regierung ermög- Katechetinnen, all das gehört zu ihren Veronika Jehle liche ein friedliches Zusammenleben, Aufgaben. auch die Arbeit von Menschen wie «Natürlich bin ich sehr in Grenzen Schwester Jermia werde wahrgenom- gehalten, weil ich eine Frau bin», sagt men und geschätzt. «Wir haben freie sie, atmet schwer aus und lacht vielsa- Drei Fragen an Sr. Jermia Hand. Taiwan ist nicht China», sagt gend. Als sie weitererzählt, kehrt die Jermia. Begeisterung zurück. Dass Menschen Aufbruch: Wer waren Sie damals, als Auch in Taiwan sind es Kindergär- sich zum Christentum bekehren, hat sie Sie aufgebrochen sind? ten und Spitäler, die christliche Wurzeln manche Male erlebt. «Ich habe gese- Schon bei meiner Erstkommunion haben. Jüngst würden vermehrt Ein- hen, wie Leute, die nicht christlich sind, sagte die Handarbeits-Schwester: Es richtungen für betagte Menschen ge- oft in Angst leben», sagt sie nachdenk- könnte sein, dass Gott euch ruft. Nach baut, da die traditionellen Strukturen lich, «viele haben für jedes Anliegen ei- der Erstkommunion hat sie uns noch- der Grossfamilie nicht mehr überall nen speziellen Gott. Der eine Gott mals gefragt: Ja, wer möchte ins Klos- funktionierten. könnte sie strafen, wenn sie das nicht ter? Drei Mädchen haben aufge- Jermia Thoma ist überzeugt, dass tun, ein anderer Gott, wenn sie jenes streckt, ich war eine davon. Meine das christliche Menschenbild andere nicht tun.» Grossmutter glaubte nicht daran, inspiriere. In ihrer Diözese habe eine Da erscheine die christliche Bot- dass ich tatsächlich Ordensfrau wer- buddhistische Nonne ein Spital samt schaft oftmals als Befreiung. Den Men- de, obwohl meine Familie katholisch Universität aufgebaut. «Das habe ich al- schen von diesem befreienden Gott zu ist. les bei euch katholischen Priestern und erzählen, darin sieht Schwester Jermia Schwestern abgeschaut», habe diese ihren Auftrag. Zwei bis drei Jahre gehe Initiation: Wer ist aus Ihnen geworden, Nonne zu Schwester Jermia gesagt. die Einführung in den christlichen durch die Zeit in der Mission? Ich wählte mir als Ordensnamen Jer- mia. Diesen Propheten habe ich ger- ne, weil er sehr mutig war. In der Mission darf ich das ausführen, was ich eigentlich immer wollte: Ich leite eine Pfarrei. Ich bin also Seelsorge- rin und Pfarreileiterin geworden. Rückkehr: Wer sind Sie heute, mit Ih- ren Erfahrungen im Gepäck? Mit der Bibel gesprochen: Ich habe dort, wo ich in Taiwan lebe, viele Müt- ter und viele Kinder. Das ist meine Fa- milie. Vorläufig geht es mir gesund- heitlich recht gut und solange ich bleiben kann, bleibe ich. Die Leute ha- ben schon gesagt, dass sie mir Arbeit abnehmen, damit ich hier bleiben Foto: zvg kann. «Ich finde es schön, wenn das Christliche weitergeht, wenn auch anders.» forum 1 2019 27
BOUTIQUE Podestplätze Buch ➜ Vegetarier und Veganer sind im Ausstellung ➜ So individuell Schlaf ist, Buch ➜ Das Lukas-Evangelium be- Trend, Tierversuche und die Massen- so ist er doch für alle gleichermassen ginnt mit der Erzählung über Zacharias tierhaltung werden heiss diskutiert, die existentiell und für die Erholung von und Elisabeth, die an Sara und Abra- Theologie aber schweigt dazu. Rainer Körper und Geist notwendig. Er ist ab- ham aus dem Alten Testament erinnert. Hagencord will das ändern. Sachkundig hängig von einem erfüllten Wachsein Das zeigt: Lukas hat die Hoffnungen erläutert er die Stellung der Tiere im Ver- und nur mit Hingabe und Absichtslosig- und Verheissungen des Judentums vor lauf der Jahrhunderte und erschliesst keit erreichbar. Die Ausstellung betont Augen, die jüdischen heiligen Schriften den Reichtum der biblischen Aussagen die Bedeutung der Selbstverständlich- sind Boden und Leitfaden für dieses zu unseren Mitgeschöpfen. Er denkt keit des Schlafs, zeigt aktuelle Diskussi- Evangelium. Diese Zusammenhänge über Bewusstsein, Gefühle und Empfin- onen der Wissenschaft, thematisiert die werden dank der Interpretationen ei- dungen von Tieren nach. Hagencord ist Mythen sowie die immer noch beste- nes exegetisch kompetenten Teams überzeugt: Ein falsches Bild von den henden Rätsel rund um den Schlaf und freigelegt. Das Buch ermöglicht so ein Tieren führt auch zu einer falschen ermöglicht eine sinnliche-poetische vertieftes Verständnis des Judentums Auffassung von Gott. ps Auseinandersetzung. pd und des interreligiösen Dialogs. pd «Gott und die Tiere. «Schlaf gut» «Damit sich die Schrift erfüllt ...» Ein Perspektivenwechsel» Vögele Kulturzentrum, Pfäffikon SZ. Bis Schweizerisches Katholisches Bibel- Rainer Hagencord. Topos 2018. 191 Seiten. 24.3., Mi, Fr, So: 11.00–17.00. Do: 11.00– werk (Hrsg.), Paulus 2018, 384 Seiten, Fr. 24.50. ISBN 978-3-8367-0047-4. 20.00. Fr. 14.–. www.voegelekultur.ch ISBN 978-3-7228-0916-8, Fr. 41.50. In Serie Der Mensch 16. Januar: Hunger Foto: Christoph Wider Weltweit hungern mehr als 800 Millionen ist, was er isst Menschen. Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind. Dabei gehört das Recht auf Nah- rung zu den Menschenrechten und es gäbe Ernährung ist weit mehr als eine biologi- genug Nahrung für alle. sche Notwendigkeit. Slow Food, Fair 23. Januar: Religion geht durch den Magen Trade, vegetarisch, vegan – wofür wir Alle Kulturen und Religionen kennen Speise- uns als Konsumentinnen und Konsu- gebote oder Tabus. Warum kommen Men- menten auch immer entscheiden, wir schen ohne solche Regeln und Einschrän- kaufen nicht bloss ein, um unseren kungen offenbar nicht aus. Welche Hunger zu stillen. Längst ist Ernährung Pfarreisaal Maria Krönung, Religionen kennen welche Speisegebote und Carl Spitteler-Str. 44, Zürich. identitätsstiftend geworden. Darum gilt wie werden diese erklärt? Jeweils Mi, 19.30–21.00 Uhr. Eintritt frei, der bekannte Ausspruch des Philoso- Kollekte. Keine Anmeldung. 30. Januar: Foodporn als Religion phen Ludwig Feuerbach auf seine Wei- Rund ums Essen werden Feste zelebriert se immer noch: «Der Mensch ist, was er 9. Januar: Die Zukunft der Landwirtschaft (Street Food Festival, Food Zürich). In den isst.» Welche Rolle spielt die Landwirtschaft in Tempeln der Kochkünste und den Gottes- Welche Regeln und Bedürfnisse be- unserer Nahrungskette? Wie könnte eine in- diensten der Kochshows wird verschiedenen stimmen unser Essverhalten? Wie weit novative, ethisch verantwortungsvolle, aber Ernährungsglauben gehuldigt (vegetarisch, prägen religiöse Vorstellungen unsere ökonomisch nachhaltige Landwirtschaft vegan, lactosefrei). Ist Foodporn zur Ersatz- Esskultur? bl aussehen? religion geworden? forum 1 2019 28
«Magoi» Naturwissenschaftler kommen in der Bi- bel kaum vor. Eine Ausnahme bilden die Heiligen Drei Könige, Sterndeuter aus dem Osten. Im griechischen Original des Matthäus-Evangeliums steht «ma- Lesetipp goi», was mit unserem Wort Magier un- «Der Stern von Bethlehem zureichend übersetzt ist. Die «Magoi» in astronomischer Sicht. oder Magier bildeten den Priester- Legende oder Tatsache?» Konradin Ferrari Stamm der Meder in Mesopotamien Foto: Keystone d’Occhieppo, Brunnen-Ver- und gehörten zur Zeitenwende wohl lag 2003. ISBN 3-7655- dem zoroastrischen Glauben an. Ihre 9803-8. Wirkungsorte, die Turmbauten meso- potamischer Städte wie Babylon und rechnen lassen. Auf den Tontafeln fin- ungebildeten Priesterkollegen und de- Ekbatana, waren religiöse Tempel, po- den sich auch mit astronomischen Da- ren König Herodes in Jerusalem wenig litische Archive, aber auch astronomi- ten verbundene Omen zu politischen anfangen konnten – und dass Matthäus sche Observatorien. Als Priesterastro- und wirtschaftlichen Gegebenheiten. die umfassend gebildeten «Magoi» als nomen konnten die «Magoi» auf jahr- Es ist durchaus plausibel, dass die «Ma- Gegenmodell zur jüdischen und römi- hundertealte Keilschrift-Tontafeln mit goi aus dem Osten» aufgrund von Ster- schen Elite darstellen will. Sternenbeobachtungen zugreifen. So nenkonstellation und Omen-Spruch verstanden sie die Planetenzirkulation zur Erkenntnis kamen, es sei ein neuer Tobias Grimbacher, Naturwissenschaftler und und den Saroszyklus, mit dem sich Son- König der Juden geboren. Gut möglich Autor, porträtiert in loser Folge Menschen, die beides nen- und Mondfinsternisse vorausbe- auch, dass sie mit ihren astronomisch zugleich waren: Naturforscher und Theologen. Filmtipp ➜ «Three Faces» Auf Sendung Wie Kirche Zukunft hat. Round-Table-Gespräch mit dem Ra- diopredigt-Team: Silvia Huber und Matthias Wenk (röm.-kath.), Brigit- Foto: Filmcoopi Zürich/Jafar Panahi Film Production te Becker und Matthias Jäggi (ref.), Susanne Cappus (christkath.). Di, 1. Januar, 8.30, SRF 2 Kultur Das Jahr des Papstes Am 13. März 2019 jährt sich die Wahl von Jorge Mario Bergolio zum Papst zum sechsten Mal. Kritische Töne werden lauter. Di, 1. Januar, 11.30 BR Die bekannte iranische Schauspielerin Jafar Panahis Roadmovie orientiert Die neue Seidenstrasse Behnaz Jafari zeigt Regisseur Jafar sich an realen Ereignissen und wirft Mit dem grössten Investitionspro- Panahi eine erschütternde Videobot- nicht nur einen kritischen Blick auf die gramm der Geschichte dehnt China schaft, die sie erhalten hat: Die Teen- iranische Gesellschaft, sondern bildet seinen Einfluss weltweit aus. agerin Marziyeh lebt mit ihrer Familie ein Stück iranischer Kinogeschichte Mi/Do, 2./3. Januar, 22.15, ZDF in einem abgeschiedenen Dorf im ab. Thomas Schüpbach medientipp Nordwesten Irans. Sie darf nicht in Sternstunde Religion. Was sagen Teheran Schauspiel studieren, son- uns die Sterne wirklich? dern soll zwangsverheiratet werden. «Three Faces» Astrologie behauptet sich durch Marzieyeh sieht in ihrer Verzweiflung Iran 2018. Regie: Jafar Panahi. Beset- alle Zeiten und Kulturen – obwohl keinen Ausweg mehr. Schauspielerin zung: Behnaz Jafari, Jafar Panahi, Mar- sie umstritten ist. und Regisseur machen sich gemein- ziyeh Rezaei. Verleih: Filmcoopi Zürich So, 6. Januar, 10.00, SRF 1 sam auf den Weg in Marziyehs Dorf. AG, www.filmcoopi.ch forum 1 2019 29
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SCHLUSSTAKT: WORTBILDER PFARRBLAT T DER KATHOLISCHEN KIRCHE Foto: alamy IM KANTON ZÜRICH Gültig für die Sonntage vom 30. Dez. und 6. Jan. Herausgeberin Stiftung forum – Pfarrblatt der katholischen Kirche im Kanton Zürich Redaktionsadresse Hirschengraben 72, 8001 Zürich 044 266 12 72, redaktion@forum-pfarrblatt.ch, www.forum-pfarrblatt.ch Sekretariat: Mo/Di/Do 8.30 –11.30 Uhr, Di/Do 13.30–16.30 Uhr Stiftungsratspräsident: Pfr. Andreas Rellstab Geschäftsführung: Anita Koch Redaktionssekretariat: Rita Grob Chefredaktion: Thomas Binotto (bit) Redaktion: Pia Stadler (ps), Beatrix Ledergerber (bl) Fotografie: Christoph Wider Überraschung Grafik: Simone Juon Abo-Service und Adressmutationen Stadt Zürich: 043 322 18 18, info@i-kg.ch Zürich-Land: Direkt beim Pfarramt Ihres Wohnortes (Adresse auf Pfarreiseiten ersichtlich) Stadt Winterthur: 052 224 03 80, mitgliederverwaltung@kath-winterthur.ch Weshalb bereiten uns Überraschungsge- Es lohnt sich, diese Beweglichkeit zu Bezahlte Abos: 044 266 12 72, redaktion@forum-pfarrblatt.ch schenke oft gar nicht jene Freude, die von trainieren, indem wir uns auf Überra- Abopreise: Jahresabo Inland Fr. 38.–, Ausland Fr. 77.– uns erwartet wird? – Vielleicht, weil wir schungen so offen wie möglich einlas- Anzeigenverkauf creative media gmbh, Zürcherstrasse 135 mit der Überraschung um die Vorfreude sen. Gleichzeitig sollten wir aber auch 8910 Affoltern a. A., 043 322 60 30, Fax 043 322 60 31 und damit um einen besonders attrakti- die Mahnung nicht aus den Augen ver- forum@c-media.ch, www.c-media.ch ven Teil des Geschenks gebracht werden. lieren, die dieses Wort enthält. Denn Druck was überrasch auftaucht, das erregt AVD Goldach AG, 9403 Goldach, www.avd.ch Pfarreiseiten: Text&Gestaltung jeweiliges Pfarramt Dass wir dabei in erwartungsvolle Ge- nicht bloss Aufsehen, das ist nicht nur sichter blicken, die von uns spontane prickelnd, begeisternd, animierend, es 64. Jahrgang, erscheint 14-täglich, ISSN 1420-2212 Freudensprünge erwarten, macht die verlangt von uns Beweglichkeits- Sache nicht leichter. Für uns erfüllt sich übungen. «Überraschung» dann ganz wörtlich: Überraschungen bringen uns mit Sie kommt überrasch, viel zu schnell. ihrem Tempo aus dem Takt. Wir geraten Nicht nur die bösen Überraschungen, durch sie – manchmal nahezu unmerk- auch die frohen und die gut gemeinten lich – ins Stolpern. Überraschungen überfordern uns häufig. hemmen den Fluss. Nicht durch Stau, sondern durch Flut. Dennoch gelten Überraschungen als unverzichtbare Würze unseres Lebens. Überraschungen verlangen von uns Wer will tagaus und tagein, jahraus und also nicht nur den beweglichen Blitz- jahrein, von der Wiege bis zur Bahre start, sie zwingen uns auch zum ord- immer genau wissen, was ihn erwartet. nenden Innehalten. Wir müssen uns Überraschungen machen das Leben neu sortieren und den Takt wiederfin- spannend und lebendig. Wenn uns den. Überraschungen sind so etwas wie nichts mehr überraschen kann, sind ein Zeitkonzentrat. Mit ihnen leben wir wir tot. Und wie lebendig begraben für einen Augenblick bei der Zeit auf fühlen wir uns tatsächlich, wenn die Pump. Das ist aufregend und kann uns Zukunft bereits in der Gegenwart fest- Schub verleihen. Aber den Zeitkredit, geschrieben erscheint. den müssen wir zurückzahlen. Und wenn wir das tun, wenn wir der Über- Aber selbst wenn wir auf so manche raschung im Nachgang ihre Zeit lassen, Überraschungen gerne verzichten wür- dann werden wir manchmal mit Nach- den, haben wir das Heft nicht in der freude für die entgangene Vorfreude Hand, denn wir wissen weder Zeit noch entschädigt. Stunde, wie es in der Bibel heisst. Ob Thomas Binotto wir nun Lust darauf verspüren oder nicht: Wir sind zur Beweglichkeit ge- überraschen zwungen, um auf Überraschungen zu rasch, ursprünglich = plötzlich über flink und biegsam reagieren zu können. jemanden herfallen, (im Krieg) überfallen forum 1 2019 32
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