Der Weg zur Deutschen Einheit - Dossier - btg-bestellservice
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
4 Vorwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Norbert Dr. Wolfgang Lammert Schäuble 7 Friedliche Revolution in der DDR – Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen von der Diktatur 9 Einleitung 11 Ermutigende Signale aus Osteuropa 13 Wahlfälschung und Konstituierung der Opposition 17 Massenflucht 19 Montagsdemonstrationen. Die Macht der Straße 23 Der Fall der Mauer 25 Der Runde Tisch. Auf dem Weg zu freien Wahlen 28 Literaturverzeichnis 31 Auf dem Weg zur Deutschen Einheit: Die Rolle der Parlamente 32 Die einzige frei gewählte Volkskammer der DDR 34 Parlamentarische Leistungsbilanz der 10. Volkskammer 37 Die Ausschüsse „Deutsche Einheit“ in Bundestag und Volkskammer 40 Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom Juli 1990 – Entscheidender Schritt zur Deutschen Einheit 44 Der Beitrittsbeschluss der Volkskammer vom 23. August 1990 46 Verabschiedung des Einigungsvertrages am 20. September 1990 53 Erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 Inhaltsverzeichnis 2
59 Dokumente und Materialien 60 „Die Wähler in der DDR bekennen sich zur Einheit“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. März 1990) 62 „Neuer Ausschuß des Bundestags soll Schritte zur Einheit kontrollieren“ (Die Welt, 25. April 1990) 63 „Das Tor zur Einheit weit aufgestoßen“ (Neue Zeit, 22. Juni 1990) 64 „Bundestag: Geeintes Deutschland ist geistige Herausforderung“ (Neue Zeit, 22. Juni 1990) 65 „In der Knesset nahm Schamir keine Notiz von Israels Gästen. Süssmuth und Bergmann-Pohl werben für die deutsche Einheit“ (General-Anzeiger, 27. Juni 1990) 66 „Ein deutsches Parlament auf Abruf“ (die Tageszeitung, 7. Juli 1990) 68 „Trotz Kritik zeichnet sich eine Zweidrittelmehrheit ab“ (Handelsblatt, 14. September 1990) 69 „Anwälte der Menschen in den neuen Bundesländern“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Dezember 1990) 70 Auszug aus dem Plenarprotokoll vom 28. November 1989 mit der Vorstellung des 10-Punkte-Programms von Bundeskanzler Helmut Kohl 75 Gemeinsame Erklärung der beiden Parlamente zur Garantie der polnischen Westgrenze vom 2. Mai 1990 79 Rede der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl bei der letzten Sitzung am 2. Oktober 1990 82 Informationen zur Arbeit der 10. Volkskammer 85 Chronik 91 Impressum 3
Der Verlauf historischer Ereignisse wirkt – wenn überhaupt – allenfalls im Rückblick geradlinig. Für die Zeitgenossen ist ein „roter Faden“ kaum erkennbar. Nicht anders ist es mit der glücklichen, für die meisten Beobachter wie Akteure überraschenden Wiedervereinigung Deutschlands vor 25 Jahren. Der Prozess der Deutschen Einheit ist Gegenstand vieler Publikationen, Erinnerungen und Tagungen, doch gibt es zur Rolle der beiden deutschen Parlamente bisher nur wenige Veröffentlichungen. Dabei erteilten die DDR-Bürger, von denen hunderttausende Wir blicken inzwischen auf drei mit beispiellosem Mut auf die Jahrzehnte Deutsche Straße Einheitgegangen waren, zurück. Dass ihrer unser zukünftigen Land Regierung sie in Freiheit bei vollenden der ersten konnte, und wie einzigen es das freien DDR-Volkskammerwahl Grundgesetz am seit 1949 aufgetragen hatte, 18. März ist ein 1990 das Mandat historischer Glückfall zu–einer Politik, aber kein die zu Zufall. einer Vielmehr raschen stand dieWiedervereinigung Wiedervereinigungführte. am EndeDie eines Wahlbeteiligung politischen bei dieser historischen Prozesses, Wahl betrug der in Danzig, 93,4 in Prag, Prozent und dem in Ungarn legitimierte die neue Regierung, Baltikum die Verhandlungen mit angestoßen wurde und den zurBürger Deutschen in derEinheit „so schnell wie ehemaligen DDRmöglich undvorangetrieben mutig mit so gut wie nötig“ zu führen, haben. Niemandso Lothar konnte de Maizière, damals damals absehen, Ministerpräsident wohin der Weg führen derwürde. DDR. Aber Die Abgeordneten die Einheit in der Volkskammer ist Wirklichkeit wie im geworden, unser Deutschen Land ist staat- Bundestag mussten sich im Frühjahr und Sommer 1990 lich zusammengewachsen. innerhalb Daran hattenkürzester Zeit nicht nur die demokratisch mit grundlegenden gewählten Parlamente beider Fragen, deutschersondern Staaten auch mit vertraglichen entscheidend Anteil: Details der Wieder- Die Abgeordneten vereinigung des Deutschen auseinandersetzen. Bundestages undDie dieWährungs-, Wirtschafts- aus den ersten freien und WahlenSozialunion sowie1990 vom 18. März der Einigungsvertrag hervorgegangenen bildeten die Mitglieder Grundlagen für die Deutsche der DDR-Volkskammer. Einheit. Beide Verträge Alle demokratischen wurden Kräfte be- in Volkskammer wegten sich in denund Bundestag Monaten stürmischen intensiv beraten, bevor die des Vereinigungs- Parlamente sie jeweils mit jahres im Ungewissen. Der großen ZeitdruckMehrheiten billigten. war immens, Vorwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Wolfgang Prof. Schäuble Dr. Norbert Lammert 4
die Zukunft voller offener Fragen. An den Runden Tischen hatten zuvor Vertreter der DDR-Bürgerbewegung mit An- gehörigen des maroden Regimes engagiert und ideenreich über politische Alternativen diskutiert. Doch so wichtig diese Gremien als Foren des Dialogs waren und dazu bei- trugen, dass die Revolution einen friedlichen Verlauf nahm: Die demokratische Legitimität eines gewählten Parlaments hatten sie nicht. Über den Weg zur Einheit entschieden die demokratisch gewählten Volksvertretungen. Gerade Zeiten des Umbruchs bringen parlamentarische Sternstunden hervor. Die intensiven Debatten um den Weg zur Wiedervereinigung zählen dazu. Der Deutsche Bun- destag und die Volkskammer berieten parallel über den Einigungsvertrag. Dass die Abgeordneten in Bonn und Ost- Berlin dem Vertragswerk mit großer Mehrheit zustimmten, Die vorliegende bedeutete Broschüre den Aufbruch in enthält unter eine neue, anderem Texte gemeinsame Zukunft. der Wissenschaftlichen Nicht Dienste des nur der Einigungsprozess Bundestages, erfolgte die bereits unter hohem Zeit- zuvor einzeln druck veröffentlicht – auch in den Jahren, wurden, sowie die folgten, warzeitgenössische das Tempo der Die politischen Schritte zur Deutschen Einheit wurden Presse-Ausschnitte. Veränderungen Die Publikation mitunter beansprucht so rasant, dass keineswegs, Verletzungen nicht umfangreich dokumentiert und klug analysiert – in Bü- ein vollständiges ausblieben. NichtBild alle der damaligen Wunden dieserEreignisse Zeit sindzu zeichnen. verheilt, chern und Fachaufsätzen, Film- und Rundfunkbeiträgen, Die Texte und und Bilder wir verstehen – darunter heute besser einige erstmals denn je, veröffentlich- was Marianne bei Tagungen und Konferenzen. Dieses Dossier rückt die te Aufnahmen Birthler meinte,aus alsdem Parlamentsarchiv sie einst – beleuchten sagte: „Vierzig aber Jahre Teilung besondere Rolle der Parlamente in den Blick. Es greift dabei einige der vierzig brauchen Ereignisse jener Jahre Wochen Heilung.“ und Monateistund Mittlerweile regen eine ganze auf Texte der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, an, sich mit aufgewachsen, Generation der Deutschen Einheit die keinaus der Perspektive geteiltes der Deutschland Originaldokumente und historische Aufnahmen aus dem beidenkennt mehr deutschen und derVolksvertretungen zu beschäftigen. Freiheit und Demokratie selbstver- Parlamentsarchiv sowie zeitgenössische Presse-Ausschnitte ständlich erscheinen. Dennoch verfestigt sich auch in der zurück. Sie lassen eines der spannendsten, intensivsten jungen Generation eine spezifisch ostdeutsche Identität. Der und schönsten Kapitel der deutschen Geschichte lebendig gesamtdeutsche Zusammenhalt ist offensichtlich ebenso werden. Gleich welche Herausforderungen die Zukunft für wenig selbstverständlich wie Freiheit und Demokratie. Er unsere Demokratie bereithält: Was auf dem Weg zur Einheit erfordert unser Engagement, auch 30 Jahre nach der Epo- geleistet wurde, zeigt, wieviel wir gemeinsam erreichen Norbert Lammert chenwende von 1989/90. können. 5
Am 4. Oktober 1989 veranstalten Oppositionelle unter den Augen der Staats- macht in der Ost-Berliner Gethsemanekirche eine Mahnwache für inhaftierte Demonstranten. Seite 6: Bereits seit 1982 fanden in der Leipziger Nikolaikirche am Montag Friedensgebete statt. Die Gebete bekamen stets mehr politische Relevanz und Zulauf auch von Menschen außerhalb des kirchlichen Milieus. Umschlag-Innenseite: Einen Tag nach dem Mauerfall am 9. November 1989 feiern die Menschen vor und auf der Mauer am Branden- burger Tor. Auf dem Pariser Platz sichern DDR- Grenztruppen den Todesstreifen. 8
Mit der Friedlichen Revolution schrieben die Ostdeutschen herausragendesKapitel ein herausragendes Kapitelder derdeutschen deutschenFreiheitsgeschichte, Freiheitsgeschich- te, die die nurnur wenige wenige vergleichbare vergleichbare Daten Daten aufzuweisen aufzuweisen hat.hat. MitMit Blick auf frühere Erhebungen im kommunistischen Macht- bereich mussten Machtbereich die DDR-Bürger mussten auch 1989 die DDR-Bürger auchdavon ausge- 1989 davon hen, dass jeder ausgehen, neue Versuch dass jeder des Aufbegehrens neue Versuch und des des Aufbegehrens und Einleitung1 kollektiven des Widerstands kollektiven gewaltsam Widerstands niedergeschlagen gewaltsam wird niedergeschlagen – wie–1953 wird der Volksaufstand wie 1953 in derinDDR, der Volksaufstand 1956 1956 der DDR, die Aufstän- die „Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und de in Poleninund Aufstände Ungarn, Polen 1968 der1968 und Ungarn, Prager derFrühling. Dass Prager Frühling. Gebete.“ Diesen Satz formulierte der Einsatzleiter des die Volkskammer Dass nachnach die Volkskammer der gewaltsamen der gewaltsamen Niederschlagung Niederschlagung Staatssicherheitsdienstes in dem Film „Nikolaikirche“ nach des Demokratiebegehrens auf dem Platz des Himmlischen dem Roman nach von Erich dem Roman Loest.Loest. von Erich 2 Ein fiktiver, 2 gleichwohl Ein fiktiver, ver- gleichwohl Pekig im Friedens in Peking Juni sich 1989 mit der sich mit der chinesischen chinesischen Partei- und blüffender Satz, verblüffender derder Satz, dasdas Wesensmerkmal Wesensmerkmal desdesrevolutionären revolutio- Partei- und Staatsführung Staatsführung solidarisierte, solidarisierte, bestärkte diebestärkte die vorhandenen Aufbruchs nären der Ostdeutschen Aufbruchs im Herbst der Ostdeutschen 1989 auf im Herbst den 1989 Punkt auf den vorhandenen Ängste Ängste und Sorgen. und Sorgen. bringt.bringt. Punkt Gewaltfrei brachten Gewaltfrei die Bürgerinnen brachten und Bürger die Bürgerinnen und Dennoch ist es den Ostdeutschen gelungen, sich selbst von der DDR Bürger 3 die SED-Diktatur zu Fall, drückten die Mauer ein der DDR die SED-Diktatur zu Fall, drückten die der SED-Diktatur zu befreien. Die Friedliche Revolution und Mauerwählten ein undeinwählten demokratisch legitimiertes ein demokratisch Parlament, das legitimiertes und die ersten demokratischen Wahlen in der DDR ermögli- ermög- den Beitrittdas Parlament, der den DDRBeitritt zum Geltungsbereich des Grundgeset- der DDR zum Geltungsbereich lichtendie chten dieWiedervereinigung Wiedervereinigungbeider beiderdeutscher deutscherStaaten Staatenam am zes des beschloss und damit Grundgesetzes den und beschloss Weg damit zur Wiedervereinigung den Weg zur 3. Oktober 1990. Sie erfolgte im Einvernehmen mit den vier Deutschlands öffnete. Wiedervereinigung Deutschlands öffnete. Siegermächten und allen Nachbarstaaten. 1 Dieser Text basiert auf einem Infobrief der Wissenschaftlichen Dienste vom 4. November 2014 – Autor: Dr. Andreas Trampe 2 Loest (1995), Nikolaikirche. Der zweiteilige Fernsehfilm unter der Regie von Frank Beyer wurde 1995 gedreht. Der Film beleuchtet die Ereignisse des revolutionären Herbstes in Leipzig im Umfeld der Nikolaikirche. 3 Für eine bessere Lesbarkeit nutzen die Texte im Folgenden das gene- rische Maskulinum, das laut Duden beide Geschlechter umfassen kann. 9
Bereits am 2. Mai 1989 hatte Ungarn begonnen, seine maroden Grenzanlagen nach Österreich abzubauen. Am 19. August nutzen DDR-Bürger eine Friedensdemonstration an der ungarisch- österreichischen Grenze („Paneuropäisches Picknick“), um auf die österreichische Seite zu gelangen. 10
Gorbatschows Öffnungspolitik beinhaltete weitreichende außenpolitische Komponenten. Sie strebte eine Neugestal- tung des Verhältnisses der sozialistischen Länder unterei- nander an und verzichtete auf die „Breschnew-Doktrin“, die seit 1968 die eingeschränkte Souveränität und das beschränkte Selbstbestimmungsrecht der Warschauer-Pakt- Staaten festschrieb. Die Bruderparteien sollten künftig selbst Ermutigende Signale aus Osteuropa über ihre politische Linie entscheiden und die innerstaatli- chen Probleme souverän, also eigenverantwortlich lösen.4 Ende der 1980er Jahre befand sich die Stimmung in der Gorbatschows Politik ermutigte die Reformer in ganz DDR auf einem Tiefpunkt, der gesellschaftliche und geistige Osteuropa, schließlich wurden militärische Interventio- Stillstand im Vergleich mit anderen Ländern war allerorts nen wie 1953 (Volksaufstand in der DDR), 1956 (Ungarn) spürbar. Als Hoffnungsschimmer empfanden viele Ostdeut- oder 1968 (Prager Frühling) immer unwahrscheinlicher. In sche den 1986 verkündeten Erneuerungskurs des sowjeti- Polen begann im April und Mai 1988 eine neue Streikwelle schen Partei- und Staatschefs Michael Gorbatschow. der Stahl- und Werftarbeiter. Im Februar 1989 führten die Mit seinem Reformprogramm unter den Leitbegriffen „Glas- polnische Regierung sowie Vertreter des offiziellen Gewerk- nost“ („Transparenz“) und „Perestroika“ („Umgestaltung“) schaftsbundes und der noch immer verbotenen Gewerk- reagierte er auf die Systemkrise im kommunistischen schaft „Solidarność“ („Solidarität“) erste Verhandlungen am Herrschaftsbereich. Gorbatschow strebte eine Modernisierung Runden Tisch, um die zugespitzte Situation zu entschärfen. des „real existierenden Sozialismus“ an, ohne das System Wichtigste Ergebnisse waren eine Verfassungsreform und die selbst in Frage zu stellen. Dass überhaupt ein sowjetischer Wiederzulassung der Gewerkschaft „Solidarität“ im April Parteivorsitzender erheblichen Reformbedarf im eigenen 1989. Im Juni 1989 fanden in Polen die ersten Parlaments- Machtbereich konstatierte, war für viele Ostdeutsche ein wahlen mit teilweise freier Kandidatenaufstellung statt.5 außerordentlicher und ermutigender Vorgang. Sie glaubten, In Ungarn trat im Mai 1988 der langjährige Parteichef János dieses kritische Signal könne von der DDR-Führung nicht Kádár zurück, der dieses Amt seit 1956 bekleidet hatte. ignoriert werden. Doch sie sollten sich täuschen. Die SED- Ebenfalls im Mai 1989 wurde Imre Nagy, der 1958 in einem Spitze hatte erkannt, dass echte Reformen den repressiven Geheimprozess zum Tode verurteilte und hingerichtete Füh- Partei- und Staatsapparat unweigerlich schwächen würden. rer des ungarischen Volksaufstandes von 1956, rehabilitiert Daran hatte sie kein Interesse. Das Politbüro distanzierte und feierlich neu bestattet. Im Juni 1989 tagte in Budapest sich von Gorbatschows Politik des „neuen Denkens“ und erstmals ein Runder Tisch mit Vertretern der Regierung und reaktivierte totalitäre Verhaltensmuster. Es erhöhte den Opposition, um über die Auflösung der Kommunistischen ideologischen Druck und setzte gleich mehrere sowjetische Partei, die Ausrufung der Republik und die Durchführung Filme und eine Zeitschrift, in denen der Stalinismus auf- freier Wahlen zu verhandeln. Jedes noch so kleine Anzei- gearbeitet wurde, auf den Index. Auf diese demonstrativ chen eines politischen Aufbruchs in der Sowjetunion, in reformfeindliche Politik reagierten viele Ostdeutsche mit Polen und Ungarn wurde von den allermeisten Ostdeut- Wut und Empörung. schen genau registriert – mit Sympathie und Hoffnung.6 4 4 Kowalczuk Kowalczuk (2009), (2009), Endspiel, Endspiel, S. S. 33f. 33f. 5 Siehe: 5 Siehe: Bingen Bingen (2009), (2009), Polen Polen als als Vorreiter Vorreiter des des Umbruchs. Umbruchs. Link: Link: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutsch-polnische- http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutsch-polnische- beziehungen/39757/polen-als-vorreiter-des-umbruchs?p=1 beziehungen/39757/polen-als-vorreiter-des-umbruchs?p=1 (Stand: (Stand: 20. April 2020). 5. November 2014). 6 6 Kowalczuk Kowalczuk (2009), (2009), Endspiel, Endspiel, S. S. 335f. 335f. Zum Zum Vergleich Vergleich der der Umbrüche Umbrüche inin der DDR, der DDR, inin Polen, Polen, Ungarn, Ungarn, Rumänien Rumänien undund der der Tschechoslowakai Tschechoslowakai siehe: siehe: Gehler Gehler (2009), (2009), Die Die Umsturzbewegungen Umsturzbewegungen 19891989 in in Mittel- Mittel- und und Osteuropa, Osteuropa, http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung- http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung- deutsche-einheit/43728/die-umsturzbewegungen-1989?p=all deutsche-einheit/43728/die-umsturzbewegungen-1989?p=all (Stand: (Stand: 20. April 2020). 5. November 2014). 11
Am 7. Juni 1989 versammeln sich etwa 250 bis 300 Angehörige kirchlicher und unabhängiger Basisgruppen in der Ost-Berliner Sophienkirche, um von dort in einem Schweigemarsch gegen den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen in der DDR Anfang Mai zu protestieren. Die rund 120 kurz nach Verlassen des Kirchengeländes verhafteten Demonstranten werden am nächsten Tag freigelassen. 12
sowie der freigekauften politischen Häftlinge auf ein dreifa- ches – von rd. 13.000 auf rd. 40.000.7 Die Ende der 1980er Jahre deutlich anwachsende Ausreisewelle wurde von den Daheimgebliebenen als Abstimmung mit den Füßen wahr- Wahlfälschung und Konstituierung der Opposition genommen. Sie illustrierte auf besonders dramatische Weise den Legitimitätsverfall des politischen Systems.8 Die DDR steckte in den 1980er Jahren in einer tiefen öko- Die vor allem im Schutzraum der Kirchen angesiedelten nomischen und politischen Krise. Das Versagen der sozia- Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen sahen sich listischen Planwirtschaft strahlte auf alle Lebensbereiche durch die Reformanstrengungen in Moskau, Warschau und aus: In den Betrieben fehlten Materialien und Ersatzteile, Budapest ermutigt. Über Aktionen innerhalb und außerhalb die Innenstädte zerfielen, das spärliche Angebot an Kon- der Kirchen sowie über persönliche Kontakte zu westlichen sumgütern aller Art konnte die Nachfrage nicht befriedigen. Journalisten machten sie auf politische Fehlentwicklungen Während die SED-Führung unentwegt die Überlegenheit und Widersprüche in der DDR aufmerksam. Die Basisgrup- des sozialistischen Wirtschaftssystems und der kommunis- pen in den Kirchen leisteten politische Aufklärungsarbeit tischen Ideologie propagierte, drohten der DDR Zahlungs- und beförderten alternatives Denken. Die „Initiative für unfähigkeit und wirtschaftlicher Zusammenbruch. Auf die Frieden und Menschenrechte“ (IFM) strebte mit einem gesellschaftliche Stagnation reagierten die Menschen mit Aufruf vom 11. März 1989 eine landesweite Vernetzung der wachsender Unzufriedenheit. Sie waren es überdrüssig, sich Gruppen sowie einen verbesserten Informationsaustausch im Mangel einzurichten, bevormundet zu werden, nicht an und forderte bessere Rechtsstrukturen und Garantien für reisen zu dürfen. Von 1980 bis 1988 stieg die Zahl der Über- die Einhaltung von Menschenrechten.9 Mehrere Initiativen siedler, Flüchtlinge (über Drittländer und Grenzanlagen) diskutierten im Frühsommer über eine Optimierung der 7 Siehe: 7 Siehe: Ritter Ritter // Lapp Lapp (1997), (1997), Die Die Grenze. Grenze. Ein Ein deutsches deutsches Bauwerk, Bauwerk, S. 167. S. 167. 8 Zwischen 8 Zwischen 1949 1949 und und 1989 1989 verließen verließen ca. ca. 3,8 3,8 Millionen Millionen Ostdeutsche Ostdeutsche die DDR, die DDR, davon davon rund rund 2,7 2,7 Mio. Mio. zwischen zwischen 1949 1949 und und dem dem Mauerbau Mauerbau im im August 1961. August 1961. 9 Initiative 9 Initiative Frieden Frieden und und Menschenrechte, Menschenrechte, Aufruf Aufruf vom vom 18. 18. März März 1989. 1989. Link: http://www.ddr89.de/ddr89/ifm/IFM22.html Link: http://www.ddr89.de/ddr89/ifm/IFM22.html (Stand: 20. (Stand: 20. Oktober April 2020). 2014). 13
überwachten Oppositionelle und Bürgerrechtler am Abend des 7. Mai 1989 in Hunderten von Wahllokalen die Aus- zählung11. Sie registrierten einen Anteil an Gegenstimmen im Bereich von 10 bis 20 Prozent, die Wahlbeteiligung betrug meist zwischen 60 bis 80 Prozent. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Egon Krenz, gab gegen Mitternacht das übliche „amtliche Wahlergebnis“ bekannt: 98,85 Prozent Zustimmung zur Einheitsliste, 98,77 Prozent Wahlbeteiligung. Mit dem Nachweis des systematischen Wahlbetrugs erreich- oppositionellen Arbeit sowie die Schaffung neuer Organi- te die gärende politische Krise in der DDR eine neue Dimen- sationsformen und -strukturen. Unabhängig voneinander sion. Auch Wählerinnen und Wähler, die dem System bis wurde angeregt, „über Vorschläge für die künftige Instal- dahin loyal verbunden waren, fühlten sich hintergangen. lierung eines ‚Runden Tisches‘ nach polnischem Vorbild Die SED verlor in der Bevölkerung weiter an Ansehen und nachzudenken“.10 Einfluss. Die Opposition nutzte dieses Schlüsselereignis, Die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 machten einmal um sich zu formieren und besser zu vernetzen.12 Neue, mehr die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur kennt- landesweit agierende Bürgerrechtsgruppen und politische lich. Obwohl Wahlen in der DDR keinerlei Einfluss auf die Vereinigungen traten nach und nach aus dem Schutzraum politischen Machtverhältnisse hatten, legte die Staatspartei Kirche heraus, warben um Mitarbeit und forderten gesell- dennoch größten Wert auf eine möglichst hohe Zustim- schaftliche Reformen. mungsrate. Schon bei der Nominierung der Kandidaten für Am 28. August stellte Markus Meckel in Berlin den Aufruf die Kommunalwahlen 1989 gab es eine Flut von Eingaben. zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei (SDP) vor, Kirchliche Gruppen in Berlin und Dresden hatten versucht, der eine Kampfansage an die SED und ihren Herrschafts- eigene Kandidaten auf der Einheitsliste zu platzieren, was anspruch bedeutete. Die Unterzeichner (Markus Meckel, ihnen verwehrt blieb. In rund 50 Städten und Gemeinden Martin Gutzeit, Ibrahim Böhme und Arndt Noack) forderten 10 Kowalczuk (2009), Endspiel, S. 356. 11 Allein in den Ostberliner Stadtbezirken Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain registrierte die Staatssicherheit in 131 Wahllokalen verdächtige Personen, die die Auszählung überwachten und Aufzeichnungen anfertigten. In Leipzig kontrollierten Mitglieder kirchlicher Gruppen die Stimmauszählung in 83 Wahllokalen, während Vertreter der nichtkirchlichen Perestroika-Gruppe „Dialog“ in 82 von 84 Wahllokalen anwesend waren. Vgl.: Lindner (2010), Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, S. 40. 12 Neubert (1999), Die Opposition im Jahre 1989 – ein Überblick, S. 429f. 14
eigentliche, demokratische Gestalt finden“, wobei der unter- stellte Sozialismusbegriff stark protestantisch-sozialethische Züge trug. Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt kündigte an, bei den nächsten Wahlen mit einer eigenen Liste anzutreten.15 Die Gründung der Vereinigung Demokratischer Aufbruch – sozial – ökologisch (DA) wurde am 14. September 1989 be- kannt gegeben. Am 1. Oktober legte die Gründungsversamm- „Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung, (…) parlamentari- lung eine „Programmatische Erklärung“ vor. Ihre vorläufige sche Demokratie, (…) soziale Marktwirtschaft, (…) Freiheit Konstituierung als Partei erfolgte am 29. Oktober 1989. Der der Gewerkschaften und Streikrecht“.13 Demokratische Aufbruch hatte schon bald über 10.000 Mit- Am 9./10. September 1989 bildete sich das Neue Forum. glieder, darunter Rainer Eppelmann, Edelbert Richter, Heino Zu den Erstunterzeichnern des öffentlichkeitswirksamen Falcke, Erhard Neubert, Friedrich Schorlemmer.16 Gründungstextes „Die Zeit ist reif – Aufbruch 89“ zählten Seit September 1989 trafen sich in Berlin regelmäßig Ver- unter anderen Bärbel Bohley, Katja Havemann, Rolf Henrich, treter verschiedener Friedenskreise und Bürgerrechtsgrup- Sebastian Pflugbeil, Jens Reich. Das Neue Forum verstand pierungen, um „Möglichkeiten gemeinsamen politischen sich als „politische Plattform“ für den als notwendig erach- Handelns“ auszuloten. Am 4. Oktober 1989 verabschiedeten teten „demokratischen Dialog“ und rief alle Bürger auf, an sie eine „Gemeinsame Erklärung“, die sich an alle Bürger der „Umgestaltung unserer Gesellschaft“ mitzuwirken.14 richtete. In ihr wurde die DDR-Regierung zur Einhaltung der Am 12. September traten unter anderen Hans-Jürgen KSZE-Verpflichtungen und der UNO-Menschrechtskonven- Fischbeck, Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß, Ulrike Poppe tionen aufgefordert. Weiterhin forderten die Unterzeichner mit dem Gründungsaufruf der Bürgerbewegung Demokratie demokratische Wahlen unter UNO-Kontrolle. Geprüft wer- Jetzt (DJ) an die Öffentlichkeit. Die Bewegung plädierte für den solle, „in welchem Umfang wir ein Wahlbündnis mit Reformkonzepte „von unten“. Der Sozialismus sollte „seine gemeinsamen eigenen Kandidaten verwirklichen können“.17 13 Neubert (1997), Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 1949-1989, 15 Lindner (2010), Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, S. 835. Der Gründungsakt der SDP erfolgte am 7. Oktober 1989 in S. 75. Die Vereinigung hatte bis zu 4.000 Mitglieder. Schwante. Gründungsmitglied Ibrahim Böhme wurde im März 1990 als 16 Der erste Vorsitzende, Wolfgang Schnur, wurde im März 1990 als langjähriger Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt und langjähriger Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt und aus der Partei ausgeschlossen. abgelöst. 14 Den Aufruf unterzeichneten bis zum 19. September ca. 3.000 17 Gemeinsame Erklärung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, Menschen. Vom Ministerium des Innern wurde der Zulassungsantrag des Demokratischen Aufbruchs, der Gruppe Demokratischer des Neuen Forums am 25. September mit der Begründung abgelehnt, Sozialistinnen, der Initiative Frieden und Menschenrechte, der es bestünde keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine derartige Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der DDR, des Neuen Vereinigung. Bis Mitte November 1989 unterschrieben 200.000 Bürger Forums, sowie Vertretern von Friedenskreisen. Vgl.: Lindner (2010), den Aufruf, zu diesem Zeitpunkt hatte das Neue Forum 10.000 feste Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, S. 78. Mitglieder. Erst am 8. November 1989 bestätigte das Innenministerium die offizielle Anmeldung des Neuen Forums. 15
Etwa 6.000 DDR-Flüchtlinge sind im Herbst 1989 im Garten der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Zeltunterkünften untergebracht. 16
Inzwischen lehnten die DDR-Behörden neue Anträge auf Urlaubsreisen nach Ungarn ab. Daher flüchteten nun zu- nehmend mehr Menschen in die bundesdeutsche Botschaft Massenflucht in Prag und hofften, von dort aus in die Bundesrepublik zu gelangen. Schon bald befanden sich mehrere tausend Men- Ab dem 2. Mai 1989 begannen ungarische Grenzpolizisten schen auf dem Gelände. Regenfälle hatten den Garten der mit dem Rückbau der Grenzbefestigungen und Signalzäune Vertretung in eine Schlammwüste verwandelt, es herrschten zwischen Österreich und Ungarn. Am 27. Juni trafen sich katastrophale sanitäre Zustände. Nach Verhandlungen mit der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein öster- Regierungsvertretern der beteiligten und betroffenen Staaten reichischer Amtskollege Alois Mock an der Grenze nahe konnte der Außenminister der Bundesrepublik, Hans- Sopron und durchtrennten medienwirksam den Stachel- Dietrich Genscher, den Wartenden am 30. September die drahtzaun mit großen Drahtscheren. Ministerpräsident erlösende Botschaft überbringen. Die DDR-Behörden hatten Miklós Németh hatte zuvor Generalsekretär Gorbatschow ihrer Ausreise zugestimmt – mit mehreren Sonderzügen der informiert, der geantwortet haben soll: „Ich sehe da, ehrlich Reichsbahn über das Territorium der DDR. Neben den ca. gesagt, gar kein Problem.“ 6.000 Flüchtlingen in der Prager Botschaft erhielten auch Nach dieser symbolischen Grenzöffnung fanden zwischen ca. 600 Ostdeutsche, die in der bundesdeutschen Botschaft Ungarn und Österreich zwar weiterhin Grenzkontrollen in Warschau festsaßen, die Genehmigung zur dauerhaften statt, doch da Ungarn zum 12. Juni 1989 der UN-Flücht- Ausreise in die Bundesrepublik. Später wurde bekannt, lingskonvention beigetreten war, durfte das Land keine dass im Jahre 1989 insgesamt 344.000 Menschen aus der Flüchtlinge mehr ausliefern, denen in der Heimat strafrecht- DDR geflüchtet waren.20 liche Konsequenzen drohten.18 Die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern entwickelte Die vom Westfernsehen übertragenen Bilder der Grenzöff- sich 1989 zu einem wesentlichen Faktor und Stimulus der nung und erste Berichte über geglückte Fluchten elektrisier- Friedlichen Revolution. Der Verlust von Familienangehöri- ten viele Menschen in der DDR. Obwohl die DDR-Behörden gen, Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn bestürzte all jene im ersten Halbjahr 1989 schon 86.000 offiziellen Antragstel- Menschen, die nicht gehen wollten, die darauf hofften, das lern die dauerhafte Ausreise in die Bundesrepublik geneh- Land öffnen und reformieren zu können. Zugleich empörte migt hatten, nutzten Tausende Urlauber die Sommerferien, sie, mit welcher Blindheit, Arroganz und Häme die DDR- um durch die Lücken im „Eisernen Vorhang“ in den Westen Führung auf die Flucht ihrer Angehörigen und Freunde zu flüchten. Da die ungarisch-österreichische Grenze aber reagierte. SED-Generalsekretär Honecker erklärte: „Zügellos weiterhin bewacht wurde, warteten Tausende von Flucht- wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmä- willigen in provisorisch errichteten Lagern darauf, dass sich ßig vorbereitete ‚Heim-ins-Reich‘-Psychose geführt, um neue Ausreisemöglichkeiten ergaben. In die DDR zurück- Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein kehren wollten sie nicht. Am 11. September öffnete Ungarn ungewisses Schicksal zu treiben. (…) Sie alle haben durch aus humanitären Gründen seine Westgrenze, bis Monats- ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und ende flüchteten 34.000 DDR-Bürger über Österreich in die sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte Bundesrepublik.19 ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“21 18 Die DDR bemühte sich umgehend um eine Ausnahmeregelung. 20 Siehe: Ritter / Lapp (1997), Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk, Aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Geheimdiensten der DDR S. 167. und Ungarns wurde an der bis dahin üblichen Praxis der Übergabe von 21 Honecker (1989), Sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt, in: Flüchtlingen aus der DDR an das MfS noch einige Wochen festgehalten. Neues Deutschland vom 2. Oktober 1989. Abgedruckt in: Judt (1998), Am 12. Juli 1989 wurde letztmalig ein fluchtwilliger DDR-Bürger von DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne ungarischen Behörden an das MfS übergeben. Siehe: Kowalczuk (2009), Materialien und Alltagszeugnisse, S. 531. Endspiel, S. 346f. 19 Kowalczuk (2009), Endspiel, S. 351. 17
Trotz massiver Drohungen und Gerüchte über den Aufmarsch bewaffneter Kräfte in und um Leipzig kommen am 9. Oktober 1989 über 70.000 Menschen in die Leipziger Innenstadt. Die Demonstration gilt als ein Wendepunkt der Friedlichen Revolution. 18
Die Leipziger Kundgebung vom 4. September 1989 gilt als erste „Montagsdemonstration“. Sie markierte den Beginn der Eroberung des öffentlichen Raums als zentralem Ak- tionsfeld des anwachsenden politischen Protestes in der DDR. Zugleich hatte sie Vorbildcharakter für Hunderte von Demonstrationen, die in den kommenden Wochen und Mo- naten DDR-weit stattfinden sollten. Die Fernsehbilder aus Montagsdemonstrationen. Die Macht der Straße Leipzig mit ihrer doppelten Botschaft – „Lasst uns raus!“ / „Wir bleiben hier!“ – wirkten wie eine Initialzündung: Das Thema Ausreise und Flucht bewegte 1989 die gesamte Widerstand ist möglich, auch und gerade für jene, die sich DDR-Gesellschaft, die Stimmung im Land war aufgeladen. nicht vertreiben lassen wollen und auf Reformen hoffen. In Leipzig besuchten immer mehr Menschen, die oft schon Am darauffolgenden Montag, dem 11. September, griffen seit Jahren auf den positiven Entscheid ihres „Antrages auf die Staatsorgane brutal durch. Zum Montagsgebet waren Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“ warteten, die Frie- über 500 Menschen gekommen. Beim Verlassen der Kirche densgebete in Sankt Nikolai.22 Am 14. März 1989 marschier- riefen sie den wartenden MfS-Mitarbeitern und Polizisten ten im Anschluss an das Friedensgebet ca. 300 Ausreisewil- zu: „Keine Gewalt!“, „Wir sind keine Rowdys!“, doch diese lige durchs Stadtzentrum und forderten „Lasst uns raus!“, antworteten mit Schlagstöcken. 89 Demonstranten wurden „Stasi raus!“, „Reisefreiheit statt Behördenwillkür!“. Westli- verhaftet, 22 von ihnen in Schnellverfahren zu hohen Geld- che Kamerateams, die sich anlässlich der Frühjahrsmesse in strafen verurteilt. 19 Personen erhielten Haftstrafen bis zu Leipzig aufhielten, dokumentierten das Ereignis. einem halben Jahr. Einige kamen erst fünf Wochen später Als am 4. September 1989 das erste Friedensgebet nach der wieder frei.24 Sommerpause stattfand, wollten die Sicherheitskräfte eine Am 18. September kamen schon 2.000 Menschen zum vergleichbare „Panne“ unbedingt vermeiden, was ihnen Gottesdienst in die Nikolai-Kirche, mehr als 1.000 Menschen aber nicht gelang. Nach dem Friedensgebet versammelten versammelten sich vor der Kirche. Nach dem Friedensgebet sich hunderte Demonstranten vor der Nikolaikirche. Sie am 25. September beteiligten sich ca. 8.000 Menschen an entrollten Transparente „Für ein offenes Land mit freien der Montagsdemonstration. Der Protestzug sprengte die Menschen“, „Reisefreiheit statt Massenflucht“ und „Ver- Polizeiketten und bewegte sich erstmals hinaus auf den sammlungsfreiheit – Reisefreiheit“. Stasi-Mitarbeiter entris- Leipziger Ring. Am 2. Oktober 1989 fand in Leipzig die sen ihnen die Losungen, doch sie skandierten „Wir wollen größte oppositionelle Demonstration seit dem Volksaufstand raus! Wir wollen raus!“ und „Freiheit! Freiheit!“. Reform- vom 17. Juni 1953 statt. Den bis zu 20.000 Demonstranten orientierte Demonstranten antworteten, nicht weniger ent- standen hochgerüstete Polizeieinheiten gegenüber. Mehr- schlossen, „Wir bleiben hier! Wir bleiben hier!“. Da wegen fach versuchte die Staatsmacht, über Lautsprecher auf die der Leipziger Herbstmesse wieder westliche Kamerateams Demonstranten einzuwirken. Auf den Satz „Hier spricht in der Stadt waren, liefen diese Bilder abends auch im Fern- die Volkspolizei“ antwortete die Menge immer wieder sehen. Die ARD meldete: „Über 1.000 Demonstranten, zur „Wir sind das Volk!“. Dieser selbstbewusste Satz wurde Hälfte Ausreisewillige, zur Hälfte oppositionelle Gruppen, zum Leitmotto des revolutionären Herbstes 1989. die bleiben wollen, aber für Reformen im Land auf die Ende September, Anfang Oktober 1989 hatte sich die politi- Straße gehen und dafür hohe Geldstrafen und (…) sche Krise im Land weiter zugespitzt. Egon Krenz war nach Haftstrafen riskieren“, seien versammelt gewesen.23 China gereist und solidarisierte sich mit den Verantwortlichen 22 Begründet wurden die montäglichen Friedensgebete in 24 24 Siehe: Siehe: Bundeszentrale Bundeszentrale für für politische politische Bildung Bildung und und St. Nikolai im September 1981. In den Jahren 1984-1987 1984–1987 fanden fanden Robert-Havemann-Gesellschaft Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. e.V. (Hrsg.), (Hrsg.), „Leipzig“. „Leipzig“. sie eher unregelmäßig statt, im September 1987 reaktivierte Pfarrer Link: Link: www.jugendopposition.de/index.php?id=214 www.jugendopposition.de/index.php?id=214 Wonneberger die Idee. Zur Geschichte der Friedensgebete in St. Nikolai (Stand: (Stand: 20. 23. April 2020). Oktober 2014). siehe: Schwabe (1998), „Symbol der Befreiung“. Die Friedensgebete in Leipzig. Link: http://www.archiv-buergerbewegung.de/images/stories/ pdf/fg-schwabe.pdf (Stand: 20. 23. April 2020). Oktober 2014). 23 Lindner (2010), Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, S. 85f. Lindner selbst spricht von 800 Teilnehmern, ebd., S. 103. 19
des Pekinger Massakers vom 3./4. Juni 1989.25 Diese Reise verstärkte bei den reformorientierten Kräften die Befürch- tung, dass auch die SED bereit sein könnte, friedlichen Protest gewaltsam niederzuschlagen. Nachdem bekannt wurde, dass die seit dem 30. September aus Prag kommenden Züge mit Botschaftsflüchtlingen auf ihrem Weg in die Bundesrepublik durch Dresden fahren Leipziger Volkszeitung gedroht, „diese konterrevolutionären würden, versammelten sich vom 3. bis 5. Oktober 1989 Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es anfangs 2.000, später 20.000 Demonstranten am Dresdner sein muss, mit der Waffe in der Hand!“27 Hauptbahnhof. Einheiten der Bereitschafts-, Transport- und Trotz massiver Drohungen und angstmachender Gerüchte Volkspolizei räumten das Gelände mit Gummiknüppeln. über den Aufmarsch bewaffneter Kräfte in und um Leipzig Daraufhin flogen Steine. Polizeihunde, Wasserwerfer und kamen am 9. Oktober über 70.000 Menschen in die Leipzi- Tränengas wurden eingesetzt, dann rückten Armeeeinheiten ger Innenstadt. Ihr Wunsch nach Veränderungen war größer an. Sieben Hundertschaften der Kampfgruppen sowie zwei als ihre Angst. In vier Kirchen fanden Friedensgebete statt, Bataillone der 7. Panzerdivision standen bereit; Bürger- anschließend setzte sich die Menschenmenge in Bewegung kriegsstimmung lag in der Luft. und demonstrierte auf dem gesamten Innenstadtring – vor- Am späten Nachmittag des 7. Oktober versammelten sich bei an der Bezirksbehörde der Staatssicherheit und am Sitz auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin Dutzende Menschen, der Volkspolizei, am Leipziger Rathaus und am Gebäude der um wie an jedem 7. eines Monats gegen den Wahlbetrug SED-Bezirksleitung. „Keine Gewalt!“ lautete die tausendfach vom 7. Mai 1989 zu protestieren. Der kleine Demonstrations- gerufene Forderung des Tages. Sie richtete sich an die zug wollte zum Palast der Republik marschieren, wo an bewaffneten Kräfte, aber auch an die Demonstranten selbst.28 diesem Tag ein festlicher Staatsakt zum 40. Jahrestag der Die unerwartete Dimension des ebenso entschlossenen wie DDR-Gründung stattfand. Passanten schlossen sich dem friedlichen Demonstrationszuges setzte alle polizeilichen Zug spontan an, der schnell auf mehrere tausend Menschen und militärischen Planungen außer Kraft, der befürchtete anwuchs. Eine ihrer Forderungen lautete „Keine Gewalt!“. Einsatzbefehl wurde nicht erteilt. Die Einsatzkräfte hatten Die Polizei drängte die Menge ab in Richtung Prenzlauer offenbar erkannt, dass „jeder Versuch eines gewaltsamen Berg. In der dortigen Gethsemanekirche beteiligten sich zu Einschreitens (…) unabsehbare Folgen haben musste“.29 diesem Zeitpunkt Hunderte von Menschen an einer Bittan- Die bewaffneten Kräfte kapitulierten angesichts des dacht für inhaftierte Oppositionelle aus Leipzig. Polizisten, Muts, der Entschlossenheit und Disziplin der Leipziger MfS-Einheiten und Kampfgruppen riegelten den Bezirk her- Demonstranten. Der damalige Volkskammer-Präsident metisch ab und gingen mit großer Brutalität gegen Demons- Horst Sindermann erklärte wenige Monate später tranten, Kirchenbesucher und unbeteiligte Passanten vor. „Wir sind vom Volk davongejagt worden, nicht von einer Viele der 1.200 polizeilich „Zugeführten“ erlebten physische ‚Konterrevolution‘. (…) Der gewaltfreie Aufstand passte und psychische Folter.26 Die Bilder der Gewalteskalation am nicht in unsere Theorie. Wir haben ihn nicht erwartet, 40. Jahrestag der DDR gingen um die ganze Welt. und er hat uns wehrlos gemacht.“30 Angesichts des brutalen Vorgehens der Staatsmacht am Der 9. Oktober 1989 markiert das wichtigste Datum im 7. Oktober fürchteten die Leipziger Bürger, dass die Staats- Kalender der Friedlichen Revolution in der DDR. An diesem macht auf ihre Montagsdemonstration am 9. Oktober mit Tag wurde das Gewaltmonopol der SED gebrochen, der Verfall einer „chinesischen Lösung“ reagieren könnte. Schon am des Regimes war in Gang gesetzt. Am 9. Oktober befreiten 6. Oktober hatte ein Kampfgruppenkommandeur in der sich die Ostdeutschen von ihrer Angst vor dem Regime, 25 In der Nacht des 3./4. Juni 1989 wurden Studentenproteste auf dem 27 Siehe: 27 Siehe: Leserbrief Leserbrief desdes Kampfgruppenkommandeurs Kampfgruppenkommandeurs Günter Günter Lutz Lutz vom vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking, dem Tiananmen-Platz, mit 6. Oktober 6. Oktober 1989, 1989, in: in: Lindner Lindner (2010), (2010), Die Die demokratische demokratische Revolution Revolution in einem blutigen Militäreinsatz der chinesischen Volksbefreiungsarmee derder in DDR DDR1989/90, 1989/90,S. 101. Von S. 101. Vonderder Einheit Einheitdieses Kommandeurs dieses Kommandeurs beendet. Tausende Menschen wurden verletzt, Hunderte getötet. erschienen am erschienen am Abend Abend desdes 9.9. Oktober Oktober nurnur 52 52 Prozent Prozent derder Mitglieder Mitglieder Das SED-Politbüro und die DDR-Volkskammer bekundeten der zum Dienst, zum Dienst, siehe: siehe: Ahbe Ahbe (2014), (2014), Und Und wenn wenn siesie auf auf uns uns schießen?, schießen?, S. S. 7. 7. chinesischen Regierung umgehend ihre Zustimmung. Link: http://www.zeit.de/2014/42/montagsdemo-leipzig-ddr Link: http://www.zeit.de/2014/42/montagsdemo-leipzig-ddr 26 Kowalczuk (2009), Endspiel, S. 391f. Am 7. Oktober gab es in (Stand: 28. (Stand: 20. Oktober April 2020). 2014). über 20 weiteren Städten Protestkundgebungen, die gewaltsam 28 Appelle 28 Appelle in in den den Kirchen, Kirchen, Flugblattaktionen Flugblattaktionen und und ein ein über über den den Stadt- aufgelöst wurden. In Plauen gingen an diesem Tag zwischen funk verbreiteter Stadtfunk „Aufruf verbreiteter der Leipziger „Aufruf Sechs“ der Leipziger (Dirigent Sechs“ Kurt Masur, (Dirigent Kurt 10.000-20.0000Menschen 10.000-20.000 Menschenauf aufdie dieStraße Straßeund underzwangen erzwangenein ein Kabarettist Masur, Bernd-Lutz Kabarettist Lange, Theologe Bernd-Lutz Peter Zimmermann Lange, Theologe Peter Zimmermannsowie Gespräch mit dem Bürgermeister. Nach Auflösung der die Sekretäre sowie der SED-Bezirksleitung die Sekretäre der SED-BezirksleitungKurt Meyer, JochenJochen Kurt Meyer, Pommert, Demonstration kam es zu etwa 60 Verhaftungen. Ebd., S. 398. Roland Wötzel) Pommert, Roland mahnten Wötzel)am 9. Oktober mahnten am 9.alle Beteiligten, Oktober sich friedfertig alle Beteiligten, und besonnen sich friedfertig zu undverhalten. besonnenAn zuder Eingangsseite verhalten. An derder Nikolaikirche Eingangsseite der appellierte einappellierte Nikolaikirche Transparent ein„Leute – heute„Leute Transparent keine Gewalt! Reißt euch – heute keine Gewalt! zusammen Reißt und laßt dieund euch zusammen Steine laßtliegen!“ die SteineJedem war bewusst, liegen!“ Jedem war dass der bewusst, kleinste dass der Eskalations-schritt eine schlimme kleinste Eskalationsschritt Kettenreaktion eine schlimme auslösen Kettenreaktion könnte. Vgl.: auslösen Ahbe könnte. (2014), Vgl.: Ahbe Und wenn (2014), sie wenn Und auf uns sieschießen?, S. 5. auf uns schießen?, http://www.zeit.de/2014/42/montagsdemo-leipzig-ddr S. 5. http://www.zeit.de/2014/42/montagsdemo-leipzig-ddr (Stand: 28. (Stand: 20. Oktober April 2020). 2014). 29 Niemetz 29 Niemetz (2014), (2014), Einen Einen neuen neuen „17. „17. Juni“ Juni“ verhindern, verhindern, S. S. 133. 133. 30 Sindermann 30 Sindermann (1990), (1990), Wir Wir sind sind keine keine Helden Helden gewesen, gewesen, Interview Interview mit mit dem Spiegel dem Spiegel vom vom 7. 7. Mai Mai 1990. 1990. Link: Link: http://www.spiegel.de/spiegel/ http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-13498194.html (Stand: print/d-13498194.html (Stand: 29.20. Oktober April 2020). 2014).Diese DieseÄußerung Äußerung inspirierte Erich inspirierte Erich Loest Loest zuzu dem dem eingangs eingangs zitierten zitierten Satz Satz „Wir „Wir waren waren auf alles auf alles vorbereitet, vorbereitet, nurnur nicht nicht auf auf Kerzen Kerzen und und Gebete.“ Gebete.“ InIn seinem seinem Drehbuch für Drehbuch für den den Spielfilm Spielfilm „Nikolaikirche“ „Nikolaikirche“ legte legte Loest Loest dieses dieses Resümee Resümee einem einem hochrangigen hochrangigen Stasi-Offizier Stasi-Offizier in den Mund.in den Mund. 20
sie wurden sich ihrer Macht und Stärke bewusst.31 Nach diesem Tag gab es landesweit keine gewaltsamen Auseinan- dersetzungen mehr zwischen Polizei und Demonstranten. Erst mit der bestandenen Mutprobe vom 9. Oktober lässt sich die Revolution in der DDR tatsächlich als „friedliche“ Revolution charakterisieren, denn bis zu diesem Tag hatte die Staatsmacht erhebliche Gewalt gegen demonstrierende Bürger ausgeübt.32 Der Erfolg der Leipziger Demonstranten ermutigte die Menschen in der ganzen Republik. In immer mehr Städten fanden Kundgebungen statt, entstanden Aktionsbündnisse für die politische und gesellschaftliche Erneuerung. Unter dem Druck der Protestbewegung verstärkten sich auch innerhalb der SED-Führung die Auseinandersetzungen und Konflikte, die Partei reagierte mit ersten Zugeständnissen. Am 18. Oktober 1989 musste Staatsratsvorsitzender und Parteichef Honecker seine Ämter an Egon Krenz abgeben, der aber als Vertreter des alten Systems nicht ansatzweise in der Lage war, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. An den nächsten Leipziger Montagsdemonstrationen beteiligten sich immer mehr Bürger. Am 30. Oktober kamen 300.000, am 6. November fast 500.000 Menschen. Die Demonstranten in Leipzig und vielen anderen Orten der Republik stellten offen die Machtfrage („SED, gib Deine wurden), wurde live im DDR-Fernsehen übertragen, Führung ab, sonst werden hier die Leute knapp!“), forderten was zuvor undenkbar gewesen wäre. Diese Öffnung und weitere Rücktritte von Spitzenfunktionären und Chefideo- Neuorientierung der staatlichen Medien dokumentierte logen („Die Karre steckt zu tief im Dreck, die alten Kutscher auf eindrucksvolle Weise die beginnenden Veränderungs- müssen weg!“, „Schnitzlers Visage bringt alle in Rage!“), prozesse in der DDR-Gesellschaft. die Zulassung des Neuen Forums („Krenzt das Neue Forum Auch nach dem 9. Oktober flüchteten jeden Tag ca. 10.000 nicht aus!“), Reisefreiheit („Visafrei von Rostock bis Shang- Menschen aus der DDR, das Land drohte auszubluten. Mit hai!“), freie Wahlen („Wenn freie Wahlen sind in Sicht, dem am 6. November 1989 vorgelegten, aber für die Bürger verlassen wir die Heimat nicht!“).33 Die größte Massende- völlig inakzeptablen Entwurf eines neuen Reisegesetzes monstration in der DDR-Geschichte fand am 4. November brachte sich die DDR-Regierung selbst den Todesstoß bei. auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Über 500.000 Teil- Der Entwurf zeigte, dass die Regierung unfähig war, das nehmer forderten die in der Verfassung formal benannten Wesen der dramatischen Umbruchprozesse im Land zu Rechte auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit verstehen. Der Gesetzesentwurf wurde auf Protestkundge- ein.34 Die gesamte Kundgebung, auf der unter anderen ne- bungen im ganzen Land empört abgelehnt, am 7. November ben Heiner Müller, Christa Wolf und Tobias Langhoff auch lehnte ihn auch die Volkskammer als unzureichend ab. Bürgerrechtler wie Marianne Birthler und Jens Reich sowie Noch am selben Tag trat die DDR-Regierung unter einige SED-Funktionäre sprachen (und kräftig ausgepfiffen Willi Stoph geschlossen zurück. 31 In vielen Rückblicken wird genau dieser Punkt hervorgehoben. Wolfgang Thierse sagte mit Blick auf den 9. Oktober 1989: „Das war der Tag der Entscheidung. Was wir alle durch Leipzig gewonnen haben, war nicht weniger als der Sieg über die Angst, die halbe Macht der Diktatur.“ Siehe: Thierse (2005), Rede am 9. Oktober 2005 in der Nikolaikirche Leipzig. Lothar de Maizière erklärte, am 9. Oktober 1989 fiel die „Mauer der Angst“. Siehe: Maizière (2014), Interview mit dem Deutschlandfunk am 2. November 2014. 32 Vgl. Niemetz (2014), Einen neuen „17. Juni“ verhindern, S. 136. Lindner (2010), Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, S. 180. 33 Eine Übersicht über alle 1989 in Leipzig gezeigten Losungen findet sich in: Schneider //Lindner Lindner(1990), (1990),Leipziger LeipzigerDemontagebuch: Demontagebuch: Demo – Montag – Tagebuch. 34 Kowalczuk bezweifelt, dass an der Demonstration tatsächlich 500.000 Menschen teilgenommen haben. Angesichts der zur Verfügung stehenden Stellfläche auf dem Alexanderplatz und den angrenzenden Straßen erscheint ihm eine Teilnehmerzahl von über 200.000 Menschen als unrealistisch. Siehe: Kowalczuk (2009), Endspiel, S. 451f. 21
Der DDR-Regierungssprecher Günther Schabowski antwortet am 9. November 1989 kurz vor 19 Uhr auf die Frage, ab wann die neuen Regelungen für Reisen ins westliche Ausland in Kraft treten würden: „(…) sofort, unverzüglich (…) über alle Grenzübergangsstellen“. Seite 21: Auf der größten, nicht staatlich organisierten Demonstration in der Geschichte der DDR kommen am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz hunderttausende Menschen zusammen, um für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einzutreten. 22
Der Fall der Mauer Vom 6. bis 9. November 1989 tagte in Berlin das Zentralko- perfektioniert – mit Betonplattenwänden, Metallgitterzäunen, mitee der SED. Es beschloss die Zulassung der Oppositions- Beobachtungstürmen, Panzersperren, Kfz-Gräben, Hunde- gruppen und befasste sich erneut mit der Überarbeitung des laufanlagen, Lichttrassen, Selbstschussanlagen und Minen. umstrittenen Reisegesetzentwurfs. Beschlossen wurde eine Schon zehn Tage nach dem Mauerbau, am 24. August 1961, Regelung für Reisen ins westliche Ausland und die ständige fielen die ersten tödlichen Schüsse an der Berliner Grenze, Ausreise aus der DDR. Genehmigungen dafür sollten von sie galten dem 24-jährigen Günter Litfin. Der letzte Flüchtling, den zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der der an der Mauer erschossen wurde, war der 21-jährige Volkspolizeikreisämter „kurzfristig“ und „ohne Voraus- Chris Gueffroy. Er starb am 5. Februar 1989. Hunderte von setzungen“ erteilt werden. Als Regierungssprecher Günter Menschen verloren bei Fluchtversuchen aus der DDR ihr Schabowski am 9. November kurz vor 19 Uhr in einer Pres- Leben. Der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls, sekonferenz die Frage gestellt bekam, ab wann diese Rege- beendete dieses menschenverachtende Grenzregime – und lung in Kraft treten würde, antwortete er, „sofort, unverzüg- besiegelte zugleich den Untergang der SED-Herrschaft. lich (…) über alle Grenzübergangsstellen“.35 Schon wenige Damit eröffneten sich völlig neue Optionen für Deutschland Minuten später verbreitete sich diese Nachricht über Radio und Europa. Die in der DDR stationierten 338.000 sowjeti- und Fernsehen, die Zeitangabe „ab sofort“ wurde wörtlich schen Soldaten waren auch am 9. November (wie schon genommen. Tausende Menschen strömten in der gleichen am 9. Oktober) in den Kasernen geblieben, Präsident Nacht zu den Grenzübergangsstellen nach West-Berlin Michael Gorbatschow hatte Wort gehalten.37 und zur Bundesrepublik, wo entsprechende Anweisungen Alt-Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauer- allerdings nicht vorlagen. Am Ost-Berliner Grenzübergang baus 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen Bornholmer Straße forderten Tausende Menschen „Tor war und später durch seine neue Ostpolitik den Entspan- auf! Tor auf!“. Die Grenzbeamten ließen zunächst einzelne nungsprozess zwischen Ost und West befördert hatte, Personen durch und stempelten ihre Personalausweise so brachte am darauffolgenden Abend in einer Rede vor dem ab, als gingen sie für immer. Doch der friedliche Druck auf Schöneberger Rathaus seine Freude zum Ausdruck. Seine den Grenzübergang wurde größer und größer, so dass sich Worte trafen die Stimmung und die Hoffnung vieler Men- der diensthabende Kommandeur in eigener Verantwortung schen in der DDR: „Es ist sicher, dass nichts im anderen entschied, die Schlagbäume in der Mauer zu öffnen. Der Teil Deutschlands wieder so werden wird, wie es war. (…) Inbegriff der Gewaltherrschaft war gefallen, ein weiteres Und ich denke, dass diese Volksbewegung im anderen Teil Mal hatte die Staatsmacht vor dem eigenen Volk kapituliert. Deutschlands ihre Erfüllung nur in wirklich freien Wahlen Jubelnd strömten Tausende DDR-Bürger nach West-Berlin.36 finden kann.“38 Noch auf der Rathaustreppe diktierte Brandt Wenig später wurden auch alle anderen innerstädtischen einem Journalisten seinen berühmt gewordenen Satz ins Grenzübergangsstellen geöffnet. Menschen aus beiden Mikrofon: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder Stadthälften versammelten sich in dieser „Wahnsinnsnacht“ zusammenwächst, was zusammengehört.“39 zu spontanen Freudenfeiern. Auch entlang der innerdeut- Bundeskanzler Helmut Kohl erinnerte an gleicher Stelle schen Grenze wurden die ostdeutschen Nachbarn an den an die vielen Mauertoten und würdigte den Kampf der folgenden Tagen mit Sekt und Freudentränen empfangen, Ostdeutschen um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, freie überall lagen sich wildfremde Menschen in den Armen. und geheime Wahlen: „Unsere Landsleute sind dabei, 28 Jahre lang hatte die SED-Führung die gegen die eigene sich diese Freiheiten selbst zu erkämpfen, und sie haben Bevölkerung gerichteten Sperranlagen ausgebaut und dabei unsere volle Unterstützung.“40 35 Hertle (1995), Der 9. November 1989 in Berlin, S. 840. 37 Satjukow Satjukov (2008): (2008),DerDerdüstere düstereFeind, Feind,Zeit ZeitOnline. Online. Link: http://www. 36 Als kurz nach 20 Uhr die Nachricht vom Mauerfall die im Bonner Link: http://www.zeit.de/2008/16/A-Besatzer zeit.de/2008/16/A-Besatzer (Stand: 3. November 2014). Hinzu kamen Wasserwerk tagenden Abgeordneten des Deutschen Bundestages (Stand: 20. 207.400 April 2020). und Familienangehörige. Erst mit Abzug der Zivilangestellte erreichte, wurde die Sitzung unterbrochen. Die Abgeordneten Hinzu kamen Truppen (1994)207.400 wurde Zivilangestellte bekannt, dass dieund Familienangehörige. Sowjetarmee im Jahr 1989 applaudierten und sangen spontan die Nationalhymne. Siehe: Erstdem auf mit Abzug der Truppen Territorium der DDR(1994) wurde bekannt, über insgesamt dass die mit etwa 1.026 Objekte Siehe: Chorgesang Chorgesang im Bundestag im Bundestag am 9. November am 9. November 1989.http://www. 1989. Link: Sowjetarmee 36.000 Gebäudenim Jahr 1989 auf verfügte, dem777 davon Territorium der DDR geschlossene über Areale. Ebd., S. 2f. Link: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/kw45_ bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/kw45_mauerfall/337756 insgesamt 38 1.026 Objekte Brandt (1989), Rede vormitdem etwaRathaus 36.000 Schöneberg, Gebäuden verfügte, 10. November mauerfall/337756 (Stand: 6.11.2014). davon 777 geschlossene 1989. Link: Areale. Ebd., S. 2f. http://www.willy-brandt.org/fileadmin/brandt/Downloads/ (Stand: 20. April 2020). 38 Brandt (1989), Rede vor dem Rathaus Schöneberg, Rede_Willy_Brandt_Rathaus_Schoeneberg_1989.pdf 10. November (Stand: 1989.2014). 28. Oktober Link: https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/up- 39 Dieser Satz fiel nicht in der Rede, sondern in einem Interview, das loads/2017/08/Rede_Willy_Brandt_Rathaus_Schoeneberg_1989.pdf Brandt der Berliner Morgenpost am 10. November 1989 gegeben hat. (Stand: 20. April Siehe: Rother 2020). (o.J.), Link: http://www.willy-brandt.org/fileadmin/ 39 Dieser Satz fiel nicht in der Rede, sondern in einem Interview, brandt/Downloads/Beitrag_Rother_Jetzt_waechst_zusammen.pdf das Brandt (Stand: 21. der Berliner Oktober Morgenpost am 10. November 1989 gegeben hat. 2014). Siehe: 40 Kohl Rother (1989),(o.J.), Rede Link: https://willy-brandt.de/wp-content/uploads/ vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin am heft_08_waechst_zusammen.pdf 10. November 1989. Link: http://www.2plus4.de/chronik.php3?date_ (Stand: 20. April 2020). value=10.11.89&sort=000-003 (Stand: 31. Oktober 2014). 40 Kohl (1989), Rede vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin am 10. November 1989. Link: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kundgebung- vor-dem-schoeneberger-rathaus-468762 (Stand: 20. April 2020). 23
Sie können auch lesen