Der ungelöste Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU
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NR. 76 DEZEMBER 2021 Einleitung Der ungelöste Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU Weitere Sanktionen und schwere Zeiten für Polens Beziehungen zur Union Raphael Bossong Die breite Solidarisierung mit Polen, die innerhalb der EU aufgrund der Krise an der Grenze zu Belarus aktuell zu beobachten ist, ändert nichts am Grundsatzkonflikt in der Frage der Rechtsstaatlichkeit. In den vergangenen Monaten hat Polen Rechts- prinzipien der Union offen in Zweifel gezogen. Es ist nicht zu erwarten, dass die amtierende polnische Regierung effektive Maßnahmen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz ergreifen wird. Wenn es dabei bleibt, wird die EU ihre Finanztransfers an Polen wie an Ungarn substantiell einschränken müssen. Auch die horizontale Anwendung von EU-Recht wird gegenüber Polen auf wachsende Vor- behalte stoßen. Zum Schutz des europäischen Gemeinwesens müssen politisch an- gespannte Beziehungen zu Polen indes in Kauf genommen werden. Die neue Bundes- regierung hat das Ziel, die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit zu priorisieren, in ihrem Koalitionsvertrag niedergelegt. Sie sollte daran festhalten. Die Gefahr eines Abbaus demokratischer in denen die »finanziellen Interessen der und rechtsstaatlicher Strukturen in einigen Union« Schaden nehmen könnten, und Mitgliedsländern belastet die Union seit zugleich die vertragsrechtliche Zulässigkeit mindestens zehn Jahren. Ende 2020 kam es der Regelung vom Europäischen Gerichts- zu einer ersten dramatischen Zuspitzung hof (EuGH) prüfen zu lassen, hat lediglich mit Auswirkungen für alle EU-Staaten dazu geführt, den Konflikt um einige (SWP-Aktuell 72/2020). Damals standen die Monate zu vertagen. Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanz- Das Europäische Parlament drängt die rahmen und zu den außergewöhnlichen EU-Kommission seit Herbst 2021 mittels Corona-Hilfsgeldern kurz vor dem Schei- einer Untätigkeitsklage, den neuen Rechts- tern, da Polen und Ungarn den zeitgleich staatlichkeitsmechanismus zu aktivieren – verhandelten Mechanismus zur Einschrän- ungeachtet der zuvor von Polen und Ungarn kung von EU-Zahlungen im Fall von rechts- eingereichten Nichtigkeitsklage gegen die- staatlichen Defiziten grundsätzlich ablehn- sen Mechanismus. Angesichts der Positio- ten. Der Kompromiss, die Anwendung die- nierung des EuGH in zahlreichen anderen ses Mechanismus auf Fälle zu reduzieren, Streitfällen zur Rechtsstaatlichkeit ist an-
zunehmen, dass mindestens letztere Klage der Beschäftigung und eine nachhaltige im kommenden Frühjahr abgewiesen wird. Haushaltsführung. Zudem handelt es sich Der Generalanwalt am EuGH hat jüngst am lediglich um Empfehlungen, die von den 2. Dezember seinen Schlussantrag in die- Mitgliedstaaten erfahrungsgemäß häufig sem Sinne vorlegt nur selektiv umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kom- Im Fall Polens thematisieren die LSE den mission Polen und Ungarn zu einer schrift- Bereich der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls lichen Stellungnahme aufgefordert, in der nur nachrangig, während mit Blick auf die beiden Staaten darlegen sollen, wie sie Ungarn der pandemiebedingt besonders systematischen Risiken zulasten der finan- weitreichende Ausnahmezustand moniert ziellen Interessen der Union begegnen wol- wird. Eine klare Verpflichtung zur umfas- len. Damit hat sie de facto mit der Anwen- senden Reform des Justizwesens ist aus dung der Rechtsstaatlichkeitskonditionali- diesen Empfehlungen nicht abzuleiten. tät begonnen. Parallel segnet die EU-Kom- Die Durchführungsverordnung zu den mission die »Aufbaupläne« Polens und Corona-Hilfen verweist zusätzlich auf die Ungarns noch nicht ab und gibt damit die Notwendigkeit, die finanziellen Interessen Auszahlung der gesonderten Corona-Hilfen der Union zu schützen, was insbesondere (»NextGenerationEU«) nicht frei. Für beide im Fall Ungarn als nicht gesichert gelten Länder geht es dabei um sehr umfangreiche kann. Die Verpflichtung zum rechtsstaats- Zuwendungen und Kredite, die Wachstums- konformen Einsatz der Mittel betrifft jedoch impulse von etwa 4 Prozent ihres jeweiligen den Verwendungsnachweis und nicht den nationalen Bruttoinlandsprodukts erzeugen Aufbauplan. Insofern ist davon auszugehen, könnten. Die Kommission verlangt zuvor dass die EU-Kommission die Corona-Hilfen Nachbesserungen mit Blick auf die Rechts- für Polen und Ungarn aus rechtlichen Grün- staatlichkeit. So hat sie Polen angeboten, den nicht dauerhaft zurückhalten kann. einen Teil der Corona-Hilfen auszuzahlen, Einige kritische Mitgliedstaaten wie die wenn die Regierung in Warschau einen Niederlande könnten die Auszahlung aller- Fahrplan zur Reform des Disziplinarwesens dings auch verzögern. Die neue Bundes- für polnische Richter vorlegt. regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls ihre Unterstützung für das aktu- elle Vorgehen der Kommission bekundet. Spiel auf Zeit Grundsätzlich kann jeder Mitgliedstaat bei starken Vorbehalten eine Anrufung des Die europarechtliche Grundlage für dieses Europäischen Rats erwirken mit dem Ziel, Vorgehen ist stark umstritten. Die regulä- dass der nationale Aufbauplan eines ande- ren Fristen zur Bewertung der nationalen ren Mitgliedstaats erneut überprüft wird. Aufbaupläne wurden bereits überschritten. Dabei gelten jedoch die gleichen rechtlichen Bei der Prüfung der Pläne soll sich die Rahmenbedingungen wie bei den LSE: Prüf- Kommission unter anderem an den Emp- gegenstand sind primär die ökonomische fehlungen orientieren, die 2020 im Rahmen Effektivität und Effizienz des Plans. der wirtschafts- und fiskalpolitischen Ko- Trotz dieser ungesicherten Handlungs- ordinierung (Europäisches Semester) erarbei- grundlage könnte so die Zeit bis zur Akti- tet wurden. Themen der Rechtsstaatlichkeit vierung des neuen Rechtstaatlichkeits- können dabei eine Rolle spielen. Ein Bei- mechanismus überbrückt werden. Danach spiel dafür ist der bewilligte Aufbauplan könnten die Organe der Union Zahlungen Maltas, mit dem unter anderem die Justiz aus dem EU-Budget an Polen und Ungarn modernisiert werden soll. Kern der länder- auf einer europarechtlich gesicherten Basis spezifischen Empfehlungen (LSE), die die einschränken. Es ist denkbar, dass der Kommission im Zuge dieses Verfahrens zu- Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auch bei sammenstellt, bleiben jedoch die Erhöhung den gesonderten Corona-Hilfen angewendet der Wettbewerbsfähigkeit, die Sicherung wird, selbst wenn weitere Anfechtungsklagen SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 2
zu erwarten wären. Mindestens würde es Aspekte von richterlichen Entscheidungen für die im April oder Mai 2022 anstehenden abstellen, einzustellen und alle diesbezüg- Wahlen in Ungarn nicht mehr möglich sein, lich suspendierten Richter wieder einzuset- dass die Fidesz-Regierung neue EU-Mittel zen. Das strukturelle Problem – die mit dazu einsetzt, ihre Popularität zu erhöhen. den Justizreformen verknüpfte politische Einschüchterung polnischer Richter – ver- anlasste die EU-Kommission denn auch zu Konsequente Linie des EuGH einem weiteren Vertragsverletzungsverfah- ren. Dabei ging es um das sogenannte Der seit langem ausgetragene Streit über die »Maulkorbgesetz«, das polnischen Richtern Konditionierung von EU-Finanzmitteln wird untersagt, in Vorabentscheidungsverfahren mittlerweile durch noch grundsätzlichere zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit den EuGH Konflikte überschattet. Ab 2019 fällte der einzuschalten. Auch hier erließ der Gerichts- EuGH mehrere kritische Entscheidungen zu hof im Sommer noch vor seiner Haupt- den Justizreformen, die die Partei Recht und entscheidung eine einstweilige Verfügung Gerechtigkeit (PiS) seit ihrer Regierungs- und verhängte zur Durchsetzung Ende Ok- übernahme in Polen durchgeführt hatte. tober ein tägliches Zwangsgeld von 1 Mil- Die Neuerungen betrafen unter anderem lion Euro pro Tag. Pensionsregelungen und weitere Verfah- rensänderungen bei der Ernennung von Richtern auf allen Ebenen. Im März 2021 Eskalation seitens der polnischen urteilte der EuGH in einem Vorabentschei- Regierung dungsverfahren, das etablierte Richter am obersten polnischen Verwaltungsgerichts- Die Festsetzung dieser Rekordsumme wurde hof beantragt hatten, dass die richterliche unter anderem dadurch motiviert, dass die Unabhängigkeit in Polen substantiell ge- polnische Regierung den Konflikt in Sachen fährdet sei. In seiner Begründung betonte Rechtsstaatlichkeit in der Zwischenzeit der EuGH, dass alle Verfahren zur Ernen- weiter massiv verschärft hatte. Vertreter der nung von Richtern einen effektiven Rechts- PiS warfen der EU wiederholt vor, sie wolle behelf einschließen müssen und diesbezüg- Polen erpressen oder gar unterwerfen, mut- liche Vorlagen zur Vorabentscheidung maßlich von Deutschland angetrieben. Der durch den EuGH nicht durch nationale Ge- nationale Widerstand gegen ein vermeint- setzgebung eingeschränkt werden dürfen. liches Diktat aus Brüssel wird – vergleich- Im Juli dieses Jahres gab der EuGH in bar zum Vorgehen Victor Orbans – auf einem Vertragsverletzungsverfahren der identitätspolitischen Themenfeldern weiter- Kommission umfänglich Recht und forderte befeuert, sei es in der Frage des Umgangs eine Abwicklung der neu eingeführten Dis- mit sexuellen Minderheiten, mit Abtreibun- ziplinarordnung für polnische Richter. Denn gen oder mit irregulären Zuwanderern. diese erlaube eine zu weitreichende politi- Die aktuelle Krise an der Grenze zu Bela- sche Einflussnahme. Eine entsprechende rus zeigt zwar, dass gemeinsame Sicherheits- einstweilige Verfügung, die der EuGH be- interessen aller Mitgliedstaaten derartige reits im April 2020 ausgesprochen hatte, Differenzen rasch in den Hintergrund tre- wurde von der polnischen Regierung igno- ten lassen. Die Strategie Polens, den Vor- riert. Diese kündigte jedoch an, die erst rang des EU-Rechts grundsätzlich anzufech- 2017 geschaffene und besonders umstrit- ten, kann jedoch seitens der EU nicht un- tene Disziplinarkammer am obersten beantwortet bleiben. So folgte das polnische Gerichtshof abzuschaffen. Verfassungstribunal Anfang Oktober einer Dieser Schritt, sofern er tatsächlich um- Beschwerde von Premierminister Mora- gesetzt wird, reicht allerdings nicht aus. wiecki, die dieser als Reaktion auf das kri- Gemäß dem EuGH sind vielmehr alle Diszi- tische EuGH-Urteil beim obersten polni- plinarmaßnahmen, die auf rein inhaltliche schen Gerichtshof eingebracht hatte. Dieses SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 3
konstruierte in seinem Beschluss eine Un- net worden. Mit wenigen Ausnahmen, die vereinbarkeit zwischen zentralen Bestim- essentielle Bestimmungen nationaler Ver- mungen der europäischen Verträge und der fassungen betreffen – und nicht Fragen polnischen Souveränität und wies eine Ein- der einfachen Gesetzgebung, wie im Fall mischung des EuGH kategorisch zurück. der polnischen Justizreformen –, gilt die- Wenn das Leitbild einer »immer engeren ser Vorrang aber als unerlässlicher Bestand- Union« (Art. 1 EU-Vertrag, EUV), der Rechts- teil einer funktionierenden Rechtsgemein- staatlichkeit (Art. 2 EUV) und die Garantie schaft. Eine scharfe Abgrenzung der natio- eines Rechtsbehelfs in den vom Unions- nalen gegenüber der europäischen Rechts- recht erfassten Bereichen (Art. 19 EUV) von ordnung ist angesichts des erreichten Grads supranationalen EU-Organen dahingehend der Integration weder sinnvoll noch mög- interpretiert würden, die EU-rechtliche Kon- lich. formität der polnischen Justizreformen an- zuzweifeln, stelle dies eine so weitreichen- de Verletzung der polnischen Verfassung Reichweite des EU-Rechts und Demokratie dar, dass schlicht alle wei- teren EU-Entscheide hierzu nichtig seien. Gleichwohl kann man die Frage stellen, ob Entgegen ihrer Rhetorik kann die polni- der EuGH mit seinen Urteilen zu nationalen sche Regierung das kontroverse Urteil des Justizreformen seine Kompetenzen über- Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom schreitet. Der vom Europäischen Gerichts- Mai 2020 nicht als ähnlich gelagerten Prä- hof hierfür bemühte Artikel 19 EUV ist im zedenzfall geltend machen. Die Argumen- Wortlaut nur für die »in den vom Unions- tation des BVerfG zielte vielmehr auf eine recht erfassten Bereiche« gültig. Die nach- Schärfung der Aufsichtsrolle, die der EuGH vollziehbare Argumentation des EuGH gegenüber der Europäischen Zentralbank besteht hingegen darin, dass nationale ausübt. Gerichte auf allen Ebenen regelmäßig für die Auslegung von EU-rechtlichen Bestim- mungen zuständig sind. Insofern ist es hin- Vorrang des EU-Rechts fällig, auf struktureller Ebene für die Ge- währleistung eines effektiven Rechtsbehelfs Die ungarische Regierung unterstützt die zwischen nationalem und europäischem radikale Linie Polens und hat ihrerseits die Recht zu unterscheiden. Alle nationalen Rechtmäßigkeit eines kritischen EuGH- Gerichte sind also zugleich Gerichte für Urteils zu ihrer Asylpolitik vor dem ungari- EU-Recht und fallen somit teilweise unter schen Verfassungsgericht in Frage gestellt. die Aufsicht des EuGH. Diese Aufsicht be- Populistische, aber auch traditionelle kon- schränkt sich auf die Garantie der Unabhän- servative Kräfte in Frankreich signalisieren gigkeit und die rechtsstaatliche Arbeitsweise Interesse an einer vergleichbaren Neubestim- der Justiz, nicht auf die genaue Ausprägung mung der nationalen Souveränität. Wenn ihrer nationalen Organisation. Zwar kann also der Ansatz Polens Schule machen sollte, der Anlass für eine entsprechende Befas- dass nationale Regierungen und Verfas- sung des EuGH kleinteiliger erscheinen, wie sungsgerichte die Grenzen des EU-Rechts die erste wegweisende Entscheidung zu Ein- einseitig neu ziehen könnten, ohne dabei schränkungen der Bezüge portugiesischer den Ausgleich mit den bestehenden Ver- Richter gezeigt hat. In einer beträchtlichen trägen und dem EuGH zu suchen, droht Zahl von Beschlüssen beschränkt sich der eine schwerwiegende Erosion der Union. EuGH aber letztlich darauf, dass keine be- Der Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts gründeten Zweifel an der Unabhängigkeit geht zwar auf die Rechtsprechung des EuGH der Richter bestehen dürfen. Die Mitglied- selbst zurück und ist erst nachträglich in staaten gestalten dann die Reform der je- einer angehängten Erklärung (Punkt 17) weils umstrittenen Regelungen in Eigen- zum Lissabonner Vertrag offiziell abgeseg- verantwortung. SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 4
Die Spaltung der polnischen Justiz polnischen Präsidenten, da dieser die Be- rufung unrechtmäßig bestellter Richter Diese EU-rechtlichen Fragestellungen treffen bestätigt habe. ohnehin nicht den eigentlichen Kern des Ungeachtet dessen, dass sich Polen 1993 aktuellen Konflikts zur Rechtsstaatlichkeit. an die EMRK gebunden hat, reagierten das Dieser besteht seit Machtübernahme der PiS polnische Justizministerium und das Ver- darin, dass bei der Besetzung von Richter- fassungstribunal ebenso hart wie gegenüber positionen verstärkt parteipolitische Über- dem EuGH. Als der EGMR im Mai 2021 die legungen angelegt und geltendes polnisches aktuelle Zusammensetzung des polnischen Recht zur Organisation der Justiz verletzt Verfassungstribunals für unrechtmäßig be- oder systematisch geändert wurden. Diese fand mit der Folge, dass dieses nicht mehr Tendenzen zeigen sich insbesondere in der als ein »auf Gesetz beruhende(s) Gericht« regelwidrigen Benennung mehrerer Mitglie- gelten könne, erklärte selbiges Verfassungs- der des polnischen Verfassungstribunals und tribunal diese Entscheidung für schlicht in der Neukonstituierung des für Richter- nicht existent. In einem weiteren Beschluss ernennungen zuständigen Landesjustizrats, von Ende November, der auf eine Vorlage dessen personelle Besetzung seither mut- des polnischen Justizministers zurückgeht, maßlich zu stark durch die Mehrheits- sprach das Verfassungstribunal dem EGMR verhältnisse im polnischen Parlament ge- grundsätzlich die Kompetenz ab, das Recht prägt wird. Durch diese Maßnahmen ist auf ein faires Verfahren als Prüfmaßstab eine tiefgreifende Spaltung in der polni- für seine Arbeit anzuwenden. Die Option, schen Richterschaft entstanden, nämlich eine Große Kammer des EGMR zur Über- zwischen Richtern, die bereits vor 2016 im prüfung umstrittener Entscheidungen an- Amt waren, und seither ernannten Amts- zurufen, wurde hingegen bewusst nicht trägern, die mutmaßlich von der PiS-Regie- genutzt. Selbst wenn die Einhaltung der rung abhängen. Dieser strukturelle und Europäischen Menschenrechtskonvention klar innerstaatliche Konflikt hat zu zahl- und Umsetzung von Urteilen des EGMR in reichen Klagen beim EuGH geführt, mit vielen anderen EU-Staaten defizitär ist, denen die Legalität verschiedener polni- stellt dieses Vorgehen Polens eine beson- scher Kammern oder richterliche Ernen- ders radikale Gangart dar und provoziert nungsprozesse angefochten werden. Polni- damit Vergleiche mit der Position Russlands sche Richter mobilisieren im Übrigen alle im Europarat. weiteren noch verfügbaren Rechtsmittel gegen die Justizreformen der eigenen Regie- rung, insbesondere vor dem Europäischen Kein Kompromiss in Sicht Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ein klarer Kurswechsel, um sowohl den Urteilen des EuGH als auch des EGMR Der Europäische Gerichtshof für gerecht zu werden, ist von der amtierenden Menschenrechte PiS und ihrem Koalitionspartner Solidarna Polska, die rhetorisch vielfach noch un- Wie die Parlamentarische Versammlung nachgiebiger auftritt, kaum zu erwarten. und die Venedig-Kommission des Europa- So müssten substantielle Teile der Richter- rats übt auch der EGMR scharfe Kritik an schaft wegen der kompromittierten Ernen- Polen. Das Gericht konstatiert systematische nungsverfahren neu besetzt werden. Dabei Verletzungen des Rechts auf ein faires Ver- wäre zwar nicht auszuschließen, dass nach fahren gemäß Artikel 6 der Europäischen einer unabhängigen fachlichen Prüfung Menschenrechtskonvention (EMRK). Im einige der in den letzten Jahren berufenen jüngsten Urteil von Anfang November 2021 Amtsinhaber validiert werden. Mindestens spricht das Gericht von einer »offenen Miss- im Fall des Verfassungstribunals wäre je- achtung der Rechtsstaatlichkeit« durch den doch damit zu rechnen, dass nicht alle der SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 5
zuletzt ernannten und der PiS nahestehen- gleichen ist eine Suspendierung der Stimm- den Mitglieder bestätigt würden. Der Vor- rechte eines Mitgliedstaats gemäß der zwei- sitzende der PiS Jarosław Kaczyński verfolgt ten Stufe des Artikel-7-Verfahrens wegen den Plan einer nationalkonservativen Revo- der dafür erforderlichen Einstimmigkeit lution, die aus seiner Sicht eine »Säube- außer Reichweite. rung« der Justiz einschließen muss, und Unterhalb dieser Schwellen gibt es aber will dieses Ziel gegen alle etwaigen Hinder- Spielräume und Szenarien, die ausgeleuch- nisse absichern. tet werden müssen. Mindestens zwei weite- Bereits die von der EU geforderte Rück- re Dimensionen des Konflikts sind in den abwicklung des aktuellen polnischen Diszi- Blick zu nehmen: erstens eine mögliche plinarregimes wird von der polnischen europapolitische Blockade durch Polen und Regierung nicht eingeleitet. Justizminister zweitens die Suspendierung der horizonta- Ziobro arbeitet vielmehr auf eine weitere len justiziellen Zusammenarbeit aufgrund Reform des gesamten Justizwesens hin, die einer weiteren Erosion des gegenseitigen seine politischen Zugriffsmöglichkeiten Vertrauens. Zusammengenommen könnte, noch ausweiten würde. Zwar ist es denkbar, was Polens EU-Mitgliedschaft betrifft, eine dass in diesem Zug die umstrittene Diszipli- politische und rechtliche Eiszeit anbrechen. narkammer am obersten Gerichtshof ab- geschafft oder grundlegend umstrukturiert wird. Gleichzeitig sollen aber unter dem Politische Isolierung Etikett der Effizienzsteigerung einige regu- läre Gerichte aufgelöst und Instanzenwege Vertreter der polnischen Regierung haben verkürzt werden und zahlreiche Richter angedeutet, dass sie im Fall eines fortgesetz- neue Funktionen zugewiesen bekommen. ten Zurückhaltens der Corona-Hilfen dazu Schließlich wird unbestätigten Berichten übergehen könnten, im Rat und innerhalb zufolge erwogen, das gesamte polnische der Kommission systematisch Widerstand Oberste Gericht neu aufzustellen. Alle dort zu leisten. Ebenso steht die Befürchtung im seit langen Jahren arbeitenden Richter sol- Raum, dass Polen seine Anstrengungen für len sich einem Bewertungsverfahren durch den Grenzschutz einstellen und irreguläre den parteipolitisch kontrollierten Landes- Zuwanderer systematisch nach Deutschland justizrat unterziehen und anschließend in weiterleiten könnte. den meisten Fällen versetzt oder früh- Beides wäre jedoch für die polnische verrentet werden. Sofern diese Pläne tat- Regierung mit sehr hohen Kosten und nur sächlich vorangetrieben würden, gäbe es geringen Erfolgsaussichten verbunden. So weiteren Anlass zu EU-Vertragsverletzungs- hängt die innenpolitische Legitimität der verfahren. polnischen und der ungarischen Regierung mehr denn je an dem Narrativ einer kon- sequenten Abwehr irregulärer Zuwanderer. Eiszeit der EU-Mitgliedschaft Eine Instrumentalisierung der sekundären Migration als Druckmittel in der Rechts- Die EU muss sich zwangsläufig darauf ein- staatlichkeitskrise könnte Polen im euro- stellen, einen anhaltenden und sehr harten päischen Diskurs in die Nähe des belarussi- Konflikt mit Polen auszufechten. Sofern schen Regimes rücken. Victor Orban im Frühjahr 2022 wieder- Derweil bietet sich im weiteren Verlauf gewählt wird, gilt dies ebenso für Ungarn. der EU-Legislaturperiode für Polen und Ein EU-Austritt wird von allen Beteiligten Ungarn kein entscheidender Hebel, um nicht ernsthaft erwogen und kann auch einzelstaatliche Interessen mit aller Härte nicht durch nationale Verfassungsgerichte zu vertreten. Die Verhandlungen zum Mehr- ausgelöst werden. Ein politischer Entschluss jährigen Finanzrahmen und zum Rechts- gemäß dem Verfahren nach Artikel 50 EUV staatlichkeitsmechanismus Ende 2020 bliebe dafür zwingend Voraussetzung. Des- haben gezeigt, dass Warschau und Buda- SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 6
pest letztlich ihr Veto nicht aufrechterhal- grenzüberschreitende Ausführung eines ten konnten. Zudem verlieren Polen und Europäischen Haftbefehls (oder eine damit Ungarn an potenziellen Unterstützern im verbundene Auslieferung) nur aufgrund Rat, wie etwa durch den Regierungswechsel einer zweistufigen Prüfung verweigert wer- in Tschechien (SWP-Aktuell 68/2021). den kann: Erstens müssen begründete Zwei- Es wäre zwar möglich, dass Polen die EU fel an der rechtsstaatlichen Arbeitsweise beim Verfolgen ihrer klimapolitischen Ziele oder am Grundrechtsschutz im anfordern- bremst. Es ist aber nur im Fall einer hart den Mitgliedstaat vorliegen. Zweitens müs- rechtskonservativen Wende in Frankreich sen diese systemischen Defizite auf den vor- denkbar, dass die EU-Ebene ihr Vorgehen liegenden Fall übertragen werden. Beispiels- gegen den Abbau von Rechtsstaatlichkeit weise muss das Recht der beschuldigten wegen einer grundsätzlichen Verschiebung Person auf ein faires Verfahren konkret der Machtverhältnisse stoppen muss. und substantiell gefährdet sein. Wahrscheinlicher ist, dass angesichts Angesichts der Schwierigkeit, diesen einer Blockadehaltung einzelner Mitglied- Nachweis zu erbringen, wurden Europäi- staaten die immer schwerer gewordene Kon- sche Haftbefehle aus Polen bislang weit- senssuche bei der Entscheidungsfindung im gehend vollstreckt. In Norwegen – das auf- Rat aufgegeben wird. Dies könnte sich bei- grund seiner Schengen-Mitgliedschaft auf spielsweise darin niederschlagen, dass in separater Rechtsbasis beteiligt ist – hat ein der EU-Asyl- und Migrationspolitik zu Mehr- Gericht hingegen jüngst entschieden, eine heitsentscheidungen übergegangen wird. Auslieferung an Polen mit Blick auf all- Alternativ bleibt die Option der flexiblen gemeine Defizite der Rechtsstaatlichkeit zu und differenzierten Integration. Sie eröffnet verweigern. Der EuGH wird in den kommen- die Möglichkeit, jenseits von informellen den Monaten zu weiteren vergleichbaren »Koalitionen der Willigen« durch Initiativen Vorabentscheidungsverfahren zum Europäi- zur verstärkten Zusammenarbeit (unter min- schen Haftbefehl Stellung nehmen. Im Fall destens neun EU-Mitgliedern) die institutio- einer weiteren Eskalation mit Polen könnte nelle und rechtliche Entwicklung der Union der EuGH dem Beispiel Norwegens folgen. voranzutreiben. So sind Polen und Ungarn Wenn das gegenseitige Vertrauen in der nicht Teil der Europäischen Staatsanwalt- justiziellen Zusammenarbeit auf systemati- schaft, die aktuell das wichtigste Beispiel scher Basis wegfallen sollte, sind die Folgen einer verstärkten Zusammenarbeit unter für das EU-Recht nur schwer abzuschätzen. 22 EU-Mitgliedern darstellt. Weitere Felder, Zwar lebt die EU bereits seit vielen Jahren auf denen nur unter den teilnehmenden damit, dass Überstellungen von Asylsuchen- Mitgliedstaaten einstimmig entschieden den an die nach dem Dubliner Übereinkom- werden müsste, könnten eine gemeinsame men zuständigen Mitgliedstaaten nicht regel- Besteuerungs- oder die europäische Außen- mäßig ausgeführt werden, da in einigen politik sein. Falls wider Erwarten hier eine Fällen eine unmenschliche Behandlung der neue Integrationsdynamik entsteht, sollte Personen nicht ausgeschlossen werden kann. sich die EU nicht durch eine Blockade Diese Suspendierung von EU-Recht ist aber Polens oder Ungarns aufhalten lassen. inhaltlich klar umrissen. Eine solche Be- grenzbarkeit ist bei strukturellen Defiziten der Rechtsstaatlichkeit nicht gegeben. Erosion des gegenseitigen Der EGRM hat im Fall einer wirtschaft- Vertrauens lichen Schadensersatzklage seine Grund- satzentscheidung gefällt, dass das Recht auf Das grenzüberschreitende Vertrauen zwi- ein faires Verfahren und das Legalitätsprin- schen europäischen Gerichten kann ins- zip durch das polnische Verfassungstribu- besondere in grundrechtssensiblen Berei- nal verletzt wurden. Die sich hier andeu- chen nicht mehr vorausgesetzt werden. tende allgemeine Erosion des gegenseitigen Bisher vertritt der EuGH die Linie, dass eine Vertrauens könnte also über die EU-Innen- SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 7
und Justizpolitik hinaus bis zum Binnen- Polen von vornherein zum Scheitern ver- markt ausstrahlen. urteilt sind. Es sollte jede Rhetorik und Argumentation zurückgewiesen werden, dass es unter dem Deckmantel der Rechts- Strategische Prioritäten und staatlichkeit um eine exemplarische Bestra- Durchhaltevermögen der EU fung abweichender politischer Meinungen gehe. Deutschland trägt nach wie vor eine Die EU steht vor einer schweren, aber hand- besondere Verantwortung dafür, sowohl habbaren Belastungsprobe. Diejenigen eine europäische Führungsrolle wahr- Staaten, die eine europäische Einmischung zunehmen als auch die Positionen seiner © Stiftung Wissenschaft in Fragen der nationalen Rechtsstaatlichkeit Nachbarn mit erhöhter Sensibilität zu und Politik, 2021 grundsätzlich ablehnen, können nicht behandeln. Die neue Bundesregierung muss Alle Rechte vorbehalten mehr auf den Faktor Zeit setzen. Die neue zunächst diplomatische Kontakte aufbauen Bundesregierung stellt im Koalitionsvertrag und eingefahrene Handlungspfade über- Das Aktuell gibt die Auf- in Aussicht, dass die Rechtsstaatlichkeit ein prüfen, etwa im Bereich der Energiepolitik. fassung des Autors wieder. zentraler Bestandteil der deutschen Europa- Grundsätzlich ist es ratsam, nicht jede iden- In der Online-Version dieser politik – wie auch einiger nationaler Refor- titäts- und gesellschaftspolitisch begründete Publikation sind Verweise men – sein soll. Die Krise mit Belarus und Divergenz als Angriff auf die europäische auf SWP-Schriften und die französischen Präsidentschaftswahlen Wertegemeinschaft darzustellen. wichtige Quellen anklickbar. sollten keine weitere bedeutende Verzöge- Die EU muss aber nicht nur ihre finan- SWP-Aktuells werden intern rung oder Neubewertung der Lage zur Folge ziellen Interessen, sondern auch ihre tiefer- einem Begutachtungsverfah- haben. Wenn sich bis Mitte des kommen- liegenden vertraglichen Grundlagen schüt- ren, einem Faktencheck und den Jahres kein politischer Wandel in Polen zen. Politisch geht es um die Erhaltung eines einem Lektorat unterzogen. und Ungarn abzeichnet, ist eine Abstim- handlungsfähigen und glaubwürdigen Ge- Weitere Informationen mung zur ersten Stufe des Artikel-7-Verfah- meinwesens. Ebenso muss der Respekt für zur Qualitätssicherung der rens überfällig – und sei es nur, damit die Europäische Menschenrechtskonvention SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. deutlich wird, dass der Europäische Rat unter allen EU-Mitgliedstaaten unbedingt swp-berlin.org/ueber-uns/ Verantwortung für die Einhaltung der euro- erhalten und nachdrücklich eingefordert qualitaetssicherung/ päischen Grundwerte übernimmt. Die roten werden. Eine politische Eiszeit in den Bezie- Linien im Europarecht sind schon jetzt hungen zu Polen – und womöglich zu SWP mehr als deutlich gezogen. Der EuGH kann Ungarn – sollte zur Verteidigung dieser Stiftung Wissenschaft und Politik allein kaum mehr Druck ausüben. Wenn Prioritäten in Kauf genommen werden. Deutsches Institut für Grundsatzfragen nur über den EuGH ge- Das bedeutet konkret, die Rechtsstaat- Internationale Politik und spielt werden, nimmt die Legitimität der lichkeit aktuellen sicherheits- und geopoli- Sicherheit gesamten EU nachhaltig Schaden. tischen Interessen nicht unterzuordnen Auf Seiten der Kommission wird das und im Rat, soweit nötig, zur Wahrung der Ludwigkirchplatz 3–4 aktuelle Spiel auf Zeit jedenfalls zu Ende europäischen Handlungsfähigkeit auf Mehr- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 gehen. Einschnitte bei den Zahlungen an heitsentscheide zu setzen. Flexible Formate Fax +49 30 880 07-100 Polen und Ungarn werden aller Voraussicht der Integration können flankierend hinzu- www.swp-berlin.org nach im Frühjahr verstetigt und schmerz- treten. Bei einer weiteren Verschlechterung swp@swp-berlin.org haft werden. Die Kritik des Europäischen des Vertrauens in die horizontale justizielle Parlaments am vorsichtigen Vorgehen der Kooperation müssen Akteure aus Politik ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 Kommission wird sich damit weitestgehend und Exekutive den Richtungsentscheidun- doi: 10.18449/2021A76 erübrigen. gen der Justiz folgen. Die EU als Ganzes In der Gesamtschau ist der EU zu raten, kann aus dieser Position heraus auf innen- den eingeschlagenen Kurs beizubehalten, politische Veränderungsprozesse und bes- auch gegen harte politische Widerstände. sere Beziehungen zwischen einigen ihrer Dies bedeutet nicht, dass neue Dialog- Mitgliedstaaten warten. angebote und Kompromissvorschläge an Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa SWP-Aktuell 76 Dezember 2021 8
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