Dunkelziffer Unbekannt - Rassismus & rechte Gewalt in Marzahn-Hellersdorf Frühling 2021
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XXXXXX D u n k e l z i f f e r U n b e k a n n t Rassismus & rechte Gewalt in Marzahn-Hellersdorf Frühling 2021 1
← Titelbild: 12. Juni 2020 Rassistischer Angriff in Marzahn-Süd Zwei Männer im Alter von 19 und 23 Jahren, die bei einem Umzug in der Marzahner Chaussee halfen, wurden gegen 19.10 Uhr von einem 40-jähri- gen Nachbarn aufgrund von Anti-Schwarzem Rassismus beleidigt und vom Balkon herunter mit Gegenständen beworfen. Quelle: ReachOut Impressum Dunkelziffer Unbekannt / Heft 6 April 2021 Herausgegeben von: AK gegen Rechte Gewalt, Antirassistische Registerstelle, AStA Alice Salomon Hochschule Kontakt: arreg@ash-berlin.eu V.i.S.d.P.: B.Hahn Alice-Salomon-Platz 5 12627 Berlin Die Verteiler_innen des Heftes sind nicht mit den Macher_innen identisch. Die Texte geben nur die Meinung der jeweiligen Autor_innen wieder. Wir verwenden als Geschlechterschreibweise den Gendergap und das Gendersternchen (z.B. Aktivist_innen, Aktivist*innen), um der Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und Lebensweisen Rechnung zu tragen. Das Sternchen hinter Männer* und Frauen* setzen wir, um auf (heteronormative) Zweigeschlechtlichkeit als soziales Verhältnis zu verweisen. Die Begriffe »Mann« und »Frau« sind kein fixen, natürlichen Kategorien, sondern Positionen in diesem Verhältnis. Diese Ausgabe erscheint mit freundlicher Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung.
Editorial 2020 wird vielen in dunkler Erinnerung bleiben: Am 19. Febru- Rechte Aktivitäten in Marzahn-Hellersdorf stellt der diesjährige ar ermordet ein rechtsterroristischer Attentäter Ferhat Unvar, Register-Jahresbericht vor (S. 14). Ergänzt wird dieser mit Arti- Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Merce- keln, die sich mit Angriffen auf die Zivilgesellschaft durch die des Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, AfD (S. 22) sowie die neonazistische Kleinstpartei III.Weg (S. 27) und Gökhan Gültekin in Hanau. Hanau ist eine Zäsur und macht beschäftigen. Im Superwahljahr 2021 werden sechs Landespar- klar, dass Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland lamente und der Bundestag neu gewählt. Welche Gefahr die AfD Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder haben müssen. Mehr für Parlamente bedeutet, beleuchten wir anhand der »Arbeit« als 200 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 zeigen schmerzhaft der AfD in Marzahn-Hellersdorf (S. 24). die tödliche Konsequenz von Rassismus, Antisemitismus und anderen Ungleichheitsideologien. Es ist Aufgabe von uns allen, Demokratischer und antifaschistischer Widerstand bleibt wich- an die Ermordeten zu erinnern, zu gedenken und zu mahnen. tig! Und so freuen wir uns, euch in dieser Ausgabe der Dunkel- Durch bürgerschaftliches und antifaschistisches Engagement ziffer unterschiedliche Initiativen und Projekte vorzustellen, wird dementsprechend für den am 24. April 1992 von Neona- darunter unter anderem den von Studierenden der ASH produ- zis ermordeten Nguyễn Văn Tú ein Gedenkstein am Brodowiner zierten Podcast nah & distanziert (S. 9), die Kampagne Solida- Ring gestaltet werden, mehr dazu in der nächsten Ausgabe der rische Kieze (S. 12) und die Antifaschistische Vernetzung Mar- Dunkelziffer. zahn-Hellersdorf (S. 31). Mit der weltweiten Covid-19 Pandemie sind nicht nur einschnei- 2021 jährt sich die Selbstenttarnung des NSU zum zehnten Mal. dende Änderungen in unserem Alltag eingetreten, sondern Noch immer ist der NSU-Komplex nicht vollständig aufgeklärt, auch das Erstarken verschwörungsideologischer Positionen die Rolle des Verfassungsschutzes weiter im Dunkeln, die Kritik – auch aus dem Sozialarbeits- und Gesundheitsbereich. Diese an rassistischer Ermittlungsarbeit der Polizei und die rassisti- gipfeln im Sommer 2020 unter anderem in dem inszenierten sche Medienberichterstattung noch immer laut, und die Forde- »Sturm auf den Reichstag«- angeführt von einer Heilpraktikerin rungen nach lückenloser Aufklärung bestehen laut NSU-Watch mit Nähe zur Reichsbürger-Bewegung. weiterhin (S. 36). Währenddessen findet sich die Auseinandersetzung mit gesell- Mit Trauer im Herzen mussten wir uns am 14. Oktober 2020 von schaftlichen Ungleichheitsverhältnissen auch vielfach an der Karin Schwarz verabschieden. Karin war eine politische Vor- ASH. Am studentisch organisierten, digitalen Hochschultag zu kämpferin, hat sich seit Jahrzehnten gegen Ungerechtigkeiten fehlenden intersektionalen Perspektiven in der Lehre und an engagiert und den AK gegen Rechte Gewalt an der ASH mit- der Hochschule nehmen 200 Personen teil (S. 6). Mit dem For- gegründet. Wir vermissen Karin schmerzlich und beenden die schungsprojekt »Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche Dunkelziffer mit ihrem Nachruf (S. 38). in den 1990er-Jahren« wird ein Blick auf den Umgang mit rech- ten Jugendlichen Anfang der Neunziger Jahre im Nachbarbe- Wir freuen uns über diese Ausgabe der Dunkelziffer und bedan- zirk Lichtenberg gelenkt (S. 8). Und dass Lehre und Lernen aus ken uns bei allen Beteiligten. der Geschichte nicht nur in Seminarräumen stattfinden, wird mit den Spazierblicken zu Stolpersteinen im Bezirk sowie zu weiteren ausgewählte Orten antirassistischen und antifaschis- AK gegen Rechte Gewalt, Antirassistische Registerstelle und tischen Erinnerns und Handelns deutlich (S. 10). AStA der ASH, April 2021 3
↑ 16. Mai 2020 Rassistischer Angriff in Marzahn-Mitte Eine 29-jährige Frau wurde gegen 21.30 Uhr in der Märkischen Allee von einem 58-jährigen Mann rassistisch beleidigt und angegriffen. Quelle: ReachOut 4
Inhalt 06 Fehlende intersektionale 27 Aufmärsche, Politik und Propaganda Perspektiven auf Hochschullehre Der III. Weg in Marzahn-Hellersdorf und Strukturen 28 Gedenken an die NS-Verbrechen im Hier 08 JUPORE und Heute antifaschistisch gestalten Das Forschungsprojekt »Jugendarbeit, Polizei und rechte 31 »Hier leben, arbeiten, studieren und Jugendliche in den 1990er Jahren« politisch aktiv sein« Antifaschistische Vernetzung Mar- 09 Soziale Arbeit, wir müssen reden! zahn-Hellersdorf »nah & distanziert - der Podcast zu Kritischer Sozialer Arbeit« 32 Homa und Tajala Aufklärungsinitiative 10 Erinnern heißt verändern Feminizide an Mutter und Tochter in Kiezspaziergänge zu Marzahn-Hellersdorf Stolpersteinen und für eine würdige Erinnerungskultur 35 Buchempfehlung Veronika Kracher, Incels. Geschichte, 13 Cybernauties Sprache und Ideologie eines Online-Kults Sensibel, kritisch und netzpolitisch mit Digitalisierung umgehen 36 »Aufklären und Einmischen« »Aydınlatma ve Müdahale« 14 Jahresbericht der »Inform & Interfere« Antirassistischen Registerstelle 2020 Zehn Jahre (Nicht-)Aufklärung des NSU-Komplexes 22 Zivilgesellschaft in Gefahr 38 In Gedenken an Karin 24 Eine ganz normale 39 Kontaktadressen demokratische Partei? Die AfD Marzahn-Hellersdorf in der BVV 5
Fehlende intersektionale Perspektiven auf Hochschullehre und Strukturen Fehlende intersektionale Perspektiven auf Hoch- schullehre und Strukturen von N. Ayten, D. Herrera, M. Yildiz, P. Vater Lange habe ich nachgedacht über das, was ich euch zu sagen hab Hier angereist, habe gelernt, vorsichtig zu sein. Viel zu viel, zu viel zu verlieren. Bitte niemanden auf den Füßen treten! Jeder Blick prüft, ob ich mich schon angepasst hab, also bleib ich kurz an der Tür stehen… Tausende Gedanken laufen durch meine Venen: Wie viel bin ich bereit zu ertragen? Welchen Preis will ich heute zahlen? Oder… Entscheide ich mich diesmal die Zunge zu beißen? Still zu halten? Doch … Doch reden will ich! T R V Λ N I Λ - @trovaniasink Es gibt plurale Defizite an der ASH Berlin. Diese Defizite be- sind, wo nicht weiße Studierende Rassismuserfahrungen inner- gründen sich in erster Linie in den Strukturen der Hochschule. halb der ASH machen, welche Auswirkungen diese Erfahrungen Gesellschaftlich ausgrenzende und diskriminierende Machtver- auf das Studieren der Befragten haben und welche Strategien hältnisse reproduzieren sich auch im Hochschulkontext. Zwar diese entwickelt haben, um mit diesen Erfahrungen umzuge- wirbt die ASH mit einem diskriminierungssensiblen Lehrange- hen. B. Okcu hat auf die Stigmata in Bezug auf muslimische Stu- bot, dennoch berichten Studierende unterschiedlichster (mehr- dierende im Hochschulkontext aufmerksam gemacht. I. Qureshi fach) marginalisierter Subjektpositionen fortwährend von Dis- beschrieb, wie er klassistische Diskriminierung und Ausgren- kriminierungserfahrungen innerhalb der Hochschule, einer zung im Hochschulkontext erfahren hat, welche Auswirkungen zu geringen Möglichkeit und Strukturen für Beschwerden und Gefühle wie Scham mit sich bringen und wie sich diese in einem Schutz. theoretischen Kontext verorten und politisieren lassen. Es ist das Anliegen der Studierendeninitiative »Ich bin da!« und des BIPoC¹-Referats, diese strukturellen Defizite zu themati- Außerdem gab es Impulsvorträge von Peggy Piesche und von sieren und zu verhandeln. Aus diesem Anliegen heraus ent- iPÄD mit Tuǧba Tanyılmaz und Ed Grewe. stand die Idee einer Veranstaltung, bei der unterschiedliche Akteur*innen der ASH zusammenkommen sollten, um in einen In einem Podiumsgespräch wurden die Interessenvertretungen Dialog über Perspektiven, Wünsche, Notwendigkeiten, Bedarfe des Queer-Referats mit S. Baltus, des BIPoC-Referats mit M. Yil- und Ressourcen zu treten und einen Konsens über eine mögli- diz, der Schwerbehindertenvertretung mit K. Fotso, dem Refu- che Zusammenarbeit zu finden. So entstand der Hochschultag gee Office mit A. Taheri und des EmpA²-Teams mit Dr. A. Krish- »Fehlende intersektionale Perspektiven auf Hochschullehre namurthy und W. Bogadhi zusammengebracht. Vertreten wurde und Strukturen«, der am 18. November 2020 von der ‚Ich bin außerdem die Antirassismus-AG durch Prof. Dr. I. Attia und die da!‘- Studierendeninitiative und dem BIPoC-Referat online aus- Diversity-Kommission durch Prof. Dr. B. Schäuble. Neben Prof. gerichtet wurde. Dr. N. Prasad und Prof. Dr. S. Köbsell, zwei Lehrenden für Inter- sektionalität und Disability Studies, war die Rektorin der ASH Ehemalige und aktuelle Studierende haben in ihren Darstellun- Berlin Prof. Dr. B. Völter anwesend. gen fehlende intersektionale Perspektiven an der Hochschule aufgezeigt. P. Vater und N. Ayten haben die Ergebnisse ihrer 1 Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) ist eine Selbst- Masterarbeit vorgestellt, indem sie den Fragen nachgegangen bezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, die nicht als weiß, deutsch und westlich wahrgenommen werden und sich auch selbst nicht so definieren. 2 EmpA steht für Empowerment und Antirassismus und ist der 6 Projektname eines Projekts an der ASH, welches das Ziel verfolgt mittels eines Empowermentansatzes die Situation von rassis- muserfahren(d)en Studierenden zu verbessern.
Fehlende intersektionale Perspektiven auf Hochschullehre und Strukturen Die Interessenvertretungen haben die diskriminierenden Struk- Unter anderem wurden folgende Forderungen von Interessen- turen und Problemlagen geschildert, mit denen sich Studieren- vertretungen gestellt: de an sie wenden und haben ihre Forderungen ausgesprochen. Es wurde sichtbar, dass es viele Überschneidungen in den Erfah- • Die ASH Berlin muss eine klare Verantwortung übernehmen rungen und Forderungen der einzelnen Interessenvertretungen als Institution, um diskriminierende Strukturen abzuschaf- gibt. fen; • Die Antidiskriminierungssatzung muss umgesetzt werden; Beispiele für diese Überschneidungen in Bezug auf Problemla- • Es muss einen Personalschlüssel bei der Personaleinstel- gen sind: lung für benachteiligte Gruppen und nichtweiße Lehrende geben; • Sprachbarrieren, Ausgrenzung aufgrund sprachlichen • Diversität muss ein Querschnittsthema für die Qualifikation Schwierigkeiten, Deutsch als Norm; von Lehrenden und Verwaltung sein; • Diskriminierung in den Seminaren in Form von Ungleichbe- • Es muss eine fest verankerte Antirassismusbeauftragte mit handlung, Ausgrenzung, andere oder Nichterwartungen an Handlungsmacht und Stimmrecht geben, die institutionell BIPoC-Studierenden; verankert ist und nicht nur projektbezogen • Lehrende intervenieren nicht, bagatellisieren oder sind • Es muss ein unabhängiges Beschwerdemanagement selbst an Diskriminierungen beteiligt; geben; • Eurozentristische Perspektiven und Wissensvermittlung, • Diskriminierungsfreie Lehrmethoden, Prävention und Inter- rassistische Lehrinhalte. Marginalisierte Perspektiven und vention müssen sichergestellt werden; Wissenschaftler*innen sind unsichtbar; • Die ASH Berlin muss sicherstellen, dass Lehrende zur • Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden in anderen Rechenschaft gezogen werden und wenn nötig mit Sankti- Seminaren außer Rassismus- und Gender-Seminaren kaum onen rechnen müssen, wenn sie diskriminierend handeln mitgedacht; oder Diskriminierung zulassen und nicht intervenieren; • Diskriminierende Lehrmethoden, keine Rücksicht, kaum • Es muss Schulungen für alle Beschäftigten nach dem AGG Sensibilität für Lebensrealitäten; und LADG geben; • Keine formale Beschwerdestelle, es fehlt an Beschwerde- • Betroffene Perspektiven und Expertisen müssen in den management; Strukturen, Diskursen und Lehrinhalten Raum bekommen; • Große Unterschiede in der Lehre verschiedener Studien- • Gesellschaftliche Machtverhältnisse müssen in allen Semi- gänge an der ASH bezüglich der Diversität in der Lehre, naren und Lehrinhalten mitberücksichtigt werden. fehlende Kommunikation zwischen den Studiengängen Als abschließendes Commitment des Podiumsgesprächs wa- ren die Teilnehmenden sich darin einig, dass die geschilderten Problemlagen und Forderungen in weiteren Gesprächen, z.B. in Form eines ‚Runden Tisches’, gemeinsam angegangen werden. Es ist nun wichtig, dass dieses Commitment umgesetzt und konkretisiert wird. Damit ein regelmäßiges Zusammenkommen nicht informell bleibt, plädieren wir dafür konkrete Ziele und Ar- beitspläne zu erstellen. Diese müssen überprüfbar sein, so dass die verantwortlichen Akteur*innen zur Pflicht gerufen werden können. Eine prozesshafte Zusammenarbeit aller Akteur*innen ist grundlegend wichtig für eine Hochschule, die sich ihren feh- lenden intersektionalen Perspektiven stellen möchte! Auf eine solidarische Zusammenarbeit! Logo: Design Ö. Özbey Die ‚Ich bin da!‘- Studierendeninitiative & das BIPoC-Referat 7
JUPORE JUPORE Das Forschungsprojekt »Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren« (JUPORE) Lucia Bruns und Christin Jänicke arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im Projekt JUPORE, einem gemeinsamem IFAF-Forschungsprojekt der ASH Berlin und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Esther Lehnert und Prof. Dr. Christoph Kopke. Worum geht es in Eurem Forschungsprojekt? Christin Jänicke: Wir beschäftigen uns mit der Rekonstruktion verhandeln. Da wird z. B. die Frage aufgeworfen, wie mit den des polizeilichen und sozialpädagogischen Umgangs mit rech- rechten Jugendlichen vom Bahnhof Lichtenberg umgegangen ten und rechtsextremen Jugendlichen in den 1990er Jahren, werden soll und wie man sich gegenüber der Tatsache verhält, mit dem Fokus auf Berlin-Lichtenberg und Cottbus. dass nur noch die Polizei da ist, wenn sich dieser Gruppe keine Sozialarbeiter*innen mehr widmen. Das war damals eine offene Lucia Bruns: Wichtig ist in unserer Forschung eine geschlechter- Frage, wie man verhindern kann, dass das Thema Rechtsextre- sensible und rassismuskritische Perspektive. Es geht neben der mismus komplett der Polizei überlassen wird. Rekonstruktion des Umgangs auch darum, Wissen zu generie- ren, welches für die gegenwärtige Fachdebatte und Praxis nütz- Wie kann man dieses komplexe Thema 30 Jahre lich sein kann. später analysieren? Wieso betrachtet Ihr diese beiden Perspektiven LB: Methodisch nähern wir uns dem Thema durch Expert*in- gemeinsam? Soziale Arbeit und Polizei werden ja nicht neninterviews und Diskursanalyse. Generell stellt uns die Pan- unbedingt zusammen gedacht. demie natürlich forschungspraktisch vor Herausforderungen. Geschlossene Bibliotheken und Archive und die Organisierung CJ: Die Zeit Anfang der 1990er Jahre war gekennzeichnet von von Interviews unter Hygieneauflagen erschweren teilweise ei- rassistischen Ausschreitungen und rechten Gewalttaten, die nen reibungslosen Ablauf der Forschung. oftmals dem jugendlichen Rechtsextremismus zugeordnet wur- den. Sowohl Polizei als auch Soziale Arbeit mussten einen Um- CJ: Das Gute ist, dass wir in beiden Regionen in Lichtenberg gang mit dem gleichen Problem, der rechten (Jugend-)Gewalt, und Cottbus auf Expertisen aus Forschung, antifaschistischen finden. Dabei hatten beide Professionen unterschiedliche Prä- Recherchen, Reflexionen von Sozialer Arbeit und Polizei sowie missen und Zuständigkeiten: Im Fokus der Polizei standen Straf- Erinnerung von Zeitzeug*innen zurückgreifen können. Dabei ist und Gewalttaten, wohingegen die Soziale Arbeit diese Taten uns wichtig, nicht einen weiß-, männlich- und westdeutsch-ge- möglichst vorher verhindern wollte, indem sie die Jugendlichen prägten Blick auf Rechtsextremismus im Osten zu reproduzie- im wörtlichen Sinne von der Straße holte. ren, sondern auch marginalisierte Perspektiven aus dieser Zeit zu rekonstruieren. Das gestaltet sich nach 30 Jahren schwieri- LB: Es gibt einige Texte aus der Jugendarbeit dieser Zeit, die ger, da sie in der bisherigen Betrachtung vielfach fehlen. Umso das Handeln der Polizei und das eigene Betätigungsfeld direkt wichtiger ist es, dran zu bleiben. 8
Was ist kritische Soziale Arbeit? Soziale Arbeit, wir müssen reden! Wie andere Professionen auch (Psychologie, Medizin, etc.) war »nah & distanziert - der Podcast zu Kritischer Sozialer Arbeit« die Soziale Arbeit in der BRD insbesondere in Folge der Stu- dierendenbewegungen der 60er verbinden? Wie können solche Formen Jahre vermehrt einer radikalen des Austausches ins Leben gerufen wer- (Selbst)-Kritik ausgesetzt, die auf den – insbesondere jetzt in Zeiten des die Rolle der Sozialen Arbeit in physical distancing? der Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse und in der Aus den vielen Fragen heraus und der Vernichtungspolitik des Natio- mangelnden Repräsentation von So- nalsozialismus hinwies. Bezogen zialarbeiter*innen in der öffentlichen sich solch kritische Positionen Debatte entschieden wir uns, einen Po- zunächst vor allem auf klassische dcast zu kritischer Sozialer Arbeit mit marxistische Ansätze und die der dem Namen »nah & distanziert« zu star- Frankfurter Schule, haben sich die ten. Der Podcast hat das Ziel, auf einer Bezugspunkte heute vervielfacht, macht- und gesellschaftskritischen Ebe- womit mehr und mehr auch zu Seit einem Jahr begleitet die Coro- ne Themen rund um die Soziale Arbeit Debatte steht, was das »kritische« na-Pandemie unseren Alltag und stellt zu diskutieren und individuelle Perspek- einer kritischen Sozialen Arbeit uns persönlich und unsere Gesellschaft tiven von Sozialarbeiter*innen in den ausmacht. Gemein ist vielen vor massive Herausforderungen. Sys- Blick zu nehmen. So sollen prekäre Ar- aktuellen Ansätzen einerseits, die temrelevanz, Solidarität und soziale beitsbedingungen und unterschiedliche Ökonomisierung Sozialer Arbeit Spaltung werden in linken Kreisen dis- Biografien innerhalb der Sozialen Arbeit zu problematisieren und zugleich kutiert, während im medialen Diskurs sichtbar gemacht werden. Auch ein kri- den emanzipatorischen Anspruch die aktuelle Situation von Sozialarbei- tischer Blick auf die Profession soll hier Sozialer Arbeit zu betonen. Orte ter*innen und den Adressat*innen der Platz finden. Es ist uns besonders wich- solch eines kritischen Austausches Sozialen Arbeit, die zumeist aus margi- tig, immer wieder auf das politische sind häufig die Arbeitskreise Kriti- nalisierten Gruppen besteht, kaum Be- Mandat der Sozialen Arbeit hinzuweisen scher Sozialer Arbeit (AKS), die in achtung finden. und mit unseren Gästen aus verschie- vielen Städten existieren. Im April letzten Jahres stellten wir, fünf densten Praxisfeldern zu diskutieren, ehemalige Studierende der ASH, uns die wie dieses umgesetzt werden kann. Unsere bisherigen Folgen: Frage, welche Auswirkungen die Pande- #1 Jugendhilfe in Zeiten von mie auf die Arbeitsbedingungen unserer Hören könnt ihr uns über unsere Seite Corona: Vertrauen, Kontrolle & Freund*innen hat, die direkt nach dem www.nahunddistanziert.de, mit dem Supermarkt Studium einen Job in dem sozialen Be- RSS-Feed über Podcatcher und auch auf #2 Frauenhaus: Handlungsfähig- reich angefangen haben. Spotify und YouTube. keiten, Krisen & Patriarchat #3 Gewerkschaften und Soziale Wir hören in unserem Umfeld immer Folgt uns auf Instagram, Twitter und Arbeit: wie organisieren? wieder von der Erfahrung, wie die kriti- Facebook! Und leitet es an eure Friends #4 Schulsozialarbeit: Auf den schen Visionen sich in der beruflichen und Kolleg*innen weiter Fluren des Systems Praxis aufreiben und dass es bedauert Wir freuen uns sehr über Feedback und #5 Spannungsfelder der Sozialen wird, viel zu wenig Foren des Austau- Anregungen! Arbeit: Betroffenheit und sches zu haben. Warum ist das so? Wel- Professionalität che Veränderungen braucht die Soziale Das Team vom Podcast »nah & distan- #6 Corona & Verschwörungsmy- Arbeit? Wie lassen sich Aktivismus und ziert«: Anika, Christian, Lotte, Lennart then an der Hochschule Lohnarbeit verbinden? Lassen sie sich und Latifa #7 So, was wie Medienpädagogik? #8 Aktivismus vs. Lohnarbeit: Zwi- schen Prekariat, Mandat und Kritik Weiterlesen: #9 Teamsitzung vs. Staffelfinale: www.aks-berlin.org/ Let‘s Talk Kritische Soziale Arbeit www.bdwi.de/forum/archiv/uebersicht/9065061.html www.irf.fhnw.ch/bitstream/handle/11654/4299/Philippe%20Haldi.pdf 9 Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher, Kerstin Rathgeb: Kritik der Sozialen Arbeit - kritische Soziale Arbeit. Springer VS (Wiesbaden) 2012
Erinnern heißt verändern Erinnern heißt verändern Kiezspaziergänge zu Stolpersteinen und für eine würdige Erinnerungskultur »Es darf kein Vergessen geben! Ein einfacher Satz. Es ist ein Satz, der uns verbindet. Hinter seiner Einfachheit verbergen sich die Geschichten und Erfahrungen Unzähliger. Er ist die Lösung antifaschistischer Kämpfe, die eine Linie der Kontinu- ität aufzeigt, die von Hanau im Jahr 2020, nach Mölln im Jahr 1992, bis hin zur nationalsozialistischen Gewalt der 1930er und 1940er Jahre reicht. Dieser Satz ist nicht nur das verbindende Element unserer Kämpfe, er ist auch die Bedingung für ein würdiges Erinnern. Ein würdiges Erinnern, das wir gewillt sind zu erkämpfen.«¹ Mit diesem einfachen Satz »Es darf kein Vergessen geben!« lei- ten Newroz Duman² und İbrahim Arslan³ ihre Denkschrift für eine würdige Erinnerungskultur unter dem Titel »Von Mölln bis nach Hanau: Erinnern heißt verändern« ein, die sie am 19. Februar 2021, dem Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau, veröffentlicht haben. Eine würdige Erinnerungskultur müsse die Kontinuität rechter Gewalt und auch die Erfahrungen der migrantischen Selbstorganisation in den Blick nehmen so- wie entsprechende Konsequenzen für die Praxis des Erinnerns ziehen. Diese Aufgabe und Herausforderung nehmen wir in ver- schiedenen Kontexten auch mit für die eigene Praxis an der ASH Berlin – ob als Lehrende, Studierende oder Mitarbeiter*innen in der Verwaltung. Das zeigen in Ansätzen die verschiedenen Kiez- spaziergänge in 2020 zu Stolpersteinen im Bezirk Marzahn-Hel- ↑ lersdorf sowie zu weiteren exemplarischen Orten antirassisti- 28. November 2020 schen und antifaschistischen Erinnerns und Handelns, die wir Antisemitische Pöbelei in Kaulsdorf in diesem Beitrag vorstellen möchten. Als ein Mann anlässlich des 9. November zwei Stolpersteine für Elsa Veronika Fischl und ihre Tochter Ilse Friederike Fischl im Mädewalder Weg 37 säuberte, kommentierten dies zwei Raus aus der Hochschule – rein in die Kieze: ältere Frauen. Sie bestritten, dass Elsa Veronika Fischl und Ilse Solidarische Praxen und Kieze vor Ort gestalten Friederike Fischl jemals in dem Haus gelebt hätten und machten sich über die Putzaktion des Mannes verächtlich. Beim Verlassen Lehren und Lernen aus der Geschichte und mit Bezug zu aktu- der Szenerie riefen sie dem Mann Holocaust-Relativierungen ellen gesellschaftlichen Themen findet nicht nur in Seminarräu- hinterher. men statt. So stellen unter anderem die bereits seit 2009 über Quelle: Recherche-und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) das Kooperationsforum initiierten »Spazierblicke« ein niedrig- unsere Putzaktivitäten unterstützt. schwelliges Format dar, das auch für kleinere Gruppen geeig- net ist, den eigenen oder einen noch unbekannten Stadtteil mit 10
Erinnern heißt verändern thematischem Bezug – bei unseren Beispielen – zu verschiede- leranz ein Spazierblick zu ausgewählten Stolpersteinen in Kauls- nen solidarischen Praxen zu erkunden und »laufend« Orte und dorf und Mahlsdorf statt ⁴. Wir waren begeistert von dem großen Projekte widerständiger demokratischer Alltagskultur kennen- Interesse an diesem Spazierblick und zugleich beeindruckt von zulernen. In Exkursionen als Teil von Seminaren haben wir uns den für uns recht »versteckten« Orten der Stolpersteine in den mit Fragen solidarischen und würdigen Gedenkens und Erinnerns Ein- und Mehrfamilienhaus-Wohngebieten in Kaulsdorf und auseinandergesetzt. So haben wir an Kiezspaziergängen und Spa- Mahlsdorf: Wir »stolperten« hier wirklich nur über die Gedenk- zierblicken teilgenommen und/oder diese selbst (mit)entwickelt. steine, weil wir sie bewusst und geführt aufsuchten. Manche Nachbar*innen pflegen regelmäßig und liebevoll »ihre« Stolper- steine vor der eigenen Haustür und beschäftigen sich mit den Lebensgeschichten der Menschen, an die erinnert wird. Andere Nachbar*innen waren nicht erfreut, als »ausgerechnet vor ihrer Haustür« Stolpersteine verlegt werden sollten – und wurden. Das sind ernüchternde Berichte bei unserer ersten Tour, aber eben auch sehr schöne und Mut machende, bewegende Begeg- nungen, die wir zum Beispiel bei unserer zweiten Tour erlebt haben: Einem Putzspaziergang im September 2020, den wir im Rahmen der Berliner Freiwilligentage als Aktion und Ange- bot der Kampagne Solidarische Kieze angeboten haben. Unser Putz-Spaziergang führte uns zur Lohengrinstraße 2 zu den Ge- denksteinen von Heinrich Lange, Rosa Lange, Manfred Lichten- stein, Max Lange, Salo Lange und Denny Lange, zur Hannsdorfer Straße 8, wo an Emil Roth, Emilie Roth und an Hedwig Mentzen erinnert wird sowie zur Nentwigstraße 10, wo wir auch den Stol- perstein für Eva Wolff von Straßenschmutz und Patina befreiten. 1 Duman, Newroz/Arslan, İbrahim (2021): Von Mölln bis nach Hanau: Erinnern heißt verändern, abrufbar unter: www.boell. de/de/2021/02/19/von-moelln-bis-nach-hanau-erinnern-heisst- veraendern 2 Newroz Duman kämpft in der Initiative 19. Februar um Erinne- rung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen der rassisti- schen Anschläge in Hanau. Sie ist als Referentin in der politischen Bildungsarbeit tätig und als Aktivistin für Selbstorganisierung, Flucht, Empowerment und Antirassismus seit 2008 bei »Jugend- liche ohne Grenzen« und seit 2017 bei »We'll come United« aktiv. Newroz Duman ist 2002 über das Mittelmeer nach Deutschland Stolpersteine: Putzen wider das Vergessen geflüchtet und lebt in Hanau. – Erinnerung pflegen 3 İbrahim Arslan überlebte als siebenjähriger Junge die rassisti- schen Brandanschläge von Mölln 1992. Seine Großmutter Bahide Arslan, seine Schwester Yeliz Arslan und seine Cousine Ayşe Stolpersteine – das sind zehnmal zehn Zentimeter große, mit ei- Yılmaz verloren bei dem Anschlag ihr Leben. Er engagiert sich seit ner Messingplatte besetzte Pflastersteine. Sie erinnern an Men- vielen Jahren vor allem in Schulen als Politischer Bildungsrefe- rent und stärkt die Perspektive der Betroffenen. schen, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt, entrechtet, vertrieben und ermordet wurden. Auf der 4 Zum initiierten Stolpersteine-Spazierblick siehe auch: Elène Misbach (2020): Solidarität – Kooperationen zwischen ASH Berlin Messingplatte an der Oberseite sind der Name und das Schick- und Marzahn- sal des Menschen, an den erinnert wird, zu lesen. Die kleinen Hellersdorf. in: alice 39, S. 88-92. Betonquader werden von dem Künstler Gunter Demnig vor den letzten frei gewählten Wohnorten der Opfer in den Boden ein- gelassen. 2020 fand gemeinsam mit dem Bündnis für Demokratie und To- 11
Erinnern heißt verändern Erinnern und Organisieren! gen – ob bei Aktivitäten in Marzahn-Hellersdorf, in anderen Kie- Solidarische Kieze entwickeln zen, in anderen Städten, mit Bezug zur nationalsozialistischen Gewalt der 1930er und 1940er Jahre ebenso wie zu aktuellem Ein weiterer Spazierblick führte die Teilnehmenden zu ausge- rechten Terror. Denn: »Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst« wählten Orten antirassistischen und antifaschistischen Erin- – Um mit den Worten des in Hanau ermordeten Ferhat Unvar nerns und Handelns in Hellersdorf-Nord und -Ost. Dieser Kie- abzuschließen. zspaziergang unter dem Motto »Erinnern und Organisieren! – Solidarische Kieze entwickeln« wurde entwickelt vom Regis- Zum Weiterlesen: ter zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle Marzahn-Hellersdorf, dem AK gegen Rechte Gewalt und der an- • Gabriele Fischer (2018): Verwerfungen der Betrauerbarkeit tirassistischen Registerstelle an der Alice Salomon Hochschule - Aushandlungen des Gedenkens. Dynamiken des Erinnerns – und ebenfalls im Rahmen der Freiwilligentage und der Spa- an Opfer rechter Gewalt seit der Selbstenttarnung des zierblicke-Reihe als Beitrag zur Kampagne Solidarische Kieze NSU, in: Dimbath, Oliver/Kinzler Anja/Meyer Katinka (Hg.): angeboten. Vergangene Vertrautheit. Soziale Gedächtnisse des Ankom- Start war am Alice-Salomon-Platz. Dort findet seit 2009 jähr- mens, Aufnehmens und Abweisens. lich das Demokratiefest »Schöner leben ohne Nazis« statt, und Wiesbaden, S. 75 – 92. der Platz war in der Vergangenheit schon häufig Start- und • Vera Henßler (2020): Umkämpfte Erinnerung, in: apabiz Endpunkt extrem rechter Aufmärsche. Weiter ging es zunächst (Hrsg): monitor 88, S. 1-3. zur Schule am Rosenheim, in deren Hof am 9. Juli 2013 eine • Lydia Lierke, Massimo Perinelli (Hg.) (2020): Erinnern stö- Informationsveranstaltung des Bezirks über die damals ge- ren. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Pers- plante Notunterkunft für Geflüchtete im ehemaligen Max-Rein- pektive, Berlin. hardt-Gymnasium in der benachbarten Carola-Neher-Straße eskalierte und als »Brauner Dienstag« in die Geschichte des Be- zirks weit über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt wurde: Ext- Kampagne Solidarische Kieze in rem Rechte tarnten sich als »Bürgerinitiative/Bürgerbewegung Marzahn-Hellersdorf Marzahn-Hellersdorf«, mobilisierten gegen die Unterkunft und die Menschen, die dort einziehen sollen und kaperten damals Solidarische Kieze ist eine Kampagne für alle, die sich die Veranstaltung. Danach ging es zu antirassistisch und antifa- aktiv für offene, solidarische, vielfältige und demo- schistisch motivierten Praxen und Orten: zur Gemeinschaftsun- kratische Nachbarschaften einsetzen. Initiiert von terkunft in der Maxie-Wander-Straße, dem Ladenlokal »LaLoKa« verschiedenen Akteur*innen aus dem Kooperationsfo- und dem »Café Interfix« im Kastanienboulevard über das »Café rum ASH – Bezirk sowie dem Bündnis für Demokratie auf Rädern« der evangelischen Kirchgemeinde Hellersdorf und und Toleranz ist die Kampagne im März 2020 gestartet: zum Schluss, den »Place Internationale« passierend, zum Cott- Vor den nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus und busser Platz, in dessen Umfeld immer wieder extrem rechts mo- zu den Bezirksverordnetenversammlungen im Herbst tivierte Angriffe und Bedrohungen dokumentiert werden. 2021 möchten die beteiligten Akteur*innen auf bezirk- licher Ebene mit der Kampagne an ähnliche Ansätze Aus- und Lichtblick anknüpfen – wie zum Beispiel dem zivilgesellschaftlich breit angelegten, bundesweit agierenden Bündnis Inspiriert von der Teilnahme an dem Kiezspaziergang »Erin- #unteilbar – und vor Ort eingreifen in die Entwicklun- nern und Solidarisieren« entwickeln aktuell Studierende unter- gen zunehmender gesellschaftlicher Polarisierungen. schiedlicher Seminare im Bachelor Soziale Arbeit als Vertiefung Dazu gehören auch Interventionen im öffentlichen zu den Themen Solidarität und Antirassismus, antifaschistische Raum und konkrete solidarische Unterstützung von Gemeinwesenarbeit und würdige Erinnerungskultur nun eigene Opfern rechter und rassistischer Gewalt, von Geflüch- Projektideen, die sie mit der Arbeit von Akteuren vor Ort ver- teten und Menschen ohne geregelten Aufenthaltssta- knüpfen bzw. diesen für eine Weiterentwicklung zur Verfügung tus sowie anderen marginalisierten Gruppen. stellen möchten. Wir werden auch zukünftig diese und weitere Formen der aktiven und solidarischen Erinnerungsarbeit pfle- Interesse mitzumachen oder eine eigene Aktion zu teilen? 12 Kontakt: koordinierungsstelle-mh@ pad-berlin.de oder solidarische_kieze@ash-berlin.eu Website: buendnis.demokratie-mh.de/solidarische-kieze/
Cybernauties Cybernauties Sensibel, kritisch und netzpolitisch mit Digitalisierung umgehen Die Cybernauties sind eine studentische Hochschulgruppe, welche sich um die technische Infrastruktur der studentischen Selbstverwaltung kümmert und versucht, durch technische Lösungen, Hochschulangehörige zu vernetzen und Kommu- nikation zu ermöglichen. Die Cybernauties setzen sich in der Hochschulpolitik für mehr Medienkompetenz, Medienkunde, Mediendidaktik im Sinne einer besseren und Studierenden gerechten Lehre ein. Wir möchten einen achtsamen Umgang zu Fragen der Digitalisierung fördern und auf alternative Nut- zungen von Technik, Internet und Software hinweisen, wie sie beispielsweise Free Open Source Software darstellt. Gemein- sam möchten wir uns in technischen, cyber-philosophischen Thematiken weiterbilden und unsere Erfahrungen austauschen. Von der Hochschule wünschen wir uns mehr Transparenz und Interventionsmöglichkeiten zu digital-technischen Entschei- dungen und Offenheit für Kritik. Für die Studierenden wünschen sich die Cybernauties eine Plattform zur digitalen Interaktion und Datenaustausch mit anderen Studierenden (Cloud) und Zugriff auf E-Mailadressen der Hochschule mit der Möglichkeit der Verschlüsselung via PGP. Zusätzlich zu einer besseren digi- talen Infrastruktur für Studierende und Hochschulangehörige braucht es eine Lehre, welche sensibel, kritisch und lösungsori- entiert Strukturen, Systeme und Funktionen von digitalen Räu- men im Kontext der SAGE¹-Disziplinen thematisiert. DU bist interessiert und möchtest mehr erfahren oder gar ein Cybernautie werden oder uns über etwas informieren? Dann schreib uns einfach eine E-Mail an: cybernauties@ash-berlin.eu Auf der Website des AStA der ASH Berlin könnt ihr noch mehr über die Cybernauties erfahren: www.asta-ash.eu/cybernau- ties/ (Zum Beispiel findet ihr dort im Bereich Downloads unsere Artikel, Stellungnahmen und Forderungen) Die Cybernauties wünschen euch auf euren Datenreisen freund- liche Bits und Bytes. 1 SAGE steht für das Fächerprofil Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung 13
Jahresbericht 2020 Jahresbericht der Antirassistischen Registerstelle 2020 Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf am östlichen Rand Berlins wird in persönlichen Gesprächen oder in der medialen Berichterstattung oft mit Neonazis in Verbindung gebracht. Besonders die rassistischen Demonstrationen gegen die Aufnahme Geflüchteter, welche von 2013 bis 2015 regelmäßig stattfanden, sind vielen in Erinnerung geblieben. In diesem Zusam- menhang wurde auch die Antirassistische Register- stelle der Alice-Salomon-Hochschule gegründet. Sie soll helfen extrem rechte und allgemein diskriminierende Vorfälle im Bezirk zu dokumentieren. So entsteht ein em- pirisch nachprüfbares Bild über die Stimmung unter den knapp 270.000 Bewohner:innen des Bezirks. Allerdings können nur Vorfälle aufgenommen werden, die dem Berliner Register nachweisbar gemeldet wurden. Die Dunkelziffer bleibt hingegen unbekannt. 14
Jahresbericht 2020 Jahresrückblick des Registers Im Jahr 2020 wurden den Registerstellen in Marzahn-Hellers- ber 2020 gab es vielfältige extrem rechte Aktivitäten, die zu ver- dorf insgesamt 252 extrem rechte und/oder diskriminierende mehrten Meldungen führten. Zu erwähnen sind hier zahlreiche Vorfälle gemeldet. Das sind fast einhundert Meldungen mehr als rechte Graffiti rund um den Cottbusser Platz. im Vorjahr (2019: 154). Die Verteilung der Vorfälle über das Jahr In der ersten Hälfte des zurückliegenden Jahres sind die Regis- hat sich nicht grundlegend geändert. Der deutliche Rückgang terzahlen trotz der zeitweisen Ausgangs- und Kontaktbeschrän- von Meldungen im Mai 2020 im Vergleich zum letzten Jahr ist kungen während der Corona-Pandemie stark gestiegen. Viele mit dem Europawahlkampf 2019 und einer entsprechenden Er- der Meldungen stehen im direkten Zusammenhang mit der höhung der gemeldeten Vorfälle in diesem Zeitraum zu erklären Pandemie und den damit verbundenen Corona-Maßnahmen. (Mai 2020: 22; Mai 2019: 34). Im Juni stiegen die Vorfallszahlen Hierbei handelte es sich aber vor allem um verschwörungsideo- im Vergleich zum Vorjahr stark an, was überwiegend auf rechte logische und extrem rechte Propaganda (wie Aufkleber) mit Be- Sprühereien und Aufkleber zurückzuführen ist. Auch im Novem- zügen zur Coronakrise. 2019 (gesamt 154) 2020 (gesamt: 252) 40 35 30 25 20 34 31 32 15 29 23 23 24 22 10 20 18 16 15 15 13 12 12 5 9 10 10 10 8 7 7 6 0 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 15
Propaganda 2020 186 2019 104 2018 116 Bedrohung/Beleidigung/Pöbelei 2020 33 Art der Vorfälle 2019 23 2018 40 Die meisten Vorkommnisse im Bezirk sind, wie im Vorjahr, so- genannte Propaganda-Vorfälle (2020: 186; 2019: 104). Hierzu zählen u.a. diskriminierende oder extrem rechte Sticker und Angriffe Sprühereien. Den Hauptteil bildete dabei den Nationalsozia- 2020 17 lismus verherrlichende oder verharmlosende Propaganda (z.B. 2019 15 Hakenkreuzschmierereien) sowie Propaganda, die der extrem rechten Selbstdarstellung dient (z.B. Aufkleber mit Werbung 2018 14 für Neonazi-Parteien). Im Spätsommer und Herbst gab es über ein Dutzend Meldungen von Propaganda der extrem rechten Veranstaltungen Kleinstpartei »Der III. Weg«, welche für einen Neonaziaufmarsch am 3. Oktober 2020 in Berlin-Hohenschönhausen mobilisierte. 2020 4 2019 10 Rund um den 1. Mai verbreiteten die Neonazi-Parteien NPD und 2018 3 »Der III. Weg« in Hellersdorf an mehreren Orten Plakate. Sie ver- suchten auf diese Weise, den »Tag der Arbeit« von rechts zu be- setzen. Ein Anhänger des »III. Wegs« entfernte außerdem zwei Sachbeschädigung Fahnen mit positivem Bezug zur linken Tradition des Tages am S-Bahnhof Marzahn. Im Anschluss posierte er für ein Foto, bei 2020 5 dem er auf die Fahnen trat. Diese Herabwürdigung des politi- 2019 0 schen Gegners wurde von der Partei im Internet zur Schau ge- 2018 3 stellt. Der große Anstieg der Vorfallszahlen von rechter Propaganda BVV im Bezirk ist vor allem auf eine erweiterte Melder:innenstruk- 2020 0 tur zurückzuführen. Insbesondere zu Beginn des Jahres 2020 konnten viele Menschen motiviert werden, Vorfälle zu melden. 2019 1 Zugleich haben in Zeiten der Coronakrise weniger extrem rechte 2018 1 Veranstaltungen im Bezirk stattgefunden. Entsprechende Grup- pen und Einzelpersonen konzentrierten sich deshalb stärker auf Propaganda-Aktivitäten. Dies könnte auch die vermehrt gemel- Strukturelle Benachteiligung deten Sachbeschädigungen erklären. 2020 4 2019 Daneben hat die Anzahl der gemeldeten Bedrohungen, Beleidi- gungen und Pöbeleien (2020: 33; 2019: 23) erheblich zugenom- 2018 men. Diese Art der Vorfälle findet vorwiegend auf öffentlichen Straßen und Bahnhöfen, teilweise aber auch im Internet, statt. Die meisten Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien er- Sonstiges folgten – wie auch die gemeldeten Angriffe – überwiegend aus 2020 3 rassistischen Motiven. Zwei der 17 Angriffe fanden vor Geflüch- 2019 1 tetenunterkünften statt. 2018 5 16
2019 (gesamt 154) 2020 (gesamt: 252) 200 180 160 140 120 100 186 80 60 104 40 20 15 17 23 33 0 0 5 10 4 1 0 0 4 1 3 f i e rif le ng nd a ng V un g t ig ng be gu ga lt u BV lig ns A ö di ta i / P hä pa ns ht e So ng sc ro ra ac i gu e P Ve en id c hb B le Be Sa lle / re ng k tu hu ru dro St Be Motive der Vorfälle Insgesamt ist die Mehrzahl aller gemeldeten Vorfälle im Bezirk Auch die Anzahl von Vorfällen mit Bezug zu politischen Geg- analog zum Jahr 2019 rassistisch motiviert (2020: 78; 2019: 61). ner:innen ist stark angestiegen (2020: 35; 2019: 16). Auffällig ist, dass sich Teile der (extrem) rechten Szene im Bezirk seit Jahren Zugleich stiegen die Meldungen von Vorkommnissen, bei denen als vermeintliche »Platzwarte« aufspielen. So werden Veranstal- der Nationalsozialismus (NS) verharmlost wurde, signifikant an tungen, die sich explizit gegen rechts positionieren oder allge- (2020: 69; 2019: 27). Diese Tendenz ist gerade in Hellersdorf zu mein für eine vielfältigere Gesellschaft eintreten, regelmäßig im beobachten (2020: 42; 2019: 9). Das liegt nicht zuletzt an einer Internet diffamiert oder vor Ort gezielt behindert. Ein Beispiel großen Anzahl extrem rechter Graffiti. Vor allem rund um den sind die mannigfaltigen Störaktionen beim Bürger:innenfest U-Bahnhof Cottbusser Platz und im Kienbergpark kam es wie- »Schöner leben ohne Nazis«. derholt zu Schmierereien von neonazistischen Zahlencodes sowie Hakenkreuzen und Runen, die im Nationalsozialismus Verwendung fanden. Eine Besorgnis erregende Entwicklung ist der Anstieg antisemitischer Vorfäl- 2019 (gesamt: 154) 2020 (gesamt: 252) le um ein Zehnfaches (2020: 10; 2019: 90 1). Dieser geht vor allem auf verschwö- 80 rungsideologisch motivierte Diskrimi- 70 nierung mit Bezug zur Corona-Pande- 60 mie und ihrer gesellschaftlichen Folgen zurück. Auf diese Weise scheinen zuvor 50 weniger geäußerte Vorstellungen ver- 40 78 stärkt in der Öffentlichkeit Bahn zu bre- 30 69 61 chen. Daneben hat sich die Anzahl der 52 20 LGBTIQ*-feindlichen Vorfälle fast ver- 27 34 35 dreifacht (2020: 8; 2019: 3). Diese waren 10 10 16 12 8 zudem besonders gewaltvoll. Es wurden 0 1 3 0 0 0 0 0 zwei Angriffe sowie zwei Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien gegen LGBTIQ* festgestellt. 17
Jahresbericht 2020 Beispiel: »Schöner leben ohne Nazis« An dem Fest am 5. September auf dem Alice-Salomon-Platz Im Bereich Hellersdorf-Süd ist ebenfalls ein enormer Anstieg an nahmen 2020 rund 600 Personen unter Einhaltung der Hygie- Vorfällen zu verzeichnen (2020: 48; 2019: 13). Neben den oben nemaßnahmen teil. Seit Jahren kommt es leider regelmäßig erwähnten Runen- und Hakenkreuzschmierereien tauchten vor zu Bedrohungen, Beleidigungen und Einschüchterungsversu- allem rund um das Einkaufszentrum »Corso« und den U-Bahn- chen gegen Teilnehmende und Organisator:innen des Festes. hof Kienberg vielfach Propaganda-Materialien von der Partei In diesem Jahr organisierten Mitglieder und Sympathisanten »Der III. Weg« auf. der Berliner NPD auf der gegenüberliegenden Seite des Demo- kratiefestes eine Kundgebung mit sechs Personen. Sie zeigten Reichsflaggen und ein provozierendes Transparent. Daneben gab es auch Provokationen durch die Marzahn-Hel- lersdorfer AfD. Die neofaschistische Partei besuchte mit über einem Dutzend Personen das Fest. Ein Abgeordneter rief bereits im Vorfeld dazu auf, die Veranstaltung »kritisch zu begleiten«. Dass er und die anderen AfD-Mitglieder die Inhalte der Veran- staltung nicht teilten, ging eindeutig aus diesem Aufruf hervor. Dennoch durften die Personen am Demokratiefest teilnehmen. Allerdings wurde der AfD-Abgeordnete letztendlich von der Veranstaltung ausgeschlossen, da er mit seinem Smartphone Nahaufnahmen von Personen anfertigte. Schon zu Beginn der Veranstaltung wurde ihm ein solches Verhalten vom Veranstal- ter untersagt, da er bereits in der Vergangenheit politische Geg- ner:innen mit Bildaufnahmen im Internet diffamierte. Da er das Filmen trotz mehrfacher Aufforderung nicht unterließ, machte Marzahn Mitte der Veranstalter von seinem Hausrecht Gebrauch und schloss 2020 45 den Abgeordneten vom Fest aus. Währenddessen malten ande- 2019 43 re AfD-Mitglieder mit Kreide »Nie wieder Sozialismus« auf den Boden des Festgeländes, um ihren Unmut gegenüber der Veran- 2018 19 staltung kundzutun. Orte der Vorfälle Der Alice-Salomon-Platz, auf dem das Bürger:innenfest statt- fand, ist zugleich auch ein Hotspot rechter Vorfälle insgesamt. Ein starker Anstieg der Zahlen ist darüber hinaus im gesamten Stadtteil Hellersdorf-Nord, insbesondere rund um den U-Bahn- hof Louis-Lewin-Straße, zu verzeichnen (2020: 63; 2019: 30). In der Umgebung des Bahnhofes kam es im Jahr 2020 zu einem Marzahn Süd Dutzend Schmierereien mit Bezug zur völkischen »Identitären 2020 22 Bewegung«. Ihr Erkennungszeichen, das Lambda-Symbol, wur- de wiederholt auf Gehwegen und an Fassaden hinterlassen, 2019 9 zumeist mit direktem Bezug zu der Gruppierung. Neben der ver- 2018 23 mehrten Propaganda in Hellersdorf-Nord stieg auch der Anteil an Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien mit sieben ge- meldeten Vorfällen in der Bezirksregion. Biesdorf 2020 13 2019 7 18 2018 10
Jahresbericht 2020 Ein deutlicher Rückgang der Zahlen ist hingegen in Mar- Internet zahn-Nord zu beobachten (2020: 5; 2019: 21). Auch in Kaulsdorf 2020 15 (2020: 3; 2019: 8) und Mahlsdorf (2020: 5; 2019: 1) gingen die Vor- 2019 fallmeldungen zurück. Die geringen Fallzahlen im bezirklichen 2018 Vergleich lassen sich vor allem auf schwächere Melder:innens- trukturen in den jeweiligen Regionen zurückführen. Bezogen auf die Art der gemeldeten Vorfälle gab es die meisten Angriffe (5) sowie Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien (9) in Marzahn-Mitte. In Hellersdorf hingegen kam es vor allem zu Propaganda-Vorfällen (113). Marzahn Nord Im zurückliegenden Jahr wurden außerdem verstärkt Vorfälle 2020 5 aus lokalen Internetgruppen und -seiten aufgenommen (2020: 2019 21 15; 2019: 0). Bei neun der 15 Vorfälle handelt es sich um diskri- 2018 41 minierende und diffamierende Kommentar- und Videobeiträge der AfD. Die Marzahn-Hellersdorfer NPD hingegen ist seit der selbst gewählten Abschaltung ihrer Facebook- und Twitter-Sei- te weniger im Internet präsent. Sie ist dadurch vor allem über Bezirksweit / Unbekannt vereinzelte Aufkleber im Bezirk wahrnehmbar. 2020 15 2019 18 2018 16 Hellersdorf Nord 2020 63 2019 30 2018 61 Hellersdorf Ost 2020 18 Hellersdorf Süd 2019 2 2020 48 2018 5 2019 13 2018 5 Kaulsdorf 2020 3 Mahlsdorf 2019 8 2020 5 2018 1 2019 1 19 2018 0
Jahresbericht 2020 ← Andreas Käfer (2.v.l.), Kai Milde (mitte), Diemar Hömke (2.v.r.) und René Uttke (rechts) gegenüber vom Schöner leben ohne Nazis am 5.9.2020 Bild von Kim Winkler Corona-Proteste von rechts Zusammenfassung & Ausblick Bereits im Frühjahr 2020 kam es zu zahlreichen extrem rechten Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf weist weiterhin eine hohe Zahl und diskriminierenden Vorfällen mit Bezug zur Coronakrise. Zu extrem rechter Aktivitäten auf. Trotz der Rückgänge an gemel- nennen ist hier hauptsächlich Propaganda der extrem rechten deten Vorfällen in einigen Teilen des Bezirks bleibt die Situati- Kleinstpartei »Der III. Weg«. Daneben wurde auch (Werbe-)Pro- on angespannt, was sich nicht zuletzt am erheblichen Anstieg paganda eines neofaschistischen Magazins mit Bezug zur Co- rechter Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien zeigt. The- rona-Thematik in Briefkästen verteilt. Auch die NPD versuchte matisch neu dazugekommen sind 2020 zahlreiche extrem rech- mit einer Kleinstversammlung am Marzahner Einkaufszentrum te Bezüge zur Coronakrise, die zu einem Anstieg des öffentlich »Eastgate« das Thema zur politischen Mobilisierung auszunut- wahrnehmbaren Antisemitismus führten. Der Themenkomplex zen. dürfte insgesamt auch in 2021 weiterhin eine hohe Relevanz ha- Im Laufe des Frühjahres begann sich ein lokaler Ableger der ver- ben. Neben der ohnehin starken Propaganda-Aktivität extrem schwörungsideologischen Gruppierung »Corona Rebellen« vor rechter Akteur:innen sind zudem eine Vielzahl nationalsozia- dem Marzahner und dem Hellersdorf Rathaus zu treffen. Seit listischer Symbole im Stadtbild angebracht worden. Ein Ende Anfang Dezember 2020 organisieren Personen aus diesem Kreis oder zumindest eine Umkehr dieser Entwicklungen ist vorerst regelmäßig sogenannte »Lichterspaziergänge« in Marzahn-Hel- nicht abzusehen, da diese Taten zumeist ohne Folgen bleiben. lersdorf, die auch von lokalen AfD-Mitgliedern besucht wer- den. Diese Zusammenkünfte sind nicht zwangsläufig in einem Insgesamt zeichnet sich ab, dass die Partei »Der III.Weg« für diskriminierenden Kontext zu sehen. Sie weisen jedoch starke organisierte Neonazis, die zuvor in Kameradschaften sowie im Schnittpunkte mit entsprechenden Ideologien auf. So hinter- Spektrum der NPD aktiv waren, zunehmend attraktiver zu wer- ließen die selbsternannten »Corona Rebellen« im Juni vor dem den scheint. Viele bekannte und organisierte Neonazis aus dem Rathaus Hellersdorf antisemitische und verschwörungsideolo- Bezirk nahmen am Aufmarsch der Partei am 3. Oktober 2020 gische Parolen mit Kreide auf dem Platz. in Berlin-Hohenschönhausen teil, für den zuvor auch in Mar- 20
Jahresbericht 2020 zahn-Hellersdorf offensiv geworben wurde. In diesem Kontext stiegen im Spätsommer und Herbst Propaganda-Aktionen der Kleinstpartei an – mit einem besonderen Schwerpunkt in der Region Hellersdorf. Am Tag der Demonstration kam es zudem am S-Bahnhof Springpfuhl zu einem Angriff auf anreisende Gegendemonstrant:innen in der S-Bahn sowie zu einer rassisti- schen Pöbelei nahe des Bahnhofs. Auch Anhänger:innen und Sympathisant:innen der völkischen »Identitären Bewegung« versuchten sich über das gesamte Jahr mit Sprühereien rund um die Hellersdorfer Louis-Lewin-Straße in Szene zu setzen. Die Aktivitäten der NPD hingegen nahmen vergleichsweise ab. Die Anzahl extrem rechter Versammlungen im Bezirk war im Jahr 2020, wohl vor allem bedingt durch die Coronakrise und die Schwäche der NPD, weiterhin rückläufig, wohingegen die Propaganda-Aktivität (extrem) rechter Ak- teur:innen in dieser Zeit drastisch zunahm. Außerdem gründeten sich im Bezirk im Laufe des Jahres lokale verschwörungsideologische Zusammenhänge, die weiterhin re- gelmäßig aktiv sind und über Anknüpfungspunkte nach rechts verfügen. Bezirkliche AfD-Mitglieder, insbesondere aus dem in- zwischen offiziell aufgelösten völkischen »Flügel«, stehen mit den Gruppierungen in Kontakt und besuchen regelmäßig de- ren Aktionen (z.B. einen wöchentlichen »Lichterspaziergang«). Im Wahljahr 2021 ist hier mit einer weiteren Verstärkung der Zusammenarbeit zu rechnen. Gleichzeitig stellte die AfD im zu- rückliegenden Jahr 2020 erneut Anfragen in der Bezirksverord- netenversammlung, um demokratische Akteur:innen abzuwer- ten (u.a. Anfrage »Zum Demokratiefest am 05.09.2020«). In Hinblick auf den anstehenden Wahlkampf im Jahr 2021 ist zu erwarten, dass sich die Aktivitäten der zahlreichen Gruppen und Spektren, die extrem rechte oder diskriminierende Inhalte vertreten, weiterhin auf einem hohen Niveau bleiben werden. Vor allem die Situation um rechte Propaganda im Bezirk könnte sich weiter zuspitzen. Hier ist die Aktivität von demokratischen Bürger:innen gefragt. ↑ Gunnar Lindemann AfD beim Schoener_leben_ohne_Nazis am 5.9.2020 Werdet Melder:innen! Bild von Kim Winkler Extrem rechte und diskriminierende Vorfälle an der Hochschule oder im Bezirk können auch weiterhin jederzeit beim Antirassistischen Register der ASH (ar- reg@ash-berlin.eu) oder beim Register Marzahn-Hel- lersdorf (pfd-mh@stiftung-spi.de) gemeldet werden. 21
Zivilgesellschaft in Gefahr Im vergangenen Jahr hat die AfD ihre Angriffe auf die emanzipatorische und kritische Zivilgesellschaft weitergeführt und damit ihre abstruse Form der Identitätspolitik zu einem ihrer Kernthemen gemacht. Um ihre Programmatik voranzubringen, nutzen rechtsradikale Abgeordnete der AfD ihre Zugänge zu Kontroll- und Informationsquellen, die es ihnen beispielsweise ermöglichen, Auskunft darüber zu erhalten, wer hinter dem Verein, der NGO oder dem Projekt, das nicht in ihr Weltbild passt, steht. U nter dem Deckmantel des parlamentarischen Beobachters und unter Nutzung der den Parteien zur Verfügung stehen- den materiellen Ressourcen wird dabei Druck auf die engagierte Bundesjugendring: AfD ist jugendfeindlich Es sei hier auch erwähnt, dass die AfD Kindern das Recht auf Zivilgesellschaft ausgeübt. Auf parlamentarischer Ebene wie der demokratische Partizipation und die Aufklärung über sexuelle Bezirksverordnetenversammlung (BVV) geschieht dies etwa, Vielfalt abspricht, wenn sie sich auf Social Media gegen Sexua- wenn eine neue Stelle geschaffen werden soll oder es um die lerziehung im Kindesalter positioniert.² Damit greift die Partei Vergabe von Geldern geht. In der BVV entscheiden Parteien zum die Standards des Bundesverbands Sozialer Arbeit e. V. an, die Beispiel über den Bezirkshaushalt und Sonderleistungen, aber u. a. beinhalten, junge Menschen dabei zu unterstützen, eine auch über die Gründung oder Schließung von bezirklichen Ins- kritische Haltung zu entwickeln und sich mit Diskriminierungs- titutionen sowie die Übertragung von Aufgaben an private Trä- mechanismen auseinanderzusetzen. Der Bundesjugendring ger. Des Weiteren können durch die Parteien Anfragen gestellt hat die AfD deshalb in ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss als ju- werden um Finanzierungen zu hinterfragen. Der Bezirksverband gendfeindlich bezeichnet, da sie die Belange der Jugend nicht der AfD Marzahn-Hellersdorf hat bereits angekündigt, gegen die beachte.³ Durch die Anfragen bestärkt die AfD eine Diskursver- neue Stelle einer*s Queerbeauftragte*n im Bezirk zu stimmen. schiebung nach rechts, bündelt Ressourcen und verfolgt ihr Ziel, staatliche Gelder für emanzipatorische Projekte zu streichen und freie Träger strengeren, staatlichen Kontrollen auszusetzen. Doch nicht nur dezidiert zivilgesellschaftliche, linke und/oder Akteure als »linksextrem« stigmatisieren demokratische Akteur*innen sind von den Anfeindungen der AfD betroffen. Auch Firmen und Kulturbetriebe o. ä., die sich Die AfD hat die Möglichkeit, große und kleine Anfragen in be- positionieren und sich für Geflüchtete, Religionsfreiheit oder zirklichen Gremien zu stellen. Damit agiert die AfD auf mehreren die Selbstbestimmung der sexuellen Identität aussprechen, Ebenen. Häufig hinterfragt sie die Finanzierung von politischer werden öffentlich angegangen, weil sie »nicht im deutschen In- Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit. Werden dort Methoden teresse« handeln.⁴ In Marzahn-Hellersdorf richten sich die An- genutzt, die für Diskriminierung sensibilisieren und kritische griffe der AfD-Fraktion in der BVV regelmäßig gegen das Register Reflexionsprozesse anstoßen, behauptet die AfD, dass die Kin- zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle in der und Jugendlichen von »Linksextremen« in ihrer politischen Berlin, die Koordinierungsstelle für Demokratieentwicklung, Subjektwerdung manipuliert werden. Neben der inhaltlichen den AStA der ASH, die Partei Die Linke, die Partnerschaften für Ausrichtung wird nach Veranstaltungsorten, Referent*innen, Demokratie oder das Stadtteilprojekt BENN (BerlinEntwickelt- –der Herkunft und Verwendung der finanziellen Mittel gefragt NeueNachbarschaften). Dabei gerät die AfD immer mal wieder oder die ideologische Überprüfung des Personals gefordert. Das durcheinander, ob sie ihre Anfrage im Abgeordnetenhaus oder Engagement und Profil der Vereine und Initiativen soll damit als in der BVV stellen muss, was also überhaupt in ihrer lokalen Zu- »linksextrem« stigmatisiert und ihre Arbeit behindert werden.¹ ständigkeit liegt. 22
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